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Das geheime Buch

Reise ins Ungewisse

von

Heiko Bacher

Fortsetzung: Teil 8

Wer nicht alles mitbekommen hat und nicht nur die kurze Zusammenfassung lesen möchte, geht ganz an den Anfang der Geschichte zur 18. Ausgabe zurück oder zum letzten Kapitel der letzten Rossipotti-Ausgabe

Was bisher geschah:

Der dreizehnjährige Tom und die zwölfjährige Jenny werden von Kart Orkid, einem Agenten des unbekannten Volkstammes Mok, gebeten, ihnen zu helfen. Laut einer uralten Prophezeiung des "Buch des Tuns" sind die beiden Kinder "To-Am" und "Jen-Yi" dazu bestimmt, die Moks vor "gelbem Hagel" und dem Untergang ihres Stammes zu retten.
Jenny glaubt Kart Orkid kein Wort und denkt nicht daran, nach Frankreich zu einem Volkstamm zu fahren, den es ihrer Einschätzung nach gar nicht gibt. Doch Tom lockt Jenny mit einer vorgetäuschten Entführung in die Auvergne, und so erfährt Jenny, dass es die Moks wider Erwarten doch gibt.
Die Moks leben in einer großen, viel verzweigten Höhle und haben ihre eigene Kultur und Geschichte. Tom und Jenny lernen, dass die Moks zu dem kleinwüchsigen, afrikanischen Volksstamm der Pygmäen gehören und als indigenes Volk von den großwüchsigen Menschen in Europa vor langer Zeit bedroht und versklavt wurden. Aus dem Grund verstecken sie sich seit vielen Jahrhunderten in der Höhle. Da nun einer der Moks, Onk Ark, aus der Höhle geflohen ist, weil er das Höhlenleben nicht mehr ausgehalten hat, und der Agent Kart Orkid aus unerklärten Gründen verschwunden ist, haben die Moks große Angst, dass sich die Prophezeiung erfüllt und sie von den großen Menschen entdeckt und wieder verfolgt oder sogar vernichtet zu werden. Sie trauen sich nicht mehr aus der Höhle, um mit den wenigen, befreundeten Bauern Waren und Essen zu tauschen und befinden sich in einer Art Ausnahmezustand.
Tom und Jenny reisen nach Rochefort am französischen Atlantik, weil die Stadt in der Prophezeiung genannt wird. Dort erfahren sie, dass der kindergroße Kart Orkid bei seiner Suche nach Onk Ark in ein Waisenhaus gesteckt wurde und dort nach kurzer Zeit von irgendwelchen Männern abgeholt und irgend wohin gebracht wurde. Daneben finden sie den abtrünnigen, plötzlich reich gewordenen, aber sehr schweigsamen Onk Ark in der Umgebung kriminell wirkender "Auftraggeber". Außerdem lernen die beiden Kinder den Journalisten Yves Scot kennen, der sich seit dem Auftauchen der merkwürdigen Kinder Onk Ark und Kart Orkid in Rochefort dem Geheimnis ihrer Herkunft auf die Spur kommen und eine große Story daraus stricken will. Bisher hat er immerhin heraus bekommen, dass Kart Orkid von den unbekannten Männern ins Gefängnis gesteckt wurde. Scot bittet die Kinder, ihm zu helfen, und schleust sie ins Gefängnis zu Kart Orkid ein. Da Kart Orkid im Gefängnis nicht offen sprechen kann, erfahren sie von ihm nicht viel mehr, als dass sie nach einem schwarzen Zeichen auf gelbem Grund recherchieren sollen. Yves Scot gegenüber behaupten sie allerdings, von Kart Orkid keinerlei brauchbare Informationen bekommen zu haben, weshalb Scot nicht weiter an den Kindern interessiert ist.
Was sie nicht wissen, ist, dass sie spätstens seit ihrem Gefängnisbesuch von den Auftraggebern von Onk Ark, Agenten des europäischen Geheimdienstes, beobachtet werden. Denn auch der europäische Geheimdienst ist aus irgendwelchen Gründen an der Höhle der Moks interessiert.

Über das Internet bekommen Tom und Jenny heraus, dass mit dem schwarzen Zeichen auf gelbem Grund wahrscheinlich das Zeichen für Biogefährdung oder für atomare Gefahr gemeint ist. Weil ihnen die Prophezeiung nun über den Kopf wächst, beschließen sie, zu den befreundeten Bauern der Moks zu fahren und sich von ihnen helfen zu lassen ...

Wenn die Wolke kommt und nicht vorüber zieht

Jenny und Tom standen auf dem Bahnsteig in Rochefort und warteten auf ihren Zug nach Aurillac. Dort würden sie von Emmeline de Sel, einer befreundete Bäuerin der Moks, abgeholt werden. Enk hatte ihnen vier Kontaktadressen von Bauern gegeben, und Tom und Jenny hatten zuerst die Familie de Sel angerufen, einfach deshalb, weil der Name ganz oben auf der Liste stand.
Emmeline de Sel stellte sich am Telefon als nette, wohl etwas ältere Dame heraus, die schnell verstand, wer sie beide waren und dass sie Hilfe brauchten. Sie bot ihnen sogar an, sie vom Bahnhof in Aurillac mit dem Auto abzuholen, damit sie nach ihrer langen Zugfahrt nicht noch mit dem Bus über die Berge zu ihnen in das kleine Dorf Sanissage fahren mussten.
Aus den Lautsprechern am Gleis ertönte eine Ansage und kurze Zeit später schob sich die Lok ihres Zuges wie ein übergroßer Metallwurm die Schienen entlang. Mit ohrenbetäubendem Quietschen und Zischen kam sie schließlich zum Stehen. Tom und Jenny schulterten ihre Rucksäcke und stiegen in den Waggon ein, in dem sie ihre Plätze reserviert hatten.
"Wie viel Geld haben wir eigentlich noch?" fragte Tom, als er sich in seinen Sessel fallen ließ.
"Keine Ahnung", sagte Jenny.
Sie holte ihren Geldbeutel aus dem Rucksack und kippte seinen Inhalt auf ein kleines Tischchen neben ihrem Platz. Das kleine Häufchen bestand aus zwei zwanzig Euro Scheinen, einem Zehner, vier fünf Euro-Scheine und mehreren Münzen.
"Nicht viel", sagte Jenny. "Gerade mal 70 Euro und ein paar Zerquetschte. Ich hoffe, du hast mehr."
Tom nickte und kramte in seiner Gürteltasche. Er legte ein paar fünzig Euroscheine und einen Hunderter auf den Tisch. Aber trotzdem war die Summe von beiden zusammen gerechnet nicht höher als 507 Euro und 43 Cent!
"Hatten wir am Anfang nicht knapp 1800 Euro?" fragte Jenny erstaunt und packte ihr Geld wieder ein.
"Nicht wirklich", sagte Tom. "Allein die Reise von Deutschland hier her war enorm teuer. Eigentlich hatten wir am Anfang auch nur knapp 1400 Euro."
"Trotzdem müsste es jetzt noch mehr sein", überlegte Jenny. "Wir haben die letzten neun Tage doch fast nur von Wasser und Brot ..."
"und Eis!" warf Tom dazwischen.
"... und Eis gelebt", sagte Jenny. "Trotzdem kann das bisschen nicht das ganze Geld weggefressen haben."
"Die Fahrten sind immer so teuer", sagte Tom. "Allein diese Fahrt hier kostet für uns beide 150 Euro! Außerdem waren die neun Übernachtungen mit knapp 360 Euro in der Jugendherberge auch nicht gerade billig. Dann waren wir zwei Mal mit dem Bus in Portes des Barques, haben ein paar Mal im Café gesessen und uns allein für 15 Euro eine Telefonkarte gekauft."
"Trotzdem!" Jenny konnte einfach nicht glauben, dass sie in den paar Tagen so viel Geld ausgegeben hatten.
"Außerdem hatten wir die letzten Tage auch keine Moknahrung mehr und mussten uns deshalb Lebensmittel kaufen", sagte Tom. "So ist das eben, wenn man Geld ausgibt!"
"Das ist mir nicht neu!" sagte Jenny gereizt.
Tom sollte nicht immer den coolen Typ spielen, der über alles Bescheid wusste und sich über nichts ärgerte!
"Und jetzt?" fragte Jenny.
"Jetzt können wir froh sein, dass wir so sparsam waren", stellte Tom fest. "Sonst hätten wir es heute womöglich nicht einmal mehr bis nach Aurillac geschafft."
"Du weißt, was ich meine", sagte Jenny. "Mit 500 Euro kommen wir nicht mehr weit. Da können wir froh sein, wenn wir in ein paar Tagen überhaupt noch bis nach Hause kommen."
"Du hast ja schon dein Rückfahrticket", sagte Tom belustigt.
"Aber nur von Aurillac aus", sagte Jenny. "Wer weiß, wo wir in einer Woche sind?"
"Wir könnten unsere Eltern fragen, ob sie uns nicht noch ein bisschen Taschengeld fürs Ferienlager schicken können."
"Und wohin sollen sie es schicken?" fragte Jenny. "Zumindest ich habe kein Konto, wo ich mir Geld ziehen kann. Außerdem schickt mir meine Mutter nicht einfach Geld, auch nicht ein bisschen. Ihrer Meinung nach habe ich sicher schon mehr als genug für das Ferienlager bekommen."
"Stimmt, das war eine blöde Idee", sagte Tom. "Meine Eltern würden sicher auch nachfragen, warum ich noch mehr Geld brauche, und das wäre viel zu riskant."
"Zum Glück ist es gerade Sommer", sagte Jenny und zeigte nach draußen auf einen Weinberg, an dem sie gerade vorbei fuhren. "Da wächst genug Obst. Verhungern werden wir also nicht."
Tom war sich nicht sicher, ob Jennys Bemerkung ernst gemeint war oder nicht, zog es aber vor, zu schweigen. Er verstaute sein Geld wieder in der Gürteltasche und schaute durchs Fenster. Tatsächlich fuhren sie an viel leckerem Obst vorbei. Vor allem an Weinstöcken, aber auch an Apfel- und Pfirsichbäumen. Die Trauben waren sicher noch nicht reif. Trotzdem fand er Jennys Idee, sich von Obst zu ernähren, gar nicht so schlecht.
Gedankenverloren stellte er sich vor, mit Jenny Obst und Gemüse zu klauen und es im Schutz hoher Maispflanzen aufzuessen. Vor seinen Augen entstanden Bilder, wie er mit Jenny eine Hütte im Wald baute, Pfeil und Bogen schnitzte, Kaninchen und Enten schoss und sie anschließend über dem Feuer briet.
Tom seufzte. Solche Abenteuer waren ganz nach seinem Geschmack! Aber dieses, in dem sie gerade steckten? Eher nicht! Sicher, die unterirdische Höhlen-Welt der Moks kennen gelernt zu haben, war atemberaubend gewesen! Aber dort waren sie ja leider nur zwei Tage geblieben. Und seither saßen sie eigentlich nur in stickigen Zügen und Autos, klebten vor dem Bildschirm, um irgendwelche Informationen heraus zu bekommen und hofften, von irgendwelchem Journalisten kostenlos zum Essen eingeladen zu werden. Nicht gerade abenteuerlich!
Gleichzeitig wurden Tom ihre Unternehmungen allmählich zu gefährlich! Die brenzlige Begegnung mit Onk Ark im Fischerhäuschen und ihr unangenehmer Gefängnis-Besuch waren ja gerade noch ertragbar gewesen. Aber die Bedrohung, die jetzt durch das schwarzen Zeichen auf gelbem Grund, auf sie zukam, war ihm eindeutig einige Nummern zu groß. Denn seiner Meinung nach hatte die Sache mit nichts anderem als mit Atomwaffen zu tun! Am liebsten würde er deshalb aus der Sache und der unseligen Prophezeiung der Moks aussteigen und nach Hause fahren!
Oder nein! Noch lieber würde er jetzt ein paar wilde Tage im Wald ganz allein mit Jenny verbringen! Es musste herrlich sein, mit ihr - ohne ihre lästigen Pflichten und drückenden Verantwortungen - durch den Wald zu streifen! Er würde ihr zeigen, welche Pflanzen giftig und welche es nicht waren. Er würde ihr beibringen, wie man mit einem Feuerstein, einem Taschenmesser und ein bisschen Zunder Feuer oder wie man sich mit Quarzerit oder Vulkanit einen Faustkeil machen konnte. Das würde sie sicher beeindrucken!
Aber wie konnte er sie hier und jetzt beeindrucken? Gar nicht! Denn war sie nicht oft mutiger als er? Hatte sie nicht oft bessere Einfälle als er? Und hatte sie manchmal nicht auch den besseren Überblick? Das einzige, womit sie nicht punkten konnte, war ihr launischer Charakter. Er war sicher meistens wesentlich besser gelaunt als sie. Aber interessierte Jenny das überhaupt? Freute sie sich etwa, dass er sich nicht so schnell über Dinge ärgerte und sie öfters aufmuntern wollte? Nicht die Bohne!
Tom ließ seinen Gedanken noch eine Weile freien Lauf, bis der Schaffner kam und sie daran erinnerte, dass sie in Bordeaux Richtung Toulouse umsteigen mussten.
Tom nickte und sah Jenny die Nase rümpfen. Sicher dachte sie gerade, dass das französische Bahnnetz eine Katastrophe war, weil die Bahn-Linien hier fast alle von Nord nach Süd und nicht von West nach Ost ausgerichtet waren. Und wahrscheinlich dachte sie gerade, was es für ein Schwachsinn war, dass sie erst ganz in den Süden fahren mussten, um danach wieder zurück in den Norden nach Aurillac zu kommen. So brauchten sie beinahe doppelt so lang wie mit dem Auto von Rochefort nach Aurillac, fast 10 Stunden!
Tom fand es dagegen gar nicht so schlecht, ein paar Stunden länger mit Jenny im Zug zu sitzen. Die Stunden mit den unbekannten Bauern würden sicher wieder anstrengend werden. Allein, immer französisch reden zu müssen. Aber Tom hütete sich davor, das vor Jenny zuzugeben. Wahrscheinlich würde sie ihn nur als Weichei beschimpfen. Oder doch nicht? So lächelte Tom Jenny nur an, erntete aber von ihr nur einen weiteren genervten Blick.

