[Diese Seite drucken]
Salon Albert
Hallo,
heute machen wir einmal alles umgekehrt!
Die Großen kommen nach vorne und die Kleinen gehen ein paar
Stuhlreihen nach hinten.
Nicht drängeln bitte! Es sind genügend Stühle da.
Können Sie da vorne bitte ihre Bommel-Mütze abnehmen und
Sie eine Reihe dahinter bitte aufpassen, dass Sie ihren Schirm nicht
Ihrer Nachbarin ins Auge stoßen? Vielen Dank!
Sie brauchen noch ein Bonbon, weil Sie einen starken Husten haben?
Hat jemand von Ihnen vielleicht ein Hustenbonbon dabei?
Sehr schön, die Dame mit der gelben Tasche kann Ihnen eins
geben.
Bei wem klingelt denn da gerade das Handy? Können Sie es bitte
ausschalten?
So, dann können wir ja endlich anfangen:
Herzlich willkommen in meinem literarischen
Salon!
Es freut mich, dass ihr euch trotz
des kalten Regenwetters auf den Weg zu mir gemacht habt, um etwas
über einen Lyriker zu erfahren, der Gedichte für Kinder
schreibt.
Die Kinder unter euch werden ihn wahrscheinlich gut kennen, denn
er ist einer der bekanntesten deutschsprachigen Kinderlyriker überhaupt:
Josef Guggenmos.
Die Erwachsenen unter euch werden den
schmalen, fast zerbrechlich wirkenden Mann mit der großen
Brille und die seltsam melodiöse Stimme, mit der er seine Gedichte
vortrug, wohl lange vergessen haben. Wahrscheinlich haben sie nicht
einmal bemerkt, dass Guggenmos bereits 2003 im Alter
von 81 Jahren gestorben ist.
Fangen wir deshalb nochmal ganz von vorne
an: Mit seinen Gedichten.
Ja, nicht mit seiner Biographie. Das ist
bei Autoren für Kinder nicht üblich. Ich weiß nicht,
warum, aber um das Leben eines Kinderbuchautors macht man gewöhnlicherweise
keinen großen Sums.
Bei Autoren für Erwachsene ist das übrigens anders. Über
sie werden dicke Bücher geschrieben. Es wird gerätselt,
wer dieser oder jener war oder ist. Autoren für Erwachsene
finden das gut so. Denn sie wollen nach ihrem Tod durch ihre Bücher
weiter leben.
Kinderbuchautoren nehmen sich dagegen meistens nicht so wichtig.
Und vielleicht werden sie deshalb von Erwachsenen auch nicht so
wichtig genommen.
Liest man das wenige, das über Guggenmos
geschrieben wurde, bekommt man von ihm übrigens auch den Eindruck
eines sehr bescheidenen Menschen. Und dieser bescheidene Mensch
hatte, wie es seiner Natur entsprach, eine Vorliebe für die
kleinen, leisen Dinge des Lebens.
Für eigentlich unscheinbare Dinge, die man im Alltag plötzlich
entdecken und mit Worten in Nicht-Alltägliches, Wunderbares
verwandeln kann, um sie anderen sichtbar zu machen. Für Außerirdische
hätte Guggenmos wahrscheinlich nichts übrig gehabt. Außer
sie hätten ihm als Käfer auf einer Tomate sitzend zugewunken
oder als Winzling verschmitzt aus einer alten Truhe zugeblinzelt.
Jetzt bin ich gespannt, ob meine erwachsenen
Gäste die Schönheit der unaufgeregten, leichtfüßigen
Verse von Guggenmos verstehen. Denn trotz ihrer Leichtigkeit bergen
sie alle ein Geheimnis in sich.
Um es den Erwachsenen nicht zu schwer zu machen, beginne ich mit
einem Gedicht, das eigentlich jeder nachvollziehen können müsste:
Eine Truhe hätt' ich gern
Eine Truhe hätt' ich gern,
keine neue, feine.
Eine alte wünsch ich mir,
mit Geheimfach eine!
Münzen, Ringe, Pergamente
werd' ich drin entdecken.
