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Das geheime Buch
Reise ins Ungewisse
von
Heiko Bacher
Fortsetzung: Teil 8
Wer nicht alles mitbekommen hat und nicht
nur die kurze Zusammenfassung lesen möchte, geht ganz an den Anfang
der Geschichte zur 18. Ausgabe zurück oder zum letzten Kapitel der
letzten Rossipotti-Ausgabe
Was bisher geschah:
Der dreizehnjährige Tom und die zwölfjährige
Jenny werden von Kart Orkid, einem Agenten des unbekannten Volkstammes
Mok, gebeten, ihnen zu helfen. Laut einer uralten Prophezeiung
des "Buch des Tuns" sind die beiden Kinder "To-Am"
und "Jen-Yi" dazu bestimmt,
die Moks vor "gelbem Hagel" und dem Untergang ihres Stammes
zu retten.
Jenny glaubt Kart Orkid kein Wort und denkt nicht daran, nach Frankreich
zu einem Volkstamm zu fahren, den es ihrer Einschätzung nach
gar nicht gibt. Doch Tom lockt Jenny mit einer vorgetäuschten
Entführung in die Auvergne, und so erfährt Jenny, dass
es die Moks wider Erwarten doch gibt.
Die Moks leben in einer großen, viel verzweigten Höhle
und haben ihre eigene Kultur und Geschichte. Tom und Jenny lernen,
dass die Moks zu dem kleinwüchsigen, afrikanischen Volksstamm
der Pygmäen gehören und als indigenes Volk von den großwüchsigen
Menschen in Europa vor langer Zeit bedroht und versklavt wurden.
Aus dem Grund verstecken sie sich seit vielen Jahrhunderten in der
Höhle. Da nun einer der Moks, Onk Ark, aus der Höhle geflohen
ist, weil er das Höhlenleben nicht mehr ausgehalten hat, und
der Agent Kart Orkid aus unerklärten Gründen verschwunden
ist, haben die Moks große Angst, dass sich die Prophezeiung
erfüllt und sie von den großen Menschen entdeckt und
wieder verfolgt oder sogar vernichtet zu werden. Sie trauen sich
nicht mehr aus der Höhle, um mit den wenigen, befreundeten
Bauern Waren und Essen zu tauschen und befinden sich in einer Art
Ausnahmezustand.
Tom und Jenny reisen nach Rochefort
am französischen Atlantik, weil die Stadt in der Prophezeiung
genannt wird. Dort erfahren sie, dass der kindergroße Kart
Orkid bei seiner Suche nach Onk Ark in ein Waisenhaus gesteckt wurde
und dort nach kurzer Zeit von irgendwelchen Männern abgeholt
und irgend wohin gebracht wurde. Daneben
finden sie den abtrünnigen, plötzlich reich gewordenen,
aber sehr schweigsamen Onk Ark in der Umgebung kriminell wirkender
"Auftraggeber". Außerdem lernen die beiden Kinder
den Journalisten Yves Scot kennen, der sich seit dem Auftauchen
der merkwürdigen Kinder Onk Ark und Kart Orkid in Rochefort
dem Geheimnis ihrer Herkunft auf die Spur kommen und eine große
Story daraus stricken will. Bisher hat er immerhin heraus bekommen,
dass Kart Orkid von den unbekannten Männern ins Gefängnis
gesteckt wurde. Scot bittet die Kinder, ihm zu helfen, und schleust
sie ins Gefängnis zu Kart Orkid ein. Da Kart Orkid im Gefängnis
nicht offen sprechen kann, erfahren sie von ihm nicht viel mehr,
als dass sie nach einem schwarzen Zeichen auf gelbem Grund recherchieren
sollen. Yves Scot gegenüber behaupten sie allerdings, von Kart
Orkid keinerlei brauchbare Informationen bekommen zu haben, weshalb
Scot nicht weiter an den Kindern interessiert ist.
Was sie nicht wissen, ist, dass sie spätstens seit ihrem Gefängnisbesuch
von den Auftraggebern von Onk Ark, Agenten des europäischen
Geheimdienstes, beobachtet werden. Denn auch der europäische
Geheimdienst ist aus irgendwelchen Gründen an der Höhle
der Moks interessiert.
Über das Internet bekommen Tom und Jenny heraus, dass mit dem
schwarzen Zeichen auf gelbem Grund wahrscheinlich das Zeichen für
Biogefährdung oder für atomare Gefahr gemeint ist. Weil
ihnen die Prophezeiung nun über den Kopf wächst, beschließen
sie, zu den befreundeten Bauern der Moks zu fahren und sich von
ihnen helfen zu lassen ...
Wenn die Wolke kommt und nicht vorüber zieht
Jenny und Tom standen auf dem Bahnsteig in Rochefort und warteten
auf ihren Zug nach Aurillac. Dort würden sie von Emmeline de
Sel, einer befreundete Bäuerin der Moks, abgeholt werden. Enk
hatte ihnen vier Kontaktadressen von Bauern gegeben, und Tom und
Jenny hatten zuerst die Familie de Sel angerufen, einfach deshalb,
weil der Name ganz oben auf der Liste stand.
Emmeline de Sel stellte sich am Telefon als nette, wohl etwas ältere
Dame heraus, die schnell verstand, wer sie beide waren und dass
sie Hilfe brauchten. Sie bot ihnen sogar an, sie vom Bahnhof in
Aurillac mit dem Auto abzuholen, damit sie nach ihrer langen Zugfahrt
nicht noch mit dem Bus über die Berge zu ihnen in das kleine
Dorf Sanissage fahren mussten.
Aus den Lautsprechern am Gleis ertönte eine Ansage und kurze
Zeit später schob sich die Lok ihres Zuges wie ein übergroßer
Metallwurm die Schienen entlang. Mit ohrenbetäubendem Quietschen
und Zischen kam sie schließlich zum Stehen. Tom und Jenny
schulterten ihre Rucksäcke und stiegen in den Waggon ein, in
dem sie ihre Plätze reserviert hatten.
"Wie viel Geld haben wir eigentlich noch?" fragte Tom,
als er sich in seinen Sessel fallen ließ.
"Keine Ahnung", sagte Jenny.
Sie holte ihren Geldbeutel aus dem Rucksack und kippte seinen Inhalt
auf ein kleines Tischchen neben ihrem Platz. Das kleine Häufchen
bestand aus zwei zwanzig Euro Scheinen, einem Zehner, vier fünf
Euro-Scheine und mehreren Münzen.
"Nicht viel", sagte Jenny. "Gerade mal 70 Euro und
ein paar Zerquetschte. Ich hoffe, du hast mehr."
Tom nickte und kramte in seiner Gürteltasche. Er legte ein
paar fünzig Euroscheine und einen Hunderter auf den Tisch.
Aber trotzdem war die Summe von beiden zusammen gerechnet nicht
höher als 507 Euro und 43 Cent!
"Hatten wir am Anfang nicht knapp 1800 Euro?" fragte Jenny
erstaunt und packte ihr Geld wieder ein.
"Nicht wirklich", sagte Tom. "Allein die Reise von
Deutschland hier her war enorm teuer. Eigentlich hatten wir am Anfang
auch nur knapp 1400 Euro."
"Trotzdem müsste es jetzt noch mehr sein", überlegte
Jenny. "Wir haben die letzten neun Tage doch fast nur von Wasser
und Brot ..."
"und Eis!" warf Tom dazwischen.
"... und Eis gelebt", sagte Jenny. "Trotzdem kann
das bisschen nicht das ganze Geld weggefressen haben."
"Die Fahrten sind immer so teuer", sagte Tom. "Allein
diese Fahrt hier kostet für uns beide 150 Euro! Außerdem
waren die neun Übernachtungen mit knapp 360 Euro in der Jugendherberge
auch nicht gerade billig. Dann waren wir zwei Mal mit dem Bus in
Portes des Barques, haben ein paar Mal im Café gesessen und
uns allein für 15 Euro eine Telefonkarte gekauft."
"Trotzdem!" Jenny konnte einfach nicht glauben, dass sie
in den paar Tagen so viel Geld ausgegeben hatten.
"Außerdem hatten wir die letzten Tage auch keine Moknahrung
mehr und mussten uns deshalb Lebensmittel kaufen", sagte Tom.
"So ist das eben, wenn man Geld ausgibt!"
"Das ist mir nicht neu!" sagte Jenny gereizt.
Tom sollte nicht immer den coolen Typ spielen, der über alles
Bescheid wusste und sich über nichts ärgerte!
"Und jetzt?" fragte Jenny.
"Jetzt können wir froh sein, dass wir so sparsam waren",
stellte Tom fest. "Sonst hätten wir es heute womöglich
nicht einmal mehr bis nach Aurillac geschafft."
"Du weißt, was ich meine", sagte Jenny. "Mit
500 Euro kommen wir nicht mehr weit. Da können wir froh sein,
wenn wir in ein paar Tagen überhaupt noch bis nach Hause kommen."
"Du hast ja schon dein Rückfahrticket", sagte Tom
belustigt.
"Aber nur von Aurillac aus", sagte Jenny. "Wer weiß,
wo wir in einer Woche sind?"
"Wir könnten unsere Eltern fragen, ob sie uns nicht noch
ein bisschen Taschengeld fürs Ferienlager schicken können."
"Und wohin sollen sie es schicken?" fragte Jenny. "Zumindest
ich habe kein Konto, wo ich mir Geld ziehen kann. Außerdem
schickt mir meine Mutter nicht einfach Geld, auch nicht ein bisschen.
Ihrer Meinung nach habe ich sicher schon mehr als genug für
das Ferienlager bekommen."
"Stimmt, das war eine blöde Idee", sagte Tom. "Meine
Eltern würden sicher auch nachfragen, warum ich noch mehr Geld
brauche, und das wäre viel zu riskant."
"Zum Glück ist es gerade Sommer", sagte Jenny und
zeigte nach draußen auf einen Weinberg, an dem sie gerade
vorbei fuhren. "Da wächst genug Obst. Verhungern werden
wir also nicht."
Tom war sich nicht sicher, ob Jennys Bemerkung ernst gemeint war
oder nicht, zog es aber vor, zu schweigen. Er verstaute sein Geld
wieder in der Gürteltasche und schaute durchs Fenster. Tatsächlich
fuhren sie an viel leckerem Obst vorbei. Vor allem an Weinstöcken,
aber auch an Apfel- und Pfirsichbäumen. Die Trauben waren sicher
noch nicht reif. Trotzdem fand er Jennys Idee, sich von Obst zu
ernähren, gar nicht so schlecht.
Gedankenverloren stellte er sich vor, mit Jenny Obst und Gemüse
zu klauen und es im Schutz hoher Maispflanzen aufzuessen. Vor seinen
Augen entstanden Bilder, wie er mit Jenny eine Hütte im Wald
baute, Pfeil und Bogen schnitzte, Kaninchen und Enten schoss und
sie anschließend über dem Feuer briet.
Tom seufzte. Solche Abenteuer waren ganz nach seinem Geschmack!
Aber dieses, in dem sie gerade steckten? Eher nicht! Sicher, die
unterirdische Höhlen-Welt der Moks kennen gelernt zu haben,
war atemberaubend gewesen! Aber dort waren sie ja leider nur zwei
Tage geblieben. Und seither saßen sie eigentlich nur in stickigen
Zügen und Autos, klebten vor dem Bildschirm, um irgendwelche
Informationen heraus zu bekommen und hofften, von irgendwelchem
Journalisten kostenlos zum Essen eingeladen zu werden. Nicht gerade
abenteuerlich!
Gleichzeitig wurden Tom ihre Unternehmungen allmählich zu gefährlich!
Die brenzlige Begegnung mit Onk Ark im Fischerhäuschen und
ihr unangenehmer Gefängnis-Besuch waren ja gerade noch ertragbar
gewesen. Aber die Bedrohung, die jetzt durch das schwarzen Zeichen
auf gelbem Grund, auf sie zukam, war ihm eindeutig einige Nummern
zu groß. Denn seiner Meinung nach hatte die Sache mit nichts
anderem als mit Atomwaffen zu tun! Am liebsten würde er deshalb
aus der Sache und der unseligen Prophezeiung der Moks aussteigen
und nach Hause fahren!
Oder nein! Noch lieber würde er jetzt ein paar wilde
Tage im Wald ganz allein mit Jenny verbringen! Es musste herrlich
sein, mit ihr - ohne ihre lästigen Pflichten und drückenden
Verantwortungen - durch den Wald zu streifen! Er würde ihr
zeigen, welche Pflanzen giftig und welche es nicht waren. Er würde
ihr beibringen, wie man mit einem Feuerstein, einem Taschenmesser
und ein bisschen Zunder Feuer oder wie man sich mit Quarzerit oder
Vulkanit einen Faustkeil machen konnte. Das würde sie sicher
beeindrucken!
Aber wie konnte er sie hier und jetzt beeindrucken? Gar nicht! Denn
war sie nicht oft mutiger als er? Hatte sie nicht oft bessere Einfälle
als er? Und hatte sie manchmal nicht auch den besseren Überblick?
