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Kulturtasche

 

Was verbindet HipHop und Lyrik? Lesen Mädchen Gedichte anders als Jungs? Und was muss man tun, damit auch DU Gedichte liest?

Interview mit Anton G. Leitner, Lyriker und Herausgeber der Lyrikzeitschrift "DAS GEDICHT".

Kulturtasche: Anton, du hast bisher 22 Lyrik-Anthologien herausgegeben und fünf eigene Gedichtbände publiziert. In deiner privaten Bibliothek stehen viertausend Lyrik-Bände und in der Bibliothek deines Verlags noch einmal sechstausend. Du bist also ein großer Kenner von und Spezialist für Lyrik. Was eigentlich ist Lyrik?

Lyrik zu definieren ist nicht ganz einfach. Professor Karl Otto Conrady, der "Das große deutsche Gedichtbuch" herausgebracht hat, definiert Lyrik sehr plural. Er sagt, Gedichte seien "sprachliche Äußerungen in einer speziellen Schreibweise". Das ist sicherlich richtig, aber unter seine Bestimmung fällt natürlich sehr viel.
Wenn ich versuche, Conradys Definition enger zu fassen, würde ich sagen, dass Lyrik sehr viel mit Lautlichkeit, mit Singbarkeit zu tun hat. Gedichte sind für mich melodische Texte. Sie lassen sich also gut vertonen und sehr gut vortragen. Wenn wir die Geschichte der Lyrik betrachten, war sie immer mit Musik verbunden. Ursprünglich wurde ein liedartiger Text in einer Art Singsang zum Saiteninstrument Lyra vorgetragen. Von der Lyra hat die Lyrik auch ihren Namen bekommen.
Allerdings ist die Singbarkeit von Lyrik kein ausschließliches oder notwendiges Kriterium. Es gibt ja auch Gedichte, die nur visuell funktionieren. Aber für mich persönlich ist die Lyrik jedenfalls sehr nah am Lied und hat viel mit Musik, Melodie und Rhythmus zu tun.

Worin unterscheidet sich die Lyrik denn dann vom Lied?

Im Englischen spricht man von "lyrics", wenn man von Songtexten redet. In einigen Fällen ist es sicherlich schwierig zu sagen, ob ein Text reines Lied oder Gedicht ist. Wenn ich mir beispielsweise Texte der Berliner Pop-Gruppe "Wir sind Helden" isoliert von der Musik durchlese, könnte ich mir einige davon durchaus in einem Gedichtband vorstellen.
Insgesamt denke ich aber, dass ein Liedtext eingängiger sein muss als ein Gedicht. Wenn ich im Rundfunk zum Beispiel ein Lied von Judith Holofernes höre, dann muss mich dieses Lied als Zuhörer ja sehr schnell ergreifen. Und falls ich mir das Lied später auf einem Tonträger mehrmals anhöre, dann tue ich dies höchstwahrscheinlich weniger wegen des Textes, als viel mehr wegen der Musik, weil ich mich durch sie in eine bestimmte Stimmung versetzen lassen will.
Ein Gedicht darf dagegen auch so angelegt sein, dass es erst nach vier oder fünf Mal lesen im Kopf wirkt. Ich denke, Lyrik kann beim ersten Zuhören funktionieren, muss es aber nicht. Ein gutes Gedicht verlangt nach Wiederlesen. Es ist beinahe wie ein Zauberwürfel, der bei jeder Veränderung nochmals eine neue Facette, eine neue Kombination ergibt.

Lieder sind also keine Zauberwürfel und werden deshalb auch nicht automatisch zu Gedichten, wenn man die Musik weglässt. Was ist aber mit Texten, die ohne instrumentale Musik nur mit Stimme und Rhythmus vorgetragen werden, wie zum Beispiel beim HipHop? Ist der Sprechgesang der Rapper Lyrik?

