Gegenwart
Texte, die heute, in der Gegenwart, geschrieben werden oder in den Jahrzehnten davor verfasst wurden, bezeichnet man als Gegenwartsliteratur. Das heißt, dass die Autoren meistens noch leben und ihre Bücher sich häufig auf die heutige Zeit beziehen oder auf einen Zeiraum, der noch nicht lange zurückliegt. |
Bedeutung
Als deutsche Gegenwartsliteratur bezeichnet man die Literatur, die seit 1989, dem Jahr des Mauerfalls, von deutschen Autorinnen und Autoren verfasst worden ist. Dazu gehören alle literarischen Gattungen, also Romane, Kurzgeschichten, Gedichte, Theaterstücke, aber auch Biographien und andere Sachbücher.
Die Begriffe „Erinnerungsliteratur“, „Popliteratur“ und „Schreibschulliteratur“, die weiter unten erklärt werden, bezeichnen einige Strömungen dieser Texte. Oft beschreibt man sie mit dem zusammenfassenden Ausdruck „gleichzeitige Ungleichzeitigkeit“: Viele verschiedene Erzählweisen, Romanformen, Stilarten und so weiter existieren heute gleichzeitig nebeneinander und sind erfolgreich und anerkannt – mehr als zu anderen Zeiten. Auch sind neue Formen des Schreibens verbreitet, beispielsweise das Bloggen, also das Schreiben einer Art von Tagebuch im Internet, das jeder machen und von jedem gelesen werden kann und so genannte Poetry Slams, Dichterwettbewerbe, bei denen Autoren ihre Texte mündlich vortragen.
Erinnerungsliteratur
Wenn ein Schriftsteller oder Dichter sich mit der Vergangenheit seines Landes, seiner Kultur oder auch nur mit seiner eigenen Geschichte auseinander setzt, so wirft er einen Blick zurück und erinnert sich in gewisser Weise an das, was früher war. Literarische Texte, die so einen Blick zurück werfen, nennt man Erinnerungsliteratur.
Titelbild zu
„Die Mittagsfrau“
von Juli Franck,
S. Fischer (2007)
Interessant ist, dass die Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts eine zentrale Rolle in der deutschen Literatur spielt. So handeln viele Romane vom Dritten Reich, also der Zeit unter Hitler und der Nachkriegszeit. Zum Beispiel Julia Francks Roman Die Mittagsfrau (2007), für den sie im Veröffentlichungsjahr den Deutschen Buchpreis bekam. Oder Katharina Hackers Roman Eine Art Liebe (2003), Günter Grass’ Novelle Im Krebsgang (2002) und Uwe Timms autobiographische Erzählung Am Beispiel meines Bruders (2003).
Auch das Leben in der ehemaligen DDR (Deutsche Demokratische Republik) ist ein wichtiges Thema für die deutsche Gegenwartsliteratur. Nach dem Fall der Mauer 1989 und der Wiedervereinigung Deutschlands erlosch die erste helle Begeisterung der Autoren aus der ehemaligen DDR schnell: Zwar waren sie glücklich über ihre neue Redefreiheit und die Möglichkeit, ohne staatliche Zensur Romane schreiben und veröffentlichen zu können. Gleichzeitig merkten sie aber schnell, dass es auch in dem neuen gesamtdeutschen Staat Probleme gab, und in ihnen wuchs das Bedürfnis, sich an ihre Vergangenheit und ihr Leben in der DDR zu erinnern. So entstanden eine ganze Reihe von Büchern, die sich auf unterschiedliche Weise mit der DDR auseinandersetzen. Thomas Brussig zum Beispiel schrieb mit Helden wie wir (1995) einen lustigen und unterhaltsamen Roman über die Ex-DDR, der von den Literaturkritikern schnell als „DER Wenderoman“ bezeichnet wurde und zum Bestseller avancierte. Auch sein Roman Wie es leuchtet (2004) handelt von der Wendezeit und war sehr erfolgreich.