Das einzige, womit sie nicht punkten konnte, war ihr launischer
Charakter. Er war sicher meistens wesentlich besser gelaunt
als sie. Aber interessierte Jenny das überhaupt? Freute sie
sich etwa, dass er sich nicht so schnell über Dinge ärgerte
und sie öfters aufmuntern wollte? Nicht die Bohne!
Tom ließ seinen Gedanken noch eine Weile freien Lauf, bis
der Schaffner kam und sie daran erinnerte, dass sie in Bordeaux
Richtung Toulouse umsteigen mussten.
Tom nickte und sah Jenny die Nase rümpfen. Sicher dachte sie
gerade, dass das französische Bahnnetz eine Katastrophe war,
weil die Bahn-Linien hier fast alle von Nord nach Süd und nicht
von West nach Ost ausgerichtet waren. Und wahrscheinlich dachte
sie gerade, was es für ein Schwachsinn war, dass sie erst ganz
in den Süden fahren mussten, um danach wieder zurück in
den Norden nach Aurillac zu kommen. So brauchten sie beinahe doppelt
so lang wie mit dem Auto von Rochefort nach Aurillac, fast 10 Stunden!
Tom fand es dagegen gar nicht so schlecht, ein paar Stunden länger
mit Jenny im Zug zu sitzen. Die Stunden mit den unbekannten Bauern
würden sicher wieder anstrengend werden. Allein, immer französisch
reden zu müssen. Aber Tom hütete sich davor, das vor Jenny
zuzugeben. Wahrscheinlich würde sie ihn nur als Weichei beschimpfen.
Oder doch nicht? So lächelte Tom Jenny nur an, erntete aber
von ihr nur einen weiteren genervten Blick.
Als Tom und Jenny Stunden später in Aurillac aus dem Zug stiegen,
fiel ihnen ziemlich schnell eine kleine, alte Frau in einem grauen
Woll-Rock und einer weißen Bluse auf, die mit den Augen unsicher
suchend die Reisenden beobachtete. Das musste Emmeline de Sel sein!
Tom und Jenny liefen zu ihr und begrüßten sie.
"Bonjour To-am et Jen-yi!" sagte Mme de Sel erleichtert.
"Je suis très heureux de faire votre conaissance!"
"Wir freuen uns auch, Sie kennen zu lernen", antwortete
Tom auf französisch. "Vielen Dank, dass Sie gekommen sind,
um uns abzuholen."
"Aber das ist doch selbstverständlich", sagte Mme
de Sel. "Ich lasse zwei Kinder, die sich hier nicht auskennen,
doch nicht allein mit dem Bus nach Sanissage fahren. Obwohl ich
wegen meiner alten Knochen zugegebenermaßen nicht mehr so
gerne Auto fahre."
Tatsächlich ging Mme de Sel ziemlich langsam und schien bei
jedem Schritt Schmerzen zu haben. Mme de Sel schien sowieso ziemlich
alt zu sein. Ihr Gesicht war mit viele Runzeln überzogen, ihr
Pagenkopf war nicht mehr grau, sondern vollständig weiß
und ihre Hände sahen verhärmt und abgearbeitet aus. Trotzdem
blitzten ihre Augen noch erstaunlich jung und neugierig in ihrem
Gesicht.
"Zut!" rief Mme de Sel verärgert, als sie kurze Zeit
später auf dem Bahnhofsparkplatz standen. "Wer hat sich
denn da direkt vor mein Auto gestellt?! Wahrscheinlich bekommt man
so nicht einmal mehr die Türen auf!"
Mme de Sel schob sich zwischen einen Mercedes und ein grün-silbriges
Auto mit kastenförmigen Kofferraum und schloss dann die Autotüren
des grün-silbrigen Autos auf. Sie quetschte sich durch die
Tür und ließ sich mit einem Ächzen auf den Fahrersitz
fallen. Tom stieg vorne, Jenny hinten ins Auto ein.
"Seht euch diesen dicken Mercedes an!" schimpfte Mme de
Sel. "Als ob er es darauf abgesehen hätte, uns zu belästigen!
Entschuldigt, aber ich kann diese deutsche Marke sowieso nicht leiden.
Autos sind zum Gebrauchen da, nicht zum Angeben!"
Mme de Sel drückte mehrmals kurz auf die Hupe. Als niemand
kam, hupte sie so lange, bis endlich zwei Männer aus dem Bahnhof
gesprungen kamen, beschwichtigend mit den Armen in Mme de Sels Richtung
winkten, dann in den Mercedes stiegen und schnell davon fuhren.
Mme de Sel seufzte, ließ den Motor an und manövrierte
ihr Auto vom Parkplatz. "Fréderic konnte euch nicht
abzuholen, weil er die Garage ausräumen muss", erklärte
sie nach einer Weile. "Wir brauchen die Garage, um sie zu vermieten.
Das bisschen Rente reicht kaum aus. Und die Duchamps brauchen etwas,
um ihre Geräte unterzustellen."
Tom sagte etwas zu Mme de Sel, aber da Jenny nicht verstand, was,
schaute sie aus dem Fenster. Auf der eine Seite säumte gerade
ein langer Grünstreifen die Straße, auf der anderen Seite
standen mehrstöckige, graue Wohnhäuser locker neben einzelnen
Villen. Die Straße ging leicht bergab, und in der Ferne konnte
man grüne Hügel sehen. Wie Jenny von Tom wusste, lag Aurillac
am Fuße des Vulkanbergs Cantal. Die hügeligen Ausläufer
der Berge um Aurillac waren vor vielen tausend Jahren durch Gletscher
einer längst vergangenen Eiszeit entstanden.
Schon ein paar Kurven und Kilometer später waren sie aus Aurillac
draußen und fuhren nun durch die hügelige Landschaft
selbst. Die Landschaft hier erinnerte Jenny an ihre Heimat in Deutschland.
Aber die meisten Häuser sahen mit ihren grauen Steinmauern,
ihren kleinen Balkons, den gußeisernen Gartenzäunen und
der insgesamt freizügigeren Bauweise doch ziemlich anders aus
als zu Hause.
"Wie geht es denn den Moks?" hörte Jenny Tom Mme
de Sel fragen.
Jenny beugte sich interessiert vor und versuchte, die Antwort von
Mme de Sel verstehen zu können.
"Wir haben seit knapp einer Woche keine Verbindung mehr zu
den Moks!" sagte Mme de Sel. "Das muss nichts Schlimmes
bedeuten. Aber es heißt zumindest, dass sie ihren Ausnahmezustand
verschärft haben und wirklich niemand mehr aus der Höhle
darf."
"Ich habe gedacht, der Ausnahmezustand dauert schon länger
als eine Woche?" sagte Tom. "Als wir am Sonntag vor einer
Woche dort waren, durfte auch schon niemand mehr aus der Höhle."
"Das betrifft gewöhnlich nur die normalen Moks, aber nicht
die Agenten und engen Mitarbeiter des Oberhaupts Pok Alk",
erklärte Mme de Sel. "Seit Onk Ark und Kart Orkid verschwunden
sind, sind die Moks sehr auf Informationen von außerhalb angewiesen.
Deshalb wundert es uns auch, dass die Moks nun jeden Kontakt zu
uns abgebrochen haben."
"Mit wem haben Sie denn zuletzt gesprochen?" fragte Tom.
"Am Donnerstag letzte Woche haben wir kurz mit Lurk, einem
engen Mitarbeiter des Oberhaupts, der für die Außenkontakte
zuständig ist, gesprochen. Er sagte uns, dass sich bei uns
wahrscheinlich bald die Kinder To-am und Jen-yi melden werden. Und
er bat uns, euch zu helfen."
"Zum Glück haben die Moks Ihnen das noch mitteilen können",
meinte Tom. "Wer weiß, ob Sie uns sonst geglaubt hätten?
Übrigens heißen wir eigentlich nicht To-Am und Jen-yi,
sondern Tom und Jenny und. Unsere Namen heißen nur in der
Prophezeiung so."
"Was wisst ihr denn über die Prophezeiung?" fragte
Mme de Sel neugierig.
"Wir kennen den Text", sagte Tom. "Sie nicht?"
"Nein", sagte Mme de Sel. "Wir wissen nur, dass es
eine uralte Prophezeiung gibt und dass sie die Moks zur Zeit sehr
nervös macht. Was steht denn in der Prophezeiung?"
"Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das mitteilen darf, wenn
Ihnen die Moks selbst nichts davon erzählt haben?" überlegte
Tom.
"Da hast du Recht", sagte Mme de Sel und lachte. "Aber
immerhin weiß ich jetzt, dass ihr in der Prophezeiung steht!
Ist es nicht allerhand, dass der Gründer der Moks bereits wusste,
dass ihr tausend Jahre später auf die Welt kommen werden würdet?!
Fréderic wird Augen machen, wenn er mit euch den leibhaftigen
Beweis vor sich sehen wird, dass die Prophzeiung nicht falsch sein
kann."
"Wieso?" fragte Tom. "Glaubt er etwa nicht an die
Prophzeiung der Moks?"
"Kein bisschen", sagte Mme de Sel. "Er glaubt, dass
die Moks schon genug reale Probleme haben, da bräuchten sie
sich nicht noch künstlich welche zu machen!"
"Welche realen Probleme denn?", fragte Tom. "Ich
dachte, sie hatten bisher nur das Problem, entdeckt zu werden und
die Prophezeiung, die ihnen Angst macht?"
"Nein", sagte Mme de Sel. "Eigentlich haben sie ganz
andere Probleme. Ihr größtes wirtschaftliches Problem
ist die Versorgung des Stammes. Und ihr größtes gesellschaftliches
Problem ist die Verhinderung von Rebellion. Seit ich die Moks kenne,
und das ist schon sehr lange, gibt es immer wieder Moks, die lieber
über der Erde wohnen würden. Die nicht mehr einsehen,
unten bleiben zu müssen. Was ich wiederum gut verstehen kann.
Wer will sein Leben lang schon in einer Höhle leben? Da verpasst
man doch das Beste! Außerdem wird es in der Höhle allmählich
eng, und die Moks haben einen gewissen Dichtestress. Insofern war
es nur eine Frage der Zeit, bis ein oder mehrere Moks aus diesem
Leben ausbrechen würden. Trotzdem finde ich es bemerkenswert,
dass genau dann Onk Ark und Kart Orkid verschwinden, als die Moks
so viel Wirbel um ihre Prophezeiung machen! Und dass auch genau
dann Kinder aus Deutschland auftauchen, die anscheinend vor vielen,
vielen Jahren bereits in der Prophezeiung beschrieben sind. Ist
das alles nicht ein Beweis dafür, dass die Prophezeiung wahr
ist?"
Tom nickte. So sah er es eigentlich auch.
"Ist euch aufgefallen, dass hinter uns die ganze Zeit das gleiche
blaue Auto fährt?" fragte Jenny.
Tom drehte sich um und sah durch das Rückfenster einen blauen
Mercedes.
"Seit wann fährt er denn hinter uns?" fragte Tom.
"Seit ich aus dem Fenster sehe", sagte Jenny. "Also
eigentlich von Anfang an."
"Was hat Jenny gesagt?" fragte Mme de Sel und sah in den
Rückspiegel.
"Jenny glaubt, dass uns der blaue Wagen hinter uns verfolgt",
übersetzte Tom.
"Ja, ich weiß", sagte Mme de Sel. "Der Mercedes
will mich schon seit Aurillac überholen, traut sich aber nicht.
Die Strecke ist für Raser glücklicherweise nicht besonders
geeignet. Aber in ein paar Kilometern sind wir auf der N 122. Da
kann er mich überholen."
"Ist das nicht der Mercedes von vorhin?" fragte Tom.
"Unwahrscheinlich", meinte Mme de Sel. "Auch wenn
wir Franzosen lieber unsere eigene Automarken fahren, gibt es auch
hier mehr als einen Mercedes!"
"In dem Mercedes hinter uns sitzen aber auch zwei Männer!"
stellte Jenny beunruhigt fest. "Ich glaube, es sind tatsächlich
die gleichen wie vorhin am Bahnhof!"
Als Tom Jennys Satz übersetzt hatte, sagte Mme de Sel: "Et
alors? Selbst wenn es die gleichen Leute sind: Dürfen sie dann
nicht den gleichen Weg aus Aurillac nehmen wie wir? Vielleicht sind
sie auf dem Weg nach Murat oder besuchen ihre Verwandten in Vic-sur-Cère?"
Tom übersetzte Jenny, was Mme de Sel gesagt hatte, konnte Jenny
damit aber nicht wirklich beruhigen. Auch Tom wurde unruhig, als
sie der blaue Mercedes auch auf der zumindest teilweisen, zweispurigen
N122 nicht überholte. Er hatte zwar keine Ahnung, wer sie verfolgen
sollte. Aber reichte es nicht, dass Onk Ark in dunkle Geschäfte
verwickelt war und Kart Orkid im Gefängnis saß? Und war
es nicht verdächtig, dass der Kontakt zwischen den Moks und
den Bauern zuletzt ganz abgebrochen war?
