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Kulturtasche
Was verbindet HipHop und Lyrik? Lesen
Mädchen Gedichte anders als Jungs? Und was muss man tun, damit
auch DU Gedichte liest?
Interview mit Anton G. Leitner, Lyriker und Herausgeber der
Lyrikzeitschrift "DAS GEDICHT".
Kulturtasche: Anton, du hast bisher 22 Lyrik-Anthologien
herausgegeben und fünf eigene Gedichtbände publiziert.
In deiner privaten Bibliothek stehen viertausend Lyrik-Bände
und in der Bibliothek deines Verlags noch einmal sechstausend.
Du bist also ein großer Kenner von und Spezialist für
Lyrik. Was eigentlich ist Lyrik?
Lyrik zu definieren ist nicht ganz einfach. Professor Karl
Otto Conrady, der "Das große deutsche Gedichtbuch"
herausgebracht hat, definiert Lyrik sehr plural. Er sagt,
Gedichte seien "sprachliche Äußerungen in
einer speziellen Schreibweise". Das ist sicherlich richtig,
aber unter seine Bestimmung fällt natürlich sehr
viel.
Wenn ich versuche, Conradys Definition enger zu fassen, würde
ich sagen, dass Lyrik sehr viel mit Lautlichkeit, mit Singbarkeit
zu tun hat. Gedichte sind für mich melodische Texte.
Sie lassen sich also gut vertonen und sehr gut vortragen.
Wenn wir die Geschichte der Lyrik betrachten, war sie immer
mit Musik verbunden. Ursprünglich wurde ein liedartiger
Text in einer Art Singsang zum Saiteninstrument Lyra vorgetragen.
Von der Lyra hat die Lyrik auch ihren Namen bekommen.
Allerdings ist die Singbarkeit von Lyrik kein ausschließliches
oder notwendiges Kriterium. Es gibt ja auch Gedichte, die
nur visuell funktionieren. Aber für mich persönlich
ist die Lyrik jedenfalls sehr nah am Lied und hat viel mit
Musik, Melodie und Rhythmus zu tun.
Worin unterscheidet sich die Lyrik denn dann vom Lied?
Im Englischen spricht man von "lyrics", wenn man
von Songtexten redet. In einigen Fällen ist es sicherlich
schwierig zu sagen, ob ein Text reines Lied oder Gedicht ist.
Wenn ich mir beispielsweise Texte der Berliner Pop-Gruppe
"Wir sind Helden" isoliert von der Musik durchlese,
könnte ich mir einige davon durchaus in einem Gedichtband
vorstellen.
Insgesamt denke ich aber, dass ein Liedtext eingängiger
sein muss als ein Gedicht. Wenn ich im Rundfunk zum Beispiel
ein Lied von Judith Holofernes höre, dann muss mich dieses
Lied als Zuhörer ja sehr schnell ergreifen. Und falls
ich mir das Lied später auf einem Tonträger mehrmals
anhöre, dann tue ich dies höchstwahrscheinlich weniger
wegen des Textes, als viel mehr wegen der Musik, weil ich
mich durch sie in eine bestimmte Stimmung versetzen lassen
will.
Ein Gedicht darf dagegen auch so angelegt sein, dass es erst
nach vier oder fünf Mal lesen im Kopf wirkt. Ich denke,
Lyrik kann beim ersten Zuhören funktionieren,
muss es aber nicht. Ein gutes Gedicht verlangt nach
Wiederlesen. Es ist beinahe wie ein Zauberwürfel, der
bei jeder Veränderung nochmals eine neue Facette, eine
neue Kombination ergibt.
Lieder sind also keine Zauberwürfel und werden deshalb
auch nicht automatisch zu Gedichten, wenn man die Musik weglässt.
Was ist aber mit Texten, die ohne instrumentale Musik nur
mit Stimme und Rhythmus vorgetragen werden, wie zum Beispiel
beim HipHop? Ist der Sprechgesang der Rapper Lyrik?
Wenn man HipHop-Texte nicht mehr hört, sondern nur liest,
werden sie schnell zu simpel. Sie wirken dann plötzlich
wie ein Schlager, dessen Text man einfach nur aufgeschrieben
hat - zwar schön umbrochen wie ein Gedicht, aber eben
nur von der Schreibweise der Lyrik ähnelnd. Wobei es
einige Leute im Grenzbereich HipHop / Lyrik gibt, wie Bas
Böttcher oder Alex
Dreppec, deren Texte auch für sich allein als Gedichte
stehen können. Andere, beispielsweise die Slammerin
Xochil A. Schütz, schreiben aber oft auch Texte, die
aus meiner Sicht vor allem vom Vortrag leben und beim isolierten
Lesen keine weiteren lyrischen Qualitäten aufweisen.