Als Tom und Jenny Stunden später in Aurillac aus dem Zug stiegen, fiel ihnen ziemlich schnell eine kleine, alte Frau in einem grauen Woll-Rock und einer weißen Bluse auf, die mit den Augen unsicher suchend die Reisenden beobachtete. Das musste Emmeline de Sel sein! Tom und Jenny liefen zu ihr und begrüßten sie.
"Bonjour To-am et Jen-yi!" sagte Mme de Sel erleichtert. "Je suis très heureux de faire votre conaissance!"
"Wir freuen uns auch, Sie kennen zu lernen", antwortete Tom auf französisch. "Vielen Dank, dass Sie gekommen sind, um uns abzuholen."
"Aber das ist doch selbstverständlich", sagte Mme de Sel. "Ich lasse zwei Kinder, die sich hier nicht auskennen, doch nicht allein mit dem Bus nach Sanissage fahren. Obwohl ich wegen meiner alten Knochen zugegebenermaßen nicht mehr so gerne Auto fahre."
Tatsächlich ging Mme de Sel ziemlich langsam und schien bei jedem Schritt Schmerzen zu haben. Mme de Sel schien sowieso ziemlich alt zu sein. Ihr Gesicht war mit viele Runzeln überzogen, ihr Pagenkopf war nicht mehr grau, sondern vollständig weiß und ihre Hände sahen verhärmt und abgearbeitet aus. Trotzdem blitzten ihre Augen noch erstaunlich jung und neugierig in ihrem Gesicht.
"Zut!" rief Mme de Sel verärgert, als sie kurze Zeit später auf dem Bahnhofsparkplatz standen. "Wer hat sich denn da direkt vor mein Auto gestellt?! Wahrscheinlich bekommt man so nicht einmal mehr die Türen auf!"
Mme de Sel schob sich zwischen einen Mercedes und ein grün-silbriges Auto mit kastenförmigen Kofferraum und schloss dann die Autotüren des grün-silbrigen Autos auf. Sie quetschte sich durch die Tür und ließ sich mit einem Ächzen auf den Fahrersitz fallen. Tom stieg vorne, Jenny hinten ins Auto ein.
"Seht euch diesen dicken Mercedes an!" schimpfte Mme de Sel. "Als ob er es darauf abgesehen hätte, uns zu belästigen! Entschuldigt, aber ich kann diese deutsche Marke sowieso nicht leiden. Autos sind zum Gebrauchen da, nicht zum Angeben!"
Mme de Sel drückte mehrmals kurz auf die Hupe. Als niemand kam, hupte sie so lange, bis endlich zwei Männer aus dem Bahnhof gesprungen kamen, beschwichtigend mit den Armen in Mme de Sels Richtung winkten, dann in den Mercedes stiegen und schnell davon fuhren.
Mme de Sel seufzte, ließ den Motor an und manövrierte ihr Auto vom Parkplatz. "Fréderic konnte euch nicht abzuholen, weil er die Garage ausräumen muss", erklärte sie nach einer Weile. "Wir brauchen die Garage, um sie zu vermieten. Das bisschen Rente reicht kaum aus. Und die Duchamps brauchen etwas, um ihre Geräte unterzustellen."
Tom sagte etwas zu Mme de Sel, aber da Jenny nicht verstand, was, schaute sie aus dem Fenster. Auf der eine Seite säumte gerade ein langer Grünstreifen die Straße, auf der anderen Seite standen mehrstöckige, graue Wohnhäuser locker neben einzelnen Villen. Die Straße ging leicht bergab, und in der Ferne konnte man grüne Hügel sehen. Wie Jenny von Tom wusste, lag Aurillac am Fuße des Vulkanbergs Cantal. Die hügeligen Ausläufer der Berge um Aurillac waren vor vielen tausend Jahren durch Gletscher einer längst vergangenen Eiszeit entstanden.
Schon ein paar Kurven und Kilometer später waren sie aus Aurillac draußen und fuhren nun durch die hügelige Landschaft selbst. Die Landschaft hier erinnerte Jenny an ihre Heimat in Deutschland. Aber die meisten Häuser sahen mit ihren grauen Steinmauern, ihren kleinen Balkons, den gußeisernen Gartenzäunen und der insgesamt freizügigeren Bauweise doch ziemlich anders aus als zu Hause.
"Wie geht es denn den Moks?" hörte Jenny Tom Mme de Sel fragen.
Jenny beugte sich interessiert vor und versuchte, die Antwort von Mme de Sel verstehen zu können.
"Wir haben seit knapp einer Woche keine Verbindung mehr zu den Moks!" sagte Mme de Sel. "Das muss nichts Schlimmes bedeuten. Aber es heißt zumindest, dass sie ihren Ausnahmezustand verschärft haben und wirklich niemand mehr aus der Höhle darf."
"Ich habe gedacht, der Ausnahmezustand dauert schon länger als eine Woche?" sagte Tom. "Als wir am Sonntag vor einer Woche dort waren, durfte auch schon niemand mehr aus der Höhle."
"Das betrifft gewöhnlich nur die normalen Moks, aber nicht die Agenten und engen Mitarbeiter des Oberhaupts Pok Alk", erklärte Mme de Sel. "Seit Onk Ark und Kart Orkid verschwunden sind, sind die Moks sehr auf Informationen von außerhalb angewiesen. Deshalb wundert es uns auch, dass die Moks nun jeden Kontakt zu uns abgebrochen haben."
"Mit wem haben Sie denn zuletzt gesprochen?" fragte Tom.
"Am Donnerstag letzte Woche haben wir kurz mit Lurk, einem engen Mitarbeiter des Oberhaupts, der für die Außenkontakte zuständig ist, gesprochen. Er sagte uns, dass sich bei uns wahrscheinlich bald die Kinder To-am und Jen-yi melden werden. Und er bat uns, euch zu helfen."
"Zum Glück haben die Moks Ihnen das noch mitteilen können", meinte Tom. "Wer weiß, ob Sie uns sonst geglaubt hätten? Übrigens heißen wir eigentlich nicht To-Am und Jen-yi, sondern Tom und Jenny und. Unsere Namen heißen nur in der Prophezeiung so."
"Was wisst ihr denn über die Prophezeiung?" fragte Mme de Sel neugierig.
"Wir kennen den Text", sagte Tom. "Sie nicht?"
"Nein", sagte Mme de Sel. "Wir wissen nur, dass es eine uralte Prophezeiung gibt und dass sie die Moks zur Zeit sehr nervös macht. Was steht denn in der Prophezeiung?"
"Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das mitteilen darf, wenn Ihnen die Moks selbst nichts davon erzählt haben?" überlegte Tom.
"Da hast du Recht", sagte Mme de Sel und lachte. "Aber immerhin weiß ich jetzt, dass ihr in der Prophezeiung steht! Ist es nicht allerhand, dass der Gründer der Moks bereits wusste, dass ihr tausend Jahre später auf die Welt kommen werden würdet?! Fréderic wird Augen machen, wenn er mit euch den leibhaftigen Beweis vor sich sehen wird, dass die Prophzeiung nicht falsch sein kann."
"Wieso?" fragte Tom. "Glaubt er etwa nicht an die Prophzeiung der Moks?"
"Kein bisschen", sagte Mme de Sel. "Er glaubt, dass die Moks schon genug reale Probleme haben, da bräuchten sie sich nicht noch künstlich welche zu machen!"
"Welche realen Probleme denn?", fragte Tom. "Ich dachte, sie hatten bisher nur das Problem, entdeckt zu werden und die Prophezeiung, die ihnen Angst macht?"
"Nein", sagte Mme de Sel. "Eigentlich haben sie ganz andere Probleme. Ihr größtes wirtschaftliches Problem ist die Versorgung des Stammes. Und ihr größtes gesellschaftliches Problem ist die Verhinderung von Rebellion. Seit ich die Moks kenne, und das ist schon sehr lange, gibt es immer wieder Moks, die lieber über der Erde wohnen würden. Die nicht mehr einsehen, unten bleiben zu müssen. Was ich wiederum gut verstehen kann. Wer will sein Leben lang schon in einer Höhle leben? Da verpasst man doch das Beste! Außerdem wird es in der Höhle allmählich eng, und die Moks haben einen gewissen Dichtestress. Insofern war es nur eine Frage der Zeit, bis ein oder mehrere Moks aus diesem Leben ausbrechen würden. Trotzdem finde ich es bemerkenswert, dass genau dann Onk Ark und Kart Orkid verschwinden, als die Moks so viel Wirbel um ihre Prophezeiung machen! Und dass auch genau dann Kinder aus Deutschland auftauchen, die anscheinend vor vielen, vielen Jahren bereits in der Prophezeiung beschrieben sind. Ist das alles nicht ein Beweis dafür, dass die Prophezeiung wahr ist?"
Tom nickte. So sah er es eigentlich auch.
"Ist euch aufgefallen, dass hinter uns die ganze Zeit das gleiche blaue Auto fährt?" fragte Jenny.
Tom drehte sich um und sah durch das Rückfenster einen blauen Mercedes.
"Seit wann fährt er denn hinter uns?" fragte Tom.
"Seit ich aus dem Fenster sehe", sagte Jenny. "Also eigentlich von Anfang an."
"Was hat Jenny gesagt?" fragte Mme de Sel und sah in den Rückspiegel.
"Jenny glaubt, dass uns der blaue Wagen hinter uns verfolgt", übersetzte Tom.
"Ja, ich weiß", sagte Mme de Sel. "Der Mercedes will mich schon seit Aurillac überholen, traut sich aber nicht. Die Strecke ist für Raser glücklicherweise nicht besonders geeignet. Aber in ein paar Kilometern sind wir auf der N 122. Da kann er mich überholen."
"Ist das nicht der Mercedes von vorhin?" fragte Tom.
"Unwahrscheinlich", meinte Mme de Sel. "Auch wenn wir Franzosen lieber unsere eigene Automarken fahren, gibt es auch hier mehr als einen Mercedes!"
"In dem Mercedes hinter uns sitzen aber auch zwei Männer!" stellte Jenny beunruhigt fest. "Ich glaube, es sind tatsächlich die gleichen wie vorhin am Bahnhof!"
Als Tom Jennys Satz übersetzt hatte, sagte Mme de Sel: "Et alors? Selbst wenn es die gleichen Leute sind: Dürfen sie dann nicht den gleichen Weg aus Aurillac nehmen wie wir? Vielleicht sind sie auf dem Weg nach Murat oder besuchen ihre Verwandten in Vic-sur-Cère?"
Tom übersetzte Jenny, was Mme de Sel gesagt hatte, konnte Jenny damit aber nicht wirklich beruhigen. Auch Tom wurde unruhig, als sie der blaue Mercedes auch auf der zumindest teilweisen, zweispurigen N122 nicht überholte. Er hatte zwar keine Ahnung, wer sie verfolgen sollte. Aber reichte es nicht, dass Onk Ark in dunkle Geschäfte verwickelt war und Kart Orkid im Gefängnis saß? Und war es nicht verdächtig, dass der Kontakt zwischen den Moks und den Bauern zuletzt ganz abgebrochen war?
Wer weiß, vielleicht gehörten diesen beiden Männer in dem Mercedes zu den Auftraggebern von Onk Ark? Oder zu den Männern, die Kart Orkid das Leben schwer machten?
"Frag mal, ob Mme de Sel nicht anhalten kann", sagte Jenny zu Tom. "Ich habe vorhin auf einem Schild gelesen, dass in ein paar Kilometern ein Mc Donalds kommt. Lass uns dort halten. Dann können wir feststellen, ob der Wagen an uns interessiert ist oder nicht."
Tom nickte und gab Jennys Frage an Mme de Sel weiter.
"Quoi?" Mme des Sel von Jennys Idee nichts wissen: "Ich halte doch nicht bei einem Mc Donalds! Ich habe extra für euch Truffade und Rissoles gekocht und einen Kirschkuchen gebacken!"
"Das hört sich lecker an", sagte Tom höflich. "Aber wir wollten auch gar nicht im Mc Donalds essen, sondern nur sehen, ob wir verfolgt werden."
"Papperlapapp!" sagte Mme de Sel. "Was interessiert uns dieser Mercedes?! Ich lasse mir doch von dem keine Angst einjagen!"
Tom wusste nicht, ob Mme de Sel wirklich keine Angst hatte oder nur betont fröhlich tat. Auf jeden Fall sagte sie weder etwas, als der Mercedes kurz darauf wie sie von der N122 in eine kleine Nebenstraße abbog, noch, als der dunkle Wagen auch auf den kurvigen und völlig verlassenen Landstraßen den Berg-Massiv hinunter stets hinter ihnen blieb.
Erst in dem kleinen Dorf Pailherols hielt Mme de Sel ihren Wagen vor einer Crèperie an. Allerdings nicht, wie sie betonte, um zu sehen, was ihre "Verfolger" machen würden, sondern um etwas für Fréderic zu besorgen.
Tom und Jenny sahen Mme de Sel zu, wie sie sich auf dem Platz vor der Crèperie mit jemandem unterhielt und kurz darauf hinter der Tür der Crèperie verschwand. Dann hielten sie wieder nach dem Mercedes Ausschau. Doch jetzt war der Wagen plötzlich verschwunden! Ihre Verfolger waren tatsächlich weg!
"Glaubst du, sie sind wirklich weg?" fragte Jenny.
Tom zuckte mit den Schultern.
"Ich verstehe nicht, wo er geblieben sein kann", sagte Jenny. "Hätte er nicht an uns vorbei fahren müssen?"
"Vor dem Dorf habe ich ihn noch gesehen", meinte Tom. "Vielleicht ging davor irgendwo ein anderer Weg ab?"
"Ist mir nicht aufgefallen", Jenny schüttelte den Kopf.
"Vielleicht ist er an uns vorbei gefahren, als wir Mme de Sel zugesehen haben, wie sie in die Crèperie gegangen ist?"
"Das hätten wir doch bemerkt!"
Tom zuckte mit den Schultern und sah zu, wie Mme de Sel aus der Crèperie kam und mit einem Tabakpäckchen winkte.
"Fréderic wird sich über seinen Spezialtabak freuen", sagte sie, als sie die Autotür öffnete und umständlich in den Wagen stieg. "Albert, der Chef von der Crèperie bestellt ihn extra für ihn. - Wie ich sehe, haben sich unsere beiden Verfolger in Luft aufgelöst?!"
Tom nickte.
"Seht ihr!" sagte Mme de Sel bestimmt. "Die mussten zufällig den selben Weg nehmen wie wir, sonst nichts!"
Fröhlich schlug sie die Tür zu, ließ den Motor an und fuhr aus dem Dorf.

