Phantastische Literatur
In der phantastischen Literatur kommen neben realistischen Elementen auch unwirkliche, phantastische Begebenheiten, Figuren, Gegenstände oder Welten vor. |
Entwicklung der phantastischen Literatur
Phantastische Literatur gibt es wahrscheinlich schon, seitdem sich Menschen selbst erfundene Geschichten erzählen. Denn sobald in einer Geschichte etwas Übernatürliches, Unwirkliches oder unerklärlich Wunderbares oder Unheimliches auftaucht, gehört sie zur phantastischen Literatur.
Märchen, Sagen oder Mythen gehören zu den ältesten uns bekannten phantastischen Geschichten. Es sind Geschichten, die Welten mit eigenen Gesetzmäßigkeiten entwickeln und deren Figuren wie Hexen, Teufel, Götter übermenschliche Fähigkeiten haben.
Märchen waren es auch, die in der Romantik Vorbild vieler Kunstmärchen waren. Im Unterschied zu den Märchen spielen die romantischen Kunstmärchen allerdings meistens in der Wirklichkeit und gleiten von dort aus ins Unheimliche, Übernatürliche hinüber oder lassen in der Alltagswelt phantastische Figuren oder Gegenstände auftreten.
In Ludwig Tiecks romantischem Kunstmärchen Der blonde Eckbert verwandelt sich beispielsweise ein altes Mütterchen in den Vertrauten Eckberts, um sich an dessen Frau Bertha zu rächen. Bertha hat als Mädchen große Schuld auf sich geladen, als sie den Lieder singenden und Edelstein legenden Vogel des Mütterchen getötet hatte.
In E.T.A. Hoffmanns Die Elixiere des Teufels liegt dagegen auf dem ganzen Geschlecht des Mönchs Medardus ein grausamer Fluch. Nachdem Medardus aus den verbotenen Elixieren des Teufels getrunken hat, verwirrt sich zudem sein Geist und er verlässt das Kloster. Schon bald fühlt er sich vom Teufel verfolgt, verwickelt sich in Liebesbeziehungen, begeht einen Mord und begegnet immer wieder seinem geheimnisvollen Doppelgänger.
Phantastische Geschichten müssen aber nicht unheimlich sein. E.T.A. Hoffmanns Märchen Der goldene Topf hat beispielsweise vor allem witzige Züge. Der Student Anselmus verliebt sich in die blauen Augen eines Schlängleins, das er in einem Holunderbusch entdeckt. Archivarius Lindhorst, in Wahrheit eigentlich ein Salamander und Elementargeist des Feuers und Vater des Schlängleins, erkennt die Phantasiebegabung des Studenten und stellt ihn bei sich an. Bevor Anselmus das Schlänglein als Ehefrau in das Phantasiereich Atlantis heimführen darf, muss Anselmus aber in verschiedenen Prüfungen beweisen, dass er tatsächlich mehr an die Phantasie als an den schnöden Alltag glaubt.
Illustration zu Alice im Wunderland
von John Tenniel
Wegen ihrer Verbindung von realistischen mit phantastischen Elementen wird die Romantik heute als Ursprung der phantastischen Erzählung angesehen. Wobei vor allem die phantastischen Kunstmärchen E.T.A. Hoffmanns spätere Autoren in Deutschland, Frankreich, England und den USA beeinflussten. Edgar Allan Poe baute in seinen gruseligen Geschichten dabei das Unheimliche weiter aus, Lewis Caroll in Alice im Wunderland dagegen den aberwitzigen, nonsenshaften Charakter der phantastischen Erzählung. Und Edith Nesbit übertrug die phantastische Erzählweise, bei der die wirkliche Welt in irgendeiner Form einer überwirklichen begegnet, auf die Kinderliteratur. Mit phantastischen Romanen, in denen Kinder beispielsweise durch eine Tür in die Vergangenheit reisen können (Die Kinder von Arden) oder von einem wunderbaren Wesen Wünsche erfüllt bekommen (Der Sandelf), wurde sie stilbildend für die spätere phantastische Erzählung in England.
Während sich in England und Amerika die phantastische Literatur als Fantasy weiter entwickelte, verschiedene Richtungen ausbildete und sich dabei sowohl an Erwachsene als auch Kinder richten konnte, geriet die phantastische Literatur in Deutschland bis zur Nachkriegszeit weitgehend in Vergessenheit.