Allerdings geht es mir bei Spoken-Word-Poeten, die in der
Regel ohne Instrumentalmusik auftreten, also ausschließlich
ihre Stimme benutzen, oft auch so, dass ich ihrem Text durch
die gelungene Präsentation noch eine weitere Dimension
abgewinnen kann. Das sinnliche Hörerlebnis kann also
bisweilen den Lesegenuss noch steigern und - sehr selten -
auch übertreffen.
Neben dem Lied ist die Lyrik ja auch mit dem literarischen
Prosatext verwandt.
Insbesondere heute, da Lyrik für Erwachsene oft nicht
mehr gereimt ist, sondern einem freien
Versmaß folgt. Wenn man davon ausgeht, dass auch
Prosatexte eine spezifische Sprachmelodie und Rhythmus haben,
stellt sich die Frage, was eigentlich der Unterschied zwischen
Lyrik und Prosa-Texten ist?
Es gibt sicherlich prosaische Texte, die sehr lyrisch sind.
Heinz Piontek stellte in den 60er Jahren die Anthologie "Neue
deutsche Erzählgedichte" zusammen. Mit dem programmatischen
Titel wollte er wohl auch gleich ein ,neues' lyrisches Genre
ausrufen.
Gedichte mit stark erzählerischen Elementen sind übrigens
seit jeher die Balladen. Sie transportieren eine Geschichte
via Gedicht.
In den USA und im englischsprachigen Raum gibt es die Tendenz,
Gedichte sehr ausgreifend, sehr erzählerisch zu gestalten.
Und Autoren wie John Ashbery könnten Laien vielleicht
auch für einen Prosaiker halten, je nachdem wie die Übersetzung
ausgefallen ist.
Der Übergang zwischen Prosa und Lyrik ist sicherlich
oft fließend. Aber wenn jemand - außerhalb des
Reims - formal bestimmte Stilmittel einsetzt, wenn sich beim
Sprechen ein gewisser Rhythmus ergibt und sich der Text in
eine Melodie fügt, dann kann man von einem Gedicht, einer
lyrischen Qualität, sprechen.
Ich selbst verzichte in meiner eigenen Lyrik übrigens
meist auf Reime. Häufig benütze ich das Stilmittel
des Enjambements, des Zeilenbruchs. Das heißt, ich breche
Wörter so, dass sich durch die Brechung erstens ein bestimmter
Rhythmus und zweitens eine doppelte Bedeutung ergibt. Ich
versuche dadurch, ein Gedicht hinter dem Gedicht zu schreiben.
Wenn ein Stilmittel so konsequent durchgehalten wird, nicht
zum Selbstzweck, sondern um eine Doppelbödigkeit zu erzeugen,
in der beide Ebenen Sinn machen, vielleicht sogar die zweischneidige
Wirklichkeit aufdecken, dann müsste meines Erachtens
eigentlich jeder merken, dass er es mit einem Gedicht zu tun
hat. Wenn ein Text dagegen sehr breit angelegt ist und ohne
auch nur ein Quäntchen an Inhalt zu verlieren, im Blocksatz
gesetzt werden kann, liegt nach meinem Empfinden eher lyrische
Prosa vor. Den Lesern selbst ist es aber wahrscheinlich ziemlich
egal, ob sie gerade "lyrische Prosa" oder "prosaische
Lyrik" lesen.
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Foto: Rossipotti
Vita
Anton G. Leitner wurde 1961 in München
geboren, wo er auch das humanistische Gymnasium besuchte.
Er studierte Jura, edierte bereits als Student junge Lyrik
und Prosa und war Juror beim "Treffen Junger Autoren".
Nach seinem Studium wurde er nicht Jurist, sondern gründete
1993 die Erwachsenen- Zeitschrift "DAS GEDICHT", die er bis
heute herausgibt. Die aktuelle Ausgabe mit dem Titel "Lyrik
von der Wiege bis zum Milchbart" beschäftigt sich
rund ums Thema Kinderlyrik.