Titelbild zu „Der Turm“
von Uwe Tellkamp,
Suhrkamp (2008)
Andere Autoren schrieben anspruchsvolle, schwierige Werke wie Christoph Hein den Roman Landname (2004) und Uwe Tellkamp den Roman Der Turm. Der Turm ist in einer verschlungen-gedrängten, poetischen Sprache geschrieben und handelt von den letzten sieben Jahren der DDR. Für diesen Roman wurde der Autor im Jahr 2008 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Eugen Rugens autobiografischer Roman In Zeiten des abnehmenden Lichts (2011) wiederum handelt von dem Leben einer wohlhabenden Familie in der DDR, von den verschiedenen Generationen und ihrem unterschiedlichen Umgang mit dem politischen System der DDR. Der Autor erhielt für seinen gleichzeitig unterhaltenden und doch komplexen Roman den Deutschen Buchpreis 2011.
Popliteratur
Anders, als man es vielleicht denken könnte, ist die deutsche „Popliteratur“, die nach der Wende in Deutschland entstand, keine Literatur, in der es vor allem um „Popmusik“ geht oder „in der Platten vorkommen“, wie es mal ein Kritiker ironisch formuliert hat, sondern Literatur, die das Leben von jungen Menschen beschreibt. Sie sind Anfang bis Mitte 20 und suchen nach dem Sinn ihres Lebens, indem sie reisen, Partys feiern, viel trinken, Drogen nehmen, sich Markenklamotten kaufen, fernsehen und im Internet surfen. Man sagt, dass die Werke stark vom „Zeitgeist“ bestimmt sind. Damit meint man, dass die Moderatoren, Fernsehstars, Kleidermarken, Politiker, die in den Romanen genannt werden, real oder wirklich existieren und zu der Entstehungszeit der Texte besonders angesagt und ,hip’ waren.
Titelbild zu „Faserland“
von Christian Kracht,
Kiepenheuer & Witsch (1995)
Typisch für die Popliteratur der 90er Jahre ist auch, dass sie in einem lockeren, umgangssprachlichen Stil geschrieben ist, der sich an der mündlichen Sprache vor allem von jungen Menschen, der Jugendsprache, orientiert. Das führte dazu, dass viele Literaturkritiker die Romane als wenig künstlerisch und oberflächlich kritisierten. Junge Leser aber liebten die Bücher so, dass die wichtigsten Romane von Christian Kracht, Faserland (1995) und von Benjamin von Stuckrad-Barre, Solo-Album (1998) zu Bestsellern wurden und der deutschen Gegenwartsliteratur, die zu dem Zeitpunkt auch im eigenen Land nicht besonders angesehen war, zu mehr Respekt und Erfolg verhalfen.
Die Autoren der Popliteratur hatten zudem im Allgemeinen das, was man „starke Namen“ nennt: Allein ihr Name, mit denen die Leser sofort ein Gesicht und eine Lebensgeschichte verbanden, führte dazu, dass sich ihre Bücher gut verkauften. Die Verlage, die die Romane publizierten, vermarkteten die Autoren also selbst, nicht nur ihre Texte. In ihren Verlagsprospekten druckten sie schicke Fotos von den Autoren, beschrieben ihr Leben und Werk und schickten sie in Talkshows und zu Interviews.
