Roman

Möglichkeiten des Romans

Bevor ein Autor eine Geschichte erfindet und aufschreibt, überlegt er, was er wie erzählen möchte. Er überlegt sich also die Handlung, die sprachliche Form und damit verbunden auch das Genre seiner Geschichte. Sollen in seiner Geschichte beispielsweise Hexen und Zauberer vorkommen, wird er sich wahrscheinlich für das Genre Märchen entscheiden. Will er einen Familienstreit mit vielen Dialogen aufzeichnen, schreibt er am besten ein Drama fürs Theater oder den Film.


Illustration: Halina Kirschner

Möchte der Autor dagegen seine Handlung um eine Person oder eine Gruppe von Menschen aufbauen, sie ausführlich vorstellen, ihre Beweggründe für diese oder jene Haltung erklären, sie vielleicht über einen großen Zeitabschnitt hinweg beobachten oder auch auf Reisen in fremde oder selbst erfundene Gegenden begleiten, wird er sich sehr wahrscheinlich dafür entscheiden, einen Roman zu schreiben.
Denn mit einem Roman kann er einerseits mit unterschiedlichen Erzählperspektiven und Erzählweisen direkt in die Figuren hineinsehen oder ihre Gedanken beschreiben. Andererseits hat er im Unterschied zur Kurzgeschichte und Erzählung viel mehr Raum und Zeit für die Entwicklung seiner Geschichte. Er kann seine Figuren sehr umfangreich, also in „epischer Breite“ beschreiben und sie auf Schritt und Tritt begleiten. Er kann aber auch Zeit raffen und überspringen. Und er kann gleichzeitig mehrere Handlungsstränge in den Händen halten und dadurch einen umfassenden Zusammenhang über das Leben seiner Figuren wieder geben.

Ein anderer, großer Vorteil des Romans ist, dass der Autor eigentlich alle Möglichkeiten, die ihm die literarische Sprache bietet, zur Verfügung hat. Er muss sich beispielsweise nicht wie der Dichter von Versmaß und Rhythmus einengen lassen. Oder er muss sich auch nicht wie beim Märchen auf ein bestimmtes Figurenpersonal oder typische Orte beschränken. Und er ist auch nicht von den Möglichkeiten, die eine Theaterkulisse dem Drama bietet, abhängig.
Ein Romanautor kann schreiben, was und wie er will - so lange es literarisch bleibt. Er kann in seine Geschichte Gedichte, Märchen oder Theaterszenen einbinden. Und er kann sogar den Fließtext des Romans unterbrechen und eine Comic-Szene dazwischen schieben.
Umgekehrt darf er aber auch alle Spielereien oder Experimente weglassen und nur eine schöne, lange Geschichte schreiben.

Weil der Roman so viele Spielräume lässt, gibt es sehr viele unterschiedliche Arten von Romanen. Es gibt Romane, die in unserer gegenwärtigen oder vergangenen Wirklichkeit spielen wie der Großstadt-, Familien-, Gesellschafts-, Bildungs- Kriminal- oder Historische Roman. Daneben gibt es aber auch Romane, die ihre Helden in eher unwirkliche oder überzeichnete Welten setzen wie im Abenteuer,- Fantasy-, Science-Fiction-, Schelmen- oder Räuberroman.

Auch die Art und Weise, wie die Geschichte geschrieben wird und auf den Leser wirken soll, kann völlig unterschiedlich sein. Es gibt reale, didaktische, autobiographische, politische und philosophische Romane. Es gibt aber auch humoristische, satirische oder fantastische Romane.
Auch die Erzählsituation und Erzählperspektive ist nicht vorgegeben. Man kann sowohl in der Ich- oder Sie/Er-Form und in der Innen- und Außenperspektive schreiben. Und man kann seinen Roman als Briefsammlung, Tagebuch oder Fortsetzungsgeschichte erzählen.

Bei Romanen ist es sogar erlaubt, schlechte oder sehr einfache Geschichten zu schreiben.
Solche Romane nennt man dann Trivialromane oder Drei-Groschen-Romane, weil man dafür nicht mehr als drei Groschen Geld ausgeben möchte.
Ist die Geschichte sehr unterhaltsam und spannend, aber nicht unbedingt literarisch anspruchsvoll geschrieben, spricht man von einem Unterhaltungsroman. Romane, die literarisch schwieriger sind und eine kompliziertere Handlung haben, haben keinen eigenen Namen, man spricht aber öfters vom „künstlerisch hochstehenden Roman“.