Außer der Lyrikzeitschrift gab Leitner von 1984 bis
2006 22 Gedicht-Anthologien (Gedicht-Sammlungen) heraus. Außerdem
veröffentlichte er fünf Bände mit eigenen Gedichten, zwei
Hörbücher, Essays, Kritiken, Kurzprosa, eine Erzählung und
sogar ein Kinderbuch.
Für seine literarische Arbeit wurde er u. a. mit dem Kulturpreis
AusLese der Stiftung Lesen (1995), dem V. O. Stomps-Preis
der Stadt Mainz (1997), dem Kogge-Förderpreis der Stadt Minden
(1999) und Kulturpreis des Landkreises Starnberg (2001) ausgezeichnet.
Er lebt und arbeitet mit seiner Frau in Weßling in der Nähe
von München.
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Kann man sagen, dass Gedichte verdichtete Prosa sind?
Letztendlich ja. Wobei der Begriff "Dichtung" übrigens
nicht von "verdichten" abgeleitet wird, sondern vom Lateinischen
"dicere" für sprechen. Aber natürlich haben
Gedichte etwas mit Verdichtung zu tun, weil sie die Sprache auf
den Punkt bringen.
Meine ,private' Definition lautet: Ein Gedicht ist ein rhythmisch
streng durchkomponierter Text, der im unverwechselbaren Tonfall,
mit zwingendem Zeilenbruch, einen Sachverhalt (im Bereich ewiger
Themen wie Liebe oder Tod) komprimiert ausdrückt. In einem
sehr guten Gedicht ist die Sprache so verdichtet, dass man kein
einziges Wort mehr hinzufügen und kein einziges Wort mehr wegnehmen
kann, ohne das gesamte Sprachkunstwerk zu zerstören.
Um das zu veranschaulichen, zitiere ich öfters ein Gedicht
des großen italienischen Lyrikers Gisueppe Ungaretti. Sein
poetisches Frühwerk wurde zugleich gefeiert und gehasst wegen
seiner radikalen, ja geradezu revolutionären Kürze. Ungaretti
gelangen viele vollkommene Gedichte, das vielleicht vollkommenste
entstand 1917 und lautet: "Mattina. // M'illumino / d'immenso".
Ingeborg Bachmann übersetzte es so: "Morgen. // Ich erleuchte
mich / durch Unermeßliches".
Lässt sich die Würze der Kürze erlernen? Du leitest
regelmäßig Lyrik-Seminare und berätst unerfahrene
und erfahrene Dichter. Wie viel Prozent Handwerk und wie viel Prozent
Talent sind deiner Erfahrung nach nötig, um ein gutes Gedicht
zu schreiben?
Matthias Politycki, der einmal ein Seminar mit mir zusammen leitete
und provokante Formulierungen liebt, hat unsere Teilnehmerrunde
ein wenig entsetzt mit seiner These, dass ein Gedicht zu 90 % Handwerk
und zu 10 % Inspiration sei. Das war überspitzt ausgedrückt,
aber Matthias hat im Grunde genommen Recht. Ich glaube, dass man
50% Talent und 50% Handwerk (exzessive Leseübung eingeschlossen)
benötigt, um ein gutes Gedicht zu schreiben.
Die Frage ist natürlich, was Talent überhaupt ist. Für
mich hat Talent etwas mit Sensibilität zu tun, mit Fantasie
und Neugier, mit Kommunikationsfähigkeit. Ich kenne ja sehr
viele Schriftsteller, Musiker und bildende Künstler, darunter
sehr erfolgreiche und weniger erfolgreiche. Mir fällt dabei
auf, dass die bekannten Künstler eher bescheiden auftreten,
charmant und umgänglich sind und vor allem neugierig. Damit
meine ich, dass sie sich nicht nur für das interessieren, was
sie selbst tun, sondern immer auch offene Augen und Ohren für
andere haben. Künstler dagegen, die den Durchbruch nicht geschafft
haben und ihn höchstwahrscheinlich auch nicht mehr schaffen
werden, kreisen häufig um sich und ihre mutmaßliche Bedeutung.
Wer ständig mit sich selbst beschäftigt ist, engt seine
Fantasieaktivität und Kommunikationsfähigkeit ein. Wahrscheinlich
ist es auch so, dass ein neugieriger Mensch mehr Impulse aufnimmt,
und dadurch die Wirklichkeit vielschichtiger erlebt als jemand,
der immer nur alles auf sich bezieht und sich zum Maß aller
Dinge macht.