Der kleine Bauernhof der de Sels lag ein paar Kilometer den Berg hoch von Sanissage entfernt. Von hier oben aus hatte man einen wunderbaren Blick auf das grüne Tal und den gegenüber liegenden, bewaldeten Berghang.
Das Haus der de Sels stand in einem großen, halb verwilderten Garten und war eines jener Steinhäuser, die Jenny auf der Fahrt hier her so oft gesehen hatte: Zweistöckig, aus großen Kieseln und Lehm gemauert, mit freundlichen, durch Holzrähmen unterteilte Fenster und einem grauen Dach, das an jedem Ende von einem Schornstein festgehalten wurde. Das Haus der de Sels hatte zudem vor der Haustür eine umzäunte, gemauerte Terrasse und rechts daneben einen kleinen, ebenfalls umzäunten Gemüsegarten. Links neben dem Haus standen mehrere Schuppen und Ställe.
Auf der Wiese davor liefen Hühner und mehrere Ziegen. Aus einem der Ställe hörte Jenny das Grunzen von Schweinen.
"Schön, dass ihr kommt!" sagte ein großer, drahtiger Mann mit kurzen, weißen Haaren und einem grauen Hut auf dem Kopf. Er lief ihnen entgegen und half seiner Frau aus dem Auto. "Ich habe gerade das Essen aufgewärmt."
Jenny stieg aus dem Auto und streckte sich. Nach den vielen Stunden im Zug und im Auto, war es herrlich, wieder stehen und frische Luft einatmen zu können. Die Luft roch zwar etwas nach Schweinekoben und Hühnerdreck, war aber trotzdem viel besser als die Autoluft.
"Schön hier, oder?" Tom trat neben sie.
"Mmh", nickte Jenny. "Sieh mal, da hinten liegt eine schwarze Katze!"
Jenny ging zu ihr und streckte vorsichtig den Arm nach ihr aus. Obwohl Jenny schon halb damit gerechnet hatte, dass die Katze fliehen würde lief, räkelte sich die Katze vor Jenny auf dem Boden und fing an zu schnurren.
Tom setzte sich neben Jenny und kraulte die Katze. Das Fell war etwas struppig, aber trotzdem schön weich und von der Sonne warm. Er strich der Katze über den Rücken und berührte dabei leicht Jennys Hand. Jenny zog ihre Hand nicht weg und sagte auch nichts. War sie so Versunken ins Streicheln der Katze oder hatte sie nichts bemerkt?
"Hier Urlaub zu machen, wäre nicht schlecht", sagte Jenny.
"Mhmm", machte Tom. "Wer weiß, vielleicht können wir ja wieder kommen, wenn alles vorbei ist?"
Jenny zuckte mit den Schultern und stand auf.
"Es gibt Essen!" sagte Fréderic de Sel. "Wascht euch bitte die Hände, bevor ihr euch an den Tisch setzt!"