Wer weiß, vielleicht gehörten diesen beiden Männer
in dem Mercedes zu den Auftraggebern von Onk Ark? Oder zu den Männern,
die Kart Orkid das Leben schwer machten?
"Frag mal, ob Mme de Sel nicht anhalten kann", sagte Jenny
zu Tom. "Ich habe vorhin auf einem Schild gelesen, dass in
ein paar Kilometern ein Mc Donalds kommt. Lass uns dort halten.
Dann können wir feststellen, ob der Wagen an uns interessiert
ist oder nicht."
Tom nickte und gab Jennys Frage an Mme de Sel weiter.
"Quoi?" Mme des Sel von Jennys Idee nichts wissen: "Ich
halte doch nicht bei einem Mc Donalds! Ich habe extra für euch
Truffade und Rissoles gekocht und einen Kirschkuchen gebacken!"
"Das hört sich lecker an", sagte Tom höflich.
"Aber wir wollten auch gar nicht im Mc Donalds essen, sondern
nur sehen, ob wir verfolgt werden."
"Papperlapapp!" sagte Mme de Sel. "Was interessiert
uns dieser Mercedes?! Ich lasse mir doch von dem keine Angst einjagen!"
Tom wusste nicht, ob Mme de Sel wirklich keine Angst hatte oder
nur betont fröhlich tat. Auf jeden Fall sagte sie weder etwas,
als der Mercedes kurz darauf wie sie von der N122 in eine kleine
Nebenstraße abbog, noch, als der dunkle Wagen auch auf den
kurvigen und völlig verlassenen Landstraßen den Berg-Massiv
hinunter stets hinter ihnen blieb.
Erst in dem kleinen Dorf Pailherols hielt Mme de Sel ihren Wagen
vor einer Crèperie an. Allerdings nicht, wie sie betonte,
um zu sehen, was ihre "Verfolger" machen würden,
sondern um etwas für Fréderic zu besorgen.
Tom und Jenny sahen Mme de Sel zu, wie sie sich auf dem Platz vor
der Crèperie mit jemandem unterhielt und kurz darauf hinter
der Tür der Crèperie verschwand. Dann hielten sie wieder
nach dem Mercedes Ausschau. Doch jetzt war der Wagen plötzlich
verschwunden! Ihre Verfolger waren tatsächlich weg!
"Glaubst du, sie sind wirklich weg?" fragte Jenny.
Tom zuckte mit den Schultern.
"Ich verstehe nicht, wo er geblieben sein kann", sagte
Jenny. "Hätte er nicht an uns vorbei fahren müssen?"
"Vor dem Dorf habe ich ihn noch gesehen", meinte Tom.
"Vielleicht ging davor irgendwo ein anderer Weg ab?"
"Ist mir nicht aufgefallen", Jenny schüttelte den
Kopf.
"Vielleicht ist er an uns vorbei gefahren, als wir Mme de Sel
zugesehen haben, wie sie in die Crèperie gegangen ist?"
"Das hätten wir doch bemerkt!"
Tom zuckte mit den Schultern und sah zu, wie Mme de Sel aus der
Crèperie kam und mit einem Tabakpäckchen winkte.
"Fréderic wird sich über seinen Spezialtabak freuen",
sagte sie, als sie die Autotür öffnete und umständlich
in den Wagen stieg. "Albert, der Chef von der Crèperie
bestellt ihn extra für ihn. - Wie ich sehe, haben sich unsere
beiden Verfolger in Luft aufgelöst?!"
Tom nickte.
"Seht ihr!" sagte Mme de Sel bestimmt. "Die mussten
zufällig den selben Weg nehmen wie wir, sonst nichts!"
Fröhlich schlug sie die Tür zu, ließ den Motor an
und fuhr aus dem Dorf.
Der kleine Bauernhof der de Sels lag ein paar Kilometer den Berg
hoch von Sanissage entfernt. Von hier oben aus hatte man einen wunderbaren
Blick auf das grüne Tal und den gegenüber liegenden, bewaldeten
Berghang.
Das Haus der de Sels stand in einem großen, halb verwilderten
Garten und war eines jener Steinhäuser, die Jenny auf der Fahrt
hier her so oft gesehen hatte: Zweistöckig, aus großen
Kieseln und Lehm gemauert, mit freundlichen, durch Holzrähmen
unterteilte Fenster und einem grauen Dach, das an jedem Ende von
einem Schornstein festgehalten wurde. Das Haus der de Sels hatte
zudem vor der Haustür eine umzäunte, gemauerte Terrasse
und rechts daneben einen kleinen, ebenfalls umzäunten Gemüsegarten.
Links neben dem Haus standen mehrere Schuppen und Ställe.
Auf der Wiese davor liefen Hühner und mehrere Ziegen. Aus einem
der Ställe hörte Jenny das Grunzen von Schweinen.
"Schön, dass ihr kommt!" sagte ein großer,
drahtiger Mann mit kurzen, weißen Haaren und einem grauen
Hut auf dem Kopf. Er lief ihnen entgegen und half seiner Frau aus
dem Auto. "Ich habe gerade das Essen aufgewärmt."
Jenny stieg aus dem Auto und streckte sich. Nach den vielen Stunden
im Zug und im Auto, war es herrlich, wieder stehen und frische Luft
einatmen zu können. Die Luft roch zwar etwas nach Schweinekoben
und Hühnerdreck, war aber trotzdem viel besser als die Autoluft.
"Schön hier, oder?" Tom trat neben sie.
"Mmh", nickte Jenny. "Sieh mal, da hinten liegt eine
schwarze Katze!"
Jenny ging zu ihr und streckte vorsichtig den Arm nach ihr aus.
Obwohl Jenny schon halb damit gerechnet hatte, dass die Katze fliehen
würde lief, räkelte sich die Katze vor Jenny auf dem Boden
und fing an zu schnurren.
Tom setzte sich neben Jenny und kraulte die Katze. Das Fell war
etwas struppig, aber trotzdem schön weich und von der Sonne
warm. Er strich der Katze über den Rücken und berührte
dabei leicht Jennys Hand. Jenny zog ihre Hand nicht weg und sagte
auch nichts. War sie so Versunken ins Streicheln der Katze oder
hatte sie nichts bemerkt?
"Hier Urlaub zu machen, wäre nicht schlecht", sagte
Jenny.
"Mhmm", machte Tom. "Wer weiß, vielleicht können
wir ja wieder kommen, wenn alles vorbei ist?"
Jenny zuckte mit den Schultern und stand auf.
"Es gibt Essen!" sagte Fréderic de Sel. "Wascht
euch bitte die Hände, bevor ihr euch an den Tisch setzt!"
So schlicht das Haus von außen aussah, so überladen
mit lauter Krimskrams waren die Räume innen. Im Flur versperrten
Kleider, Schuhe, alte Küchengeräte, mit Schnüren
und Wäscheklammern vollgestopfte Eimer den Weg. Das Bad war
zwar nicht zugerümpelt, dafür mit bunten Kissen und Häkeldecken
geschmückt. Auch das Wohn- und Esszimmer der de Sels war ein
mit allen möglichen Dingen zugestellter Raum, der nur wenig
Platz zum Gehen ließ. In der Mitte stand ein großer
dunkler Esstisch mit dicken, geschwungenen Tischbeinen, die wie
große Löwenpfoten aussahen. An der einen Wand stand eine
alte Kommode, auf der Vasen, Keramik-Figuren und verschiedene Kerzenhalter
standen. An der anderen Wand stand ein Buchregal, ein großer
Lesesessel und eine altertümliche Lampe mit einem ausladenden,
beigen Lampenschirm aus Stoff.
Die freien Stellen der mit Blumenmustern tapezierten Wände
waren vollgehängt mit Öl-Bildern. Die meisten Motive der
Bilder waren Berge, Wälder und Wasserfälle.
"Die Bilder hat alle mein Bruder gemalt", Fréderic
de Sel hatte Jennys Blick verfolgt. "Er war Waldarbeiter hier
in der Gegend, ist aber leider vor ein paar Jahren beim Klettern
abgestürzt."
"Das tut mir leid", sagte Jenny unbeholfen auf deutsch.
Sie hatte nicht alles verstanden, was M de Sel zu ihr gesagt hatte,
aber irgendwer war gestorben.
"Mir auch", sagte M. de Sel auf deutsch. "Aber so
ist das Leben."
"Woher können Sie so gut deutsch?" fragte Jenny erstaunt.
"Mein Vater war nach dem Krieg in Deutschland als Soldat stationiert",
erklärte Fréderic. "Wir sind ihm hinterher gezogen,
und ich habe deshalb ein paar Jahre in Deutschland gelebt. Aber
das ist lange her und mein Deutsch ist nicht besonders gut."
"Finde ich schon", sagte Jenny und war froh, dass sie
sich hier mit Fréderic de Sel unterhalten konnte und nicht
immer stumm daneben sitzen musste.
"Sind sie adlig?" platzte sie heraus.
"Adlig?" fragte Fréderic de Sel befremdet. "Warum
das denn?"
"Heißt de Sel auf deutsch übersetzt nicht
von Salz?"
"Schon", sagte M. de Sel. "Aber das hat im Französischen
wenig zu bedeuten. De heißen hier viele. Das ist Scheinadel,
kein echter Adel."
"Schade", sagte Jenny. "Ich habe gedacht, hier echte
Adlige kennen lernen zu können."
Tom stöhnte. Was war denn plötzlich in Jenny gefahren?
Seit wann interessierte sie sich für Adlige? Und wie peinlich
war es, M. de Sel mit kindischen Vorstellungen von Adligen zu beleidigen?!
Aber M. de Sel schien Jennys Bemerkung nicht zu stören.
"Dafür lernst du jetzt echte Bauern kennen", sagte
er belustigt. "Oder kennst du schon welche?"
Jenny schüttelte den Kopf und dachte, dass Bauern sicher wesentlich
langweiliger als Adlige waren. Außerdem hatte sie schon immer
interessiert, ob man Adligen ihr blaues Blut irgendwie anmerkte?
"Wir haben Babykätzchen im Schweinestall", sagte
Fréderic de Sel. "Die schwarze Katze, die du vorhin
gestreichelt hast, ist ihre Mutter. Wenn du willst, zeige ich dir
ihr Versteck."
"Au ja!" sagte Jenny. "Babykätzchen sind so
süß!"
"Jetzt lasst uns erst mal etwas essen", sagte Emmeline
de Sel auf französich und stellte eine große Schüssel
auf den Tisch. "Die mit Schweinefleisch gefüllten Teigtaschen
heißen Rissoles und die Käse-Kartoffelscheiben Truffade.
Beides sind Spezialitäten aus der Auvergne. Ihr wisst doch
sicher, dass die Region hier Auvergne heißt?"
Tom und Jenny nickten und ließen sich ihre Teller voll schöpfen.
Das Essen war sehr lecker, und Jenny dachte, dass sie sich von Mme
de Sel auf jeden Fall das Rezept geben lassen würde. Ihre Mutter
hatte immer wieder, wenn auch leider seltene Anfälle, in denen
sie etwas "Spezielles" oder "Raffiniertes" kochen
wollte. Vielleicht wollte sie es ja einmal mit diesen Rissoles und
Truffades probieren? A propos: Sie musste dringend mal wieder ihre
Mutter anrufen! Und sie musste dringend den Akku ihres Handys aufladen!
Am besten heute noch.
Als die de Sels mit den Kindern beim Dessert, dem Kirschkuchen,
saßen, sagte Emmeline de Sel: "Stell dir vor, die Kinder
kommen in der Prophezeiung der Moks vor!"
"Wie das?" fragte Fréderic de Sel und wischte sich
die Kuchenkrümel vom Kinn.
"Sie werden als To-Am und Jen-yi darin beschrieben", sagte
seine Frau. "Mehr weiß ich auch nicht."
Fréderic sah Tom und Jenny fragend an.
"Wir wissen nicht, ob wir Ihnen mehr über die Prophezeiung
sagen dürfen", sagte Tom. "Bisher haben Sie ja auch
nichts darüber gewusst."
"Bisher war es auch eine ganz andere Situation", sagte
Fréderic de Sel. "Bisher haben die Moks uns keine Kinder
geschickt, um Ihnen zu helfen. Und bisher haben wir ihnen nur geholfen,
Ihre Nahrungsmittelkette etwas aufzuwerten und mit Ihnen Dinge zu
tauschen, bei denen sie im allgemeinen nützlichere Dinge von
uns bekamen als wir von ihnen."
"Sie meinen also, dass wir Ihnen die ganze Prophezeiung anvertrauen
können?"
"Wenn du damit meinst, ob ihr uns trauen könnt: Ja!"
sagte Fréderic de Sel. "Wenn du mich damit aber fragen
willst, ob die Prophezeiung bei mir mir auf fruchtbaren Boden fällt:
Nein!"