Wenn man HipHop-Texte nicht mehr hört, sondern nur liest, werden sie schnell zu simpel. Sie wirken dann plötzlich wie ein Schlager, dessen Text man einfach nur aufgeschrieben hat - zwar schön umbrochen wie ein Gedicht, aber eben nur von der Schreibweise der Lyrik ähnelnd. Wobei es einige Leute im Grenzbereich HipHop / Lyrik gibt, wie Bas Böttcher oder Alex Dreppec, deren Texte auch für sich allein als Gedichte stehen können. Andere, beispielsweise die Slammerin Xochil A. Schütz, schreiben aber oft auch Texte, die aus meiner Sicht vor allem vom Vortrag leben und beim isolierten Lesen keine weiteren lyrischen Qualitäten aufweisen. Allerdings geht es mir bei Spoken-Word-Poeten, die in der Regel ohne Instrumentalmusik auftreten, also ausschließlich ihre Stimme benutzen, oft auch so, dass ich ihrem Text durch die gelungene Präsentation noch eine weitere Dimension abgewinnen kann. Das sinnliche Hörerlebnis kann also bisweilen den Lesegenuss noch steigern und - sehr selten - auch übertreffen.

Neben dem Lied ist die Lyrik ja auch mit dem literarischen Prosatext verwandt. Insbesondere heute, da Lyrik für Erwachsene oft nicht mehr gereimt ist, sondern einem freien Versmaß folgt. Wenn man davon ausgeht, dass auch Prosatexte eine spezifische Sprachmelodie und Rhythmus haben, stellt sich die Frage, was eigentlich der Unterschied zwischen Lyrik und Prosa-Texten ist?

Es gibt sicherlich prosaische Texte, die sehr lyrisch sind. Heinz Piontek stellte in den 60er Jahren die Anthologie "Neue deutsche Erzählgedichte" zusammen. Mit dem programmatischen Titel wollte er wohl auch gleich ein ,neues' lyrisches Genre ausrufen.
Gedichte mit stark erzählerischen Elementen sind übrigens seit jeher die Balladen. Sie transportieren eine Geschichte via Gedicht.
In den USA und im englischsprachigen Raum gibt es die Tendenz, Gedichte sehr ausgreifend, sehr erzählerisch zu gestalten. Und Autoren wie John Ashbery könnten Laien vielleicht auch für einen Prosaiker halten, je nachdem wie die Übersetzung ausgefallen ist.
Der Übergang zwischen Prosa und Lyrik ist sicherlich oft fließend. Aber wenn jemand - außerhalb des Reims - formal bestimmte Stilmittel einsetzt, wenn sich beim Sprechen ein gewisser Rhythmus ergibt und sich der Text in eine Melodie fügt, dann kann man von einem Gedicht, einer lyrischen Qualität, sprechen.
Ich selbst verzichte in meiner eigenen Lyrik übrigens meist auf Reime. Häufig benütze ich das Stilmittel des Enjambements, des Zeilenbruchs. Das heißt, ich breche Wörter so, dass sich durch die Brechung erstens ein bestimmter Rhythmus und zweitens eine doppelte Bedeutung ergibt. Ich versuche dadurch, ein Gedicht hinter dem Gedicht zu schreiben. Wenn ein Stilmittel so konsequent durchgehalten wird, nicht zum Selbstzweck, sondern um eine Doppelbödigkeit zu erzeugen, in der beide Ebenen Sinn machen, vielleicht sogar die zweischneidige Wirklichkeit aufdecken, dann müsste meines Erachtens eigentlich jeder merken, dass er es mit einem Gedicht zu tun hat. Wenn ein Text dagegen sehr breit angelegt ist und ohne auch nur ein Quäntchen an Inhalt zu verlieren, im Blocksatz gesetzt werden kann, liegt nach meinem Empfinden eher lyrische Prosa vor. Den Lesern selbst ist es aber wahrscheinlich ziemlich egal, ob sie gerade "lyrische Prosa" oder "prosaische Lyrik" lesen.