So schlicht das Haus von außen aussah, so überladen mit lauter Krimskrams waren die Räume innen. Im Flur versperrten Kleider, Schuhe, alte Küchengeräte, mit Schnüren und Wäscheklammern vollgestopfte Eimer den Weg. Das Bad war zwar nicht zugerümpelt, dafür mit bunten Kissen und Häkeldecken geschmückt. Auch das Wohn- und Esszimmer der de Sels war ein mit allen möglichen Dingen zugestellter Raum, der nur wenig Platz zum Gehen ließ. In der Mitte stand ein großer dunkler Esstisch mit dicken, geschwungenen Tischbeinen, die wie große Löwenpfoten aussahen. An der einen Wand stand eine alte Kommode, auf der Vasen, Keramik-Figuren und verschiedene Kerzenhalter standen. An der anderen Wand stand ein Buchregal, ein großer Lesesessel und eine altertümliche Lampe mit einem ausladenden, beigen Lampenschirm aus Stoff.
Die freien Stellen der mit Blumenmustern tapezierten Wände waren vollgehängt mit Öl-Bildern. Die meisten Motive der Bilder waren Berge, Wälder und Wasserfälle.
"Die Bilder hat alle mein Bruder gemalt", Fréderic de Sel hatte Jennys Blick verfolgt. "Er war Waldarbeiter hier in der Gegend, ist aber leider vor ein paar Jahren beim Klettern abgestürzt."
"Das tut mir leid", sagte Jenny unbeholfen auf deutsch. Sie hatte nicht alles verstanden, was M de Sel zu ihr gesagt hatte, aber irgendwer war gestorben.
"Mir auch", sagte M. de Sel auf deutsch. "Aber so ist das Leben."
"Woher können Sie so gut deutsch?" fragte Jenny erstaunt.
"Mein Vater war nach dem Krieg in Deutschland als Soldat stationiert", erklärte Fréderic. "Wir sind ihm hinterher gezogen, und ich habe deshalb ein paar Jahre in Deutschland gelebt. Aber das ist lange her und mein Deutsch ist nicht besonders gut."
"Finde ich schon", sagte Jenny und war froh, dass sie sich hier mit Fréderic de Sel unterhalten konnte und nicht immer stumm daneben sitzen musste.
"Sind sie adlig?" platzte sie heraus.
"Adlig?" fragte Fréderic de Sel befremdet. "Warum das denn?"
"Heißt de Sel auf deutsch übersetzt nicht von Salz?"
"Schon", sagte M. de Sel. "Aber das hat im Französischen wenig zu bedeuten. De heißen hier viele. Das ist Scheinadel, kein echter Adel."
"Schade", sagte Jenny. "Ich habe gedacht, hier echte Adlige kennen lernen zu können."
Tom stöhnte. Was war denn plötzlich in Jenny gefahren? Seit wann interessierte sie sich für Adlige? Und wie peinlich war es, M. de Sel mit kindischen Vorstellungen von Adligen zu beleidigen?!
Aber M. de Sel schien Jennys Bemerkung nicht zu stören.
"Dafür lernst du jetzt echte Bauern kennen", sagte er belustigt. "Oder kennst du schon welche?"
Jenny schüttelte den Kopf und dachte, dass Bauern sicher wesentlich langweiliger als Adlige waren. Außerdem hatte sie schon immer interessiert, ob man Adligen ihr blaues Blut irgendwie anmerkte?
"Wir haben Babykätzchen im Schweinestall", sagte Fréderic de Sel. "Die schwarze Katze, die du vorhin gestreichelt hast, ist ihre Mutter. Wenn du willst, zeige ich dir ihr Versteck."
"Au ja!" sagte Jenny. "Babykätzchen sind so süß!"
"Jetzt lasst uns erst mal etwas essen", sagte Emmeline de Sel auf französich und stellte eine große Schüssel auf den Tisch. "Die mit Schweinefleisch gefüllten Teigtaschen heißen Rissoles und die Käse-Kartoffelscheiben Truffade. Beides sind Spezialitäten aus der Auvergne. Ihr wisst doch sicher, dass die Region hier Auvergne heißt?"
Tom und Jenny nickten und ließen sich ihre Teller voll schöpfen.
Das Essen war sehr lecker, und Jenny dachte, dass sie sich von Mme de Sel auf jeden Fall das Rezept geben lassen würde. Ihre Mutter hatte immer wieder, wenn auch leider seltene Anfälle, in denen sie etwas "Spezielles" oder "Raffiniertes" kochen wollte. Vielleicht wollte sie es ja einmal mit diesen Rissoles und Truffades probieren? A propos: Sie musste dringend mal wieder ihre Mutter anrufen! Und sie musste dringend den Akku ihres Handys aufladen! Am besten heute noch.
Als die de Sels mit den Kindern beim Dessert, dem Kirschkuchen, saßen, sagte Emmeline de Sel: "Stell dir vor, die Kinder kommen in der Prophezeiung der Moks vor!"
"Wie das?" fragte Fréderic de Sel und wischte sich die Kuchenkrümel vom Kinn.
"Sie werden als To-Am und Jen-yi darin beschrieben", sagte seine Frau. "Mehr weiß ich auch nicht."
Fréderic sah Tom und Jenny fragend an.
"Wir wissen nicht, ob wir Ihnen mehr über die Prophezeiung sagen dürfen", sagte Tom. "Bisher haben Sie ja auch nichts darüber gewusst."
"Bisher war es auch eine ganz andere Situation", sagte Fréderic de Sel. "Bisher haben die Moks uns keine Kinder geschickt, um Ihnen zu helfen. Und bisher haben wir ihnen nur geholfen, Ihre Nahrungsmittelkette etwas aufzuwerten und mit Ihnen Dinge zu tauschen, bei denen sie im allgemeinen nützlichere Dinge von uns bekamen als wir von ihnen."
"Sie meinen also, dass wir Ihnen die ganze Prophezeiung anvertrauen können?"
"Wenn du damit meinst, ob ihr uns trauen könnt: Ja!" sagte Fréderic de Sel. "Wenn du mich damit aber fragen willst, ob die Prophezeiung bei mir mir auf fruchtbaren Boden fällt: Nein!"
"Könnt ihr euch nicht auf deutsch unterhalten?" unterbrach Jenny und biss ein Stück von ihrem leckeren Kuchen ab.
"Gern", sagte Fréderic. "Dann versteht Emmeline zwar nichts mehr, aber ich kann es ihr ja danach übersetzen. Es geht darum, ob ihr uns erzählen dürft, was in der Prophezeiung steht?!"
"Von mir aus können wir das schon machen", sagte Jenny mit vollem Mund. "In der Prophezeiung steht eh nicht viel. Nur, dass wir anscheinend kommen und die Moks vor gelbem Hagel und zerquetschendem Ende retten werden."
"Bon!" sagte Fréderic und übersetzte Jennys Sätze seiner Frau. "Ich habe dir ja immer gesagt, dass die Prophezeiung der Moks nicht besser ist als andere Prophezeiungen, also nichts als Humbug!"
"Das stimmt nicht", schaltete sich Tom ein. "In der Prophezeiung der Moks hat bisher sehr viel gestimmt."
"Aha!" sagte Fréderic belustigt. "Was denn zum Beispiel?"
"Zum einen stimmt die Zeit, in der das Unheil passiert", sagte Tom. "In der Prophezeiung steht, dass im Monat August im Jahre zweitausend und X eine schwarze Wolke einbrechen wird ..."
"Interessant!" sagte Fréderic mit ironischem Unterton. "Zweitausend und X ist ja auch eine sehr präzise Zeitangabe. Pah! Das kann alles heißen. Und dann sehe ich gar kein Unheil. Falls du den Ausnahmezustand meinst und dass sich die Moks in ihrer Höhle verschanzen, kann ich dir sagen, dass sie das, zumindest seit ich hier lebe, in regelmäßigen Abständen machen. Und jedes Mal haben sie behauptet, dass die Prophezeiung ihnen Unheil bringen würde! Bisher ist aber nie etwas geschehen. Was sagst du dazu?"
"Mag sein", sagte Tom. "Trotzdem trifft zumindest dieses Mal noch weit mehr als die Bestimmung der Zeit auf die Realität zu. Zum Beispiel steht in der Prophezeiung, dass Neugier die Moks in Gefahr bringen wird. Das stimmt, denn Onk Ark ist aus purer Neugier aus der Höhle abgehauen und hat sich jetzt mit irgendwelchen dunklen Leuten verbündet."
"Was denn für dunkle Leute?" fragte Fréderic de Sel überrascht.
"Wir haben Onk Ark in Portes des Barques gefesselt in einer Hütte gesehen", sagte Tom, froh, dass er M. de Sel nun doch etwas Wichtiges präsentieren konnte. "Und zwei Typen, die ihn bedroht haben."
"Seid ihr sicher, dass ihr euch das nicht nur eingebildet habt?" fragte Fréderic.
"Keine Spur", sagte Tom. "Onk Ark hat gesagt, dass ihn seine Auftraggeber gefesselt hätten. Wobei wir uns natürlich fragen, was das für Auftraggeber sind, die ihre Mitarbeiter fesseln?"
"Außerdem haben wir einen Journalisten in Rochefort kennen gelernt, der hinter den Moks her ist" sagte Jenny. "Dem schien die ganze Sache auch nicht zu popelig zu sein."
Fréderic de Sel schaute Jenny nachdenklich an und übersetze das Gehörte seiner Frau.
"Rochefort steht übrigens auch in der Prophezeiung", sagte Tom und zitierte die passende Textzeile daraus: "Die Freundschaft wird verunreinigt durch Streit/den Hass suchend, der ganze Glaube verdorben und die Hoffnung, Rochefort, ohne Einsicht."
"Auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn", sagte Fréderic de Sel. "Prophezeiungen sind so allgemein gehalten, dass man alles mögliche in sie hinein interpretieren kann. Außerdem: Wenn der Journalist den Moks auf der Spur ist, dann ist der doch offensichtlich gar nicht ohne Einsicht wie es in der Prophezeiung steht?!"
Tom zuckte mit den Schultern. "Uns bleibt gar nichts anderes übrig, als uns an die Prophezeiung zu halten. Sie ist das einzige, was wir als Hinweis haben."
"Aber das stimmt doch gar nicht", sagte Jenny. "Wir haben ganz ohne sie heraus gefunden, dass Kart Orkid im Gefängnis sitzt! Und wir haben ohne sie heraus bekommen, dass wir nach einem schwarzen Zeichen auf gelbem Grund suchen müssen!"
"Haben wir nicht", sagte Tom. "Denn wir sind nur wegen der Prophezeiung nach Rochefort gefahren! Und nur deshalb haben wir Yves Scot kennen gelernt, der uns ins Gefängnis gefahren hat."
"Kart Orkid ist im Gefängnis?" unterbrach Fréderic neugierig. "Wie das?"
Die Kinder erzählten den de Sels, was sie in Rochefort erlebt und heraus gefunden hatten. Fréderic übersetzte alles in regelmäßigen Abständen seiner Frau.
"Die Sache ist unheimlich!" sagte Emmeline de Sel, als die Kinder mit ihrem Bericht fertig waren. "Wir müssen etwas unternehmen."
"Ach und was?" fragte Fréderic. "Sollen wir etwa ins Gefängnis einbrechen und Kart befreien? Oder möchtest du zu dem Journalisten Yves Scot gehen und ihm sagen, dass er auf keinen Fall einen Artikel über die Moks schreiben darf? Oder willst du doch lieber gleich zu Onk Ark spazieren und ihn bitten, seine dunklen Geschäfte sein zu lassen? Bonjour M. Ark könnten Sie nicht wieder in Ihre schöne, dunkel Höhle zurück gehen?"
"Bleib doch einmal ernst", sagte seine Frau. "Dann wird uns schon etwas einfallen."
"Zum Beispiel, was das schwarze Zeichen auf gelbem Grund meinen könnte!" Fréderic de Sel schien jetzt richtig in Fahrt zu kommen und fuhr automatisch auf französisch fort: "Wenn ihr mich fragt, hat das nichts mit der atomaren Bedrohung der Höhle der Moks zu tun, sondern bedeutet Fledermaus vor gelben Mond. Vielleicht hat Kart Orkid im Waisenhaus den Film Batman gesehen und möchte ihn nun seinen Artgenossen empfehlen?"
"Fréderic", sagte Emmeline de Sel und ihre Stimme klang jetzt tatsächlich ein wenig verärgert. "Wie albern du bist!"
"Ich mag die Moks wirklich gern", sagte Fréderic. "Ich helfe ihnen seit über fünfzig Jahren so gut ich kann. Ich weiß, was es bedeutet, wenn man auf die Hilfe anderer angewiesen ist und kaum etwas zu beißen hat. Aber ich muss mich deshalb noch lange nicht ihrem Verfolgungswahn unterwerfen! Das Leben im zweiten Weltkrieg war schrecklich. Als Hitler in Frankreich einmarschiert ist, war es ein Alptraum. Aber das war immer noch harmlos im Vergleich zu den Wahnvorstellungen der Moks. Und zwar deshalb, weil die Bedrohung damals real war! Die Bedrohung der Moks ist völlig unreal. Und je unwirklicher die Bedrohung der Moks ist, umso mehr steigern sie sich in Weltuntergansszenarien hinein! Jetzt bilden sie sich sogar schon ein, atomar bedroht zu sein! Emmeline, wach auf! Für die Moks interessiert sich kein Mensch, außer ein paar Bauernfamilien, die immer mal wieder nachsehen, ob das merkwürdige Völkchen noch lebt!"
"Aber die Moks sind jetzt doch tatsächlich auch real bedroht!" sagte Mme de Sel. "Zumindest wenn du an den Journalisten, der hinter ihr Geheimnis kommen will, und an Onk Ark und seine Auftraggeber denkst."
"Ja, aber sie sind nicht atomar bedroht!" beharrte Fréderic. "Das einzige, was ihnen passieren kann, ist, dass ihre Höhle entdeckt wird und sie ihren Lebensraum verlieren."
"Aber das ist doch eine ganze Menge!" stellte Emmeline de Sel fest. "Und Kart ist im Gefängnis."
"Was weiß ich, was er ausgefressen hat?" sagte Fréderic. "Ich sehe auf jeden Fall nicht, in welcher Sache wir überhaupt Tom und Jenny helfen sollten und können?!"
"Vielleicht können Sie uns nach Marcoule und Tricastin fahren?" schaltete sich Tom schnell zwischen die Unterhaltung des Ehepaars. "Unser Geld geht allmählich zur Neige. Wenn sie uns dorthin fahren, könnten wir uns wenigstens ein wenig Geld sparen."
"Was wollt ihr denn in Tricastin und Marcoule?" fragte Fréderic verwundert.
"Die beiden Dörfer kommen auch in der Prophezeiung vor", erklärte Tom. "Deshalb wollen wir uns dort einmal umschauen. "
"In Tricastin und Marcoule?" Fréderic runzelte die Stirn. "Das sind keine Dörfer. Das sind Nuklearanlagen!"
"Was?!!" machte Tom und übersetzte Jenny gleich, was er gerade erfahren hatte.
"Was?!" sagte auch Jenny. "Dann kann das schwarze Zeichen auf gelbem Grund ja tatsächlich nur nukleare Gefahr bedeuten!"
"Ich hab's dir ja gleich gesagt", sagte Tom.
Jenny nickte geschlagen und hatte das Gefühl, dass sich die Worte der Prophezeiung immer enger um sie schlangen. Erst fanden sie Hinweise in Rochefort und jetzt fügten sich ihre Entdeckungen dort wie Puzzlesteine zu den in der Prophezeiung vorkommenden Worten Tricastin und Marcoule! In Tricastin und Marcoule sollten sie auf den Bogen des Schatzes treffen! Wenn Tricastin und Macoule Nuklearanlagen waren, hatte Tom wirklich Recht und der Bogen des Schatzes war das Zeichen für Atomkraft! Wie aber hatte der Prophet der Moks vor so vielen hunderten Jahren davon wissen können?
Gespannt schaute sie M. de Sel an. Würde er die Prophezeiung jetzt immer noch für unwichtig halten? Sie selbst vertrat ja grundsätzlich auch seinen Standpunkt, was Prophezeiungen anging. Aber je länger sie in die Sache der Moks verwickelt war, umso mehr kam ihr normales Weltbild ins Wanken und umso mehr fragte sie sich, wie sehr die Prophezeiung der Moks doch stimmte? War das Leben der Menschen nicht vielleicht doch vorher bestimmt? Und falls ja, konnten die Menschen damit auch wirklich ihre Zukunft vorher sagen? Oder interpretierten sie im Nachhinein nur alle Zeichen so, dass es zur jeweiligen Weissagung passte?
Jenny war sich über diese Fragen mit einem Mal sehr unsicher. Das einzige, was sie sicher wusste, war erstens, dass sich bisher nicht alles, was in der Prophezeiung stand, wirklich erfüllt hatte oder zumindest nur in einer sehr übertragenen Weise. Und das war zweitens, dass manche Dinge aus der Prophezeiung tatsächlich erschreckend richtig waren!
Wenn Jenny richtig überlegte, war vielleicht die Lösung zwischen beiden Aussagen, dass die groben, wichtigen Linien vorher bestimmt waren, die Details aber von der jeweiligen Situation oder dem Handeln des Einzelnen abhing?
Aber wenn es wirklich so war, dachte Jenny weiter nach, musste es dann nicht auch jemanden geben, der diese groben Linien vorher bestimmte? Gab es also einen Gott, der an unserem Schicksal interessiert war? Und gab uns dieser Gott wirklich Möglichkeiten an die Hand, unser Schicksal in Worten und Zeichen vorherzusehen und es auch handelnd zu verändern?
"Jenny träumt mal wieder!" sagte Tom. "Dabei stehen wir gerade kurz davor, die Prophezeiung zu verstehen!"
"Ich auch", sagte Jenny. "Aber die letzte Frage, ob es einen Gott gibt, oder nicht, werden wir wohl nicht in diesem Leben heraus bekommen!"
"Hm?" fragte Tom irritiert. "Was hat denn Gott mit der Prophezeiung zu tun?! Nein, wir fragen uns, ob es eine Verbindung von den Nuklearanlagen in Tricastin und Marcoule zu der atomaren Bedrohung der Moks gibt. Emmeline hat gerade gesagt, dass die Anlage in Marcoule vor ungefähr fünfzig Jahren zur militärischen Nutzung der Kernenergie gegründet wurde. Inzwischen wurde dieser Teil zwar wieder geschlossen. Aber vielleicht wird sie jetzt wieder heimlich genutzt, und Onk Ark und seine Auftraggeber stecken in der Sache mit drin?"
"Meinst du damit etwa, dass in Marcoule eigens für die Ausrottung der Moks jetzt wieder Atomwaffen hergestellt werden werden?" fragte Jenny. "Das ist doch wohl völlig übertrieben. Wir sind hier nicht in einem abgeschmackten Actionfilm, sondern in der Realität!"
"Das sehe ich genauso", sagte Fréderic. "Die Bezüge, die ihr durch die Prophezeiung von den Moks zu den Atomkraftanlagen herstellt, sind meiner Meinung nach völlig willkürlich. Aber selbst wenn ihr in der Sache auf der richtigen Spur seid und in Tricastin und Marcoule irgendwelche schmutzigen Geschäfte mit Onk Ark gemacht werden, frage ich mich, was das mit den Moks zu tun hat? Meint ihr etwa, dass sich Onk Ark an den Moks mit Atomwaffen rächen will? Völliger Unsinn! Wahrscheinlich dreht er irgendwelchen Dinge mit seinen Auftraggebern, die keinerlei Zusammenhang mit den Moks haben!"
"Onk Ark ist nur ein kleines Licht in der Sache", sagte Tom. "Es geht doch nicht darum, was Onk Ark gegen die Moks vorhat, sondern was seine Auftraggeber mit den Moks vorhaben. Was glauben Sie denn, Emmeline, was mit Onk Ark und den Moks im Gange ist?"
"Ich glaube an verborgene Mächte und an die Prophezeiung", sagte Mme de Sel. "Das liegt an meinem Charakter, der empfänglich für Wunderbares ist. Aber du darfst Fréderic keinen Vorwurf machen, wenn er es nicht tut. Er hat nicht wie du und ich schon Engel gesehen. Oder war es bei dir eine kleine Elfe oder auch ein boshafter Trenk?"
Tom schwieg betroffen. Er hatte noch nie einen Engel oder eine Elfe gesehen und, was bitte, war ein Trenk? Seiner Meinung nach musste man nicht an solche märchenhaften Wesen glauben, bevor man an die Richtigkeit der Prophezeiung glauben konnte. Prophezeiungen waren seiner Meinung nach mystische Mathematik, genau so wie es in dem Science Fiction Roman Swosh-Size beschrieben war. Man brauchte nur die richtige Formel, dann konnte man auch die Zukunft berechnen. Und machten nicht viele anerkannte Wissenschaftler genau das? Modelle für die Zukunft zu berechnen?
"Ich glaube auf jeden Fall, dass es eine Verbindung zwischen den Moks und den Nuklearanlagen gibt, wenn die Namen in der Prophezeiung auftauchen ", fuhr Emmeline fort. Falls sie Toms Irritation wegen ihrer Bemerkung zu Engel und Elfen bemerkt hatte, ließ sie es sich auf jeden Fall nicht anmerken. "Man muss diese Verbindung nur finden. Vielleicht können euch die Pignons in der Sache weiter helfen. Sie sind in der Umweltbewegung sehr aktiv und engagieren sich in der Anti-Atombewegung. Vielleicht wissen sie bereits, ob es irgendwelche neuen Pläne zu Tricastin und Marcoule gibt?"
An ihren Mann gewandt fuhr sie fort: "Was hältst du davon, die Kinder morgen zu den Pignons ins Tal zu bringen? Die Pignons können ihnen sicher besser als wir helfen?!"
"Das ist eine sehr gute Idee, Emmeline!" sagte Fréderic, und Jenny hatte den Eindruck, dass er regelrecht erleichtert war, dass er sich nicht weiter mit Tom und Jenny über aberwitzige Prophezeiungen unterhalten musste. Außerdem würde er sich mit Tom und Jenny auch gleich das Problem mit den Moks vom Hals schaffen können.
"Bon", sagte er fröhlich. "Dann können wir jetzt endlich zum schönen Teil eures Aufenthalts hier übergehen: Lasst uns noch einen kleinen Abendspaziergang zu den Kätzchen machen. Danach können zeige ich euch die anderen Ställe und unseren großen Garten! Wenn wir Glück haben, können wir im oberen Teil noch die Sonne hinter den Bergen untergehen sehen!"