"Könnt ihr euch nicht auf deutsch unterhalten?" unterbrach
Jenny und biss ein Stück von ihrem leckeren Kuchen ab.
"Gern", sagte Fréderic. "Dann versteht Emmeline
zwar nichts mehr, aber ich kann es ihr ja danach übersetzen.
Es geht darum, ob ihr uns erzählen dürft, was in der Prophezeiung
steht?!"
"Von mir aus können wir das schon machen", sagte
Jenny mit vollem Mund. "In der Prophezeiung steht eh nicht
viel. Nur, dass wir anscheinend kommen und die Moks vor gelbem
Hagel und zerquetschendem Ende retten werden."
"Bon!" sagte Fréderic und übersetzte Jennys
Sätze seiner Frau. "Ich habe dir ja immer gesagt, dass
die Prophezeiung der Moks nicht besser ist als andere Prophezeiungen,
also nichts als Humbug!"
"Das stimmt nicht", schaltete sich Tom ein. "In der
Prophezeiung der Moks hat bisher sehr viel gestimmt."
"Aha!" sagte Fréderic belustigt. "Was denn
zum Beispiel?"
"Zum einen stimmt die Zeit, in der das Unheil passiert",
sagte Tom. "In der Prophezeiung steht, dass im Monat August
im Jahre zweitausend und X eine schwarze Wolke einbrechen wird ..."
"Interessant!" sagte Fréderic mit ironischem Unterton.
"Zweitausend und X ist ja auch eine sehr präzise Zeitangabe.
Pah! Das kann alles heißen. Und dann sehe ich gar kein Unheil.
Falls du den Ausnahmezustand meinst und dass sich die Moks in ihrer
Höhle verschanzen, kann ich dir sagen, dass sie das, zumindest
seit ich hier lebe, in regelmäßigen Abständen machen.
Und jedes Mal haben sie behauptet, dass die Prophezeiung ihnen Unheil
bringen würde! Bisher ist aber nie etwas geschehen. Was sagst
du dazu?"
"Mag sein", sagte Tom. "Trotzdem trifft zumindest
dieses Mal noch weit mehr als die Bestimmung der Zeit auf die Realität
zu. Zum Beispiel steht in der Prophezeiung, dass Neugier
die Moks in Gefahr bringen wird. Das stimmt, denn Onk Ark ist aus
purer Neugier aus der Höhle abgehauen und hat sich jetzt mit
irgendwelchen dunklen Leuten verbündet."
"Was denn für dunkle Leute?" fragte Fréderic
de Sel überrascht.
"Wir haben Onk Ark in Portes des Barques gefesselt in einer
Hütte gesehen", sagte Tom, froh, dass er M. de Sel nun
doch etwas Wichtiges präsentieren konnte. "Und zwei Typen,
die ihn bedroht haben."
"Seid ihr sicher, dass ihr euch das nicht nur eingebildet habt?"
fragte Fréderic.
"Keine Spur", sagte Tom. "Onk Ark hat gesagt, dass
ihn seine Auftraggeber gefesselt hätten. Wobei wir uns natürlich
fragen, was das für Auftraggeber sind, die ihre Mitarbeiter
fesseln?"
"Außerdem haben wir einen Journalisten in Rochefort kennen
gelernt, der hinter den Moks her ist" sagte Jenny. "Dem
schien die ganze Sache auch nicht zu popelig zu sein."
Fréderic de Sel schaute Jenny nachdenklich an und übersetze
das Gehörte seiner Frau.
"Rochefort steht übrigens auch in der Prophezeiung",
sagte Tom und zitierte die passende Textzeile daraus: "Die
Freundschaft wird verunreinigt durch Streit/den Hass suchend, der
ganze Glaube verdorben und die Hoffnung, Rochefort, ohne Einsicht."
"Auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn", sagte Fréderic
de Sel. "Prophezeiungen sind so allgemein gehalten, dass man
alles mögliche in sie hinein interpretieren kann. Außerdem:
Wenn der Journalist den Moks auf der Spur ist, dann ist der doch
offensichtlich gar nicht ohne Einsicht wie es in der Prophezeiung
steht?!"
Tom zuckte mit den Schultern. "Uns bleibt gar nichts anderes
übrig, als uns an die Prophezeiung zu halten. Sie ist das einzige,
was wir als Hinweis haben."
"Aber das stimmt doch gar nicht", sagte Jenny. "Wir
haben ganz ohne sie heraus gefunden, dass Kart Orkid im Gefängnis
sitzt! Und wir haben ohne sie heraus bekommen, dass wir nach einem
schwarzen Zeichen auf gelbem Grund suchen müssen!"
"Haben wir nicht", sagte Tom. "Denn wir sind nur
wegen der Prophezeiung nach Rochefort gefahren! Und nur deshalb
haben wir Yves Scot kennen gelernt, der uns ins Gefängnis gefahren
hat."
"Kart Orkid ist im Gefängnis?" unterbrach Fréderic
neugierig. "Wie das?"
Die Kinder erzählten den de Sels, was sie in Rochefort erlebt
und heraus gefunden hatten. Fréderic übersetzte alles
in regelmäßigen Abständen seiner Frau.
"Die Sache ist unheimlich!" sagte Emmeline de Sel, als
die Kinder mit ihrem Bericht fertig waren. "Wir müssen
etwas unternehmen."
"Ach und was?" fragte Fréderic. "Sollen wir
etwa ins Gefängnis einbrechen und Kart befreien? Oder möchtest
du zu dem Journalisten Yves Scot gehen und ihm sagen, dass er auf
keinen Fall einen Artikel über die Moks schreiben darf? Oder
willst du doch lieber gleich zu Onk Ark spazieren und ihn bitten,
seine dunklen Geschäfte sein zu lassen? Bonjour M. Ark könnten
Sie nicht wieder in Ihre schöne, dunkel Höhle zurück
gehen?"
"Bleib doch einmal ernst", sagte seine Frau. "Dann
wird uns schon etwas einfallen."
"Zum Beispiel, was das schwarze Zeichen auf gelbem Grund
meinen könnte!" Fréderic de Sel schien jetzt richtig
in Fahrt zu kommen und fuhr automatisch auf französisch fort:
"Wenn ihr mich fragt, hat das nichts mit der atomaren Bedrohung
der Höhle der Moks zu tun, sondern bedeutet Fledermaus vor
gelben Mond. Vielleicht hat Kart Orkid im Waisenhaus den Film
Batman gesehen und möchte ihn nun seinen Artgenossen
empfehlen?"
"Fréderic", sagte Emmeline de Sel und ihre Stimme
klang jetzt tatsächlich ein wenig verärgert. "Wie
albern du bist!"
"Ich mag die Moks wirklich gern", sagte Fréderic.
"Ich helfe ihnen seit über fünfzig Jahren so gut
ich kann. Ich weiß, was es bedeutet, wenn man auf die Hilfe
anderer angewiesen ist und kaum etwas zu beißen hat. Aber
ich muss mich deshalb noch lange nicht ihrem Verfolgungswahn unterwerfen!
Das Leben im zweiten Weltkrieg war schrecklich. Als Hitler in Frankreich
einmarschiert ist, war es ein Alptraum. Aber das war immer noch
harmlos im Vergleich zu den Wahnvorstellungen der Moks. Und zwar
deshalb, weil die Bedrohung damals real war! Die Bedrohung der Moks
ist völlig unreal. Und je unwirklicher die Bedrohung der Moks
ist, umso mehr steigern sie sich in Weltuntergansszenarien hinein!
Jetzt bilden sie sich sogar schon ein, atomar bedroht zu sein! Emmeline,
wach auf! Für die Moks interessiert sich kein Mensch, außer
ein paar Bauernfamilien, die immer mal wieder nachsehen, ob das
merkwürdige Völkchen noch lebt!"
"Aber die Moks sind jetzt doch tatsächlich auch real
bedroht!" sagte Mme de Sel. "Zumindest wenn du an den
Journalisten, der hinter ihr Geheimnis kommen will, und an Onk Ark
und seine Auftraggeber denkst."
"Ja, aber sie sind nicht atomar bedroht!" beharrte Fréderic.
"Das einzige, was ihnen passieren kann, ist, dass ihre Höhle
entdeckt wird und sie ihren Lebensraum verlieren."
"Aber das ist doch eine ganze Menge!" stellte Emmeline
de Sel fest. "Und Kart ist im Gefängnis."
"Was weiß ich, was er ausgefressen hat?" sagte Fréderic.
"Ich sehe auf jeden Fall nicht, in welcher Sache wir überhaupt
Tom und Jenny helfen sollten und können?!"
"Vielleicht können Sie uns nach Marcoule und Tricastin
fahren?" schaltete sich Tom schnell zwischen die Unterhaltung
des Ehepaars. "Unser Geld geht allmählich zur Neige. Wenn
sie uns dorthin fahren, könnten wir uns wenigstens ein wenig
Geld sparen."
"Was wollt ihr denn in Tricastin und Marcoule?" fragte
Fréderic verwundert.
"Die beiden Dörfer kommen auch in der Prophezeiung vor",
erklärte Tom. "Deshalb wollen wir uns dort einmal umschauen.
"
"In Tricastin und Marcoule?" Fréderic runzelte
die Stirn. "Das sind keine Dörfer. Das sind Nuklearanlagen!"
"Was?!!" machte Tom und übersetzte Jenny gleich,
was er gerade erfahren hatte.
"Was?!" sagte auch Jenny. "Dann kann das schwarze
Zeichen auf gelbem Grund ja tatsächlich nur nukleare
Gefahr bedeuten!"
"Ich hab's dir ja gleich gesagt", sagte Tom.
Jenny nickte geschlagen und hatte das Gefühl, dass sich die
Worte der Prophezeiung immer enger um sie schlangen. Erst fanden
sie Hinweise in Rochefort und jetzt fügten sich ihre Entdeckungen
dort wie Puzzlesteine zu den in der Prophezeiung vorkommenden Worten
Tricastin und Marcoule! In Tricastin und Marcoule sollten sie auf
den Bogen des Schatzes treffen! Wenn Tricastin und Macoule Nuklearanlagen
waren, hatte Tom wirklich Recht und der Bogen des Schatzes war das
Zeichen für Atomkraft! Wie aber hatte der Prophet der Moks
vor so vielen hunderten Jahren davon wissen können?
Gespannt schaute sie M. de Sel an. Würde er die Prophezeiung
jetzt immer noch für unwichtig halten? Sie selbst vertrat ja
grundsätzlich auch seinen Standpunkt, was Prophezeiungen anging.
Aber je länger sie in die Sache der Moks verwickelt war, umso
mehr kam ihr normales Weltbild ins Wanken und umso mehr fragte sie
sich, wie sehr die Prophezeiung der Moks doch stimmte? War das Leben
der Menschen nicht vielleicht doch vorher bestimmt? Und falls ja,
konnten die Menschen damit auch wirklich ihre Zukunft vorher sagen?
Oder interpretierten sie im Nachhinein nur alle Zeichen so, dass
es zur jeweiligen Weissagung passte?
Jenny war sich über diese Fragen mit einem Mal sehr unsicher.
Das einzige, was sie sicher wusste, war erstens, dass sich bisher
nicht alles, was in der Prophezeiung stand, wirklich erfüllt
hatte oder zumindest nur in einer sehr übertragenen Weise.
Und das war zweitens, dass manche Dinge aus der Prophezeiung tatsächlich
erschreckend richtig waren!
Wenn Jenny richtig überlegte, war vielleicht die Lösung
zwischen beiden Aussagen, dass die groben, wichtigen Linien vorher
bestimmt waren, die Details aber von der jeweiligen Situation oder
dem Handeln des Einzelnen abhing?
Aber wenn es wirklich so war, dachte Jenny weiter nach, musste es
dann nicht auch jemanden geben, der diese groben Linien vorher bestimmte?
Gab es also einen Gott, der an unserem Schicksal interessiert war?
Und gab uns dieser Gott wirklich Möglichkeiten an die Hand,
unser Schicksal in Worten und Zeichen vorherzusehen und es auch
handelnd zu verändern?
"Jenny träumt mal wieder!" sagte Tom. "Dabei
stehen wir gerade kurz davor, die Prophezeiung zu verstehen!"
"Ich auch", sagte Jenny. "Aber die letzte Frage,
ob es einen Gott gibt, oder nicht, werden wir wohl nicht in diesem
Leben heraus bekommen!"
"Hm?" fragte Tom irritiert. "Was hat denn Gott mit
der Prophezeiung zu tun?! Nein, wir fragen uns, ob es eine Verbindung
von den Nuklearanlagen in Tricastin und Marcoule zu der atomaren
Bedrohung der Moks gibt. Emmeline hat gerade gesagt, dass die Anlage
in Marcoule vor ungefähr fünfzig Jahren zur militärischen
Nutzung der Kernenergie gegründet wurde. Inzwischen wurde dieser
Teil zwar wieder geschlossen. Aber vielleicht wird sie jetzt wieder
heimlich genutzt, und Onk Ark und seine Auftraggeber stecken in
der Sache mit drin?"