Neugier allein reicht aber natürlich nicht aus, um ein gutes
Gedicht zu schreiben. Man muss vor allem einen hohen Grad an Selbstdisziplin
aufbringen, ähnlich einem Wissenschaftler oder Spitzensportler.
Ein Gedicht ist kein Text, der nach dem Motto "Es schreibt
sich" von selbst entsteht und sofort "fertig" ist.
Eher haben wir es hier mit stark verbesserungsbedürftigen Texten
zu tun, mit einem ganzen Schreibprozess, an dessen Ende im günstigsten
Fall das reife, ,fertige' Gedicht steht. Ungaretti, den ich sehr
schätze, hat im Laufe seines Lebens immer wieder seine alten
Gedichte verändert, um sie weiter zu vervollkommnen.
Die letzte Ausgabe von deiner Zeitschrift "DAS GEDICHT"
hat den Titel "Alle meine Kinder" und versammelt Gedichte
über Kinder, für Kinder und sogar von Kindern. Auffallend
finde ich, dass die Gedichte über Kinder mit freiem Versmaß
geschrieben sind, sich die Gedichte für Kinder aber fast alle
reimen. Ist das eigentliche unterscheidende Kriterium zwischen Erwachsenengedicht
und Gedichte für Kinder der Reim?
Wir wollten erstens Gedichte versammeln, die "Kindheit"
reflektieren, zweitens Gedichte, die sich nur mit dem Thema "Kind"
beschäftigen und drittens Gedichte bringen, die sich vorwiegend
für Kinder eignen. Dass es natürlich Überschneidungen
zwischen den unterschiedlichen Bereichen gibt, gebe ich ohne weiteres
zu. Wir haben die gereimten Texte jedenfalls nicht mit pädagogischer
Absicht in die Abteilung "Gedichte für Kinder" gesteckt.
Es
war vielmehr so, dass sich die Autoren oft auch selbst ganz konkret
dazu äußerten, für welches Thema sie ihr jeweiliges
Gedicht passend fanden oder eigens geschrieben hatten. Paul Maar
vermerkte dann zum Beispiel unter einem Gedicht "für Kinder"
oder "passend zum Thema Kindheit". Wir haben die Voreinteilung
der Autoren zwar nicht in jedem Fall übernommen. Aber wenn
sich so erfahrene Schriftsteller wie Paul Maar oder Frantz Wittkamp
Gedanken in dieser Hinsicht machen, setzt man sich nicht leichtfertig
darüber hinweg. Ungefähr 70 % der gereimten Texte, die
jetzt in der Abteilung "Gedichte für Kinder" stehen,
wurden von den Autoren entsprechend vorklassifiziert.
Unabhängig davon ist der Reim vielleicht immer noch sehr beliebt
im Bezug auf Gedichte für Kinder. Er erleichtert die Eingängigkeit
und Merkbarkeit dieser Gedichte. Wenn aus einem Reim allerdings
so ein "Reim-dich-oder-ich-fress-dich-Reim" wird, dann
bekommt er etwas Zwanghaftes oder zu Formales. Ein Kind denkt und
handelt häufig anarchisch. Insofern kann ich mir auch gut vorstellen,
dass es mit einem ungereimten Text, der in "freien" Versen
gehalten ist, sehr gut zurechtkommt.
Vielleicht toben sich die Autoren bei Kindergedichten ja auch
deshalb mit Reimen aus, weil der Reim bei Erwachsenen-Gedichten
eher verpönt ist?
Das
könnte natürlich mitschwingen. In vielen Autorinnen und
Autoren steckt glücklicherweise auch oft noch etwas Kindliches.
In der Erwachsenen-Literaturwelt spielen persönliche Eitelkeiten
und die Verortung im literarischen Betrieb eine große Rolle.
Da hat man natürlich ein gewisses Image zu bedienen. Zum Beispiel:
"Ich bin jetzt der Dichter, der ganz in Schwarz auftritt."
Oder "ich muss diese oder jene Zielgruppe' bedienen,
die von mir eine bestimmte Poetik, politische oder sexuelle Ausrichtung
erwartet." Solche Arschkriecher unter den Autoren, denen die
,Performance' bei Juroren und Kritikern mitunter mehr am Herzen
zu liegen scheint als die eigenen Texte, könnten schon Angst
haben, im Betrieb für kindisch gehalten zu werden.