Geschichte des Romans

Wenn man heute sagt „ich lese ein Buch“, meint man häufig einen Roman.
Denn der Roman ist in unserer Zeit das beliebteste Genre fiktiver Texte.
Das war nicht immer so. Am Anfang seiner europäischen Geschichte im 12./13. Jahrhundert wurde der Roman als nicht ernst zu nehmende Geschichte fürs Volk abgetan. Ein „romanz“ (franz.) war ursprünglich ein volkssprachlicher Text in Vers oder Prosa, der im Unterschied zu den gelehrten, häufig religiösen und damals sehr ernst genommenen Texten nicht in Latein verfasst war.
Als Text fürs Volk nahm sich der Roman auch anderer Themen an. Während das Epos, von dem der ursprüngliche gereimte Roman abstammt, die Ganzheit der Welt und den Held nur als Menschentyp im Blick hat, interessiert sich der Roman für die Schicksale einzelner Menschen und die konkrete Umwelt dieser Personen.
Je mehr sich die Menschen in Europa deshalb für ihre eigenen, individuellen Probleme interessierten und je weniger sie über das gottgewollte Gefüge der gesamten Welt rätselten, um so interessanter wurde für sie der Roman.
Daneben spielte eine technische Erfindung für die Verbreitung des Romans eine große Rolle: Der Buchdruck. Nachdem Johannes Gutenberg 1450 die Drucktechnik mit beweglichen Buchstaben erfunden hatte, konnten Bücher viel schneller kopiert und verbreitet werden. Da außer den Gelehrten und Mönchen die Leute viel lieber Texte in ihrer eigenen Sprache als in Latein lesen wollten, wurde der Roman als volksprachliche Erzählkunst immer beliebter. Aus dem Grund wurden auch wieder antike und orientalische Romane übersetzt und gedruckt.

Neben den Nachahmungen antiker und orientalischer Romane, von denen viele märchenhafte oder fantastische Elemente hatten, wurde im Barock auch eine neue Art des Romans erfunden: Der satirische Schelmenroman.
Im Schelmenroman werden die herrschenden Verhältnisse aufs Korn genommen. Und zwar meistens aus der Sicht einer Person, die gesellschaftlich benachteiligt ist. In dem bekanntesten deutschsprachigen Schelmenroman des Barocks, Simplicissimus, den Grimmelshausen 1667 veröffentlicht hat, erzählt ein spöttischer Ich-Erzähler seine abenteuerliche Lebensgeschichte während des 30jährigen Kriegs vom einfachen, naiven Jungen über den Abenteurer und Weltfahrer bis hin zum Einsiedler.

Obwohl es mit dem Schäferroman und dem heroisch-galanten Roman auch Romane gab, die von Adligen und Gelehrten gelesen wurde, stand der volksnahe Roman doch bis ins 18. Jahrhundert hinein im Schatten von Drama und Epos.
Erst mit dem immer größer werdenden Selbstbewusstein des Bürgertums im Zeitalter der Aufklärung wurde der Roman beliebter. Mit Daniel Dafoes Robinson Cruseo, einer Art Inselabenteuerroman (Robinsonade), Rousseaus Erziehungs-Roman Emil oder Sternes humoristischem, komischen Roman Das Leben und die Meinungen des Tristram Shandy wurden in ganz Europa verschiedene Formen ausprobiert, verfeinert und einige davon mit großem Erfolg veröffentlicht.


Illustration: Halina Kirschner

In Deutschland schaffte der Roman seinen eigentlichen Durchbruch allerdings erst kurz vor und während der Romantik. Johann Wolfgang v. Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers (1774) wurde zur Zeit des Sturm und Drang  von vielen verschlungen und der Selbstmord des jugendlichen Briefhelden von nicht wenigen nachgeahmt. Auch heute wird Goethes Briefroman noch vielfach gelesen. Nach Werther schuf Goethe mit Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahre dann den Prototyp des deutschen Bildungsromans: Der Protagonist Wilhelm muss viele Wirren durchleben und (schmerzliche) Erfahrungen machen, bevor er so weit gebildet ist, um sich in der Gesellschaft produktiv einbringen zu können.
Der zweibändige Roman war allerdings weniger wegen seiner erzieherischen Haltung so erfolgreich, sondern mehr, weil er mit Gedichten, Liedern, Märchen, Novellen unterschiedliche Genres integrierte. Dadurch wurde er zum Vorbild für die Romantiker, die von literarischen Texten allgemein forderten, dass sie poetisch erhöhte Abbilder des Lebens sein sollten. Da das Leben nicht aus einem Guss sei, sondern bruchstückhaft aus vielen verschiedenen Eindrücken, Erlebnissen, aber auch Gedanken und Gefühlen bestehe, sollte Literatur diese Vielheit durch das Vermischen unterschiedlicher Genres und Textbrüche, sogenannter Fragmente, wieder spiegeln. Genau das konnte der Roman. Und so wurde er - neben dem Märchen – zur Hauptgattung der Romantik.
Auch nach der Romantik blieb der Roman beliebt und wurde allmählich zum gebräuchlichsten literarischen Genre. Als Genre, das vieles ermöglichte und Einblicke in das Denken und Fühlen seiner Figuren und ihrer Umwelt gab, wurde der Roman im ausgehenden 19. Jahrhundert weiter entwickelt. Mit dem stream of consciousness (Bewussteinsstrom, d.h. es wird das aufgeschrieben, was gerade gedacht, wahrgenommen, erinnert und verarbeitet wird), der Montage, dem inneren Monolog und Sprachspielen entstanden vor allem Ende des 19. und Anfang 20. Jahrhundert neue Erzählweisen und so wurde der Roman schließlich zu dem vielseitigen Genre, das wir heute kennen und das unserer komplizierten, vielschichtigen Zeit entspricht.

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