Am nächsten Morgen saßen Tom und Jenny auf einer Bank vor dem Haus der Pignons und warteten. Mme Pignon war mit den Melkmaschinen beschäftigt, ihr Mann war auf dem Feld und die älteste, vielleicht fünfzehnjährige Tochter, Mignon, stand in der Küche und kochte das Mittagessen. Der älteste Sohn war kurz nach ihrer Ankunft mit dem Motorrad davon gedüst, und die beiden jüngeren Kinder spielten im Garten und nahmen von ihnen nicht weiter Notiz. Offensichtlich waren sie es gewohnt, dass Fremde auf den Bauernhof kamen.
"Könntest du dir vorstellen, Bauer zu sein?" fragte Jenny Tom.
"Eher nicht", sagte Tom. "Die meisten Bauern heute arbeiten vor allem mit Maschinen. Selbst wenn sie draußen in der freien Natur sind, sitzen sie in riesigen, lauten Fahrzeugen. Der Hof der de Sels hat mir allerdings gut gefallen, so wild und natürlich. Aber das lag wahrscheinlich daran, dass ihn die de Sels nur noch wenig bewirtschaften."
"Wenn du mit wild den ganzen Müll im hinteren Teil des Gartens der de Sels meinst, hast du sicherlich Recht", sagte Jenny und dachte dabei an ihren gestrigen Abendspaziergang. Der Garten der de Sels war wirklich wild gewesen, inklusive des Mülls, der dort lag. "Ich frage mich, warum sie die ganzen Auto-Schrottteile und alten Maschinen nicht entsorgen oder wenigstens in einen Schuppen stellen?"
"Vielleicht sind die Schuppen schon alle voll?" mutmaßte Tom. "Trotzdem war das Grundstück der de Sels toll! Allein schon die Aussicht! Hier dagegen im Tal scheinen die Berge einen eher zu erdrücken. Und jedes Eckchen vom Hof scheint hier seinen Nutzen zu haben."
"Wollt ihr ein Glas frisch gemolkener Milch?" Mignon war hinter sie getreten und hielt ihnen zwei volle Milchgläser hin.
Jenny hätte am liebsten abgelehnt. Sie fand es eklig, Milch sozusagen direkt aus dem Euter der Kuh zu trinken. Aber es war sicher sehr unhöflich, diese nette Geste abzulehnen. Sie nahm Mignon deshalb dankend ein Glas ab und trank ein paar Schlucke. Die Milch schmeckte wie vermutet stark nach Kuh, war dick und fettig, und Jenny hätte ihr eine ultrahocherhitze Milch tausendmal vorgezogen. Trotzdem trank sie das Glas tapfer leer und sagte: "Mmh lecker!"
Mignon nickte und sagte dann unvermittelt: "Ist es nicht aufregend, im Zentrum der Mok-Prophezeiung zu stehen und gefährliche Aufträge zu erledigen?"
"Woher weißt du das?" fragte Tom erstaunt.
"Die de Sels haben doch gestern bei uns angerufen und uns von euch erzählt", sagte Mignon.
"Ach so", sagte Tom. "Aber dann haben sie euch sicher auch erzählt, dass es weniger aufregend als anstrengend und nervenaufreibend ist?!"
"Und du?" wandte sich Mignon an Jenny. "Findest du eure Mission nicht abenteuerlich?"
Als Jenny fragend die Stirn kräuselte, erklärte Tom: "Jenny versteht nicht so gut französisch."
"Dann lasst uns deutsch reden", sagte Mignon auf deutsch. "Ich war ein Jahr in Deutschland als Austauschschülerin. In Köln. Kennt ihr Köln?"
"Nicht wirklich", sagte Jenny. "Ich war mal dort, erinnere mich aber nur an den Dom."
"Köln ist toll!" sagte Mignon. "Die Leute sind dort sehr freundlich und in der Stadt war viel los."
"Hatten deine Eltern gar nichts dagegen, dass du ein ganzes Jahr weg bist?" fragte Jenny erstaunt.
"Zuerst schon", sagte Mignon, "vor allem, weil ich dann nicht mehr auf dem Hof helfen konnte. Aber dann haben sie eingesehen, dass ich ein anderes Leben leben möchte als sie."
"Und danach war deine Austauschschülerin auch ein Jahr hier?" fragte Tom.
"Nein", sagte Mignon. "Als sie hörte, dass meine Eltern Bauern sind und wir nur in einem kleinen Dorf ohne öffentliche Verkehrsmittel wohnen, wollte sie nicht mehr herkommen. Aber ich war nicht traurig darüber. Denn ich habe mich überhaupt nicht gut mir ihr verstanden. Sie war eine Zicke. Wollte immer nur Shoppen gehen und sich die Nägel lackieren. Und als wir bei einem Schulausflug über eine Wiese liefen, hat sie die ganze Zeit geschrieen, dass sie das wegen der vielen gefährlichen Krabbeltiere nicht überleben würde. Also, sie war wirklich nichts für mich. Bald werden übrigens Papa und Mama kommen. Helft ihr mir beim Tischdecken?"
Tom und Jenny nickten und unterhielten sich beim Tischdecken mit Mignon über dies und das. Jenny war erstaunt, dass sich Mignon für die ähnlichen Dinge wie sie selbst interessierte, obwohl sie rein äußerlich ein ganz anderes Leben führte. Es tat gut, nach so vielen Tagen mit einem fast gleichaltrigen Mädchen zwanglos reden zu können und ein paar Minuten mal nicht an die Moks und ihre Probleme denken zu müssen!