"Meinst du damit etwa, dass in Marcoule eigens für die
Ausrottung der Moks jetzt wieder Atomwaffen hergestellt werden werden?"
fragte Jenny. "Das ist doch wohl völlig übertrieben.
Wir sind hier nicht in einem abgeschmackten Actionfilm, sondern
in der Realität!"
"Das sehe ich genauso", sagte Fréderic. "Die
Bezüge, die ihr durch die Prophezeiung von den Moks zu den
Atomkraftanlagen herstellt, sind meiner Meinung nach völlig
willkürlich. Aber selbst wenn ihr in der Sache auf der richtigen
Spur seid und in Tricastin und Marcoule irgendwelche schmutzigen
Geschäfte mit Onk Ark gemacht werden, frage ich mich, was das
mit den Moks zu tun hat? Meint ihr etwa, dass sich Onk Ark an den
Moks mit Atomwaffen rächen will? Völliger Unsinn! Wahrscheinlich
dreht er irgendwelchen Dinge mit seinen Auftraggebern, die keinerlei
Zusammenhang mit den Moks haben!"
"Onk Ark ist nur ein kleines Licht in der Sache", sagte
Tom. "Es geht doch nicht darum, was Onk Ark gegen die Moks
vorhat, sondern was seine Auftraggeber mit den Moks vorhaben. Was
glauben Sie denn, Emmeline, was mit Onk Ark und den Moks im Gange
ist?"
"Ich glaube an verborgene Mächte und an die Prophezeiung",
sagte Mme de Sel. "Das liegt an meinem Charakter, der empfänglich
für Wunderbares ist. Aber du darfst Fréderic keinen
Vorwurf machen, wenn er es nicht tut. Er hat nicht wie du und ich
schon Engel gesehen. Oder war es bei dir eine kleine Elfe oder auch
ein boshafter Trenk?"
Tom schwieg betroffen. Er hatte noch nie einen Engel oder eine Elfe
gesehen und, was bitte, war ein Trenk? Seiner Meinung nach musste
man nicht an solche märchenhaften Wesen glauben, bevor man
an die Richtigkeit der Prophezeiung glauben konnte. Prophezeiungen
waren seiner Meinung nach mystische Mathematik, genau so wie es
in dem Science Fiction Roman Swosh-Size beschrieben war.
Man brauchte nur die richtige Formel, dann konnte man auch die Zukunft
berechnen. Und machten nicht viele anerkannte Wissenschaftler genau
das? Modelle für die Zukunft zu berechnen?
"Ich glaube auf jeden Fall, dass es eine Verbindung zwischen
den Moks und den Nuklearanlagen gibt, wenn die Namen in der Prophezeiung
auftauchen ", fuhr Emmeline fort. Falls sie Toms Irritation
wegen ihrer Bemerkung zu Engel und Elfen bemerkt hatte, ließ
sie es sich auf jeden Fall nicht anmerken. "Man muss diese
Verbindung nur finden. Vielleicht können euch die Pignons in
der Sache weiter helfen. Sie sind in der Umweltbewegung sehr aktiv
und engagieren sich in der Anti-Atombewegung. Vielleicht wissen
sie bereits, ob es irgendwelche neuen Pläne zu Tricastin und
Marcoule gibt?"
An ihren Mann gewandt fuhr sie fort: "Was hältst du davon,
die Kinder morgen zu den Pignons ins Tal zu bringen? Die Pignons
können ihnen sicher besser als wir helfen?!"
"Das ist eine sehr gute Idee, Emmeline!" sagte Fréderic,
und Jenny hatte den Eindruck, dass er regelrecht erleichtert war,
dass er sich nicht weiter mit Tom und Jenny über aberwitzige
Prophezeiungen unterhalten musste. Außerdem würde er
sich mit Tom und Jenny auch gleich das Problem mit den Moks vom
Hals schaffen können.
"Bon", sagte er fröhlich. "Dann können
wir jetzt endlich zum schönen Teil eures Aufenthalts hier übergehen:
Lasst uns noch einen kleinen Abendspaziergang zu den Kätzchen
machen. Danach können zeige ich euch die anderen Ställe
und unseren großen Garten! Wenn wir Glück haben, können
wir im oberen Teil noch die Sonne hinter den Bergen untergehen sehen!"
Am nächsten Morgen saßen Tom und Jenny auf einer Bank
vor dem Haus der Pignons und warteten. Mme Pignon war mit den Melkmaschinen
beschäftigt, ihr Mann war auf dem Feld und die älteste,
vielleicht fünfzehnjährige Tochter, Mignon, stand in der
Küche und kochte das Mittagessen. Der älteste Sohn war
kurz nach ihrer Ankunft mit dem Motorrad davon gedüst, und
die beiden jüngeren Kinder spielten im Garten und nahmen von
ihnen nicht weiter Notiz. Offensichtlich waren sie es gewohnt, dass
Fremde auf den Bauernhof kamen.
"Könntest du dir vorstellen, Bauer zu sein?" fragte
Jenny Tom.
"Eher nicht", sagte Tom. "Die meisten Bauern heute
arbeiten vor allem mit Maschinen. Selbst wenn sie draußen
in der freien Natur sind, sitzen sie in riesigen, lauten Fahrzeugen.
Der Hof der de Sels hat mir allerdings gut gefallen, so wild und
natürlich. Aber das lag wahrscheinlich daran, dass ihn die
de Sels nur noch wenig bewirtschaften."
"Wenn du mit wild den ganzen Müll im hinteren Teil
des Gartens der de Sels meinst, hast du sicherlich Recht",
sagte Jenny und dachte dabei an ihren gestrigen Abendspaziergang.
Der Garten der de Sels war wirklich wild gewesen, inklusive des
Mülls, der dort lag. "Ich frage mich, warum sie die ganzen
Auto-Schrottteile und alten Maschinen nicht entsorgen oder wenigstens
in einen Schuppen stellen?"
"Vielleicht sind die Schuppen schon alle voll?" mutmaßte
Tom. "Trotzdem war das Grundstück der de Sels toll! Allein
schon die Aussicht! Hier dagegen im Tal scheinen die Berge einen
eher zu erdrücken. Und jedes Eckchen vom Hof scheint hier seinen
Nutzen zu haben."
"Wollt ihr ein Glas frisch gemolkener Milch?" Mignon war
hinter sie getreten und hielt ihnen zwei volle Milchgläser
hin.
Jenny hätte am liebsten abgelehnt. Sie fand es eklig, Milch
sozusagen direkt aus dem Euter der Kuh zu trinken. Aber es war sicher
sehr unhöflich, diese nette Geste abzulehnen. Sie nahm Mignon
deshalb dankend ein Glas ab und trank ein paar Schlucke. Die Milch
schmeckte wie vermutet stark nach Kuh, war dick und fettig, und
Jenny hätte ihr eine ultrahocherhitze Milch tausendmal vorgezogen.
Trotzdem trank sie das Glas tapfer leer und sagte: "Mmh lecker!"
Mignon nickte und sagte dann unvermittelt: "Ist es nicht aufregend,
im Zentrum der Mok-Prophezeiung zu stehen und gefährliche Aufträge
zu erledigen?"
"Woher weißt du das?" fragte Tom erstaunt.
"Die de Sels haben doch gestern bei uns angerufen und uns von
euch erzählt", sagte Mignon.
"Ach so", sagte Tom. "Aber dann haben sie euch sicher
auch erzählt, dass es weniger aufregend als anstrengend und
nervenaufreibend ist?!"
"Und du?" wandte sich Mignon an Jenny. "Findest du
eure Mission nicht abenteuerlich?"
Als Jenny fragend die Stirn kräuselte, erklärte Tom: "Jenny
versteht nicht so gut französisch."
"Dann lasst uns deutsch reden", sagte Mignon auf deutsch.
"Ich war ein Jahr in Deutschland als Austauschschülerin.
In Köln. Kennt ihr Köln?"
"Nicht wirklich", sagte Jenny. "Ich war mal dort,
erinnere mich aber nur an den Dom."
"Köln ist toll!" sagte Mignon. "Die Leute sind
dort sehr freundlich und in der Stadt war viel los."
"Hatten deine Eltern gar nichts dagegen, dass du ein ganzes
Jahr weg bist?" fragte Jenny erstaunt.
"Zuerst schon", sagte Mignon, "vor allem, weil ich
dann nicht mehr auf dem Hof helfen konnte. Aber dann haben sie eingesehen,
dass ich ein anderes Leben leben möchte als sie."
"Und danach war deine Austauschschülerin auch ein Jahr
hier?" fragte Tom.
"Nein", sagte Mignon. "Als sie hörte, dass meine
Eltern Bauern sind und wir nur in einem kleinen Dorf ohne öffentliche
Verkehrsmittel wohnen, wollte sie nicht mehr herkommen. Aber ich
war nicht traurig darüber. Denn ich habe mich überhaupt
nicht gut mir ihr verstanden. Sie war eine Zicke. Wollte immer nur
Shoppen gehen und sich die Nägel lackieren. Und als wir bei
einem Schulausflug über eine Wiese liefen, hat sie die ganze
Zeit geschrieen, dass sie das wegen der vielen gefährlichen
Krabbeltiere nicht überleben würde. Also, sie war wirklich
nichts für mich. Bald werden übrigens Papa und Mama kommen.
Helft ihr mir beim Tischdecken?"
Tom und Jenny nickten und unterhielten sich beim Tischdecken mit
Mignon über dies und das. Jenny war erstaunt, dass sich Mignon
für die ähnlichen Dinge wie sie selbst interessierte,
obwohl sie rein äußerlich ein ganz anderes Leben führte.
Es tat gut, nach so vielen Tagen mit einem fast gleichaltrigen Mädchen
zwanglos reden zu können und ein paar Minuten mal nicht an
die Moks und ihre Probleme denken zu müssen!
Wenig später saßen Tom und Jenny mit der Familie Pignon
an einem großen Esstisch in einer schlichten, weiß getünchten
Küche und ließen sich den Eintopf aus Kohl, Kartoffeln
und magerem Speck mit Linsensalat schmecken.
Mme Pignon war eine schlanke, junge Frau mit schwarzen, lockigen
Haaren und einer selbstbewussten Ausstrahlung. Ihr Mann war eher
untersetzt, hatte einen großen Kopf und einen breiten Mund.
Obwohl man sah, dass er ein zupackender, pragmatischer Mann war,
wirkte er mit seinem Kapuzenpullover, den Jeans und seinen zum Zopf
zusammen gebundenen braunen Haaren auf Jenny eher wie ein Vertrauenslehrer
als wie ein Bauer.
Nachdem alle gegessen hatten, die kleinen Kinder wieder aufgestanden
und auch Mignon nach draußen gegangen war, sagte M. Pignon:
"Es war eine gute Entscheidung der de Sels, euch hier her zu
bringen. Wenn die Angelegenheiten der Moks tatsächlich etwas
mit den Nuklearanlagen in Tricastin und Marcoule zu tun haben, müssen
wir möglichst schnell einen Protest unter den Bauern organisieren!"
"Was denn für einen Protest?" fragte Tom irritiert.
"Wogegen denn?"
"Gegen Atomkraft natürlich!" sagte M. Pignon. "Hier
in der Region gibt es mittlerweile über 100 Bauern, die sich
unserer Organisation Gesunde Landwirtschaft angeschlossen
haben. Wir haben die Organisation gegründet, nachdem unser
Bauernführer 2008 wegen des Genmaises in Hungerstreik getreten
ist. Die meisten Bauern in Frankreich protestieren zwar vor allem
dann, wenn ein größerer kommt und ihre eigene Ernte mit
niedrigen Preisen kaputt macht. Aber wir hier vor Ort haben uns
auf ökologische Probleme spezialisiert. Das ist zwar noch nicht
sehr populär, aber auch wir werden immer mehr."
"Aha", sagte Tom, immer noch verwirrt, "Ich verstehe
trotzdem nicht, was Ihre Organisation mit den Moks zu tun hat?"
"Ich denke, die Moks sind durch Tricastin und Marcoule atomar
bedroht?" sagte M. Pignon ein wenig ungeduldig. "Und wenn
das so ist, dann sind wir es und unsere Felder erst recht!
Denn wir wohnen genau zwischen den Moks und den Nuklearanlagen!
Wenn es also hier Probleme mit Radioaktivität gibt, will niemand
mehr unsere Rüben und Mais kaufen."
"Aber wir wissen doch gar nicht sicher, ob die Moks durch die
Anlagen in Tricastin und Marcoule bedroht sind!" sagte Tom
und wunderte sich gleichzeitig, dass er genau das Gegenteil davon
gestern M. de Sel gegenüber behauptet hatte. "Zumindest
nicht so sicher, dass man gleich einen Bauernprotest organisieren
sollte! Das mit der atomaren Gefahr kam uns nur in den Sinn, weil
Tricastin und Marcoule in der Prophezeiung vorkommen."