Foto: Rossipotti

Vita

Anton G. Leitner wurde 1961 in München geboren, wo er auch das humanistische Gymnasium besuchte. Er studierte Jura, edierte bereits als Student junge Lyrik und Prosa und war Juror beim "Treffen Junger Autoren". Nach seinem Studium wurde er nicht Jurist, sondern gründete 1993 die Erwachsenen- Zeitschrift "DAS GEDICHT", die er bis heute herausgibt. Die aktuelle Ausgabe mit dem Titel "Lyrik von der Wiege bis zum Milchbart" beschäftigt sich rund ums Thema Kinderlyrik.
Außer der Lyrikzeitschrift gab Leitner von 1984 bis 2006 22 Gedicht-Anthologien (Gedicht-Sammlungen) heraus. Außerdem veröffentlichte er fünf Bände mit eigenen Gedichten, zwei Hörbücher, Essays, Kritiken, Kurzprosa, eine Erzählung und sogar ein Kinderbuch.
Für seine literarische Arbeit wurde er u. a. mit dem Kulturpreis AusLese der Stiftung Lesen (1995), dem V. O. Stomps-Preis der Stadt Mainz (1997), dem Kogge-Förderpreis der Stadt Minden (1999) und Kulturpreis des Landkreises Starnberg (2001) ausgezeichnet.
Er lebt und arbeitet mit seiner Frau in Weßling in der Nähe von München.

 

Kann man sagen, dass Gedichte verdichtete Prosa sind?

Letztendlich ja. Wobei der Begriff "Dichtung" übrigens nicht von "verdichten" abgeleitet wird, sondern vom Lateinischen "dicere" für sprechen. Aber natürlich haben Gedichte etwas mit Verdichtung zu tun, weil sie die Sprache auf den Punkt bringen.
Meine ,private' Definition lautet: Ein Gedicht ist ein rhythmisch streng durchkomponierter Text, der im unverwechselbaren Tonfall, mit zwingendem Zeilenbruch, einen Sachverhalt (im Bereich ewiger Themen wie Liebe oder Tod) komprimiert ausdrückt. In einem sehr guten Gedicht ist die Sprache so verdichtet, dass man kein einziges Wort mehr hinzufügen und kein einziges Wort mehr wegnehmen kann, ohne das gesamte Sprachkunstwerk zu zerstören.
Um das zu veranschaulichen, zitiere ich öfters ein Gedicht des großen italienischen Lyrikers Gisueppe Ungaretti. Sein poetisches Frühwerk wurde zugleich gefeiert und gehasst wegen seiner radikalen, ja geradezu revolutionären Kürze. Ungaretti gelangen viele vollkommene Gedichte, das vielleicht vollkommenste entstand 1917 und lautet: "Mattina. // M'illumino / d'immenso". Ingeborg Bachmann übersetzte es so: "Morgen. // Ich erleuchte mich / durch Unermeßliches".

Lässt sich die Würze der Kürze erlernen? Du leitest regelmäßig Lyrik-Seminare und berätst unerfahrene und erfahrene Dichter. Wie viel Prozent Handwerk und wie viel Prozent Talent sind deiner Erfahrung nach nötig, um ein gutes Gedicht zu schreiben?

Matthias Politycki, der einmal ein Seminar mit mir zusammen leitete und provokante Formulierungen liebt, hat unsere Teilnehmerrunde ein wenig entsetzt mit seiner These, dass ein Gedicht zu 90 % Handwerk und zu 10 % Inspiration sei. Das war überspitzt ausgedrückt, aber Matthias hat im Grunde genommen Recht. Ich glaube, dass man 50% Talent und 50% Handwerk (exzessive Leseübung eingeschlossen) benötigt, um ein gutes Gedicht zu schreiben.
Die Frage ist natürlich, was Talent überhaupt ist. Für mich hat Talent etwas mit Sensibilität zu tun, mit Fantasie und Neugier, mit Kommunikationsfähigkeit. Ich kenne ja sehr viele Schriftsteller, Musiker und bildende Künstler, darunter sehr erfolgreiche und weniger erfolgreiche. Mir fällt dabei auf, dass die bekannten Künstler eher bescheiden auftreten, charmant und umgänglich sind und vor allem neugierig. Damit meine ich, dass sie sich nicht nur für das interessieren, was sie selbst tun, sondern immer auch offene Augen und Ohren für andere haben. Künstler dagegen, die den Durchbruch nicht geschafft haben und ihn höchstwahrscheinlich auch nicht mehr schaffen werden, kreisen häufig um sich und ihre mutmaßliche Bedeutung. Wer ständig mit sich selbst beschäftigt ist, engt seine Fantasieaktivität und Kommunikationsfähigkeit ein. Wahrscheinlich ist es auch so, dass ein neugieriger Mensch mehr Impulse aufnimmt, und dadurch die Wirklichkeit vielschichtiger erlebt als jemand, der immer nur alles auf sich bezieht und sich zum Maß aller Dinge macht.
Neugier allein reicht aber natürlich nicht aus, um ein gutes Gedicht zu schreiben. Man muss vor allem einen hohen Grad an Selbstdisziplin aufbringen, ähnlich einem Wissenschaftler oder Spitzensportler. Ein Gedicht ist kein Text, der nach dem Motto "Es schreibt sich" von selbst entsteht und sofort "fertig" ist. Eher haben wir es hier mit stark verbesserungsbedürftigen Texten zu tun, mit einem ganzen Schreibprozess, an dessen Ende im günstigsten Fall das reife, ,fertige' Gedicht steht. Ungaretti, den ich sehr schätze, hat im Laufe seines Lebens immer wieder seine alten Gedichte verändert, um sie weiter zu vervollkommnen.