Bei Gedichten für Kinder ist diese Gefahr aber weitgehend ausgeschlossen.
Denn in einer Gesellschaft, in der Kinder zu einer verschwindenden
Spezies zählen und oft nur noch als statistischer Faktor in
Tabellenkalkulationen auftauchen, erntet logischerweise niemand
einen Lorbeerkranz, der für Kinder schreibt. Gerade darin liegt
aber auch der besondere Reiz für "Kinderlyriker":
sie können sich ohne Aufplusterung ganz auf ihre Verse konzentrieren.
Denn eins ist sicher: Ihre Rezipienten, die Kinder und Jugendlichen,
sind unbestechlich, sind ein dankbares, aber auch schonungslos offenes
Publikum.
Neben dem Reim fällt auf, dass Dichter Kindern auch gerne
Nonsense-Gedichte schreiben. Auch in deiner Gedicht-Anthologie hat
die Abteilung der Gedichte für Kinder die Überschrift
"Spaß- und Spielgedichte für Groß und Klein".
Haben Nonsense-Gedichte wie der Reim in der Erwachsenen-Lyrik auch
ein schlechtes Image?
Das würde ich nicht sagen. Es gibt eine wunderbare Anthologie
bei Zweitausendeins, die Steffen Jacobs unter dem Titel "Die
komischen Deutschen" herausgegeben hat. Ich glaube, sie enthält
878 komische Verse. Etwas Ähnliches haben Robert Gernhardt
und Klaus Cäsar Zehrer bei S. Fischer gemacht: "Hell
und schnell", mit dem Untertitel "555 komische Gedichte".
Beides Bücher, die fast ausschließlich lustige Gedichte
versammeln. Viele davon würden auch auf Kinder wirken, sind
aber leider in erster Linie für Erwachsene ausgesucht worden,
aber bei denen äußerst beliebt und deshalb kommerziell
sehr erfolgreich.
Wahrscheinlich würden sich die "komischen Gedichte"
nicht so gut verkaufen, wenn statt "komisch" "nonsense"
im Titel stehen würde?
Ich glaube auch, dass "komisch" das Schlüssel-Wort
für Erwachsene ist. Komik geht in den Bereich des Comedyhaften.
Wenn Komik unter dem Etikett "Comedy" läuft, spricht
sie in erster Linie Erwachsene an.
Wurde das Konzept deiner "GEDICHT"-Ausgabe, vor allem
Spaß- und Spielgedichte für Kinder auszusuchen, positiv
aufgenommen oder gab es auch Kritik?
Neben
großem Lob gab es auch einen Verriss aus der Kinderbuchbranche.
Den fand ich merkwürdig. Denn auf der einen Seite der entsprechenden
Fachzeitschrift wurde meine aktuelle dtv/Hanser-Anthologie "Zum
Teufel, wo geht's in den Himmel? 100 poetische Wege", die ,sinnstiftende'
Gedichte für Jugendliche versammelt, hoch gelobt. Und auf der
anderen Seite wurde mir bei den Gedichten für Kinder vorgeworfen,
dass sie nicht an die einschlägigen Gedichtsammlungen bei Beltz
& Gelberg heranreichten. Das hat fast ein wenig so gewirkt,
als wäre der Rezensent beleidigt, dass es jemand gewagt hat,
ein anderes anthologisches Konzept zu verfolgen als Hans-Joachim
Gelberg, der unbestritten einer der Pioniere auf diesem Gebiet war
und ist.
Die Gedicht-Anthologien, die Gelberg herausgegeben hat, waren zwar
immer interessant, aber es waren meines Erachtens viele - bisweilen
zu viele - Gedichte von Lyrikern der 68er-Generation dabei, die
allzu gerne den pädagogischen Zeigefinger oder Holzhammer mit
der politisch-korrekten Gutmenschen-Pointe bereit halten. Für
meine Anthologie habe ich über tausend Gedichte angeboten bekommen.
Aber ich klammerte ganz bewusst Texte aus, die mit dem erhobenen
Zeigefinger drohten. Ich will Kinder lieber über Lust, Sprachwitz
und Wortmagie zum Lesen und Lieben von Gedichten bringen als sie
mit Gedichten zu erziehen. Der Verriss hat mich eigentlich auch
beruhigt, denn wenn ein Projekt keine Anfeindungen erfährt,
ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ihm die Widerborstigkeit
fehlt.