"Das reicht mir als Grundlage zum Handeln aus", sagte
M. Pignon bestimmt. "Wenn es in der Prophezeiung steht, muss
es von den Moks in dieser Richtung einen starken Verdachtsmoment
geben! Denn euch ist doch wohl klar, dass die Prophezeiung keine
religiöse Weissagung, sondern eine klare politische Handlungsanweisung
ist?!"
"Was?" fragte Tom. "Ich verstehe überhaupt nicht,
was Sie sagen! Was denn für politische Anweisungen?"
"Die Moks sind politische Konflikte, wie wir sie täglich
erleben und leben, nicht gewohnt", erklärte M. Pignon.
"Sie haben auch keine politisch ausgeklügelte Sprache
wie wir. Ihr Denken und Sprechen ist viel klarer und direkter. Statt
unseren politischen Reden haben die Moks Weissagungen oder Orakelsprüche.
Wenn das Oberhaupt also zum Beispiel etwas sagen möchte, gibt
er keine Regierungserklärung ab oder lässt seinen Pressesprecher
etwas in die Kamera faseln wie wir, sondern er verschlüsselt
seine Botschaft in einer Prophezeiung. Eure Aufgabe war es nun,
die Sprache der Moks in unsere zu übersetzen. Und das scheint
euch sehr gut gelungen zu sein, zumindest, wenn ich denke, was ihr
bisher heraus bekommen habt!"
"Sie vergessen, dass die Prophezeiung viele hundert Jahre alt
ist", sagte Tom. "Das, was wir wissen, hat uns nicht das
heutige Oberhaupt der Moks verschlüsselt mitgeteilt, sondern
der Gründer der Moks. Woher soll Tor denn damals von der Gefährlichkeit
von Tricastin und Marcoule für uns heute gewusst haben?"
"Bist du dir sicher, dass die Prophezeiung wirklich alt ist?"
stellte M. Pignon Tom eine Gegenfrage, und Tom glaubte in M. Pignons
Augen ein ironisches Lächeln blitzen zu sehen. "Hast du
wirklich überprüft, ob dir eine tausend Jahre alte Weissagung
vorgelesen wurde?"
Tom schüttelte den Kopf. Nein, das hatte er nicht. Wie hätte
er das auch überprüfen können?
"Siehst du!" sagte M. Pignon. "Das ist der Punkt!
Das Oberhaupt der Moks weiß etwas und teilt dieses Wissen
in der Tradition der Moks über eine Prophezeiung verschlüsselt
mit. Vielleicht wissen ein paar Moks um das Oberhaupt mehr, als
sie zugeben wollen, vielleicht haben sie auch nur etwas bemerkt,
das sie selbst nicht verstehen. Vielleicht haben sie beispielsweise
einen ihrer Agenten in Tricastin oder Marcoule eingeschleust? Vielleicht
sitzt Kart Orkid deshalb hinter Gittern? Wir wissen es nicht. Was
wir aber wissen, ist, dass sie Hilfe brauchen und dass in Marcoule
und Tricastin irgendetwas am Gange ist, was die Moks bedrohlich
finden!"
"Kart Orkid hat uns aber schon ausgesucht, bevor er verschwunden
ist", bohrte Tom nach. Er wollte nicht glauben, dass die Prophezeiung
nur so etwas wie ein aktuelles Pressepapier von Pok Alk, dem Oberhaupt
der Moks, war: "Und warum sind ausgerechnet wir von Kart Orkid
ausgesucht worden? Wenn es die Prophezeiung so gar nicht gibt, hätte
es auch jeden anderen treffen können."
"Sicher!" sagte M. Pignon. "Aber in dem Fall würde
dann hier jetzt eben ein anderer sitzen und uns womöglich fragen,
warum gerade er ausgesucht wurde. Ich habe keine Ahnung, was Kart
Orkid an euch gefallen hat. Vielleicht wollte er jemanden aus dem
Ausland haben, damit die Polizei länger zum Reagieren braucht,
falls es unangenehm werden würde? Vielleicht hat er euch auch
so nett gefunden, dass er euch einen Urlaub nach Frankreich spendieren
wollte? Sicher scheint mir aber zu sein, dass er als Vermittler
Kinder haben wollte. Wir Bauern sind zwar mit ihnen befreundet,
aber sie haben uns nie richtig vertraut oder hatten immer auch ein
bisschen Angst vor uns. Wir durften zum Beispiel nie ihre Höhle
betreten. Vor euch Kindern haben sie dagegen allein schon wegen
eurer kleinen Größe und eurer fehlenden Erfahrung keine
Angst. Sie können euch deshalb auch viel besser manipulieren.
Ihr werdet alles viel leichter schlucken, was sie euch sagen, als
wir Erwachsenen! Und offensichtlich habt ihr ja auch die Prophezeiung
für bare Münze gehalten!"
Tom wurde schlecht. Wenn das stimmte, was M. Pignon sagte, waren
sie den Moks auf den Leim gegangen! Dann waren sie nichts weiter
als Werkzeuge der Moks, die die Haut der Moks retten sollten! Und
in dem Fall riskierten die Moks sehenden Auges, dass ihm und Jenny
womöglich etwas passierte! Denn, wenn es tatsächlich stimmte,
dass die Prophezeiung nur eine Art politische Handlungsanleitung
der Moks war, wussten die Moks oder besser gesagt Pok Alk, nicht
wirklich, ob Jenny und Tom aus der Sache heil raus kommen würden,
wie in der Prophezeiung behauptet wurde! Dann stand der Absatz aber
in Trümmern wird To-Am und Jen-Yi das Licht der Hoffnung tragen
und nicht erlöschen lassen in der Prophezeiung wahrscheinlich
nur drin, um sie zu beruhigen!
Doch das alles war noch nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war,
dass er selbst, Tom, Jenny völlig blauäugig in die Sache
mit hinein gezogen und in Gefahr gebracht hatte!
Jenny bemerkte, dass Tom weiß geworden war und fragte: "Was
ist denn mit dir los? Was hat M. Pignon gesagt?"
Tom schüttelte den Kopf. Er wusste nicht, was er Jenny in diesem
Moment sagen konnte. Er konnte ihr nicht sagen, dass sie, oder vor
allem er, den Moks wahrscheinlich auf den Leim gegangen waren. Und
er wollte ihr auch keine Angst machen, dass sie womöglich in
Gefahr waren.
"Du hast die Kinder mit deinen Reden völlig überfordert",
rügte Mme Pignon ihren Mann. "Du hättest ihnen die
Hintergründe der Prophezeiung behutsamer beibringen müssen."
"Die Wahrheit ist immer schmerzlich", sagte M. Pignon.
"Außerdem haben wir für lange Erklärungen keine
Zeit."
"Du hast es vom falschen Ende her angefangen", beharrte
Mme Pignon. "Du hättest ihnen zuerst sagen sollen, dass
sie bei uns in Sicherheit sind. Und du hättest ihnen sagen
müssen, dass ihre Arbeit nun vorbei ist und wir sie morgen
nach Aurillac bringen, um sie in ihren Zug nach Hause zu setzen."
Nach Hause? Tom atmete erleichtert auf. Sie sollten morgen wirklich
nach Hause fahren? Gestern hätte er von so einer plötzlichen
Rückreise nichts hören wollen. Doch jetzt, in diesem Moment,
war es das Beste, was er hören konnte. Er hatte Jenny in eine
gefährliche Sache reingeritten. Und er wollte sie so schnell
wie möglich wieder in Sicherheit wissen! Wenn sie morgen nach
Hause fahren würden, hatten sie glücklicherweise nichts
mehr zu befürchten. Dann war es nicht ganz so schlimm, dass
er Jenny mit hier her gebracht hatte. Zu Hause konnte er ihr alles
in Ruhe erklären und vielleicht würden sie dann einfach
nur noch über die ganze Sache lachen!
Er drückte Jennys Hand und sagte: "Stell dir vor: Morgen
dürfen wir wieder nach Hause fahren!"
"Was?!" Jenny zog ihre Hand weg. "Warum denn das?
Wir sind doch gerade mitten drin in der Sache! Wir sind doch gerade
dabei, des Rätsels Lösung zu entdecken! Und da sollen
wir nach Hause fahren? Das kommt gar nicht in Frage! Jetzt, wo es
spannend wird, und wir Erwachsene haben, die uns helfen, möchte
ich ganz sicher nicht aufhören! Außerdem steht in der
Prophezeiung, dass wir bis zum Schluss dabei bleiben müssen!
Das hast du selbst doch immer wieder zu mir gesagt!"
"Ja", sagte Tom schwach. "Aber M. Pignon hat mir
Dinge gesagt, die alles ändern."
"Was denn für Dinge?" fragte Jenny aufgebracht. "Was
sollen sie denn an der Prophezeiung ändern? Was ist denn überhaupt
mit dir los?"
"Ich erkläre es dir später", sagte Tom und sah
Jenny so eindringlich an, dass sie tatsächlich schwieg.
"Was genau steht in der Prophezeiung?" fragte M. Pignon,
als er sah, dass Tom Jenny wieder einigermaßen beruhigt hatte.
"Es wäre gut, wenn ihr uns den ganzen Text mitteilt, bevor
ihr wieder nach Hause fahrt."
Tom nickte und zitierte mehr oder weniger mechanisch die auswendig
gelernte Prophezeiung:
Im Jahre zweitausend und X wird eine schwarze Wolke über
unseren Stamm einbrechen.
Gelenkt von der zerfressenden Neugier,
getrieben von unwürdigem Gold.
Leben wird nicht euer neuer Fürst sein,
wenn die Wolke kommt und nicht vorüber zieht.
Das Beben wird so stark sein im Monat August, dass Saturn, Steinbock,
Jupiter, Merkur im Stier sich in ihre Gefilde zurück ziehen
werden.
Auch Venus, Krebs, Mars.
Die Freundschaft wird verunreinigt durch Streit,
den Hass suchend, der ganze Glaube verdorben und die Hoffnung, Rochefort,
ohne Einsicht.
Der Bogen des Schatzes wird
durch Tricastin und Marcoule offenbart
die Vorfahren kannten die Zeichen noch.
Einer, der auszog, wird aufgehängt
für die Augen der Öffentlichkeit.
Und dann wird gelber Hagel fallen, größer als ein Ei.
Der Feind wird gepackt und in den Bottich getaucht,
mit Gewalt vergiftetes Schwefelwasser trinken.
Doch Feuer, Flamme, Hunger, Betrug, zerquetschendes Ende
werden verhindert, wenn aus den fernen Landen To-Am und Jen-Yi Große
für Kleine, Junge für Alte
sich der Hinterlist entgegen werfen,
die Neugierde zerschlagen und den Glauben niedermähen.
Häuser, Burgen, Paläste werden nieder gerissen,
aber in Trümmern wird To-Am und Jen-Yi das Licht der Hoffnung
tragen und nicht erlöschen lassen.
Das neue Schiff wird die Reisen wieder aufnehmen
Sie werden die Gaststätten zurückbekommen,
in der Nähe zwei Säulen aus Porphyr erbaut.
Tom hatte sich mit jedem Wort, das er ausgesprochen und an die
Pignons weiter gegeben hatte, freier gefühlt. Jetzt war er
die Prophezeiung und den Auftrag der Moks los! Jetzt konnten sich
die Pignons und ihre befreundeten Bauern weiter um die Belange der
Moks kümmern!
Er seufzte erleichtert auf und bemerkte erst jetzt, wie sehr ihn
die Verantwortung die ganzen letzten Wochen eigentlich belastet
hatte.
Jenny dagegen machte ein beleidigtes, reserviertes Gesicht. Die
Nachricht, morgen abzureisen und aus dem Fall offensichtlich raus
zu sein, schien ihr nicht zu gefallen. Komisch eigentlich. Hatte
nicht sie ihm immer wieder Vorhaltungen gemacht, dass sie lieber
nach Hause gehen als sich um die Moks kümmern wollte?!
War das etwa nur Show gewesen, um sich wichtig zu machen? Wollte
sie ihn einfach damit ärgern? Oder hatte sie ihre Meinung in
den letzten Tagen tatsächlich geändert, weil sie jetzt
immer näher an des Rätsels Lösung kamen?
"Das hört sich wirklich alles sehr verschlüsselt
an", riss M. Pignon Tom aus seinen Gedanken. "Aber durch
eure Hilfe scheint mir doch klar zu sein, was die Prophezeiung bedeutet:
Irgendwelche atomaren Geschäfte in Tricastin und Marcoule werden
irgendwem sehr viel Geld einbringen. Die Moks sollen dabei wahrscheinlich
durch Geld bestochen werden, um bei den atomaren Geschäften
mitzumachen, weshalb es zu Streit unter den Moks kommt. Sehr wahrscheinlich
gehört Onk Ark bereits zu denjenigen, die gekauft wurden. Und
sehr wahrscheinlich sollen alle Moks, die sich nicht kaufen lassen
wollen, mit Gewalt vergiftetes Schwefelwasser trinken, was
soviel bedeutet, sich verstrahlen zu lassen!"