Wenig später saßen Tom und Jenny mit der Familie Pignon an einem großen Esstisch in einer schlichten, weiß getünchten Küche und ließen sich den Eintopf aus Kohl, Kartoffeln und magerem Speck mit Linsensalat schmecken.
Mme Pignon war eine schlanke, junge Frau mit schwarzen, lockigen Haaren und einer selbstbewussten Ausstrahlung. Ihr Mann war eher untersetzt, hatte einen großen Kopf und einen breiten Mund. Obwohl man sah, dass er ein zupackender, pragmatischer Mann war, wirkte er mit seinem Kapuzenpullover, den Jeans und seinen zum Zopf zusammen gebundenen braunen Haaren auf Jenny eher wie ein Vertrauenslehrer als wie ein Bauer.
Nachdem alle gegessen hatten, die kleinen Kinder wieder aufgestanden und auch Mignon nach draußen gegangen war, sagte M. Pignon: "Es war eine gute Entscheidung der de Sels, euch hier her zu bringen. Wenn die Angelegenheiten der Moks tatsächlich etwas mit den Nuklearanlagen in Tricastin und Marcoule zu tun haben, müssen wir möglichst schnell einen Protest unter den Bauern organisieren!"
"Was denn für einen Protest?" fragte Tom irritiert. "Wogegen denn?"
"Gegen Atomkraft natürlich!" sagte M. Pignon. "Hier in der Region gibt es mittlerweile über 100 Bauern, die sich unserer Organisation Gesunde Landwirtschaft angeschlossen haben. Wir haben die Organisation gegründet, nachdem unser Bauernführer 2008 wegen des Genmaises in Hungerstreik getreten ist. Die meisten Bauern in Frankreich protestieren zwar vor allem dann, wenn ein größerer kommt und ihre eigene Ernte mit niedrigen Preisen kaputt macht. Aber wir hier vor Ort haben uns auf ökologische Probleme spezialisiert. Das ist zwar noch nicht sehr populär, aber auch wir werden immer mehr."
"Aha", sagte Tom, immer noch verwirrt, "Ich verstehe trotzdem nicht, was Ihre Organisation mit den Moks zu tun hat?"
"Ich denke, die Moks sind durch Tricastin und Marcoule atomar bedroht?" sagte M. Pignon ein wenig ungeduldig. "Und wenn das so ist, dann sind wir es und unsere Felder erst recht! Denn wir wohnen genau zwischen den Moks und den Nuklearanlagen! Wenn es also hier Probleme mit Radioaktivität gibt, will niemand mehr unsere Rüben und Mais kaufen."
"Aber wir wissen doch gar nicht sicher, ob die Moks durch die Anlagen in Tricastin und Marcoule bedroht sind!" sagte Tom und wunderte sich gleichzeitig, dass er genau das Gegenteil davon gestern M. de Sel gegenüber behauptet hatte. "Zumindest nicht so sicher, dass man gleich einen Bauernprotest organisieren sollte! Das mit der atomaren Gefahr kam uns nur in den Sinn, weil Tricastin und Marcoule in der Prophezeiung vorkommen."
"Das reicht mir als Grundlage zum Handeln aus", sagte M. Pignon bestimmt. "Wenn es in der Prophezeiung steht, muss es von den Moks in dieser Richtung einen starken Verdachtsmoment geben! Denn euch ist doch wohl klar, dass die Prophezeiung keine religiöse Weissagung, sondern eine klare politische Handlungsanweisung ist?!"
"Was?" fragte Tom. "Ich verstehe überhaupt nicht, was Sie sagen! Was denn für politische Anweisungen?"
"Die Moks sind politische Konflikte, wie wir sie täglich erleben und leben, nicht gewohnt", erklärte M. Pignon. "Sie haben auch keine politisch ausgeklügelte Sprache wie wir. Ihr Denken und Sprechen ist viel klarer und direkter. Statt unseren politischen Reden haben die Moks Weissagungen oder Orakelsprüche. Wenn das Oberhaupt also zum Beispiel etwas sagen möchte, gibt er keine Regierungserklärung ab oder lässt seinen Pressesprecher etwas in die Kamera faseln wie wir, sondern er verschlüsselt seine Botschaft in einer Prophezeiung. Eure Aufgabe war es nun, die Sprache der Moks in unsere zu übersetzen. Und das scheint euch sehr gut gelungen zu sein, zumindest, wenn ich denke, was ihr bisher heraus bekommen habt!"
"Sie vergessen, dass die Prophezeiung viele hundert Jahre alt ist", sagte Tom. "Das, was wir wissen, hat uns nicht das heutige Oberhaupt der Moks verschlüsselt mitgeteilt, sondern der Gründer der Moks. Woher soll Tor denn damals von der Gefährlichkeit von Tricastin und Marcoule für uns heute gewusst haben?"
"Bist du dir sicher, dass die Prophezeiung wirklich alt ist?" stellte M. Pignon Tom eine Gegenfrage, und Tom glaubte in M. Pignons Augen ein ironisches Lächeln blitzen zu sehen. "Hast du wirklich überprüft, ob dir eine tausend Jahre alte Weissagung vorgelesen wurde?"
Tom schüttelte den Kopf. Nein, das hatte er nicht. Wie hätte er das auch überprüfen können?
"Siehst du!" sagte M. Pignon. "Das ist der Punkt! Das Oberhaupt der Moks weiß etwas und teilt dieses Wissen in der Tradition der Moks über eine Prophezeiung verschlüsselt mit. Vielleicht wissen ein paar Moks um das Oberhaupt mehr, als sie zugeben wollen, vielleicht haben sie auch nur etwas bemerkt, das sie selbst nicht verstehen. Vielleicht haben sie beispielsweise einen ihrer Agenten in Tricastin oder Marcoule eingeschleust? Vielleicht sitzt Kart Orkid deshalb hinter Gittern? Wir wissen es nicht. Was wir aber wissen, ist, dass sie Hilfe brauchen und dass in Marcoule und Tricastin irgendetwas am Gange ist, was die Moks bedrohlich finden!"
"Kart Orkid hat uns aber schon ausgesucht, bevor er verschwunden ist", bohrte Tom nach. Er wollte nicht glauben, dass die Prophezeiung nur so etwas wie ein aktuelles Pressepapier von Pok Alk, dem Oberhaupt der Moks, war: "Und warum sind ausgerechnet wir von Kart Orkid ausgesucht worden? Wenn es die Prophezeiung so gar nicht gibt, hätte es auch jeden anderen treffen können."
"Sicher!" sagte M. Pignon. "Aber in dem Fall würde dann hier jetzt eben ein anderer sitzen und uns womöglich fragen, warum gerade er ausgesucht wurde. Ich habe keine Ahnung, was Kart Orkid an euch gefallen hat. Vielleicht wollte er jemanden aus dem Ausland haben, damit die Polizei länger zum Reagieren braucht, falls es unangenehm werden würde? Vielleicht hat er euch auch so nett gefunden, dass er euch einen Urlaub nach Frankreich spendieren wollte? Sicher scheint mir aber zu sein, dass er als Vermittler Kinder haben wollte. Wir Bauern sind zwar mit ihnen befreundet, aber sie haben uns nie richtig vertraut oder hatten immer auch ein bisschen Angst vor uns. Wir durften zum Beispiel nie ihre Höhle betreten. Vor euch Kindern haben sie dagegen allein schon wegen eurer kleinen Größe und eurer fehlenden Erfahrung keine Angst. Sie können euch deshalb auch viel besser manipulieren. Ihr werdet alles viel leichter schlucken, was sie euch sagen, als wir Erwachsenen! Und offensichtlich habt ihr ja auch die Prophezeiung für bare Münze gehalten!"
Tom wurde schlecht. Wenn das stimmte, was M. Pignon sagte, waren sie den Moks auf den Leim gegangen! Dann waren sie nichts weiter als Werkzeuge der Moks, die die Haut der Moks retten sollten! Und in dem Fall riskierten die Moks sehenden Auges, dass ihm und Jenny womöglich etwas passierte! Denn, wenn es tatsächlich stimmte, dass die Prophezeiung nur eine Art politische Handlungsanleitung der Moks war, wussten die Moks oder besser gesagt Pok Alk, nicht wirklich, ob Jenny und Tom aus der Sache heil raus kommen würden, wie in der Prophezeiung behauptet wurde! Dann stand der Absatz aber in Trümmern wird To-Am und Jen-Yi das Licht der Hoffnung tragen und nicht erlöschen lassen in der Prophezeiung wahrscheinlich nur drin, um sie zu beruhigen!
Doch das alles war noch nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war, dass er selbst, Tom, Jenny völlig blauäugig in die Sache mit hinein gezogen und in Gefahr gebracht hatte!
Jenny bemerkte, dass Tom weiß geworden war und fragte: "Was ist denn mit dir los? Was hat M. Pignon gesagt?"
Tom schüttelte den Kopf. Er wusste nicht, was er Jenny in diesem Moment sagen konnte. Er konnte ihr nicht sagen, dass sie, oder vor allem er, den Moks wahrscheinlich auf den Leim gegangen waren. Und er wollte ihr auch keine Angst machen, dass sie womöglich in Gefahr waren.
"Du hast die Kinder mit deinen Reden völlig überfordert", rügte Mme Pignon ihren Mann. "Du hättest ihnen die Hintergründe der Prophezeiung behutsamer beibringen müssen."
"Die Wahrheit ist immer schmerzlich", sagte M. Pignon. "Außerdem haben wir für lange Erklärungen keine Zeit."
"Du hast es vom falschen Ende her angefangen", beharrte Mme Pignon. "Du hättest ihnen zuerst sagen sollen, dass sie bei uns in Sicherheit sind. Und du hättest ihnen sagen müssen, dass ihre Arbeit nun vorbei ist und wir sie morgen nach Aurillac bringen, um sie in ihren Zug nach Hause zu setzen."
Nach Hause? Tom atmete erleichtert auf. Sie sollten morgen wirklich nach Hause fahren? Gestern hätte er von so einer plötzlichen Rückreise nichts hören wollen. Doch jetzt, in diesem Moment, war es das Beste, was er hören konnte. Er hatte Jenny in eine gefährliche Sache reingeritten. Und er wollte sie so schnell wie möglich wieder in Sicherheit wissen! Wenn sie morgen nach Hause fahren würden, hatten sie glücklicherweise nichts mehr zu befürchten. Dann war es nicht ganz so schlimm, dass er Jenny mit hier her gebracht hatte. Zu Hause konnte er ihr alles in Ruhe erklären und vielleicht würden sie dann einfach nur noch über die ganze Sache lachen!
Er drückte Jennys Hand und sagte: "Stell dir vor: Morgen dürfen wir wieder nach Hause fahren!"
"Was?!" Jenny zog ihre Hand weg. "Warum denn das? Wir sind doch gerade mitten drin in der Sache! Wir sind doch gerade dabei, des Rätsels Lösung zu entdecken! Und da sollen wir nach Hause fahren? Das kommt gar nicht in Frage! Jetzt, wo es spannend wird, und wir Erwachsene haben, die uns helfen, möchte ich ganz sicher nicht aufhören! Außerdem steht in der Prophezeiung, dass wir bis zum Schluss dabei bleiben müssen! Das hast du selbst doch immer wieder zu mir gesagt!"
"Ja", sagte Tom schwach. "Aber M. Pignon hat mir Dinge gesagt, die alles ändern."
"Was denn für Dinge?" fragte Jenny aufgebracht. "Was sollen sie denn an der Prophezeiung ändern? Was ist denn überhaupt mit dir los?"
"Ich erkläre es dir später", sagte Tom und sah Jenny so eindringlich an, dass sie tatsächlich schwieg.
"Was genau steht in der Prophezeiung?" fragte M. Pignon, als er sah, dass Tom Jenny wieder einigermaßen beruhigt hatte. "Es wäre gut, wenn ihr uns den ganzen Text mitteilt, bevor ihr wieder nach Hause fahrt."
Tom nickte und zitierte mehr oder weniger mechanisch die auswendig gelernte Prophezeiung:

Im Jahre zweitausend und X wird eine schwarze Wolke über unseren Stamm einbrechen.
Gelenkt von der zerfressenden Neugier,
getrieben von unwürdigem Gold.
Leben wird nicht euer neuer Fürst sein,
wenn die Wolke kommt und nicht vorüber zieht.
Das Beben wird so stark sein im Monat August, dass Saturn, Steinbock, Jupiter, Merkur im Stier sich in ihre Gefilde zurück ziehen werden.
Auch Venus, Krebs, Mars.
Die Freundschaft wird verunreinigt durch Streit,
den Hass suchend, der ganze Glaube verdorben und die Hoffnung, Rochefort, ohne Einsicht.
Der Bogen des Schatzes wird
durch Tricastin und Marcoule offenbart
die Vorfahren kannten die Zeichen noch.
Einer, der auszog, wird aufgehängt
für die Augen der Öffentlichkeit.
Und dann wird gelber Hagel fallen, größer als ein Ei.
Der Feind wird gepackt und in den Bottich getaucht,
mit Gewalt vergiftetes Schwefelwasser trinken.
Doch Feuer, Flamme, Hunger, Betrug, zerquetschendes Ende
werden verhindert, wenn aus den fernen Landen To-Am und Jen-Yi Große für Kleine, Junge für Alte
sich der Hinterlist entgegen werfen,
die Neugierde zerschlagen und den Glauben niedermähen.
Häuser, Burgen, Paläste werden nieder gerissen,
aber in Trümmern wird To-Am und Jen-Yi das Licht der Hoffnung tragen und nicht erlöschen lassen.
Das neue Schiff wird die Reisen wieder aufnehmen
Sie werden die Gaststätten zurückbekommen,
in der Nähe zwei Säulen aus Porphyr erbaut.