Die letzte Ausgabe von deiner Zeitschrift "DAS GEDICHT" hat den Titel "Alle meine Kinder" und versammelt Gedichte über Kinder, für Kinder und sogar von Kindern. Auffallend finde ich, dass die Gedichte über Kinder mit freiem Versmaß geschrieben sind, sich die Gedichte für Kinder aber fast alle reimen. Ist das eigentliche unterscheidende Kriterium zwischen Erwachsenengedicht und Gedichte für Kinder der Reim?

Wir wollten erstens Gedichte versammeln, die "Kindheit" reflektieren, zweitens Gedichte, die sich nur mit dem Thema "Kind" beschäftigen und drittens Gedichte bringen, die sich vorwiegend für Kinder eignen. Dass es natürlich Überschneidungen zwischen den unterschiedlichen Bereichen gibt, gebe ich ohne weiteres zu. Wir haben die gereimten Texte jedenfalls nicht mit pädagogischer Absicht in die Abteilung "Gedichte für Kinder" gesteckt.
Es war vielmehr so, dass sich die Autoren oft auch selbst ganz konkret dazu äußerten, für welches Thema sie ihr jeweiliges Gedicht passend fanden oder eigens geschrieben hatten. Paul Maar vermerkte dann zum Beispiel unter einem Gedicht "für Kinder" oder "passend zum Thema Kindheit". Wir haben die Voreinteilung der Autoren zwar nicht in jedem Fall übernommen. Aber wenn sich so erfahrene Schriftsteller wie Paul Maar oder Frantz Wittkamp Gedanken in dieser Hinsicht machen, setzt man sich nicht leichtfertig darüber hinweg. Ungefähr 70 % der gereimten Texte, die jetzt in der Abteilung "Gedichte für Kinder" stehen, wurden von den Autoren entsprechend vorklassifiziert.
Unabhängig davon ist der Reim vielleicht immer noch sehr beliebt im Bezug auf Gedichte für Kinder. Er erleichtert die Eingängigkeit und Merkbarkeit dieser Gedichte. Wenn aus einem Reim allerdings so ein "Reim-dich-oder-ich-fress-dich-Reim" wird, dann bekommt er etwas Zwanghaftes oder zu Formales. Ein Kind denkt und handelt häufig anarchisch. Insofern kann ich mir auch gut vorstellen, dass es mit einem ungereimten Text, der in "freien" Versen gehalten ist, sehr gut zurechtkommt.

Vielleicht toben sich die Autoren bei Kindergedichten ja auch deshalb mit Reimen aus, weil der Reim bei Erwachsenen-Gedichten eher verpönt ist?