Und bei diesen will ich auch
mein Tagebuch verstecken.
Albert: "Wie ich sehe, möchte die Dame mit der gelben
Tasche etwas sagen?!"
Dame mit der gelben Tasche: "Mich würde interessieren,
ob die Truhe ein Sicherheitsschloss hat. In der heutigen Zeit weiß
man nie, ob nicht jemand kommt und einem etwas aus der Truhe stiehlt!"
Mann mit Handy: "Pergamente sind in der heutigen Zeit eine
sehr seltene Kostbarkeit! Ich habe gehört, dass die ältesten
Pergamente in Ägypten gefunden wurden und aus dem Jahre 2700 v.
Chr. stammen. Selbst wenn das Pergament, von dem hier die Rede ist,
tausend Jahre jünger ist, wird es immer noch ein Vermögen
wert sein."
Dame mit der gelben Tasche: "Und wer weiß, aus welcher
Zeit die Münzen und Ringe stammen!"
Mann mit Handy: "Wir brauchen also ein Sicherheitsschloss!
Ohne Sicherheitsschloss macht das Gedicht keinen Sinn!"
Albert: "Vielleicht ist das Sicherheitschloss nicht so wichtig,
wie es auf den ersten Blick erscheint ..."
Mann mit Handy: "Ach nein? Dann haben Sie offensichtlich keine
Ahnung von Sicherheitsschlössern!"
Frau mit nassem Schirm: "Dürfte ich vielleicht auch etwas
sagen? - Mir erschienen die Münzen und Pergamente gar nicht
so wichtig in dem Gedicht. Ging es nicht viel eher um das Tagebuch?"
Mann mit Handy: "Ach was! Wen interessiert denn schon das
Tagebuch? Das ist etwas für pubertierende Mädchen!"
Mann mit der Bommelmütze: "Ich bin dafür, dass wir
abstimmen! Schließlich leben wir in einem demokratischen Staat.
Oder bezweifelt das jemand von Ihnen? Dann muss doch eine demokratische
Abstimmung möglich sein."
Palmina: "Was ist denn eine demokratische Abstimmung?"
Mann mit Bommelmütze: "Das ist eine Abstimmung, in der
die Mehrheit bestimmen darf, wer Recht hat."
Palmina: "Und was hat das mit dem Gedicht zu tun?"
Mann mit Handy: "Ich habe gedacht, dass das eine Lesung für
Erwachsene und nicht für Kinder ist! Also dürfen sie auch
nicht dazwischen plappern."
Mann mit der Bommelmütze: "Sprechen Sie nicht
dazwischen. Wer ist also für die Wichtigkeit des Sicherheitsschlosses?
Aha: Zwei Personen. Und wer ist für die Wichtigkeit des Tagebuchs?
Auch zwei Personen. Mit Albert und mir sind das zwei Enthaltungen.
Schön. Damit wäre die Sache also geklärt."
Palmina: "Wer hat denn jetzt Recht?"
Mann mit der Bommelmütze: "Alle."
Palmina: "Darf ich dann auch etwas sagen?"
Mann mit der Bommelmütze: "Wenn es nicht zu lange dauert.
Wir möchten auch noch andere Guggenmos-Gedichte von Albert
vorgetragen bekommen."
Palmina: "Ich finde das Gedicht schön, weil es da ein
Geheimfach gibt. So etwas wünsche ich mir auch. Eine Schachtel,
die von außen gar nicht schön oder besonders aussieht.
Und plötzlich entdeckt man ein Geheimfach darin und sieht die
Schachtel in einem ganz anderen Licht. Und in so ein geheimnisvolles
Licht würde ich auch gern mein geheimes Tagebuch legen. Zur
Sicherheit!"
Dame mit der gelben Tasche: "Womit wir wieder beim Thema Sicherheitsschloss
wären!"
Frau mit dem nassen Schirm: "Sie meinen wohl beim Thema Tagebuch!"
Albert: "Wie auch immer. Ich würde Ihnen jetzt gerne
noch ein anderes Gedicht von Guggenmos vortragen:
Der wilde Willibald
Ich kannte einen Räuber,
den wilden Willibald.