Das „Fräuleinwunder“
Die „starke“ Autorschaft hat nicht nur die Popliteratur befördert, sondern auch das so genannte „Fräuleinwunder“ hervorgebracht. Der Begriff „Fräuleinwunder“ ist ein ziemlich blöder Begriff, der von hauptsächlich männlichen Literaturkritikern erfunden wurde. Sie beschäftigten sich kaum mit den Texten dieser Literaturrichtung, sondern vor allem mit deren hübschen Autorinnen, den so genannten „Fräuleins“. So hat die Bezeichnung „Fräuleinwunder“ auch nichts mit der literarischen Qualität der Werke zu tun, sondern beschreibt das Geschlecht, das Alter, den Lebensstil und das Aussehen der Autorinnen. Das Wort „Fräulein“ ist ein veralteter Begriff, mit dem man früher eine nicht verheiratete Frau benannt hat, im Gegensatz zu dem Wort „Frau“, das nur für eine verheiratete Frau galt. Heutzutage werden Frauen nicht mehr danach definiert, ob sie verheiratet sind oder nicht. Deshalb wird das Wort so gut wie nicht mehr verwendet. Dass es trotzdem im Zusammenhang mit einer literarischen Strömung ab 1999 verwendet wurde, ist nicht nur oberflächlich, sondern auch diskriminierend: Literaturkritiker würden wahrscheinlich nie auf die Idee gekommen, die Literatur von einer Gruppe von Männern als „Junggesellenüberraschung“ oder „Witwerlyrik“ zu bezeichnen. Bei der Bezeichnung von bestimmten literarischen Richtungen sowie bei der Besprechung und Kritik von literarischen Werken sollte es immer und vor allem um die Texte selbst gehen, nicht um das Privatleben der Autorinnen und Autoren. Dass dann auch noch von „Wunder“ gesprochen wurde, grenzt an eine Frechheit: Es war also ein „Wunder“ für die Literaturkritiker, dass junge Frauen, die „Fräuleins“, Erfolg mit ihren Büchern hatten.
Titelbild zu „Relax“
von Alexa Hennig von Lange,
Rowohlt (1997)
Der Begriff soll Bücher beschreiben, die in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts von jungen, gut aussehenden und begabten Single-Frauen verfasst wurden, allen voran den sensationellen Bestseller Sommerhaus, später (1998). Es handelt sich um einen Erzählungsband von Judith Herrmann, in dem meistens schöne junge Menschen sich langweilen und betrinken, sich unglücklich lieben und betrügen, auf der Suche nach einem Lebenssinn sind und das Glück irgendwie immer verfehlen. Besonders an Herrmanns Texten ist ihre Sprache, die klar, knapp und doch poetisch ist und einen unverwechselbaren Rhythmus hat. Judith Herrmann sieht auf den Fotos, die ihr Verlag von ihr verbreitet hat, rätselhaft, blass und unnahbar aus. Die geheimnisvolle Aura der Autorin, die von dem Verlag vermarktet wurde, hat einen Teil zum Erfolg des Buches beigetragen.
Auch Alexa Hennig von Lange, die unter anderem als Moderatorin einer Fernsehsendung für Kinder und als Modell gearbeitet hat und deren langes kupferrotes, gelocktes Haar schnell zu ihrem Markenzeichen wurde, zählt zu den Autorinnen des „Fräuleinwunders“. Sie wurde durch ihren ersten Roman Relax (1997) schlagartig bekannt, in dem sie die unglückliche Liebe einer jungen Frau und eines jungen Mannes beschreibt, die ständig Partys feiern, Drogen nehmen und sich missverstehen.
Titelbild zu
„Ein schnelles Leben“
von Zoé Jenny,
Aufbau (2002)
Nicht zuletzt ist die hübsche Schweizer Autorin Zoё Jenny zu nennen, die wegen ihrer dunklen langen Haare, ihrer blassen Haut und ihrem verträumten Blick von der Presse gerne als Mischung aus Schneewittchen und Alice im Wunderland beschrieben wird und in ihrem Erfolgsroman Das Blütenstaubzimmer von 1997 die vergebliche Suche der jungen Frau Jo nach Nähe zu ihren Eltern beschreibt, die neue Partner haben, und in deren Leben die Tochter keinen Platz mehr hat. „Es geht um die Unbehaustheit, um die Grundstimmung der Verlorenheit - um meine Generation", äußerte die damals 23jährige Autorin in einem Interview.