Erst in den fünfziger, sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts entstanden mit Otfried Preußlers Kleiner Hexe und dem Räuber Hotzenplotz, James Krüss' Leuchtturm auf der Hummerklippe und Timm Thaler oder Michael Endes Jim Knopf wieder mehrere phantastische Erzählungen. Es sind Geschichten für Kinder, die das Phantastische meist mit dem Wirklichen verknüpfen, Wirklichkeit mit phantastischen Bildern erklären oder einen doppelbödigen Sinn verleihen. Sie folgen damit eher dem romantischen Vorbild als den inzwischen weiter entwickelten englischsprachigen Fantasy-Erzählungen, die meistens in einer erfundene Welt mit eigenen Gesetzen spielen.
In der politischen Umbruchszeit der 1970er Jahre, in der neben anderem gefordert wurde, dass Kinder ernster genommen und fast wie Erwachsene behandelt werden sollten, richtete sich die deutschsprachige, phantastische Erzählung neu aus. Paul Maars Sams dringt frech und klug in die erwachsene Welt des Herrn Taschenbier ein und bringt ihn mit Wunschpunkten dazu, seine eingefahrenen Wege zu verlassen. In Christine Nöstlingers Wir pfeifen auf den Gurkenkönig treibt der anmaßende Gurkenkönig die Familie Hogelmann dazu, über die autoritären oder herrschsüchtigen, vom Vater bestimmten Familienstrukturen nachzudenken. Im Unterschied zum witzigen, tollen Sams ist der Gurkenkönig allerdings ein böses phantastisches Wesen.
Ende der siebziger Jahre findet mit Michael Endes Unendlicher Geschichte in Deutschland wieder eine Kehrtwende der phantastischen Literatur statt. Zum einen löst Die Unendliche Geschichte die phantastische Erzählung aus dem reinen Kinderbereich. Phantastische Literatur wird in Deutschland nun auch von Jugendlichen und Erwachsenen gelesen. Zum anderen verwischt Die Unendliche Geschichte die Grenze zwischen phantastischer Erzählung und des in Deutschland bislang größtenteils verachteten Fantasy.
Folge davon war, dass Fantasy beliebter und überhaupt verlegt wurde und viele Nachahmer fand. Auch ausländisches Fantasy, allen voran der Herr der Ringe von J.R.R. Tolkien, wurde plötzlich sehr viel gelesen.
In den späten 1990er und frühen 2000er Jahren verstärkte J.K. Rowlings Harry-Potter-Reihe die Beliebtheit phantastischer Bücher um ein Vielfaches. Ähnlich wie Die Unendliche Geschichte bewegt sich Harry Potter zwischen Fantasy und phantastischer Erzählung und wird sowohl von Kindern als auch Erwachsenen gelesen.
Illustration zu Alice im Wunderland
von John Tenniel
Heute sind in Deutschland viele phantastische Bücher „all age“-Romane, also Bücher für „jedes Alter“. Gleichzeitig sind die Grenzen zwischen beiden Genres ziemlich durchlässig geworden. Zwar gibt es immer noch klassisch phantastische Erzählungen wie Kate Di Camillos Despereaux oder Julia Donaldsons Das Riesenmädchen und die Minipopps, in denen phantastische Elemente auf wirkliche treffen. Oft kann aber nicht mehr klar entschieden werden, ob eine Geschichte eher Fantasy oder phantastische Erzählung ist. So zum Beispiel bei den Artemis Fowl-Bänden von Eoin Colfer oder der Warrior Cats-Reihe von Erin Hunter.
Struktur der phantastischen Literatur
Geschichten entspringen immer der Phantasie des Autors. Sie sind nie wirklich so passiert, wie sie aufgeschrieben wurden. Trotzdem gibt es Geschichten, die man als realistisch oder wirklich empfindet. Das ist dann der Fall, wenn in ihnen nur Dinge passieren, die uns auch im echten Leben passieren könnten. Aus dem Grund spricht man von ihnen als realistischen Geschichten oder realistischer Literatur.