Das könnte natürlich mitschwingen. In vielen Autorinnen und Autoren steckt glücklicherweise auch oft noch etwas Kindliches. In der Erwachsenen-Literaturwelt spielen persönliche Eitelkeiten und die Verortung im literarischen Betrieb eine große Rolle. Da hat man natürlich ein gewisses Image zu bedienen. Zum Beispiel: "Ich bin jetzt der Dichter, der ganz in Schwarz auftritt." Oder "ich muss diese oder jene ‚Zielgruppe' bedienen, die von mir eine bestimmte Poetik, politische oder sexuelle Ausrichtung erwartet." Solche Arschkriecher unter den Autoren, denen die ,Performance' bei Juroren und Kritikern mitunter mehr am Herzen zu liegen scheint als die eigenen Texte, könnten schon Angst haben, im Betrieb für kindisch gehalten zu werden.
Bei Gedichten für Kinder ist diese Gefahr aber weitgehend ausgeschlossen. Denn in einer Gesellschaft, in der Kinder zu einer verschwindenden Spezies zählen und oft nur noch als statistischer Faktor in Tabellenkalkulationen auftauchen, erntet logischerweise niemand einen Lorbeerkranz, der für Kinder schreibt. Gerade darin liegt aber auch der besondere Reiz für "Kinderlyriker": sie können sich ohne Aufplusterung ganz auf ihre Verse konzentrieren. Denn eins ist sicher: Ihre Rezipienten, die Kinder und Jugendlichen, sind unbestechlich, sind ein dankbares, aber auch schonungslos offenes Publikum.

Neben dem Reim fällt auf, dass Dichter Kindern auch gerne Nonsense-Gedichte schreiben. Auch in deiner Gedicht-Anthologie hat die Abteilung der Gedichte für Kinder die Überschrift "Spaß- und Spielgedichte für Groß und Klein". Haben Nonsense-Gedichte wie der Reim in der Erwachsenen-Lyrik auch ein schlechtes Image?

Das würde ich nicht sagen. Es gibt eine wunderbare Anthologie bei Zweitausendeins, die Steffen Jacobs unter dem Titel "Die komischen Deutschen" herausgegeben hat. Ich glaube, sie enthält 878 komische Verse. Etwas Ähnliches haben Robert Gernhardt und Klaus Cäsar Zehrer bei S. Fischer gemacht: "Hell und schnell", mit dem Untertitel "555 komische Gedichte". Beides Bücher, die fast ausschließlich lustige Gedichte versammeln. Viele davon würden auch auf Kinder wirken, sind aber leider in erster Linie für Erwachsene ausgesucht worden, aber bei denen äußerst beliebt und deshalb kommerziell sehr erfolgreich.

Wahrscheinlich würden sich die "komischen Gedichte" nicht so gut verkaufen, wenn statt "komisch" "nonsense" im Titel stehen würde?

Ich glaube auch, dass "komisch" das Schlüssel-Wort für Erwachsene ist. Komik geht in den Bereich des Comedyhaften. Wenn Komik unter dem Etikett "Comedy" läuft, spricht sie in erster Linie Erwachsene an.

Wurde das Konzept deiner "GEDICHT"-Ausgabe, vor allem Spaß- und Spielgedichte für Kinder auszusuchen, positiv aufgenommen oder gab es auch Kritik?

Neben großem Lob gab es auch einen Verriss aus der Kinderbuchbranche. Den fand ich merkwürdig. Denn auf der einen Seite der entsprechenden Fachzeitschrift wurde meine aktuelle dtv/Hanser-Anthologie "Zum Teufel, wo geht's in den Himmel? 100 poetische Wege", die ,sinnstiftende' Gedichte für Jugendliche versammelt, hoch gelobt. Und auf der anderen Seite wurde mir bei den Gedichten für Kinder vorgeworfen, dass sie nicht an die einschlägigen Gedichtsammlungen bei Beltz & Gelberg heranreichten. Das hat fast ein wenig so gewirkt, als wäre der Rezensent beleidigt, dass es jemand gewagt hat, ein anderes anthologisches Konzept zu verfolgen als Hans-Joachim Gelberg, der unbestritten einer der Pioniere auf diesem Gebiet war und ist.
Die Gedicht-Anthologien, die Gelberg herausgegeben hat, waren zwar immer interessant, aber es waren meines Erachtens viele - bisweilen zu viele - Gedichte von Lyrikern der 68er-Generation dabei, die allzu gerne den pädagogischen Zeigefinger oder Holzhammer mit der politisch-korrekten Gutmenschen-Pointe bereit halten. Für meine Anthologie habe ich über tausend Gedichte angeboten bekommen. Aber ich klammerte ganz bewusst Texte aus, die mit dem erhobenen Zeigefinger drohten. Ich will Kinder lieber über Lust, Sprachwitz und Wortmagie zum Lesen und Lieben von Gedichten bringen als sie mit Gedichten zu erziehen. Der Verriss hat mich eigentlich auch beruhigt, denn wenn ein Projekt keine Anfeindungen erfährt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ihm die Widerborstigkeit fehlt.