Inhaltlich handeln die ,Fräuleinbücher’ also immer von – relativ - jungen Menschen, die in einer leeren und trostlosen Welt nach Sinn, Glück, Liebe und Erfüllung suchen. So ähneln die Geschichten denen der Popliteratur, zu der sie nach literaturwissenschaftlichen Kriterien auch gehören.
Allen drei Autorinnen ist zudem gemein, dass sie besonders aussehen und dass die Verlage mit ihren interessanten Gesichtern und Lebensgeschichten fast mehr Werbung gemacht haben als mit ihren Texten. Das sieht man auch daran, dass man, wenn man heute nach Artikeln zu den Autorinnen recherchiert, mehr Artikel zu ihren Persönlichkeiten und Lebensläufen findet, als Rezensionen zu ihren literarischen Werken. Die Autorinnenpersönlichkeit dominiert hier den literarischen Text, so könnte man es formulieren. Nicht zuletzt ist für die literarische Karriere aller drei Frauen typisch, dass sie mit einem Bestseller schlagartig bekannt wurden, mit ihren späteren Büchern aber nie an ihren ersten überwältigenden Erfolg anknüpfen konnten.
Schreibschulliteratur
Lange Zeit dachte man in Deutschland, Schriftsteller seien Genies, deren Talent zum Schreiben ihnen angeboren sei. Schreiben war demnach nichts, was man erlernen konnte – man hatte die Gabe dazu oder nicht. Diese Einstellung hat sich spätestens seit der Jahrhundertwende deutlich geändert. Heute ist man der Meinung, dass gewisse Fertigkeiten, die man zum Schreiben braucht, durchaus erlernt werden können, beispielsweise eine Sensibilität für Sprache und Stil, das Wissen darüber, wie man eine spannende Geschichte aufbaut oder wie man interessante Charaktere konstruiert. Das ist eine Auffassung, die in England und Amerika schon lange weit verbreitet ist. Dort gibt es ein vielfältiges Angebot an Kursen zum „Kreativen Schreiben“ („creative writing“), das sogar an Schulen als Fach belegt werden kann.
Titelbild zu
„Spieltrieb“
von Juli Zeh,
Schöffling (2004)
In den letzten Jahren sprießen auch in Deutschland immer mehr universitäre Literaturinstitute und Institute für Kreatives Schreiben aus dem Boden. Das renommiertetes und traditionsreichstes unter ihnen ist die ,Schreibschule’ Deutsches Literaturinstitut Leipzig, das allerdings schon zu Zeiten der DDR existiert hat. Viele heute erfolgreiche Jungautoren – sie sind meistens zwischen 1975 und 1985 geboren, also heute Mitte 20 bis Mitte 30 Jahre alt – haben an dem Institut studiert. Beispiele sind Juli Zeh, Franziska Gerstenberg, Clemens Meier, Ricarda Junge und Martina Hefter. Man sagt, dass es jedem zweiten Absolventen einer anerkannten Schreibschule gelingt, ein Buch zu veröffentlichen.
Allerdings gibt es einige Literaturkritiker und -wissenschaftler, die die Literatur von Schreibschulabsolventen wenig schätzen: Sie sagen, die Texte seien zwar handwerklich gut geschrieben, aber in einem immer ähnlichen – da erlernten – Stil verfasst, und die Autorinnen und Autoren hätten keine besonderen, spannenden Geschichten zu erzählen, sondern würden immer nur schreibend um ihre eigenen kleinen Leben kreisen, ihre Kindheit, unglückliche Liebe, das Single-Leben in einer Großstadt oder etwas in der Art.