Illustration zu Alice im Wunderland
von John Tenniel
Phantastische Erzählungen sind dagegen Geschichten, in denen Dinge passieren, die in unserem echten Leben nie passieren könnten. Personen können zum Beispiel wie in die Feuerrote Friederike fliegen, sie können an einen phantastischen Ort reisen wie Wendy mit Peter Pan, sie können wie Christopher in Pu der Bär mit Tieren sprechen oder wie Despereaux selbst sprechende Tiere sein, oder sie können wie Harry Potter mit magischen Gegenständen zaubern oder unsichtbar werden. Sie können wie Pinnocchio lange Nase bekommen, wie Pippi Langstrumpf unglaublich stark sein, wie eine verschrumpelte Kartoffel aussehen (Wir pfeifen auf den Grukenkönig) oder wie das Sams Wunschpunkte im Gesicht haben. Sie können klein wie Nils Holgerson oder zum riesigen Luftballon aufgeblasen werden wie Violetta in Charlie und die Schokoladenfabrik.
Außerdem kann es in phantastischen Erzählungen Orte und Zeitverschiebungen geben, die in unserer realistischen Welt nicht möglich sind. Das Riesenmädchen wohnt über den Wolken (Das Riesenmädchen und die Minipopps), Alice verschwindet im Mauseloch (Alice im Wunderland) und Zeit verschwindet auf Bankkonten (Momo).
Die Orte können an einem phantastischen Irgendwo sein, das parallel zu unserer Wirklichkeit existiert (Zauberer von Oz), geträumt werden (Wo die wilden Kerle wohnen) aber auch im eigenen Haus sein (Die Spiderwicks).
Auch die Zeit an dem phantastischen Ort entspricht häufig nicht unserer. Wenn die Helden von ihrer langen Reise an den phantastischen Ort zurück kommen, ist im realen Ort gleichzeitig meistens nur wenig Zeit vergangen. Als Max beispielsweise in Wo die wilden Kerle wohnen, nach fast zwei Jahren wieder nach Hause kommt, ist zu Hause in der gleichen Zeit vielleicht gerade eine Stunde vergangen.
Weil es so verschiedene Arten gibt, die realistischen mit den phantastischen Elemente zu mischen, haben Literaturwissenschaftler im Laufe der Zeit versucht, die phantastischen Erzählung in verschiedene Versionen einzuteilen. Im Groben kann man von drei Hauptversionen phantastischer Erzählweise sprechen:
- Die Geschichte spielt in der realen Welt, in der es phantastische Wesen gibt (Eine Woche voller Samstage, Die kleine Hexe) oder Gegenstände (James und der Riesenpfirsich) oder die Helden phantastische Fähigkeiten haben (Pippi Langstrumpf, Matilda).
Die phantastischen Elemente tragen meistens dazu bei, die realistische Welt durch andere Sichtweisen zu bereichern oder bestehende, verhärtete Strukturen aufzubrechen und zu verbessern. Das Sams macht aus Herrn Taschenbier einen mutigeren Menschen, der phantastische Riesenpfirsich verändert James ganzes Leben und Pippi Langstrumpf zeigt, dass nicht nur Jungs, sondern auch Mädchen stark und frech sein können. -
Phantastische und reale Welt existieren nebeneinander, wobei die phantastische Welt von der realen Welt in irgendeiner Weise abhängig ist. Sehr oft spiegelt die phantastische Welt die realistische Welt in verkehrter, überzeichneter oder veränderter Form wieder. Und sehr oft muss die phantastische Welt gerettet werden, wobei dadurch gleichzeitig die Probleme, die der Held in der Realität hatte, gelöst werden (Mio, mein Mio, Die Unendliche Geschichte).
Illustration zu Alice im Wunderland
von John Tenniel
Die phantastische Welt wird durch sogenannte „Umsteigepunkte“ betreten. Diese können Träume (Wo die wilden Kerle wohnen / Alice im Wunderland), Türen (Die Kinder von Arden), der Erzähler selbst (Pu der Bär) oder auch allein die Phantasietätigkeit des Helden (Die Unendliche Geschichte) sein. - Die gesamte Geschichte spielt in der phantastischen Welt. Dieser Typ der phantastischen Geschichte ist allerdings selten. Im Unterschied zu Fantasy wird in der phantastischen Erzählung hier keine mythische, vergangene oder auch andersartig technische Welt dargestellt, sondern eine poetische, märchenhafte oder metaphernreiche Welt. Die Bilder können in die Realität übertragen werden und dadurch Realität erklären. Wenn wie in Michael Endes Jim Knopf beispielsweise Menschen wie Ping Pong erbsenklein oder wie der Scheinriese TurTur in der Ferne riesig groß wirken können, so beschreiben diese Metaphern, wie Menschen in der Wirklichkeit auf uns wirken können.
