Stoff


Bedeutung

Bei dem Wort Stoff kann man an ganz unterschiedliche Dinge denken.
Zum Beispiel kann man dabei an ein fühlbares Gewebe aus unterschiedlichen Garnen denken. Oder an eine Materie aus Elementen, Verbindungen oder Gemischen. Genauso gut kann man bei Stoff auch an Drogen denken oder ganz harmlos an den Unterrichtstoff, der gerade in der Schule behandelt wird.
Doch so unterschiedlich die Bedeutungen von Stoff sind, so haben sie doch alle eines gemeinsam: Stoff wird immer als etwas vorgestellt, das eine Grundlage, Materie oder ein Material für etwas anderes ist. Zum Beispiel als eine Grundlage für Kleider, eine Chemikalie oder für eine Unterrichtseinheit.

Auch in der Dichtung bezeichnet Stoff eine Grundlage von etwas. Stoff ist hier die inhaltliche Grundlage des Textes oder das konkrete Material, aus dem der Autor eine Geschichte strickt. Als inhaltliche Grundlage ist der Stoff der Gegenbegriff zur Form, also der sprachlichen Gestaltung des Textes. Anders als der Inhalt bezeichnet der Stoff allerdings nur den verknappten, konkreten Handlungsverlauf oder noch nicht geformten Plot der Geschichte. Also all das, was unbedingt nötig ist, um die Geschichte noch als genau diese Geschichte erkennen zu können.
Als konkretes, inhaltliches Material hebt sich der Stoff mit der Nennung von bestimmten Figuren, Orten, Zeiten oder Ereignisse auch vom Thema ab, das die gedankliche Grundlage des Textes ist.

Wie man den Stoff innerhalb eines literarischen Textes erkennen kann, zeigt das folgende Beispiel:
In dem Märchen Rotkäppchen der Brüder Grimm entspricht die altertümliche Märchensprache und der Aufbau des Märchens der Form des Textes. Die inhaltliche Grundlage, der Stoff also, ist dagegen sein konkreter Plot. Nämlich der, dass das Mädchen Rotkäppchen seiner Großmutter etwas bringen soll, dabei vom Weg abkommt, in eine Gefahrensituation gerät und gerettet wird. Dieser Stoff wird mit dem gesamten Inhalt des Märchens ausgeschmückt: Ein Mädchen mit einer roten Kappe, Rotkäppchen, wird von seiner Mutter mit Wein und Kuchen zu seiner kranken Großmutter geschickt. Auf dem Weg durch den Wald trifft es den Wolf, hält sich mit Blumen pflücken auf, erkennt den Wolf nicht im Bett der Großmutter, wird gefressen und vom Jäger gerettet. Der Wolf wird dagegen mit Steinen im Bauch in den Tod getrieben.
Das Thema des Märchens, also seine gedankliche Grundlage, ist im Unterschied zum Stoff das, was die Geschichte aussagt. Zum Beispiel könnte Thema des Märchens sein, dass man nicht vom Weg abgehen soll, weil sonst etwas Schlimmes passieren kann. Umgekehrt könnte Thema des Märchens aber auch sein, dass man, selbst wenn man vom Weg abkommt, am Ende gerettet wird.

Entstehung von Stoffen

Wenn man versucht, einen literarischen Text umfassend zu verstehen oder zu entschlüsseln, überlegt man sich nicht nur, was er beinhaltet und bedeutet, sondern möglichst auch, in welchem Kontext oder Zusammenhang er steht. Dabei informiert man sich nicht nur über das Lebensumfeld des Künstlers, sondern untersucht vor allem auch, wie ein Stoff in das jeweilige Werk kommt.
Darüber, wie Stoffe in ein Werk übernommen werden, ist man sich in der Literaturwissenschaft nicht einig.
Die einen meinen, dass der Autor den Stoff einfach als Ausschnitt seiner Wirklichkeit in das Werk übernimmt und bearbeitet. In dem Fall entscheidet der Autor also selbst, welchen Stoff er wählt und wie er ihn kreativ umwandelt.
Die anderen sagen dagegen, dass die Wahl oder auch Erfindung eines Stoffes durch den Autor nicht wirklich frei gewählt ist, sondern durch das Material, das der Autor zwangsläufig vorfindet, geprägt ist. In dem Fall stellt sich die Frage, inwieweit der Autor in seinen Texten nicht immer auch Urstoffe verwendet? Diese Überlegungen haben dazu geführt, dass die meisten Literaturwissenschaftler heute den Stoff nicht nur allgemein als konkretes Handlungsgerüst eines literarischen Textes bezeichnen, sondern im besonderen nur als dasjenige Material, das der Autor außerhalb seiner eigenen Dichtung vorgefunden und neu bearbeitet oder interpretiert hat.
Dieses schon vorhandene Material kann ein Bericht, eine Person, eine Vision, Erlebnis, eine mythische oder religiöse Überlieferung, aber natürlich auch andere Dichtungen sein. Berühmte Stoffe sind beispielsweise Odysseus und seine jahrelangen Irrfahrten. Oder Ödipus, der unwissend seine Mutter heiratete. Oder Adam und Eva und ihr Sündenfall. Oder auch Rotkäppchen und ihr riskanter Regelbruch.
Da diese Stoffe immer wieder neu interpretiert, bearbeitet und ihrer Zeit angepasst werden, verändern sie sich im Laufe der Zeit. Wenn man die Veränderungen untersucht, vergleicht und erforscht, erzählt man gleichzeitig eine Geschichte, die vom jeweiligen Stoff handelt. Diese Geschichte wird als Stoffgeschichte bezeichnet.

Ein Stoff setzt sich übrigens aus vielen Motiven zusammen. Ein Motiv ist also die kleinere stoffliche Einheit eines literarischen Textes. Das Motiv kann man neben seiner Kleinheit übrigens auch daran erkennen, dass es abstrakt und nicht, wie der Stoff, konkret ist. Ödipus ist Stoff, Inzest ein Motiv des Stoffs. Genauso ist Rotkäppchen Stoff, ihr Regelbruch oder Rebellion dagegen die kleinere stoffliche Einheit, das Motiv.

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