Der machte vor nichts halt.
Zehn mal zehn ist zehnzig,
behauptete er kalt
Dame mit der gelber Tasche: "Das Gedicht
mag ja für Kinder ganz lustig sein, aber gibt es nicht etwas
Anspruchsvolleres?"
Albert: "Etwas Anspruchsvolleres? Ich
hatte eher den Eindruck, es müsste etwas leichter Verständliches
sein. Aber natürlich kann ich Ihnen auch ein schwierigeres
Gedicht vorlesen:"
Kommt Komma Kinder
Kommt Komma Kinder Komma
dort im Wald
schreit einer Komma
kommt Komma bald,
sehn wir den Komma
der dort gar nicht weit
kuckuck Komma kuckuck Komma
kuckuck schreit
Ausrufezeichen
Dame mit der gelben Tasche: "Wer ist denn der Komma?"
Frau mit Bonbon: "Irgendwie erinnert mich das Gedicht an meinen
Husten!"
Mann mit Bommelmütze: "Können Sie nicht etwas sachlicher
an das Gedicht herangehen? Ich glaube, in dem Gedicht ist von verschiedenen
Satzzeichen die Rede. Wir haben da also ..."
Dame mit der gelben Tasche: "Kann mir jetzt endlich mal jemand
sagen, wer dieser Komma ist?"
Frau mit nassem Schirm: "Hätten Sie den Herrn vorhin
ausreden lassen, wüssten Sie vielleicht bereits, was mit 'Komma'
gemeint ist."
Dame mit der gelben Tasche: "Ach, wer denn?"
Frau mit nassem Schirm: "Das Komma, nicht der
Komma! Das Satzzeichen ist einfach ausgeschrieben. Genauso wie das
Ausrufezeichen."
Dame mit der gelben Tasche: "Aber dann geht es in dem Gedicht
ja gar nicht um einen Komma! Dann müsste man das Gedicht
ja ganz anders lesen. Etwa so: Kommt, Kinder, kommt / dort im Wald
/ schreit einer, / kommt bald, / sehn wir den, / der dort gar nicht
weit / kuckuck, kuckuck, / kuckuck schreit!"
Mann mit Bommelmütze: "Genau! Die suchen einen, der Kuckuck
schreit! Das mit den Satzzeichen ist nur eine Spielerei, um den
eigentlichen Inhalt zu verstecken."
Dame mit der gelben Tasche: "Sehen Sie, Herr Albert, das war
doch ein sehr einfaches Gedicht! Wir haben es sofort gelöst
und wollen jetzt ein noch schwierigeres."
Albert: "Eigentlich geht es bei Gedichten nicht um leicht
oder schwierig!"
Dame mit der gelben Tasche: "Um was denn dann? Ich bin schließlich
auch einmal zur Schule gegangen und weiß, dass es Gedichte
mit schwierigem und welche mit leichtem Schema gibt."
Albert: "Aha. Wir sind hier aber nicht in der Schule. Hier
geht es darum, ob uns Gedichte bewegen, ansprechen und uns etwas
mitteilen, in dem wir uns entweder wiederfinden oder etwas ganz
Neues entdecken können."
Dame mit der gelben Tasche: "Ach! Und Sie glauben, dass ich
mich von einer alten Truhe, einem Räuber oder einem Komma bewegen
lassen? Da kennen Sie mich aber schlecht!"
Frau mit nassem Schirm: "Wovon lassen Sie sich denn bewegen?
Von gelben Taschen?"
Dame mit der gelben Tasche: "Ich lasse mich lieber von gelben
Taschen als von nassen Schirmen bewegen!"
Frau mit Bonbon: "Können wir jetzt nicht endlich weitermachen?
Das private Geplänkel zwischen Ihnen beiden ist für uns
andere wirklich uninteressant."
Mann mit Bommelmütze: "Wie wäre es, wenn Sie, Herr
Albert Qualle, uns jetzt ein Gedicht vortragen könnten, das
etwas mehr Ernst an den Tag legt?"