Die großen ,Alten’
Neben den bereits genannten Autoren, die fast alle eher jung sind, also die 50 nicht überschritten haben, gibt es auch einige wichtige deutschsprachige Autoren, deren Werke sich nicht ,nur’ einer der beschriebenen literarischen Strömungen der deutschen Gegenwartsliteratur zuordnen lassen. Dazu ist ihr Werk zu umfassend, vielfältig und wohl auch zu ,groß’(-artig). Martin Walser, W. G. Sebald, Christa Wolf und andere zählen dazu sowie drei Autorinnen und Autoren, die den wichtigsten Literaturpreis der Welt gewonnen haben, den Nobelpreis für Literatur: Günther Grass bekam ihn 1999, Elfriede Jelinek 2004 und Herta Müller 2009.
Titelbild zu
„Die Blechtrommel“
von Günter Grass,
Luchterhand (1959)
Für Günter Grass, der 1927 geboren wurde, war es immer wichtig, mit seiner Literatur „gegen das Vergessen anzuschreiben“. Insofern können viele seiner Werke, die beispielsweise den Nationalsozialismus thematisieren oder vor dessen Hintergrund handeln, als „Erinnerungsliteratur“ (siehe oben) beschrieben werden. Auch die Werke, die in der Nachkriegszeit spielen, wie die Novelle Im Krebsgang (2002), behandeln die Thematiken des Vergessens und der Schuld. So erklärte das Komitee, das ihm den Nobelpreis verlieh, Grass würde dafür geehrt, dass er „in munterschwarzen Fabeln das vergessene Gesicht der Geschichte gezeichnet hat.“ Der erste wichtige Roman des Autoren war Die Blechtrommel (1959). Er handelt von dem kleinwüchsigen und hochbegabten Jungen Oskar Matzerath, der mit drei Jahren beschließt, nicht mehr weiter zu wachsen und aus dieser eigentümlichen gleichzeitig kindlichen und erwachsenen Perspektive die Geschichte seiner Familie im 20. Jahrhundert erzählt. Oskar ist ein seltsamer und interessanter Held mit komischen Verhaltensweisen. Zum Beispiel schleppt er immer eine Blechtrommel mit sich herum, die ihm seine Mutter geschenkt hat. Und er kann so hell und schrill schreien, dass alles Glas in seiner Nähe zerspringt.
Typisch für Grass’ Texte ist das, was man seine Lust am Fabulieren nennt: eine sehr fantasievolle, bunte, auch märchenhafte Erzählweise, in der viele verschiedene Ideen, Motive und Geschichten miteinander vermischt werden. Als Günther Grass den Nobelpreis für Literatur bekam, waren sich alle mehr oder weniger einig: Der hat es verdient!
Als jedoch im Jahr 2004 die österreichische Schriftstellerin Elfriede Jelinek mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnet wurde, ging ein Aufschrei der Empörung durch die Literaturwelt und viele waren geschockt über diese Entscheidung. Elfriede Jelinek wurde 1946 geboren und lebt zurückgezogen in Wien und München. Sie schreibt provokante, höhnische, auch brutale und niederdrückende Texte, darunter vor allem Romane und Theaterstücke, die unter anderem als „politische Literatur“ bezeichnet werden können. Jelinek wendet sich in ihnen beispielsweise gegen die konservative Politik, Rechtsradikalismus und Ausländerfeindlichkeit in ihrem Heimatland Österreich und gegen die – sexuelle – Unterdrückung der Frau. In ihren Romanen und Dramen vermischt die Autorin verschiedene Stimmen miteinander, spielt mit der Sprache, erfindet ungewöhnliche und of erschreckende und abstoßende Bilder und lässt dabei am laufenden Band Schreckliches und Furchtbares geschehen: Menschen werden unterdrückt, betrogen und umgebracht, Frauen werden vergewaltigt, es gibt keine glückliche Liebe, keine Hoffnung.