Und wie war darüber hinaus das Feedback auf deine Kinder-GEDICHT-Ausgabe?
Es gab ein großes und sehr positives Echo. Beispielsweise
hat Hilde Elisabeth Menzel, eine der großen Kritikerinnen
des Kinderfeuilletons, die Anthologie hervorragend in der Süddeutschen
Zeitung besprochen, sie als "Fundgrube für Erwachsene
und Kinder" bezeichnet, es wurden sogar das farbige Cover -
mit meinem echten Kinder-Teddy - und einige Gedichte darin abgedruckt.
Professor Kurt Franz, Präsident der "Deutschen Akademie
für Kinder- und Jugendbuch" in Volkach empfahl das Kinder-GEDICHT
im Akademieorgan Volkacher Bote, weil sie "Texte über
Kindheit vereint, die einen Stil- und Mentalitätswechsel bewusst
machen, wie keine andere Anthologie zuvor."
Insgesamt reagierten, mit Ausnahme der F.A.Z., der ohnehin die jungen
Leser wegzubrechen scheinen, nahezu alle wichtigen Feuilletons.
Etliche ARD-Rundfunkanstalten sendeten Gedichte daraus, vom BR bis
zu Radio Bremen. Was ich aber für symptomatisch halte, ist,
dass diese Rezensionen nicht in die gängigen Presseschauen
im Internet aufgenommen wurden, weil man dort generell die Kinder-
und Jugendlyrik ausklammert. So dokumentiert beispielsweise der
von der Bundesregierung mit Millionenbeträgen subventionierte
"Perlentaucher" (der wesentliche Online-Feuilleton-Pressespiegel,
Anm. der Kulturtasche) nur die wenigsten Kinder- und Jugendbuchkritiken
aus der Süddeutschen Zeitung oder der Neuen Zürcher Zeitung.
Das ist kaum zu begreifen, aber bekräftigt meine These, dass
man im eitlen Literaturbetrieb mit Kinder- und Jugendbüchern
keine Lorbeeren erntet.
Apropos mangelnde Aufmerksamkeit. Du hast immer wieder spektakuläre
Aktionen organisiert, um Gedichte im Alltag sichtbar zu machen und
an die Leser zu bringen.
Als Studenten haben wir mit einem monatlichen Flugblatt angefangen.
Wir nannten es "Münchner Flugblatt für junge Literatur",
und es war das Medium der "Initiative junger Autoren",
die Lyriklesungen und Literaturtagungen organisierte und ansonsten
in verrauchten Kneipen heftig über unfertige Texte diskutierte.
Innerhalb dieser Initiative haben wir zehntausende Flugblätter
mit Gedichten bedrucken lassen und dann auf eigene Gefahr in U-
und S-Bahnhöfen, in fahrenden Zügen, Bussen oder Kneipen
verteilt. Wir haben immer wieder Ärger gekriegt, weil in Bahnhöfen
keine Werbung verteilt werden darf. Doch als die Bahnpolizisten
merkten, dass wir Gedichte verteilen, haben sie nur den Kopf geschüttelt
und uns gewähren lassen. Und bald sah man überall in der
S-Bahn Fahrgäste mit unseren Flugblättern in der Hand!
Später habe ich dann Baguettetüten mit Gedichten bedrucken
lassen. Das würde ich heute allerdings nicht mehr unbedingt
machen. Das hat zwar einen großen öffentlichkeitswirksamen
Effekt gehabt, aber eine Brottüte ist am Ende doch nur ein
Wegwerfprodukt. Gedichte sind zwar wie Brot Grundnahrungsmittel,
aber doch zu schade, um zusammen geknüllt und weggeworfen zu
werden. Deshalb habe ich im Anschluss Gedichte von der Südzucker-Tochterfirma
"Hellma" auf Feinzuckertütchen drucken lassen. Solche
Zuckerbriefchen sind ein dauerhafteres Medium. Es gibt im Übrigen
auch etliche Sammler von Feinzuckertütchen und viele Cafébesucher
spielen mit diesen Tütchen herum und lesen dabei die Aufdrucke.