Tom hatte sich mit jedem Wort, das er ausgesprochen und an die Pignons weiter gegeben hatte, freier gefühlt. Jetzt war er die Prophezeiung und den Auftrag der Moks los! Jetzt konnten sich die Pignons und ihre befreundeten Bauern weiter um die Belange der Moks kümmern!
Er seufzte erleichtert auf und bemerkte erst jetzt, wie sehr ihn die Verantwortung die ganzen letzten Wochen eigentlich belastet hatte.
Jenny dagegen machte ein beleidigtes, reserviertes Gesicht. Die Nachricht, morgen abzureisen und aus dem Fall offensichtlich raus zu sein, schien ihr nicht zu gefallen. Komisch eigentlich. Hatte nicht sie ihm immer wieder Vorhaltungen gemacht, dass sie lieber nach Hause gehen als sich um die Moks kümmern wollte?!
War das etwa nur Show gewesen, um sich wichtig zu machen? Wollte sie ihn einfach damit ärgern? Oder hatte sie ihre Meinung in den letzten Tagen tatsächlich geändert, weil sie jetzt immer näher an des Rätsels Lösung kamen?
"Das hört sich wirklich alles sehr verschlüsselt an", riss M. Pignon Tom aus seinen Gedanken. "Aber durch eure Hilfe scheint mir doch klar zu sein, was die Prophezeiung bedeutet: Irgendwelche atomaren Geschäfte in Tricastin und Marcoule werden irgendwem sehr viel Geld einbringen. Die Moks sollen dabei wahrscheinlich durch Geld bestochen werden, um bei den atomaren Geschäften mitzumachen, weshalb es zu Streit unter den Moks kommt. Sehr wahrscheinlich gehört Onk Ark bereits zu denjenigen, die gekauft wurden. Und sehr wahrscheinlich sollen alle Moks, die sich nicht kaufen lassen wollen, mit Gewalt vergiftetes Schwefelwasser trinken, was soviel bedeutet, sich verstrahlen zu lassen!"
"Jetzt lass mal die Kirche im Dorf!" sagte Mme Pignon bestimmt. "Ich glaube nicht, dass irgend jemand die Moks verstrahlen möchte! Welchen Nutzen sollte das denn haben? Wir müssen uns eher überlegen, welche atomaren Geschäfte die Moks eigentlich in ihrer Prophezeiung meinen?! Die Nuklearanlagen in Tricastin und Marcoule gibt es bereits. Also bringen sie ohne ein neues Geschäft nicht plötzlich neues Geld ein. Was aber könnte das dann für ein neues Geschäft mit der Radioaktivität sein? Und vor allem: Warum sollen ausgerechnet die Moks bei diesen Geschäften von Nutzen sein?"
"Neue Atomtests", überlegte M. Pignon. "Vielleicht will Frankreich nach fast zwanzigjähriger Pause wieder Atomtests einführen? Nur dieses Mal eben nicht in der afrikanischen Wüste oder im Südpazifik, sondern in der Höhle der Moks?!"
"Niemals!" sagte Mme Pignon. "Solche Tests Mitten in Frankreich durchzuführen, wäre der reinste Wahnsinn! Denn selbst wenn sie die Tests in der Höhle der Moks unterirdisch machen würden, wäre es viel zu riskant, damit unsere ganze Region radioaktiv zu verseuchen! Außerdem kosten solche Tests mehrere Millionen Euro. Kein gutes Geschäft also. Nein, wir müssen in eine andere Richtung denken. Vielleicht gibt uns der gelbe Hagel in der Prophezeiung einen Hinweis? Welches Bild passt in dem Zusammenhang zu gelbem Hagel?"
"Radioaktiver Müll!" platze Tom auf deutsch heraus. "Radioakiver Müll wird in Deutschland in gelbe Fässern verpackt!"
"Was denn für radioaktiver Müll?" fragte Jenny, die im Gegensatz zu M. und Mme Pignon, nun endlich wieder etwas von der Unterhaltung verstand. "Wovon redet ihr eigentlich die ganze Zeit?"
"Die Pignons glauben, dass in Tricastin und Marcoule irgendein neues atomares Geschäft abgewickelt werden soll, das mit gelbem Hagel zu tun hat", klärte Tom Jenny auf. "Ich habe vermutet, dass der gelbe Hagel vielleicht mit gelbem Fass übersetzt werden kann. Was aber wird bei uns in gelbe Fässer verpackt? Radioaktiver Müll."
"Mit dem Unterschied, dass die gelben Fässer nicht vom Himmel fallen", gab Jenny zu Bedenken. "Aber immerhin ist auf jedem Fass das Atomkraftzeichen! Das schwarze Zeichen auf gelbem Grund!"
"Was ist los?" fragte Mme Pignon.
Tom und Jenny schienen etwas Wichtiges bemerkt zu haben.
Tom übersetzte ihnen ihren Gedankengang und diskutierte mit den Pignons, ob mit gelbem Hagel wirklich gelbes Fass gemeint sein konnte.
Da Jenny ohnehin nichts von ihrer Unterhaltung verstand, überlegte sie inzwischen, an welches Bild sie die gelben Fässer erinnerten? Hatte es nicht etwas mit den Nachrichten in Deutschland zu tun? Doch! Sicher!
Nach und nach entstanden vor Jennys innerem Auge Bilder mit protestierenden Bauern, Demonstranten, aufgehaltenen Zügen und in Neonlicht getauchte unterirdische Schächte. Und nach und nach ahnte Jenny, wozu die Höhle gut zu gebrauchen war ...
"Radioaktiver Müll ist aber auch sehr teuer und sicher keine Geldquelle!" überlegte Mme Pignon gerade.
"Kommt darauf an, für wen ...", M. Pignon wiegte nachdenklich mit dem Kopf. "Diejenigen, die den Müll entsorgen oder ins Ausland verschieben, werden wohl ziemlich viel Geld damit verdienen."
"Mag sein", sagte Mme Pignon. "Aber auch das ist nichts Neues. Und ich verstehe nicht, was das mit den Moks zu tun haben soll. Wir müssen weiter nach etwas anderem suchen!"
"Endlager! Höhle! Die Moks!" platzte Jenny unvermittelt auf deutsch dazwischen. "Tom! Die wollen die Höhle der Moks als Endlager für ihren radioaktiven Müll haben! Die Höhle ist ein idealer Ort, den Müll heimlich verschwinden zu lassen! Niemand kennt die Höhle, also wird auch niemand protestieren! Und die Fässer werden tatsächlich wie gelber Hagel auf ihre Köpfe fallen, wenn sie in die Höhle geworfen werden!"
Tom starrte Jenny entsetzt an und in seinem Kopf ratterten die Gedanken in Höchstgeschwindigkeit alle an die richtige Stelle. Ja tatsächlich passte so alles zusammen! Zuerst die gelben Fässer mit dem schwarzen Zeichen, dann die wirkliche Bedrohung der Moks, die ihr Zuhause für ein Endlager würden räumen müssen, und nicht zuletzt die Rolle von Onk Ark, der womöglich die Höhle verraten und so seine Auftraggeber erst auf die Idee eines Höhlen-Endlagers gebracht hatte! Nur Kart Orkids Rolle erklärte sich dadurch nicht von allein. Warum war er im Gefängnis? Hatte er die Pläne des Endlagers durchkreuzen wollen, oder war es aus einem ganz anderen Grund dort?
Obwohl Tom nach M. Pignons vorigen Ausführung zur Prophezeiung und seiner und Jennys unangenehmer Rolle darin die Moks jetzt mit zwiespältigen Gefühlen ansah, hatte er nun doch auch Mitleid mit ihnen! Die Gefahr, vor der die Moks Jahrhunderte lang Angst hatten, nämlich entdeckt und vertrieben zu werden, war nun greifbar nahe! Zumindest dann, wenn alle ihre Vermutungen wirklich richtig waren ... Im Vergleich dazu, war die Gefahr, in die die Moks Tom und Jenny gebracht hatten, sehr klein.
"Sie möchten wissen, was ich dir gerade über das Endlager gesagt habe", Jenny stupste Tom und nickte in Richtung Pignons.
Tom übersetzte und Mme Pignon rief: "Ihr habt Recht! Das könnte es sein! Das passt! Wahrscheinlich soll tatsächlich der ganze radioaktive Müll von Tricastin und Marcoule in der Höhle gelagert werden! Philippe, stell dir vor, in unsere Nähe käme wirklich ein Endlager! Niemand würde mehr unser Gemüse und Getreide kaufen. Alle werden davon ausgehen, dass es verstrahlt ist. Selbst dann, wenn man keine höheren Werte an Radioaktivität auf unseren Feldern messen kann!"
"Ich glaube, darüber brauchst du dir erst mal keine Sorgen zu machen", sagte M. Pignon grimmig. "Denn, wenn sie es heimlich machen, wird es ja niemand erfahren. Der wirtschaftliche Schaden wäre also gleich null. Jenny hat Recht! Die Höhle der Moks als Endlager wäre wirklich die optimale Lösung für Frankreich! Wenn ich denke, dass ihr in Deutschland seit über dreißig Jahren Probleme habt, ein geeignetes Endlager zu finden und die Bauern in der Umgebung von Anfang an gegen die Endlagerung des radioaktiven Mülls in Gorleben protestiert haben, kann ich mir sehr gut denken, dass die Regierung hier keine Lust auf die gleiche politische Zerreißprobe hat!"
"Gibt es hier denn noch kein Endlager?" fragte Tom erstaunt.
"Nein", sagte M. Pignon. "Hier gibt es zwar Wiederaufbereitungsanlagen, aber noch kein Endlager. Das sollte erst 2025 eröffnet werden. Bis dahin drücken sich die Franzosen vor diesem riesigen Problem."
"Das heißt, sie verschieben ihren atomaren Restmüll nach Sibirien und leiten ihn tonnenweise in den Atlantik!" ergänzte Mme Pignon die Ausführungen ihres Mannes.
"Da ist es ja in Deutschland noch besser!" sagte Tom. "Wir setzen uns wenigstens mit unserem Müll auseinander!"
"Ihr Deutschen seid politisch sicher grüner als wir", sagte M. Pignon, "Aber in Wirklichkeit werden die Probleme mit dem Atommüll auch in Deutschland nicht wirklich gelöst. Auch in Deutschland wird der Atommüll nur von einem Ort zum anderen verschoben! Und auch die Deutschen produzieren weiterhin Atommüll. Genauso wie die meisten anderen Europäer auch. Der Atommüll ist kein französisches, sondern ein europäisches Problem!"
"Ein weltweites Problem!" sagte Mme Pignon. "Und vor allem ein Problem, das wir alle nicht bewältigen können!"
Tom stöhnte. Mme Pignon hatte Recht. Der radiokative Müll war ein Problem, das der Mensch zwar geschaffen hatte, aber nicht mehr los wurde. Allein schon die Strahlungsdauer des Mülls übertraf die menschliche Vorstellungskraft: 200.000 Jahre!
Und plötzlich fühlte sich Tom müde, sehr müde. Es war wirklich gut, dass die Pignons entschieden hatten, dass er mit Jenny morgen nach Hause fahren würde. Denn was konnte er hier noch ausrichten? Nichts! Zu Hause konnte er dagegen wenigstens wieder ein ganz normaler Junge sein. Und wenn er Glück hatte, würde Jenny mit ihm sogar den Rest der Ferien verbringen und ihm die Gelegenheit geben, ihr zu zeigen, wie man auch ohne Streichhölzer Feuer entfachen konnte ...
Obwohl, was war das Entfachen eines kleinen Feuers schon Wert angesichts der Probleme hier?
"Was ist denn jetzt mit den Moks?" fragte Jenny. "Was passiert mit ihnen, wenn die Höhle zum Endlager wird?"
Tom zuckte als Antwort mit den Schultern. Doch Jenny ließ sich damit nicht abspeisen. Als sie ihre Frage wiederholte, horchte M. Pignon bei dem Wort "Mok" auf und sagte: "Richtig, die Moks! Wir können zwar nicht den Lauf der Welt verändern und die Misere der Atomindustrie rückgängig machen. Aber wir können versuchen, das Schlimmste vor unserer eigenen Haustür zu verhindern! Wir dürfen im Kleinen nicht müde werden, auch wenn wir das Große nicht schaffen können! Unsere direkten Nachbarn, die Moks, sind bedroht. Wir müssen verhindern, dass sie vertrieben werden! Wir müssen verhindern, dass hier in der Nähe ein Endlager entsteht und unsere Felder verstrahlt werden! Wenn uns das gelingt, haben wir vielleicht genug Kraft, auch zu verhindern, dass immer weiter Atommüll produziert wird!"
Tom war froh, dass M. Pignon eine ganz andere Antwort gegeben hatte, als er es getan hätte. Sein Antwort wäre vielmehr gewesen: "Jenny, die Moks sind für uns Geschichte, es gibt keine Prophezeiung und wir wurden verarscht, die Moks werden wahrscheinlich ihren Lebensraum verlieren und die Menschen hier ein Endlager vor die Füße bekommen. Lass uns heimgehen!"
So aber konnte er Jenny die kleine, feurige Rede von M. Pignon übersetzen und Jenny weiter guten Gewissens verheimlichen, dass sie gar nicht wirklich auserwählt gewesen waren, die Moks zu retten. Würde er das Jenny überhaupt jemals erzählen? Eher nicht.
Jenny schien die Rede von M. Pignon zu gefallen, denn sie nickte zustimmend. Wenn es nach ihr ginge, würde sie sicher beim Bauernprotest mitmachen. Tom war sich sicher, dass er noch einige Überzeugungsarbeit leisten müsste, Jenny morgen wirklich in den Zug zu bekommen ...
"Fangen wir gleich heute mit der Organisation unseres Widerstands an!" sagte Mme Pignon und stand auf. "Während du heute nachmittag auf dem Feld bist, schreibe ich gleich allen unseren Mitgliedern von Gesunder Landwirtschaft und bitte sie, morgen nur das Notwendigste auf ihrem Hof zu machen. Und sobald wir morgen Tom und Jenny auf ihren Zug gebracht haben, setzen wir uns mit den anderen zusammen und überlegen, welche Schritte wir unternehmen müssen! Gemeinsam wird uns sicher etwas einfallen, das Endlager in der Höhle der Moks zu verhindern!"