Iris Radisch, eine bekannte Literaturkritikerin, schreibt dazu:
„,Elfriede Jelinek schreibt nicht Bücher, sie schreibt Bücher voll’, schrieb eine Autorin einmal, nicht ohne fröstelnde Bewunderung. Doch das Gegenteil ist der Fall: Ihre Bücher sind leer. Und wollen es sein. Leer an Erfahrung, leer an Gefühlen, leer an Poesie. Es gibt in ihnen keinen Himmel, keine Liebe, keine Gedanken, keine Farben, keine Töne, keinen Geruch, kein Licht, keine irdische und keine überirdische Welt. Es gibt nur eine einzige Materie und von dieser wie zum Ersatz unerschöpflich viel: Müll. Menschenmüll, Naturmüll, Beziehungsmüll, Liebesmüll, Familienmüll, Medienmüll, Sprachmüll.“
Titelbild zu
„Die Klavierspielerin“
von Elfriede Jelinek,
Rowohlt (1983)
Eines der erfolgreichsten Bücher von Elfriede Jelinek ist Die Klavierspielerin, ein Roman, in dem es um eine krankhafte Mutter-Tochter-Beziehung geht. Obwohl die Tochter, Erika, schon Ende 30 ist, wohnt sie immer noch mit ihrer Mutter zusammen, ja, schläft sogar in einem Ehebett mit ihr. Die dominante und bösartige Mutter unterdrückt ihre Tochter und will unbedingt eine erfolgreiche Pianistin aus ihr machen. Erika gelingt zwar keine erfolgreiche Karriere als Solo-Pianistin, aber sie wird immerhin Professorin an einer Hochschule. Sie ist eine zutiefst deprimierte Frau ohne Freunde, ohne Liebesbeziehung, ohne Glück. Ihre Mutter schikaniert und kontrolliert sie ohne Unterlass. So kommt es, dass auch Erika sich immer seltsamer benimmt, sich beispielsweise selbst Verletzungen zufügt, anderen Menschen zu schaden versucht und ein krankhaftes Sexualverhalten entwickelt. Als ein Schüler sich in sie verliebt, weiß sie nicht, wie sie darauf reagieren soll. Natürlich endet auch diese Geschichte hässlich und schmutzig, und Jelinek führt den Lesern einmal mehr die absolute Sinnlosigkeit und Leere des Lebens vor Augen.
Und heute?
Heute gibt es keine besonderen literarischen Strömungen, die beschrieben werden, bis auf Publikationen, die zur Erinnerungsliteratur gehören (siehe oben). Allerdings werden literarische Richtungen und Epochen häufig erst im Nachhinein, wenn ihr Höhepunkt schon überschritten ist, benannt und definiert. Es kann also gut sein, dass man in 50 Jahren sagen wird: Die ersten beiden Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts waren die Zeit des „Magischen Realismus“ oder der „nüchternen Protokollromane“ oder…?
Allgemein gilt nach wie vor, dass ein Graben existiert zwischen Literatur, die mit Literaturpreisen ausgezeichnet wird, und Literatur, die sich gut verkauft. Krimis, leichte Frauen-Unterhaltungsromane und erzählende Sachbücher stehen oben auf den Bestsellerlisten, werden dafür aber selten mit wichtigen Literaturpreisen ausgezeichnet. Genau andersherum ist es mit anspruchsvollen literarischen Werken.