Wir haben unsere "Tütchenlyrik" unter das Motto "Ein
Gedicht rettet den Tag" gestellt, das von dem argentinischen
Lyriker Roberto Juarroz stammt. Ich habe seinerzeit international
Lyriker angesprochen, uns ganz kurze Gedichte zur Verfügung
zu stellen, die zum Thema Caféhaus passen. Wir haben aus
den eingesandten Gedichten dann 25 Gedichtmotive ausgesucht, übersetzen
lassen und auf die Tütchen gedruckt. Da gab es wunderschöne,
wie beispielsweise das von Maria de Nazaré Sanches "Hinter
dem Schweigen / steckt manchmal / eine lange Nacht".
Aber leider gingen die Tütchen nie in Serie. Denn die Firma
Hellma war letztendlich mit den Gedichten nicht zufrieden. Deren
Vertreter waren im Grunde genommen einfache Seelen, Rübenbauern,
die man in Nadelstreifenanzüge gesteckt hatte. Texte wie "Ohne
Zucker ist das Leben nicht schön" wären ihnen wohl
lieber gewesen. Man hatte zwar schon eine Million Tütchen produziert,
aber das ist im Vergleich zum täglichen Gesamtausstoß
von Zuckertütchen, der sich im Milliardenbereich bewegen dürfte,
fast gar nichts. Die Testtüten sind dann zwar in ausgewählten
Cafés gelandet und auch von Medienvertretern dankbar konsumiert
worden, aber damit war die Aktion leider beendet. Übrigens
haben wir auch die Zeitschrift "DAS GEDICHT" zusammen
mit Weinflaschen über eine badische Winzergesellschaft vertreiben
lassen.
Gedanke bei all den Aktionen war, das Gedicht als geistiges Grundnahrungsmittel
zurück in den Alltag zu bringen.
Braucht Lyrik überhaupt solche öffentlichkeitswirksame
Inszenierungen, um wahrgenommen zu werden?
Wenn
die Leute nicht zur Lyrik kommen, müssen die Lyriker unter
die Leute gehen. Wer sich in seinem elfenbeinfarbenen Schneckenhaus
verkriecht, wird als Lyriker nicht weit kommen. Aber das ist kein
neues Phänomen, sondern war schon immer so. In der Antike haben
sich die Dichter beim Vortrag ihrer Elegien und Dithyramben auch
schon selbst in Szene gesetzt. Als eine Art Sprechgesang wurden
die Verse meist von einem Instrument begleitet, zum Beispiel von
dem oboenartigen Aulós oder der Lyra. Und auch in der mittelalterlichen
Tradition des Minnesangs wollten die Barden ihr höfisches Publikum
beeindrucken. Um eine Wirkung an der Basis zu erzielen, muss man
als Lyriker trommeln.
Jugendlichen bringst du Gedichte ja ganz direkt nahe. Mit einem
Freund von dir, dem Gitarristen Martin Finsterlin, gehst du in Schulen
und machst dort Musik-Poesie-Performances.
Martin Finsterlin war 12 Jahre lang Musikberater des Bayerischen
Fernsehens. Das heißt, er hat viel Erfahrung darin, Musik
zur Geltung zu bringen ohne den Text dabei wegzufegen. Zusammen
vertonen wir einzelne Texte in HipHop-Manier und haben mit unserem
Programm bereits in ganz Deutschland, Luxemburg und Österreich
viele gute Erfahrungen mit Jugendlichen und engagierten Lehrern
gemacht.
Zugegebenermaßen haben wir auch ein paar schlechte Erfahrungen
gemacht. Vor allem dort, wo die Lehrer ihre Klassen nicht auf unseren
Besuch vorbereitet hatten. Einmal stellte uns ein Lehrer an einem
bayerischen Gymnasium seinen Zöglingen mit den Worten vor:
"Heute haben wir Herrn Finsterlin und Herrn Leitner bei uns
zu Gast. Herr Leitner ist Lyriker. Lyriker sind Leute, die in der
Regel Dinge schreiben, die kein Mensch versteht. Deshalb sind sie
in unserer Gesellschaft nicht sehr hoch angesehen." Danach
zog er sich ins Lehrerzimmer zurück.
Diese Veranstaltung ist dann auch aus dem Ruder gelaufen. Die Schüler
reagierten demonstrativ gelangweilt und beschimpften uns lauthals.
Aber meistens sind die Kinder und Jugendlichen äußerst
interessiert, und ich habe schon viele wunderbare Gespräche
und Diskussionen mit Schülerinnen und Schülern gehabt.