Albert: "Ernst? Warum das denn? Aber wie Sie wollen. Mal sehen,
ob mir ein ernstes Gedicht von Guggenmos einfällt. Ja, wie
wäre es damit?:
Mein Tag und dein Tag
Mein Tag. Und dein Tag.
Ihr Tag, der Elster Tag. Tag,
unzählbarer Tag.
Du lobst den Tag schon
vor Tag. Soll man's? Du wagst es!
Amsel, du schwarze!
Frag nicht die Felsen,
die Schweiger. Frag "Was ist Glück?"
Falter und Fohlen.
Kunstwerk Spinnennetz
mit im Weg. Mich verneigend
geh ich unten durch.
An der Hauswand sitzt
ein beinah Nichts wie ich, sitzt,
sonnt sich ein Falter.
Dame mit der gelben Tasche: "Das hört sich schon komplizierter
an. Außerdem erinnert mich das Gedichtschema an irgendetwas."
Mann mit der Bommelmütze: "Und es ist tatsächlich
ein ernstes Gedicht."
Mann mit Handy: "Man merkt einfach, dass diese Qualle sonst
nur mit Kindern redet. Da musste sie sich einfach erst einmal daran
gewöhnen, dass sie uns Erwachsenen nicht alles erzählen
kann. Aber nachdem sie das begriffen hat, hat sie wirklich genau
das Richtige für uns gefunden. Das muss man ihr schon lassen!"
Frau mit Bonbon: "Frag nicht die Felsen, die Schweiger.
Das gefällt mir! Das muss ich meinem Mann erzählen! Wer
weiß, warum ich immer Husten habe. In Zukunft werde ich mich
mehr an die Falter und Fohlen halten!"
Dame mit der gelben Tasche: "Ja, ja. Aber ich komme einfach
nicht darauf, was das für ein Schema ist?"
Mann mit der Bommelmütze: "Kunstwerk Spinnennetz /
mit im Weg. Mich verneigend / geh ich unten durch. Das sollten
sich einmal die Herren Politiker zu Herz nehmen! Dann sähe
es anders aus in unserer Welt!"
Dame mit der gelben Tasche: "Still! Ja - Jetzt habe ich es:
Die Verse sind Haikus! Jetzt erinnere ich mich wieder ganz genau,
was wir im Deutschunterricht auswendig lernen mussten: 'Ein Haiku
nach traditionellem Vorbild besteht aus einem Vers zu drei Wortgruppen
à fünf, sieben und fünf japanischen Lautsilben. 5-7-5!' Ich habe
immer gewusst, dass man in der Schule etwas lernen kann! Dieses
Gedicht von Guggenmos ist wirklich vorzüglich! Ich bin sehr
froh, dass Sie uns auch noch dieses Gedicht vorgetragen haben, Herr
Albert. Denn dadurch werde ich Josef Guggenmos als einen Lyriker
in Erinnerung behalten, der auch für Erwachsene interessant
ist!"
Mann mit der Bommelmütze: "Nicht nur Sie! Ich glaube,
wir alle werden ihn in guter Erinnerung behalten!"
Albert: "Und dir, Palmina? Wie haben dir die Gedichte gefallen?"
Palmina: "Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht. Können
wir die Gedichte nicht noch einmal ohne die Erwachsenen lesen?"
* * *
Die Gedichte "Eine Truhe hätt' ich gern",
"Der wilde Willibald" und "Kommt Komma Kinder"
findet ihr in dem Band:
Josef Guggenmos: Oh, Verzeihung sagte die Ameise.
Mit Bildern von Nikolaus Heidelbach. Beltz & Gelberg Verlag.
Weinheim und Basel 2002. 210 Seiten.
Das Gedicht: "Mein Tag und dein Tag" steht
in der Anthologie:
Hans-Joachim Gelberg (Hrsg.): Großer Ozean.
Gedichte für alle. Beltz & Gelberg Verlag. Weinheim und
Basel 2000. 267 Seiten.
Dieses Buch wird übrigens in Rossipottis
Leibspeise besprochen.
|