"Jetzt lass mal die Kirche im Dorf!" sagte Mme Pignon
bestimmt. "Ich glaube nicht, dass irgend jemand die Moks verstrahlen
möchte! Welchen Nutzen sollte das denn haben? Wir müssen
uns eher überlegen, welche atomaren Geschäfte die Moks
eigentlich in ihrer Prophezeiung meinen?! Die Nuklearanlagen in
Tricastin und Marcoule gibt es bereits. Also bringen sie ohne ein
neues Geschäft nicht plötzlich neues Geld ein. Was aber
könnte das dann für ein neues Geschäft mit der Radioaktivität
sein? Und vor allem: Warum sollen ausgerechnet die Moks bei diesen
Geschäften von Nutzen sein?"
"Neue Atomtests", überlegte M. Pignon. "Vielleicht
will Frankreich nach fast zwanzigjähriger Pause wieder Atomtests
einführen? Nur dieses Mal eben nicht in der afrikanischen Wüste
oder im Südpazifik, sondern in der Höhle der Moks?!"
"Niemals!" sagte Mme Pignon. "Solche Tests Mitten
in Frankreich durchzuführen, wäre der reinste Wahnsinn!
Denn selbst wenn sie die Tests in der Höhle der Moks unterirdisch
machen würden, wäre es viel zu riskant, damit unsere ganze
Region radioaktiv zu verseuchen! Außerdem kosten solche Tests
mehrere Millionen Euro. Kein gutes Geschäft also. Nein, wir
müssen in eine andere Richtung denken. Vielleicht gibt uns
der gelbe Hagel in der Prophezeiung einen Hinweis? Welches
Bild passt in dem Zusammenhang zu gelbem Hagel?"
"Radioaktiver Müll!" platze Tom auf deutsch heraus.
"Radioakiver Müll wird in Deutschland in gelbe Fässern
verpackt!"
"Was denn für radioaktiver Müll?" fragte Jenny,
die im Gegensatz zu M. und Mme Pignon, nun endlich wieder etwas
von der Unterhaltung verstand. "Wovon redet ihr eigentlich
die ganze Zeit?"
"Die Pignons glauben, dass in Tricastin und Marcoule irgendein
neues atomares Geschäft abgewickelt werden soll, das mit gelbem
Hagel zu tun hat", klärte Tom Jenny auf. "Ich habe
vermutet, dass der gelbe Hagel vielleicht mit gelbem Fass
übersetzt werden kann. Was aber wird bei uns in gelbe Fässer
verpackt? Radioaktiver Müll."
"Mit dem Unterschied, dass die gelben Fässer nicht vom
Himmel fallen", gab Jenny zu Bedenken. "Aber immerhin
ist auf jedem Fass das Atomkraftzeichen! Das schwarze Zeichen auf
gelbem Grund!"
"Was ist los?" fragte Mme Pignon.
Tom und Jenny schienen etwas Wichtiges bemerkt zu haben.
Tom übersetzte ihnen ihren Gedankengang und diskutierte mit
den Pignons, ob mit gelbem Hagel wirklich gelbes Fass gemeint sein
konnte.
Da Jenny ohnehin nichts von ihrer Unterhaltung verstand, überlegte
sie inzwischen, an welches Bild sie die gelben Fässer erinnerten?
Hatte es nicht etwas mit den Nachrichten in Deutschland zu tun?
Doch! Sicher!
Nach und nach entstanden vor Jennys innerem Auge Bilder mit protestierenden
Bauern, Demonstranten, aufgehaltenen Zügen und in Neonlicht
getauchte unterirdische Schächte. Und nach und nach ahnte Jenny,
wozu die Höhle gut zu gebrauchen war ...
"Radioaktiver Müll ist aber auch sehr teuer und sicher
keine Geldquelle!" überlegte Mme Pignon gerade.
"Kommt darauf an, für wen ...", M. Pignon wiegte
nachdenklich mit dem Kopf. "Diejenigen, die den Müll entsorgen
oder ins Ausland verschieben, werden wohl ziemlich viel Geld damit
verdienen."
"Mag sein", sagte Mme Pignon. "Aber auch das ist
nichts Neues. Und ich verstehe nicht, was das mit den Moks zu tun
haben soll. Wir müssen weiter nach etwas anderem suchen!"
"Endlager! Höhle! Die Moks!" platzte Jenny unvermittelt
auf deutsch dazwischen. "Tom! Die wollen die Höhle der
Moks als Endlager für ihren radioaktiven Müll haben! Die
Höhle ist ein idealer Ort, den Müll heimlich verschwinden
zu lassen! Niemand kennt die Höhle, also wird auch niemand
protestieren! Und die Fässer werden tatsächlich wie gelber
Hagel auf ihre Köpfe fallen, wenn sie in die Höhle geworfen
werden!"
Tom starrte Jenny entsetzt an und in seinem Kopf ratterten die Gedanken
in Höchstgeschwindigkeit alle an die richtige Stelle. Ja tatsächlich
passte so alles zusammen! Zuerst die gelben Fässer mit dem
schwarzen Zeichen, dann die wirkliche Bedrohung der Moks, die ihr
Zuhause für ein Endlager würden räumen müssen,
und nicht zuletzt die Rolle von Onk Ark, der womöglich die
Höhle verraten und so seine Auftraggeber erst auf die Idee
eines Höhlen-Endlagers gebracht hatte! Nur Kart Orkids Rolle
erklärte sich dadurch nicht von allein. Warum war er im Gefängnis?
Hatte er die Pläne des Endlagers durchkreuzen wollen, oder
war es aus einem ganz anderen Grund dort?
Obwohl Tom nach M. Pignons vorigen Ausführung zur Prophezeiung
und seiner und Jennys unangenehmer Rolle darin die Moks jetzt mit
zwiespältigen Gefühlen ansah, hatte er nun doch auch Mitleid
mit ihnen! Die Gefahr, vor der die Moks Jahrhunderte lang Angst
hatten, nämlich entdeckt und vertrieben zu werden, war nun
greifbar nahe! Zumindest dann, wenn alle ihre Vermutungen wirklich
richtig waren ... Im Vergleich dazu, war die Gefahr, in die die
Moks Tom und Jenny gebracht hatten, sehr klein.
"Sie möchten wissen, was ich dir gerade über das
Endlager gesagt habe", Jenny stupste Tom und nickte in Richtung
Pignons.
Tom übersetzte und Mme Pignon rief: "Ihr habt Recht! Das
könnte es sein! Das passt! Wahrscheinlich soll tatsächlich
der ganze radioaktive Müll von Tricastin und Marcoule in der
Höhle gelagert werden! Philippe, stell dir vor, in unsere Nähe
käme wirklich ein Endlager! Niemand würde mehr unser Gemüse
und Getreide kaufen. Alle werden davon ausgehen, dass es verstrahlt
ist. Selbst dann, wenn man keine höheren Werte an Radioaktivität
auf unseren Feldern messen kann!"
"Ich glaube, darüber brauchst du dir erst mal keine Sorgen
zu machen", sagte M. Pignon grimmig. "Denn, wenn sie es
heimlich machen, wird es ja niemand erfahren. Der wirtschaftliche
Schaden wäre also gleich null. Jenny hat Recht! Die Höhle
der Moks als Endlager wäre wirklich die optimale Lösung
für Frankreich! Wenn ich denke, dass ihr in Deutschland seit
über dreißig Jahren Probleme habt, ein geeignetes Endlager
zu finden und die Bauern in der Umgebung von Anfang an gegen die
Endlagerung des radioaktiven Mülls in Gorleben protestiert
haben, kann ich mir sehr gut denken, dass die Regierung hier keine
Lust auf die gleiche politische Zerreißprobe hat!"
"Gibt es hier denn noch kein Endlager?" fragte Tom erstaunt.
"Nein", sagte M. Pignon. "Hier gibt es zwar Wiederaufbereitungsanlagen,
aber noch kein Endlager. Das sollte erst 2025 eröffnet werden.
Bis dahin drücken sich die Franzosen vor diesem riesigen Problem."
"Das heißt, sie verschieben ihren atomaren Restmüll
nach Sibirien und leiten ihn tonnenweise in den Atlantik!"
ergänzte Mme Pignon die Ausführungen ihres Mannes.
"Da ist es ja in Deutschland noch besser!" sagte Tom.
"Wir setzen uns wenigstens mit unserem Müll auseinander!"
"Ihr Deutschen seid politisch sicher grüner als wir",
sagte M. Pignon, "Aber in Wirklichkeit werden die Probleme
mit dem Atommüll auch in Deutschland nicht wirklich gelöst.
Auch in Deutschland wird der Atommüll nur von einem Ort zum
anderen verschoben! Und auch die Deutschen produzieren weiterhin
Atommüll. Genauso wie die meisten anderen Europäer auch.
Der Atommüll ist kein französisches, sondern ein europäisches
Problem!"
"Ein weltweites Problem!" sagte Mme Pignon. "Und
vor allem ein Problem, das wir alle nicht bewältigen können!"
Tom stöhnte. Mme Pignon hatte Recht. Der radiokative Müll
war ein Problem, das der Mensch zwar geschaffen hatte, aber nicht
mehr los wurde. Allein schon die Strahlungsdauer des Mülls
übertraf die menschliche Vorstellungskraft: 200.000 Jahre!
Und plötzlich fühlte sich Tom müde, sehr müde.
Es war wirklich gut, dass die Pignons entschieden hatten, dass er
mit Jenny morgen nach Hause fahren würde. Denn was konnte er
hier noch ausrichten? Nichts! Zu Hause konnte er dagegen wenigstens
wieder ein ganz normaler Junge sein. Und wenn er Glück hatte,
würde Jenny mit ihm sogar den Rest der Ferien verbringen und
ihm die Gelegenheit geben, ihr zu zeigen, wie man auch ohne Streichhölzer
Feuer entfachen konnte ...
Obwohl, was war das Entfachen eines kleinen Feuers schon Wert angesichts
der Probleme hier?
"Was ist denn jetzt mit den Moks?" fragte Jenny. "Was
passiert mit ihnen, wenn die Höhle zum Endlager wird?"
Tom zuckte als Antwort mit den Schultern. Doch Jenny ließ
sich damit nicht abspeisen. Als sie ihre Frage wiederholte, horchte
M. Pignon bei dem Wort "Mok" auf und sagte: "Richtig,
die Moks! Wir können zwar nicht den Lauf der Welt verändern
und die Misere der Atomindustrie rückgängig machen. Aber
wir können versuchen, das Schlimmste vor unserer eigenen Haustür
zu verhindern! Wir dürfen im Kleinen nicht müde werden,
auch wenn wir das Große nicht schaffen können! Unsere
direkten Nachbarn, die Moks, sind bedroht. Wir müssen verhindern,
dass sie vertrieben werden! Wir müssen verhindern, dass hier
in der Nähe ein Endlager entsteht und unsere Felder verstrahlt
werden! Wenn uns das gelingt, haben wir vielleicht genug Kraft,
auch zu verhindern, dass immer weiter Atommüll produziert wird!"
Tom war froh, dass M. Pignon eine ganz andere Antwort gegeben hatte,
als er es getan hätte. Sein Antwort wäre vielmehr gewesen:
"Jenny, die Moks sind für uns Geschichte, es gibt keine
Prophezeiung und wir wurden verarscht, die Moks werden wahrscheinlich
ihren Lebensraum verlieren und die Menschen hier ein Endlager vor
die Füße bekommen. Lass uns heimgehen!"
So aber konnte er Jenny die kleine, feurige Rede von M. Pignon übersetzen
und Jenny weiter guten Gewissens verheimlichen, dass sie gar nicht
wirklich auserwählt gewesen waren, die Moks zu retten. Würde
er das Jenny überhaupt jemals erzählen? Eher nicht.
Jenny schien die Rede von M. Pignon zu gefallen, denn sie nickte
zustimmend. Wenn es nach ihr ginge, würde sie sicher beim Bauernprotest
mitmachen. Tom war sich sicher, dass er noch einige Überzeugungsarbeit
leisten müsste, Jenny morgen wirklich in den Zug zu bekommen
...
"Fangen wir gleich heute mit der Organisation unseres Widerstands
an!" sagte Mme Pignon und stand auf. "Während du
heute nachmittag auf dem Feld bist, schreibe ich gleich allen unseren
Mitgliedern von Gesunder Landwirtschaft und bitte sie, morgen
nur das Notwendigste auf ihrem Hof zu machen. Und sobald wir morgen
Tom und Jenny auf ihren Zug gebracht haben, setzen wir uns mit den
anderen zusammen und überlegen, welche Schritte wir unternehmen
müssen! Gemeinsam wird uns sicher etwas einfallen, das Endlager
in der Höhle der Moks zu verhindern!"
Auf dem Parkplatz vor dem Bahnhof in Aurillac stand ein dunkler
Mercedes, in dem zwei Männer saßen: Martin Brunner und
Cédric Moulin vom Europäischen Geheimdienst Direction
Europain de la Securite (DES). Martin Brunner hatte sorgfältig
eine Serviette auf seiner Hose ausgebreitet und biss in ein belegtes
Baquette. Cédric Moulin trommelte ungeduldig mit den Fingern
aufs Lenkrad und schaute angestrengt durchs Fenster.