Jugendliche gehen meiner Meinung nach offener und unverkrampfter
mit Lyrik um als Erwachsene.
Reagieren Mädchen anders als Jungs auf Lyrik?
Mädchen reagieren zunächst stärker und positiver
auf Gedichte als Jungen. Die sind erstmal skeptisch, wenn sie dann
aber Liebesgedichte hören, entkrampfen sie sich und sind danach
aufmerksam und schmunzelnd mit bei der Sache. Bei der Veranstaltung,
die aus dem Ruder gelaufen ist, haben uns die Jungen Ärger
bereitet, die Mädchen waren viel interessierter. Die Mädchen
kommen meist in der Pause zu uns und stellen spezifische Fragen
zu den vorgetragenen Gedichten. Die kennen auch nicht selten meine
Bücher bei dtv/Hanser und wollen mit mir darüber diskutieren.
Jetzt haben wir viel über Lyrik gesprochen, aber eine existentielle
Frage haben wir dabei vergessen: Warum brauchen wir eigentlich Lyrik?
Da
halte ich es, ein wenig scherzhaft, versteht sich, mit Hemingway:
"Ein Mann schreibt, um den Frauen zu gefallen". Und wenn
man ins Mittelalter zurückgeht: die Gedichte der Minnesänger
waren größtenteils der Liebe und den Damen bei Hofe gewidmet.
Über die Lyrik habe ich tatsächlich immer interessante
und attraktive Frauen kennen gelernt. Ob das umgekehrt auch funktioniert,
also Frauen Männer durch Gedichte gewinnen können, weiß
ich nicht.
Die Lyrik ist, ganz im Ernst, sicher ein sehr geeignetes Kommunikationsmittel,
um mit Leuten über den Text ins Gespräch zu kommen.
Kannst du den Lesern und Leserinnen von Rossipotti abschließend
noch einen Tipp geben, wie man Lust bekommt, selbst ein Gedicht
zu schreiben?
Ich empfehle den Kindern und Jugendlichen, einen Text zu schreiben,
der exakt (!) 160 Zeichen hat und von Liebe handelt. Sie werden
merken, dass das gar nicht so einfach ist. Das Gedicht können
sie dann als SMS an Freunde verschicken. Oder sie schreiben zusammen
ein Gedicht. Einer macht den Anfang, verschickt seine Verszeile
per SMS weiter und lässt dann seine Freundinnen und Freunde
weiterdichten. So etwas macht Spaß!
Lieber Anton, vielen Dank für das Gespräch!
* * *
Anton hat diese SMS-Gedicht-Aufgabe übrigens
auch schon erfahrenen Dichtern gestellt. Welche Gedichte dabei entstanden
sind, könnt ihr euch in dem Buch ansehen.: SMS-Lyrik. 160
Zeichen Poesie. dtv/Hanser. München 2003 (bereits in der dritten
Auflage erschienen.)
Außerdem hat Anton G. Leitner auch noch andere
Gedichtbände für Kinder und Jugendliche herausgegeben:
- Heiß auf Dich. 100 Lock- und Liebesgedichte
(von Anton G. Leitner und Anja Utler herausgegeben), dtv/ Hanser,
München 2002.
- Feuer, Wasser,
Luft & Erde. Die Poesie der Elemente.
Philipp Reclam jun. (Universalbibliothek). Stuttgart 2003.
- Napoleons erster Fall. Carlsen (Pixi), Hamburg, 2004 (2.
Auflage).
- Himmelhoch jauchzend - zu Tode betrübt. Poesie für alle Liebeslagen.
dtv/Hanser. München 2004.
- Zum Teufel, wo geht's in den Himmel? Poetische Wege (von
Anton G. Leitner und Siegfried Völlger herausgegeben). dtv/Hanser.
München 2005.
Die im Interview besprochene Kindergedicht-Ausgabe
der Lyrik-Zeitschrift DAS GEDICHT richtet sich mit ihrem großen
Essay-Teil in erster Linie an Erwachsene, die darin vorgestellten
Gedichte sind natürlich aber auch für Kinder und Jugendliche
interessant:
- DAS GEDICHT (Nr. 13): Alle meine Kinder. Lyrik
von der Wiege bis zum Milchbart. Weßling 2005.
In der Rubrik Hörgeschichte
könnt ihr euch übrigens Anton G. Leitner anhören,
wie er Gedichte vorliest.
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