Und wie war darüber hinaus das Feedback auf deine Kinder-GEDICHT-Ausgabe?

Es gab ein großes und sehr positives Echo. Beispielsweise hat Hilde Elisabeth Menzel, eine der großen Kritikerinnen des Kinderfeuilletons, die Anthologie hervorragend in der Süddeutschen Zeitung besprochen, sie als "Fundgrube für Erwachsene und Kinder" bezeichnet, es wurden sogar das farbige Cover - mit meinem echten Kinder-Teddy - und einige Gedichte darin abgedruckt. Professor Kurt Franz, Präsident der "Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendbuch" in Volkach empfahl das Kinder-GEDICHT im Akademieorgan Volkacher Bote, weil sie "Texte über Kindheit vereint, die einen Stil- und Mentalitätswechsel bewusst machen, wie keine andere Anthologie zuvor."
Insgesamt reagierten, mit Ausnahme der F.A.Z., der ohnehin die jungen Leser wegzubrechen scheinen, nahezu alle wichtigen Feuilletons. Etliche ARD-Rundfunkanstalten sendeten Gedichte daraus, vom BR bis zu Radio Bremen. Was ich aber für symptomatisch halte, ist, dass diese Rezensionen nicht in die gängigen Presseschauen im Internet aufgenommen wurden, weil man dort generell die Kinder- und Jugendlyrik ausklammert. So dokumentiert beispielsweise der von der Bundesregierung mit Millionenbeträgen subventionierte "Perlentaucher" (der wesentliche Online-Feuilleton-Pressespiegel, Anm. der Kulturtasche) nur die wenigsten Kinder- und Jugendbuchkritiken aus der Süddeutschen Zeitung oder der Neuen Zürcher Zeitung. Das ist kaum zu begreifen, aber bekräftigt meine These, dass man im eitlen Literaturbetrieb mit Kinder- und Jugendbüchern keine Lorbeeren erntet.

Apropos mangelnde Aufmerksamkeit. Du hast immer wieder spektakuläre Aktionen organisiert, um Gedichte im Alltag sichtbar zu machen und an die Leser zu bringen.

Als Studenten haben wir mit einem monatlichen Flugblatt angefangen. Wir nannten es "Münchner Flugblatt für junge Literatur", und es war das Medium der "Initiative junger Autoren", die Lyriklesungen und Literaturtagungen organisierte und ansonsten in verrauchten Kneipen heftig über unfertige Texte diskutierte. Innerhalb dieser Initiative haben wir zehntausende Flugblätter mit Gedichten bedrucken lassen und dann auf eigene Gefahr in U- und S-Bahnhöfen, in fahrenden Zügen, Bussen oder Kneipen verteilt. Wir haben immer wieder Ärger gekriegt, weil in Bahnhöfen keine Werbung verteilt werden darf. Doch als die Bahnpolizisten merkten, dass wir Gedichte verteilen, haben sie nur den Kopf geschüttelt und uns gewähren lassen. Und bald sah man überall in der S-Bahn Fahrgäste mit unseren Flugblättern in der Hand!
Später habe ich dann Baguettetüten mit Gedichten bedrucken lassen. Das würde ich heute allerdings nicht mehr unbedingt machen. Das hat zwar einen großen öffentlichkeitswirksamen Effekt gehabt, aber eine Brottüte ist am Ende doch nur ein Wegwerfprodukt. Gedichte sind zwar wie Brot Grundnahrungsmittel, aber doch zu schade, um zusammen geknüllt und weggeworfen zu werden. Deshalb habe ich im Anschluss Gedichte von der Südzucker-Tochterfirma "Hellma" auf Feinzuckertütchen drucken lassen. Solche Zuckerbriefchen sind ein dauerhafteres Medium. Es gibt im Übrigen auch etliche Sammler von Feinzuckertütchen und viele Cafébesucher spielen mit diesen Tütchen herum und lesen dabei die Aufdrucke.
Wir haben unsere "Tütchenlyrik" unter das Motto "Ein Gedicht rettet den Tag" gestellt, das von dem argentinischen Lyriker Roberto Juarroz stammt. Ich habe seinerzeit international Lyriker angesprochen, uns ganz kurze Gedichte zur Verfügung zu stellen, die zum Thema Caféhaus passen. Wir haben aus den eingesandten Gedichten dann 25 Gedichtmotive ausgesucht, übersetzen lassen und auf die Tütchen gedruckt. Da gab es wunderschöne, wie beispielsweise das von Maria de Nazaré Sanches "Hinter dem Schweigen / steckt manchmal / eine lange Nacht".
Aber leider gingen die Tütchen nie in Serie. Denn die Firma Hellma war letztendlich mit den Gedichten nicht zufrieden. Deren Vertreter waren im Grunde genommen einfache Seelen, Rübenbauern, die man in Nadelstreifenanzüge gesteckt hatte. Texte wie "Ohne Zucker ist das Leben nicht schön" wären ihnen wohl lieber gewesen. Man hatte zwar schon eine Million Tütchen produziert, aber das ist im Vergleich zum täglichen Gesamtausstoß von Zuckertütchen, der sich im Milliardenbereich bewegen dürfte, fast gar nichts. Die Testtüten sind dann zwar in ausgewählten Cafés gelandet und auch von Medienvertretern dankbar konsumiert worden, aber damit war die Aktion leider beendet. Übrigens haben wir auch die Zeitschrift "DAS GEDICHT" zusammen mit Weinflaschen über eine badische Winzergesellschaft vertreiben lassen.
Gedanke bei all den Aktionen war, das Gedicht als geistiges Grundnahrungsmittel zurück in den Alltag zu bringen.