"Ich hoffe, es stimmt, was der kleine Knirps von den Pignons
gestern gesagt hat, und Tom Salzig und Jenny Limmer fahren heute
tatsächlich wieder mit dem Zug nach Hause", sagte M. Moulin.
"Was heißt hier nach Hause?" sagte Martin
Brunner und wischte sich die Krümel von der Hose. "Sie
werden nie zu Hause ankommen. Schon vergessen?"
"Wie könnte ich?" sagte Cédric Moulin. "Ein
Jammer, dass es noch Kinder sind. Andererseits: Was müssen
sie sich in Angelegenheiten einmischen, die sie nichts angehen?"
"Richtig", sagte Martin Brunner. "Und zum Glück
liegt das auch gar nicht in unserer Verantwortung, sondern in der
des Chefs und des DES."
"Ich hoffe nur, der Plan klappt", sagte M. Moulin. "Wenn
nicht, und die Kinder können auf sich aufmerksam machen, bevor
sie in Sicherheit sind, haben wir ein Problem."
"Warum bist du so angespannt?" fragte M. Brunner. "Wo
bleibt deine Professionalität? Natürlich klappt der Plan.
Du steigst mit Tom und Jenny in den Zug, während ich zur verabredeten
Stelle vor Puybrun fahre. Unter einem Vorwand lockst du sie in die
präparierte, defekte Kabine am Ende des Zugs. Kurz vor Puybrun
wird der Zug in der Kurve so langsam, dass du mir die Kinder aus
der Kabinentür reichen, oder besser gesagt werfen, kannst.
Den Rest erledige ich. Wir hatten schon weitaus schwierigere Aufträge.
Wo liegt das Problem?"
Cédric Moulin presste schweigend die Lippen aufeinander und
starrte weiter durchs Fenster.
"Da kommen sie!" sagte M. Brunner ruhig und deutete mit
dem Kopf auf einen weißen Kleintransporter. Er wickelte den
Rest seines Baquettes in die Serviette und legte es in das Handschuhfach.
"Am besten gehe ich, bevor sie mich sehen", sagte M. Moulin,
machte die Autotür auf und stieg aus. "Bis später!"
"Wird schon schief gehen!" murmelte M. Brunner und beobachtete,
wie Cédric sich möglichst unauffällig unter die
anderen Reisenden mischte und dann im Bahnhof verschwand.
Die deutschen Kinder holten gerade ihre Rucksäcke aus dem Auto
der Pignons. Das Mädchen sah irgendwie niedergeschlagen aus,
so, als ob sie schon wüsste, was in den nächsten Stunden
auf sie zukommen würde. Sie sagte kein Wort und reagierte auch
nicht, als Mme Pignon ihr einen freundschaftlichen Klaps auf die
Schulter gab. Auch der Junge schien kein Ausbund an Fröhlichkeit
zu sein, aber immerhin unterhielt er sich mit den Pignons und lachte,
als die älteste Tochter der Pignons etwas zu ihm sagte. Bald
waren alle zusammen im Bahnhof verschwunden.
Er selbst würde warten, bis die Pignons wieder in ihr Auto
stiegen und er sich sicher sein konnte, dass sie auch wirklich ohne
Tom und Jenny davon fuhren. Dann hatte er nichts weiter zu tun,
als nach Puybrun zu fahren und auf die Ankunft der Kinder zu warten.
Auch wenn Cédric heute nervös auf ihn gewirkt hatte,
war er sich sicher, dass er seinen Job gut machen würde. Cédrics
Fehlerquote lag bei unter einem Prozent. Andererseits waren seine
Aufträge bisher auch nie besonders schwierig gewesen. Aber
die beiden Kinder verschwinden zu lassen, war ebenfalls nicht besonders
schwierig. Nicht schwieriger, als in einem Supermarkt zwei Kästen
Sprudel zu klauen.
M. Brunner holte sein angebissenes Baquette aus dem Handschuhfach
und wartete auf die Pignons. Nach etwa einer halben Stunde, M. Brunner
wischte sich gerade wieder die Krümel von der Hose, kamen die
Pignons ohne Jenny und Tom aus dem Bahnhof, stiegen in ihren Wagen
und fuhren davon.
Als sie außer Sichtweite waren, ließ auch M. Brunner
den Motor an und lenkte den Mercedes auf die Avenue de 4 Septembre,
um von dort möglichst schnell auf die D120 zu kommen. Auch
wenn er nicht allzu schnell würde fahren müssen, um zu
der verabredeten Stelle vor Puybrun zu kommen, so durfte ihm doch
nichts dazwischen kommen, um vor den Kindern dort zu sein. Kein
Stau, kein Unfall und auch kein Lastwagen, der ihn stundenlang nicht
überholen ließ.
Doch wie es zumindest jetzt aussah, hatte er Glück. Der morgendliche
Stau war vorüber und die Straßen waren frei.
M. Brunners Gedanken schweiften ab zu seiner Frau, die sich von
ihm scheiden lassen wollte, weil er zu wenig zu Hause war. Angeblich
liebte sie ihn, aber genau deshalb wollte sie ihn mehr bei sich
und weniger bei irgendwelchen Einsätzen haben. Wenn ihm seine
Einsätze lieber wären als sie, hatte sie ihm gestern wieder
einmal gesagt, dann müsste sie sich nach einen anderen umschauen,
der ihrer Liebe würdiger war als er.
Aber wie konnte er öfters bei ihr sein? Die vielen Reisen brachten
nun mal seine Arbeit beim DES mit sich. Das hatte seine Frau von
Anfang an gewusst. Im Grunde wusste er nicht, worüber sie sich
eigentlich aufregte. Außerdem brauchte sie sich gar nicht
einzubilden, dass seine "Geschäftsreisen" das reinste
Vergnügen für ihn waren. Das Gegenteil war der Fall. Meistens
waren sie langweilig und zäh und außerdem gefährlich.
Auch auf die Sache mit den Kindern hatte er keine allzu große
Lust. Was hatte er auch davon, mindestens eine Woche lang in einer
abgeschotteten Wohnung zu sitzen und auf die Kinder aufzupassen?
Das einzig Gute daran war, dass er für die Kinder nicht zu
kochen brauchte. Das würde Marie machen. Andererseits, fragte
er sich, warum man die Kinder überhaupt versorgte? Würde
man sie nach einer gewissen Zeit nicht sowieso unbemerkt verschwinden
lassen müssen?
Er wusste zwar nicht, was man mit ihnen langfristig vorhatte. Aber
er konnte sich nicht vorstellen, dass man die Kinder einfach wieder
nach Deutschland zurück schicken würde können. Würden
sie dort nicht alles ausplaudern?
Ein geeigneter "Unfall" der Kinder schien ihm weitaus
sicherer für die Sache des DES zu sein. Und niemand würde
bei so einem Unfall Verdacht schöpfen. Denn waren die Kinder
nicht selbst schuld daran, wenn sie nicht, wie mit den Eltern verabredet,
in ein Ferienlager fuhren, sondern heimlich nach Frankreich? Und
verstießen die Eltern nicht gegen ihre Sorgfaltspflicht, wenn
sie sie alleine losziehen ließen und sie nicht persönlich
im Ferienlager abgaben?
Sicher, die Eltern würde es einige Zeit nach dem Unfall hart
ankommen, sie würden einige heiße Tränen vergießen
und sich wahrscheinlich Vorwürfe machen, dass sie sich nicht
besser um ihre Kinder gekümmert hatten. Aber das war's dann
auch.
Er dagegen setzte mit diesem Auftrag einmal mehr seine Ehe
aufs Spiel! Wenn seine Frau nicht sowieso schon die Koffer gepackt
hatte, wenn er wieder zu Hause war. Im Unterschied zu den Eltern
von Tom und Jenny, die mit den Kindern nur ihre gemeinsame Vergangenheit
verlieren würden, würde er seine Zukunft verlieren!
Oh! Jetzt hätte er fast die Ausfahrt zu ihrem geheimen Treffpunkt
verpasst!
M. Brunner bremste scharf ab, bog in eine scharfe Rechtskurve und
fuhr eine kleine Landstraße entlang. Nach einer Weile endete
die Straße in einem privaten Feldweg.
M. Brunner schaltete den Gang runter und fuhr langsam einen Privatweg
entlang. Nach ein paar Kilometern stellte er das Auto ab, stieg
aus und ging die letzten Meter zu Fuß. An der verabredeten
Stelle, wartete er mit Blick auf die Schienen, bis der Zug mit Tom
und Jenny kommen würde.
Nach etwa einer viertel Stunde hörte er das entfernte Dröhnen
des Zuges. Jetzt würde es nur noch ein paar Sekunden dauern,
bis Cédric ihm die Kinder rauswerfen würde. Er ging
hinter einem Busch in Deckung, damit ihn kein Zuggast sehen konnte.
Man wusste ja nie.
Kurz darauf hörte er das Quietschen der Bremsen vor der Kurve.
Dann donnerte die Lok an ihm vorbei, dann der erste Wagen, der zweite,
der dritte ...
Jetzt! Die Wagentür des letzten Wagens war geöffnet und
Cédric schubste die gefesselten Kinder aus dem Waggon! Zum
Glück prallten die Kinder nicht auf den Schienen auf, sondern
fielen ziemlich planmäßig auf die abschüssige Wiese.
Die beiden gaben trotz der Pflaster auf ihrem Mund dumpfe Schmerzensschreie
von sich, aber mit einem schnellen Blick hatte sich Martin Brunner
vergewissert, dass der Zug bereits hinter der Kurve verschwunden
war und wohl niemand irgendetwas von den Kindern gehört oder
gesehen hatte.
M. Brunner lief zu den Kindern und untersuchte sie auf Brüche
oder offensichtliche Verletzungen. Das Mädchen blutete aus
der Nase und sah ihn mit angstgeweiteten Augen an. Ansonsten schien
ihr nichts zu fehlen. Der Junge dagegen war bewusstlos. Vorsichtig
untersuchte M. Brunner seinen Körper, konnte aber keine äußeren
Verletzungen oder offensichtliche Brüche erkennen. Wahrscheinlich
hatte er eine Gehirnerschütterung. Er beugte sich über
Tom und hob die Lider des Jungen. Alles in Ordnung. Er wollte sich
gerade wieder aufrichten, als er einen kräftigen Schlag in
die Kniegelenke bekam und nach hinten fiel. Jenny hatte ihn offensichtlich
mit ihren gefesselten Beinen umgeworfen. Er richtete sich wieder
auf und sagte dann in akzentfreiem Deutsch: "Sei nicht dumm,
Mädchen! Siehst du nicht, dass ihr beiden gefesselt seid? Was
willst du gegen mich ausrichten?"
Jenny gab wütende Gluckslaute von sich und strampelte weiter
mit den Beinen.
M. Brunner seufzte und dachte, dass das nur der Anfang einer sicherlich
nervtötenden Babysitting-Woche war. Vorsichtig nahm er Tom
hoch und trug ihn zum Auto. Die Augen des Jungen flatterten jetzt
und als er ihn kurz darauf in den für die Kinder extra präparierten
Kofferraum legte, öffnete Tom die Augen ganz. Er sah entsetzt
um sich, offensichtlich hatte er vergessen, was die letzten Minuten
mit ihm passiert war.
"Es ist alles in Ordnung!" sagte M. Brunner. "Ich
bringe euch an einen sicheren Ort. Dort werdet ihr erfahren, was
man mit euch vorhat!"
'Oder auch nicht', setzte er in Gedanken hinzu. Nun, ihm war es
gleichgültig. Er musste die Kinder nur eine Woche lang bewachen
und aufpassen, dass ihnen nichts passierte. Was danach mit ihnen
geschah, lag nicht mehr in seiner Verantwortung und war ihm auch
ziemlich egal.
Martin Brunner ging zurück zu dem Mädchen. Er musste grinsen,
als er sah, dass sie doch tatsächlich versucht hatte, ihre
Fesseln zu lösen! Natürlich ohne Erfolg.
"Mach dir nichts draus!" sagte Martin Brunner. "Meine
Fesseln bekommt niemand auf!"
Er warf sich Jenny wie einen Sack auf die Schultern und ging auch
mit ihr zum Auto. Ein paar Minuten später schloss M. Brunner
den Kofferraum zu, stieg ins Auto, schaltete den Motor an und fuhr
den Privatweg zurück auf die Landstraße.
Das Schwierigste des Auftrags hatten Cédric und er nun zum
Glück geschafft! Die Kinder waren ohne Aufsehen aus dem Verkehr
gezogen worden und konnten die Sache des DES nicht mehr länger
gefährden. Der Chef und der DES würden mit ihnen zufrieden
sein!
Ende Teil 8
Die Fortsetzung des Romans könnt ihr im Rossipotti No. 26 lesen!
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