Nur wenigen Autoren gelingt es, diesen Graben zu überwinden, so wie Wolfgang Herrndorf mit seinem generationsüberschreitenden Roadmovie, dem Jugendroman Tschick (2010), für den er 2011 den Deutschen Jugendliteraturpreis bekam. Auch Daniel Kehlmann ist so ein Autor: Sein internationaler Bestseller Die Vermessung der Welt (2005) stand 2006 auf Platz zwei der weltweit am meisten verkauften Bücher, wurde in sagenhafte 40 Sprachen übersetzt und gleichzeitig mit so wichtigen Literaturpreisen wie dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung und dem Kleist-Preis ausgezeichnet. Kehlmann schreibt in dem Roman die Lebensgeschichten des berühmten Naturforschers Alexander von Humboldt und des ebenfalls bekannten Mathematikers Carl Friedrich Gauss neu, um, erweitert, verändert, ergänzt und verfälscht sie. Der Autor hat nicht den Anspruch, historisch genau und korrekt von dem Leben der beiden Naturwissenschaftler zu berichten. Dazu äußerte er in einem Interview: „Ich wollte schreiben wie ein verrückt gewordener Historiker.“ Vielmehr schreibt Kehlmann, die beiden historischen Figuren zum Anlass nehmend, über das Älterwerden und die Frage, was es bedeutet „deutsch“ zu sein, nachzudenken. Es ist viel darüber nachgedacht und diskutiert worden, warum ausgerechnet Kehlmanns Roman, der insgesamt komplexer und stilistisch schwieriger als andere Bestseller-Literatur ist, ein Weltbestseller wurde. Ein möglicher Grund dafür ist die Tatsache, dass der Text mit seinen naturwissenschaftlichen Themen viele Naturwissenschaftler, Ingenieure, Techniker und andere anspricht, die sonst keine Belletristik lesen. Kehlmann äußerte außerdem: „Und es geht ja auch um Abenteuer, um Reisen, um das Bergsteigen, und ein bisschen ist das wohl ein Thema für große Jungs.“
Bestimmte Züge von Die Vermessung der Welt sind auch allgemein für die gegenwärtige deutsche Literatur in der Zeit der Postmoderne gültig. „Postmoderne“ ist ein schwieriger wissenschaftlicher Begriff und bezeichnet die Zeit „nach der Moderne“, obwohl man doch eigentlich denken könnte, dass die Zeit JETZT die Moderne ist. Die Debatte darüber, was „postmodern“ eigentlich heißt, und wie „postmoderne“ Kunst oder Literatur aussieht, ist kompliziert. Typisch aber ist, dass – wie oben schon beschrieben – viele verschiedene Stilarten, Schreibweisen, Textsorten gleichzeitig anerkannt werden, und dass es keine strenge Unterscheidung zwischen „hoher“, also anspruchsvoller, und „niedriger“, also ,einfacher’ Unterhaltungsliteratur gibt. So ist auch Kehlmanns Roman eine Mischung aus vielen verschiedenen Genres und Themen: Abenteuergeschichte, historischer Roman, Satire über zwei Naturwissenschaftler etc. und spricht damit eine breite Leserschaft an.
Titelbild zu
„Poetry Slam - das Buch“ von
Mischa-Sarim Vérollet (Hrsg.),
Carlsen (2010)
Da die Grenze zwischen „ernster“ und „unterhaltsamer Literatur“ heute nicht mehr so genau definiert ist wie früher, und die Meinung vorherrscht, dass nicht nur Genies schreiben (lernen) können, sondern auch ganz ,normale’ Menschen, spricht man allgemein von einer „Demokratisierung“ des Literatur- oder Kunstbegriffs. Das heißt, Literatur soll von allen für alle sein. Im Zuge dieser Bewegung sind mittlerweile neue Formen des Schreibens bekannt und erfolgreich. So zum Beispiel das Bloggen, also das Schreiben einer Art von Tagebuch im Internet, das jeder machen und von jedem gelesen werden kann, und so genannte „Poetry Slams“. Poetry Slams sind Dichterwettbewerbe, bei denen Autoren ihre Texte mündlich vortragen, und es nicht nur auf die Qualität des Textes ankommt, sondern auch und vor allem darauf, wie der Autor seinen Text vorträgt, nämlich am besten, indem er singt, schauspielert, tanzt, den Text also künstlerisch untermalt.
Links
Quellenangabe
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Schrimpf, Ulrike: Gegenwart. In: Rossipotti-Literaturlexikon; hrsg. von Annette Kautt; https://www.literaturlexikon.de/epochen/gegenwart.html; Stand: 22.06.2012.