Braucht Lyrik überhaupt solche öffentlichkeitswirksame Inszenierungen, um wahrgenommen zu werden?

Wenn die Leute nicht zur Lyrik kommen, müssen die Lyriker unter die Leute gehen. Wer sich in seinem elfenbeinfarbenen Schneckenhaus verkriecht, wird als Lyriker nicht weit kommen. Aber das ist kein neues Phänomen, sondern war schon immer so. In der Antike haben sich die Dichter beim Vortrag ihrer Elegien und Dithyramben auch schon selbst in Szene gesetzt. Als eine Art Sprechgesang wurden die Verse meist von einem Instrument begleitet, zum Beispiel von dem oboenartigen Aulós oder der Lyra. Und auch in der mittelalterlichen Tradition des Minnesangs wollten die Barden ihr höfisches Publikum beeindrucken. Um eine Wirkung an der Basis zu erzielen, muss man als Lyriker trommeln.

Jugendlichen bringst du Gedichte ja ganz direkt nahe. Mit einem Freund von dir, dem Gitarristen Martin Finsterlin, gehst du in Schulen und machst dort Musik-Poesie-Performances.

Martin Finsterlin war 12 Jahre lang Musikberater des Bayerischen Fernsehens. Das heißt, er hat viel Erfahrung darin, Musik zur Geltung zu bringen ohne den Text dabei wegzufegen. Zusammen vertonen wir einzelne Texte in HipHop-Manier und haben mit unserem Programm bereits in ganz Deutschland, Luxemburg und Österreich viele gute Erfahrungen mit Jugendlichen und engagierten Lehrern gemacht.
Zugegebenermaßen haben wir auch ein paar schlechte Erfahrungen gemacht. Vor allem dort, wo die Lehrer ihre Klassen nicht auf unseren Besuch vorbereitet hatten. Einmal stellte uns ein Lehrer an einem bayerischen Gymnasium seinen Zöglingen mit den Worten vor: "Heute haben wir Herrn Finsterlin und Herrn Leitner bei uns zu Gast. Herr Leitner ist Lyriker. Lyriker sind Leute, die in der Regel Dinge schreiben, die kein Mensch versteht. Deshalb sind sie in unserer Gesellschaft nicht sehr hoch angesehen." Danach zog er sich ins Lehrerzimmer zurück.
Diese Veranstaltung ist dann auch aus dem Ruder gelaufen. Die Schüler reagierten demonstrativ gelangweilt und beschimpften uns lauthals. Aber meistens sind die Kinder und Jugendlichen äußerst interessiert, und ich habe schon viele wunderbare Gespräche und Diskussionen mit Schülerinnen und Schülern gehabt. Jugendliche gehen meiner Meinung nach offener und unverkrampfter mit Lyrik um als Erwachsene.