Phantastisch sind diese Erzählungen nicht nur wegen ihrer metaphernhaften Bilder, sondern auch wegen ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit. Michael Endes Figuren Jim Knopf und der Lokomotivführer reisen beispielsweise wie auf einem Spielplan um die Welt. Die Mumins von Tove Jansson bewegen sich dagegen in einer Welt, die unsere Welt zwar spiegelt, andererseits märchenhaft sinnvoll geordnet ist. Die Figuren sind trotz ihrer Schrullen liebenswert und die phantastischen, bedrohlichen Abenteuer finden meistens einen guten Abschluss.
Funktion der phantastischen Literatur
Im Unterschied zur realistischen Literatur steht die phantastische Literatur in Deutschland häufig in der Kritik. Während man bei der realistischen Literatur davon ausgeht, dass sie einfach nötig ist, um den Lesern die Welt zu erklären, rätselt man bei der phantastischen Literatur, was sie für einen Vorteil oder Nutzen für uns haben könnte. Literaturwissenschaftler haben im Laufe der Zeit für die (Kinder-)Literatur mehrere Haupt-Funktionen ausfindig gemacht:
- Die phantastische Erzählung allgemein entspricht der Sichtweise des Kindes. Aus dem Grund kann sie Kindern besonders gut die Wirklichkeit erklären.
- Die phantastische Erzählung allgemein unterstützt und fördert die Phantasietätigkeit des Lesers. Phantasietätigkeit ist bei der Lösung von Problemen im Alltag und bei der Entwicklung von Alternativen wichtig.
- Phantastische Erzählungen können im Besonderen bekannte Sichtweisen durchbrechen. Sie können also einen subversiven, umstürzlerischen, aber gleichzeitig auch konstruktiven, visionären Charakter haben. (Bsp.: Momo)
- Phantastische Erzählungen können eine tröstende Funktion haben. Sie können Dinge, wie zum Beispiel den Tod, erklären und ihm eine zwar unvernünftige, aber sinnstiftende Begründungen geben. (Bsp.: Brüder Löwenherz)
- Phantastische Erzählungen können aber auch eine einschläfernde oder schonende Funktion haben. Das ist dann der Fall, wenn sie die Realität schön reden oder ein Ventil bieten, Wut oder Schmerz über Probleme abzulassen, ohne den Leser zu anderem Handeln aufzufordern. (Bsp.: Mio, mein Mio)
- In Überschneidung mit Fantasy wird phantastischen Erzählungen häufig Eskapismus, das ist Flucht aus der Wirklichkeit, vorgeworfen. Das ist vor allem bei Büchern, die eigenständige Parallelwelten entwickeln, der Fall. Denn diese Bücher eigenen sich besonders gut dazu, sich aus der Wirklichkeit weg- und in eine phantastische Welt hineinzuträumen. (Bsp.: Mumin-Reihe)
- Nicht zuletzt ist eine wesentliche Funktion phantastischer Literatur, spannend und unterhaltsam zu sein. Aus dem Grund eignet sich die phantastische Erzählung auch besonders gut, Kindern Lust auf Literatur zu machen, und die meisten Klassiker der Kinderliteratur gehören deshalb wohl auch zur phantastischen Literatur.
Links
http://www.rossipotti.de/ausgabe23/titelbild.html
http://www.rossipotti.de/ausgabe01/das_geheime_buch.html
http://www.afrika-junior.de/de/kinder/buecher/phantastische-geschichten....
Quellenangabe
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Kautt, Annette: Phantastische Literatur. In: Rossipotti-Literaturlexikon; hrsg. von Annette Kautt; https://www.literaturlexikon.de/genres/phantastische_literatur.html; Stand: 26.08.2016.