Auf dem Parkplatz vor dem Bahnhof in Aurillac stand ein dunkler Mercedes, in dem zwei Männer saßen: Martin Brunner und Cédric Moulin vom Europäischen Geheimdienst Direction Europain de la Securite (DES). Martin Brunner hatte sorgfältig eine Serviette auf seiner Hose ausgebreitet und biss in ein belegtes Baquette. Cédric Moulin trommelte ungeduldig mit den Fingern aufs Lenkrad und schaute angestrengt durchs Fenster.
"Ich hoffe, es stimmt, was der kleine Knirps von den Pignons gestern gesagt hat, und Tom Salzig und Jenny Limmer fahren heute tatsächlich wieder mit dem Zug nach Hause", sagte M. Moulin.
"Was heißt hier nach Hause?" sagte Martin Brunner und wischte sich die Krümel von der Hose. "Sie werden nie zu Hause ankommen. Schon vergessen?"
"Wie könnte ich?" sagte Cédric Moulin. "Ein Jammer, dass es noch Kinder sind. Andererseits: Was müssen sie sich in Angelegenheiten einmischen, die sie nichts angehen?"
"Richtig", sagte Martin Brunner. "Und zum Glück liegt das auch gar nicht in unserer Verantwortung, sondern in der des Chefs und des DES."
"Ich hoffe nur, der Plan klappt", sagte M. Moulin. "Wenn nicht, und die Kinder können auf sich aufmerksam machen, bevor sie in Sicherheit sind, haben wir ein Problem."
"Warum bist du so angespannt?" fragte M. Brunner. "Wo bleibt deine Professionalität? Natürlich klappt der Plan. Du steigst mit Tom und Jenny in den Zug, während ich zur verabredeten Stelle vor Puybrun fahre. Unter einem Vorwand lockst du sie in die präparierte, defekte Kabine am Ende des Zugs. Kurz vor Puybrun wird der Zug in der Kurve so langsam, dass du mir die Kinder aus der Kabinentür reichen, oder besser gesagt werfen, kannst. Den Rest erledige ich. Wir hatten schon weitaus schwierigere Aufträge. Wo liegt das Problem?"
Cédric Moulin presste schweigend die Lippen aufeinander und starrte weiter durchs Fenster.
"Da kommen sie!" sagte M. Brunner ruhig und deutete mit dem Kopf auf einen weißen Kleintransporter. Er wickelte den Rest seines Baquettes in die Serviette und legte es in das Handschuhfach.
"Am besten gehe ich, bevor sie mich sehen", sagte M. Moulin, machte die Autotür auf und stieg aus. "Bis später!"
"Wird schon schief gehen!" murmelte M. Brunner und beobachtete, wie Cédric sich möglichst unauffällig unter die anderen Reisenden mischte und dann im Bahnhof verschwand.
Die deutschen Kinder holten gerade ihre Rucksäcke aus dem Auto der Pignons. Das Mädchen sah irgendwie niedergeschlagen aus, so, als ob sie schon wüsste, was in den nächsten Stunden auf sie zukommen würde. Sie sagte kein Wort und reagierte auch nicht, als Mme Pignon ihr einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter gab. Auch der Junge schien kein Ausbund an Fröhlichkeit zu sein, aber immerhin unterhielt er sich mit den Pignons und lachte, als die älteste Tochter der Pignons etwas zu ihm sagte. Bald waren alle zusammen im Bahnhof verschwunden.
Er selbst würde warten, bis die Pignons wieder in ihr Auto stiegen und er sich sicher sein konnte, dass sie auch wirklich ohne Tom und Jenny davon fuhren. Dann hatte er nichts weiter zu tun, als nach Puybrun zu fahren und auf die Ankunft der Kinder zu warten.
Auch wenn Cédric heute nervös auf ihn gewirkt hatte, war er sich sicher, dass er seinen Job gut machen würde. Cédrics Fehlerquote lag bei unter einem Prozent. Andererseits waren seine Aufträge bisher auch nie besonders schwierig gewesen. Aber die beiden Kinder verschwinden zu lassen, war ebenfalls nicht besonders schwierig. Nicht schwieriger, als in einem Supermarkt zwei Kästen Sprudel zu klauen.
M. Brunner holte sein angebissenes Baquette aus dem Handschuhfach und wartete auf die Pignons. Nach etwa einer halben Stunde, M. Brunner wischte sich gerade wieder die Krümel von der Hose, kamen die Pignons ohne Jenny und Tom aus dem Bahnhof, stiegen in ihren Wagen und fuhren davon.
Als sie außer Sichtweite waren, ließ auch M. Brunner den Motor an und lenkte den Mercedes auf die Avenue de 4 Septembre, um von dort möglichst schnell auf die D120 zu kommen. Auch wenn er nicht allzu schnell würde fahren müssen, um zu der verabredeten Stelle vor Puybrun zu kommen, so durfte ihm doch nichts dazwischen kommen, um vor den Kindern dort zu sein. Kein Stau, kein Unfall und auch kein Lastwagen, der ihn stundenlang nicht überholen ließ.
Doch wie es zumindest jetzt aussah, hatte er Glück. Der morgendliche Stau war vorüber und die Straßen waren frei.
M. Brunners Gedanken schweiften ab zu seiner Frau, die sich von ihm scheiden lassen wollte, weil er zu wenig zu Hause war. Angeblich liebte sie ihn, aber genau deshalb wollte sie ihn mehr bei sich und weniger bei irgendwelchen Einsätzen haben. Wenn ihm seine Einsätze lieber wären als sie, hatte sie ihm gestern wieder einmal gesagt, dann müsste sie sich nach einen anderen umschauen, der ihrer Liebe würdiger war als er.
Aber wie konnte er öfters bei ihr sein? Die vielen Reisen brachten nun mal seine Arbeit beim DES mit sich. Das hatte seine Frau von Anfang an gewusst. Im Grunde wusste er nicht, worüber sie sich eigentlich aufregte. Außerdem brauchte sie sich gar nicht einzubilden, dass seine "Geschäftsreisen" das reinste Vergnügen für ihn waren. Das Gegenteil war der Fall. Meistens waren sie langweilig und zäh und außerdem gefährlich. Auch auf die Sache mit den Kindern hatte er keine allzu große Lust. Was hatte er auch davon, mindestens eine Woche lang in einer abgeschotteten Wohnung zu sitzen und auf die Kinder aufzupassen? Das einzig Gute daran war, dass er für die Kinder nicht zu kochen brauchte. Das würde Marie machen. Andererseits, fragte er sich, warum man die Kinder überhaupt versorgte? Würde man sie nach einer gewissen Zeit nicht sowieso unbemerkt verschwinden lassen müssen?
Er wusste zwar nicht, was man mit ihnen langfristig vorhatte. Aber er konnte sich nicht vorstellen, dass man die Kinder einfach wieder nach Deutschland zurück schicken würde können. Würden sie dort nicht alles ausplaudern?
Ein geeigneter "Unfall" der Kinder schien ihm weitaus sicherer für die Sache des DES zu sein. Und niemand würde bei so einem Unfall Verdacht schöpfen. Denn waren die Kinder nicht selbst schuld daran, wenn sie nicht, wie mit den Eltern verabredet, in ein Ferienlager fuhren, sondern heimlich nach Frankreich? Und verstießen die Eltern nicht gegen ihre Sorgfaltspflicht, wenn sie sie alleine losziehen ließen und sie nicht persönlich im Ferienlager abgaben?
Sicher, die Eltern würde es einige Zeit nach dem Unfall hart ankommen, sie würden einige heiße Tränen vergießen und sich wahrscheinlich Vorwürfe machen, dass sie sich nicht besser um ihre Kinder gekümmert hatten. Aber das war's dann auch.
Er dagegen setzte mit diesem Auftrag einmal mehr seine Ehe aufs Spiel! Wenn seine Frau nicht sowieso schon die Koffer gepackt hatte, wenn er wieder zu Hause war. Im Unterschied zu den Eltern von Tom und Jenny, die mit den Kindern nur ihre gemeinsame Vergangenheit verlieren würden, würde er seine Zukunft verlieren!
Oh! Jetzt hätte er fast die Ausfahrt zu ihrem geheimen Treffpunkt verpasst!
M. Brunner bremste scharf ab, bog in eine scharfe Rechtskurve und fuhr eine kleine Landstraße entlang. Nach einer Weile endete die Straße in einem privaten Feldweg.
M. Brunner schaltete den Gang runter und fuhr langsam einen Privatweg entlang. Nach ein paar Kilometern stellte er das Auto ab, stieg aus und ging die letzten Meter zu Fuß. An der verabredeten Stelle, wartete er mit Blick auf die Schienen, bis der Zug mit Tom und Jenny kommen würde.
Nach etwa einer viertel Stunde hörte er das entfernte Dröhnen des Zuges. Jetzt würde es nur noch ein paar Sekunden dauern, bis Cédric ihm die Kinder rauswerfen würde. Er ging hinter einem Busch in Deckung, damit ihn kein Zuggast sehen konnte. Man wusste ja nie.
Kurz darauf hörte er das Quietschen der Bremsen vor der Kurve. Dann donnerte die Lok an ihm vorbei, dann der erste Wagen, der zweite, der dritte ...
Jetzt! Die Wagentür des letzten Wagens war geöffnet und Cédric schubste die gefesselten Kinder aus dem Waggon! Zum Glück prallten die Kinder nicht auf den Schienen auf, sondern fielen ziemlich planmäßig auf die abschüssige Wiese.
Die beiden gaben trotz der Pflaster auf ihrem Mund dumpfe Schmerzensschreie von sich, aber mit einem schnellen Blick hatte sich Martin Brunner vergewissert, dass der Zug bereits hinter der Kurve verschwunden war und wohl niemand irgendetwas von den Kindern gehört oder gesehen hatte.
M. Brunner lief zu den Kindern und untersuchte sie auf Brüche oder offensichtliche Verletzungen. Das Mädchen blutete aus der Nase und sah ihn mit angstgeweiteten Augen an. Ansonsten schien ihr nichts zu fehlen. Der Junge dagegen war bewusstlos. Vorsichtig untersuchte M. Brunner seinen Körper, konnte aber keine äußeren Verletzungen oder offensichtliche Brüche erkennen. Wahrscheinlich hatte er eine Gehirnerschütterung. Er beugte sich über Tom und hob die Lider des Jungen. Alles in Ordnung. Er wollte sich gerade wieder aufrichten, als er einen kräftigen Schlag in die Kniegelenke bekam und nach hinten fiel. Jenny hatte ihn offensichtlich mit ihren gefesselten Beinen umgeworfen. Er richtete sich wieder auf und sagte dann in akzentfreiem Deutsch: "Sei nicht dumm, Mädchen! Siehst du nicht, dass ihr beiden gefesselt seid? Was willst du gegen mich ausrichten?"
Jenny gab wütende Gluckslaute von sich und strampelte weiter mit den Beinen.
M. Brunner seufzte und dachte, dass das nur der Anfang einer sicherlich nervtötenden Babysitting-Woche war. Vorsichtig nahm er Tom hoch und trug ihn zum Auto. Die Augen des Jungen flatterten jetzt und als er ihn kurz darauf in den für die Kinder extra präparierten Kofferraum legte, öffnete Tom die Augen ganz. Er sah entsetzt um sich, offensichtlich hatte er vergessen, was die letzten Minuten mit ihm passiert war.
"Es ist alles in Ordnung!" sagte M. Brunner. "Ich bringe euch an einen sicheren Ort. Dort werdet ihr erfahren, was man mit euch vorhat!"
'Oder auch nicht', setzte er in Gedanken hinzu. Nun, ihm war es gleichgültig. Er musste die Kinder nur eine Woche lang bewachen und aufpassen, dass ihnen nichts passierte. Was danach mit ihnen geschah, lag nicht mehr in seiner Verantwortung und war ihm auch ziemlich egal.
Martin Brunner ging zurück zu dem Mädchen. Er musste grinsen, als er sah, dass sie doch tatsächlich versucht hatte, ihre Fesseln zu lösen! Natürlich ohne Erfolg.
"Mach dir nichts draus!" sagte Martin Brunner. "Meine Fesseln bekommt niemand auf!"
Er warf sich Jenny wie einen Sack auf die Schultern und ging auch mit ihr zum Auto. Ein paar Minuten später schloss M. Brunner den Kofferraum zu, stieg ins Auto, schaltete den Motor an und fuhr den Privatweg zurück auf die Landstraße.
Das Schwierigste des Auftrags hatten Cédric und er nun zum Glück geschafft! Die Kinder waren ohne Aufsehen aus dem Verkehr gezogen worden und konnten die Sache des DES nicht mehr länger gefährden. Der Chef und der DES würden mit ihnen zufrieden sein!

Ende Teil 8

Die Fortsetzung des Romans könnt ihr im Rossipotti No. 26 lesen!

 © Rossipotti No. 25, März 2012