Reagieren Mädchen anders als Jungs auf Lyrik?

Mädchen reagieren zunächst stärker und positiver auf Gedichte als Jungen. Die sind erstmal skeptisch, wenn sie dann aber Liebesgedichte hören, entkrampfen sie sich und sind danach aufmerksam und schmunzelnd mit bei der Sache. Bei der Veranstaltung, die aus dem Ruder gelaufen ist, haben uns die Jungen Ärger bereitet, die Mädchen waren viel interessierter. Die Mädchen kommen meist in der Pause zu uns und stellen spezifische Fragen zu den vorgetragenen Gedichten. Die kennen auch nicht selten meine Bücher bei dtv/Hanser und wollen mit mir darüber diskutieren.

Jetzt haben wir viel über Lyrik gesprochen, aber eine existentielle Frage haben wir dabei vergessen: Warum brauchen wir eigentlich Lyrik?

Da halte ich es, ein wenig scherzhaft, versteht sich, mit Hemingway: "Ein Mann schreibt, um den Frauen zu gefallen". Und wenn man ins Mittelalter zurückgeht: die Gedichte der Minnesänger waren größtenteils der Liebe und den Damen bei Hofe gewidmet. Über die Lyrik habe ich tatsächlich immer interessante und attraktive Frauen kennen gelernt. Ob das umgekehrt auch funktioniert, also Frauen Männer durch Gedichte gewinnen können, weiß ich nicht.
Die Lyrik ist, ganz im Ernst, sicher ein sehr geeignetes Kommunikationsmittel, um mit Leuten über den Text ins Gespräch zu kommen.

Kannst du den Lesern und Leserinnen von Rossipotti abschließend noch einen Tipp geben, wie man Lust bekommt, selbst ein Gedicht zu schreiben?

Ich empfehle den Kindern und Jugendlichen, einen Text zu schreiben, der exakt (!) 160 Zeichen hat und von Liebe handelt. Sie werden merken, dass das gar nicht so einfach ist. Das Gedicht können sie dann als SMS an Freunde verschicken. Oder sie schreiben zusammen ein Gedicht. Einer macht den Anfang, verschickt seine Verszeile per SMS weiter und lässt dann seine Freundinnen und Freunde weiterdichten. So etwas macht Spaß!

Lieber Anton, vielen Dank für das Gespräch!

* * *

Anton hat diese SMS-Gedicht-Aufgabe übrigens auch schon erfahrenen Dichtern gestellt. Welche Gedichte dabei entstanden sind, könnt ihr euch in dem Buch ansehen.: SMS-Lyrik. 160 Zeichen Poesie. dtv/Hanser. München 2003 (bereits in der dritten Auflage erschienen.)

Außerdem hat Anton G. Leitner auch noch andere Gedichtbände für Kinder und Jugendliche herausgegeben:

- Heiß auf Dich. 100 Lock- und Liebesgedichte (von Anton G. Leitner und Anja Utler herausgegeben), dtv/ Hanser, München 2002.
- Feuer, Wasser, Luft & Erde. Die Poesie der Elemente. Philipp Reclam jun. (Universalbibliothek). Stuttgart 2003.
- Napoleons erster Fall. Carlsen (Pixi), Hamburg, 2004 (2. Auflage).
- Himmelhoch jauchzend - zu Tode betrübt. Poesie für alle Liebeslagen. dtv/Hanser. München 2004.
- Zum Teufel, wo geht's in den Himmel? Poetische Wege (von Anton G. Leitner und Siegfried Völlger herausgegeben). dtv/Hanser. München 2005.

Die im Interview besprochene Kindergedicht-Ausgabe der Lyrik-Zeitschrift DAS GEDICHT richtet sich mit ihrem großen Essay-Teil in erster Linie an Erwachsene, die darin vorgestellten Gedichte sind natürlich aber auch für Kinder und Jugendliche interessant:

- DAS GEDICHT (Nr. 13): Alle meine Kinder. Lyrik von der Wiege bis zum Milchbart. Weßling 2005.

In der Rubrik Hörgeschichte könnt ihr euch übrigens Anton G. Leitner anhören, wie er Gedichte vorliest.

 

 © Rossipotti No. 10, Januar 2006