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Das geheime Buch
Reise ins Ungewisse
von
Heiko Bacher
Fortsetzung: Teil 9
Wer nicht alles mitbekommen hat und nicht
nur die kurze Zusammenfassung lesen möchte, geht ganz an den Anfang
der Geschichte zur 18. Ausgabe zurück oder zum letzten Kapitel der
letzten Rossipotti-Ausgabe
Was bisher geschah:
Der dreizehnjährige Tom und die zwölfjährige
Jenny werden von Kart Orkid, einem Agenten des unbekannten Volkstammes
Mok, gebeten, ihnen zu helfen. Laut einer uralten Prophezeiung
des "Buch des Tuns" sind die beiden Kinder "To-Am"
und "Jen-Yi" dazu bestimmt,
die Moks vor "gelbem Hagel" und dem Untergang ihres Stammes
zu retten.
Jenny glaubt Kart Orkid kein Wort und denkt nicht daran, nach Frankreich
zu einem Volkstamm zu fahren, den es ihrer Einschätzung nach
gar nicht gibt. Doch Tom lockt Jenny mit einer vorgetäuschten
Entführung in die Auvergne, und so erfährt Jenny, dass
es die Moks wider Erwarten doch gibt.
Die Moks leben in einer großen, viel verzweigten Höhle
und haben ihre eigene Kultur und Geschichte. Tom und Jenny lernen,
dass die Moks zu dem kleinwüchsigen Volksstamm der Pygmäen
gehören und als indigenes Volk von den großwüchsigen
Menschen in Europa vor langer Zeit bedroht und versklavt wurden.
Aus dem Grund verstecken sie sich seit vielen Jahrhunderten in der
Höhle. Da nun einer der Moks, Onk Ark, aus der Höhle geflohen
ist, weil er das Höhlenleben nicht mehr ausgehalten hat, und
der Agent Kart Orkid aus unerklärten Gründen verschwunden
ist, haben die Moks große Angst, dass sich die Prophezeiung
erfüllt und sie von den großen Menschen entdeckt und
wieder verfolgt oder sogar vernichtet zu werden. Sie trauen sich
nicht mehr aus der Höhle, um mit den wenigen, befreundeten
Bauern Waren und Essen zu tauschen und befinden sich in einer Art
Ausnahmezustand.
Tom und Jenny reisen nach Rochefort
am französischen Atlantik, weil die Stadt in der Prophezeiung
genannt wird. Dort erfahren sie, dass der kindergroße Kart
Orkid bei seiner Suche nach Onk Ark in ein Waisenhaus gesteckt wurde
und dort nach kurzer Zeit von irgendwelchen Männern abgeholt
und irgend wohin gebracht wurde. Daneben
finden sie den abtrünnigen, plötzlich reich gewordenen,
aber sehr schweigsamen Onk Ark in der Umgebung kriminell wirkender
"Auftraggeber". Außerdem lernen die beiden Kinder
den Journalisten Yves Scot kennen, der sich seit dem Auftauchen
der merkwürdigen Kinder Onk Ark und Kart Orkid in Rochefort
dem Geheimnis ihrer Herkunft auf die Spur kommen und eine große
Story daraus stricken will. Bisher hat er immerhin heraus bekommen,
dass Kart Orkid von den unbekannten Männern ins Gefängnis
gesteckt wurde. Scot bittet die Kinder, ihm zu helfen, und schleust
sie ins Gefängnis zu Kart Orkid ein. Da Kart Orkid im Gefängnis
nicht offen sprechen kann, erfahren sie von ihm nicht viel mehr,
als dass sie nach einem schwarzen Zeichen auf gelbem Grund recherchieren
sollen. Yves Scot gegenüber behaupten sie allerdings, von Kart
Orkid keinerlei brauchbare Informationen bekommen zu haben, weshalb
Scot nicht weiter an den Kindern interessiert ist.
Was sie nicht wissen, ist, dass sie spätstens seit ihrem Gefängnisbesuch
von den Auftraggebern von Onk Ark, Agenten des europäischen
Geheimdienstes, beobachtet werden. Denn auch der europäische
Geheimdienst ist an der Höhle der Moks interessiert.
Über das Internet bekommen Tom und Jenny heraus, dass mit dem
schwarzen Zeichen auf gelbem Grund wahrscheinlich das Zeichen für
Biogefährdung oder für atomare Gefahr gemeint ist. Weil
ihnen die Prophezeiung nun über den Kopf wächst, beschließen
sie, zu den befreundeten Bauern der Moks zu fahren und sich von
ihnen helfen zu lassen.
Von den Bauern erfahren Jenny und Tom, dass die Orte Tricastin und
Marcoule keine Dörfer, sondern Atomanlagen sind. Die Bedeutung
des schwarz-gelben Zeichens kreist sich deshalb immer mehr auf "atomare
Gefahr" ein, und Jenny ist sich auf einmal sicher, dass die
Höhle der Moks als Endlager für Atommüll genutzt
werden soll. Auch den anderen kommt diese Einschätzung sehr
möglich vor, und so planen die Bauern, die Mitglieder der Bauern-Organisation
Gesunde Landwirtschaft sind, ihre Organisation gegen das
Endlager in ihrer Nähe zu mobilisieren. Gleichzeitig schicken
sie Tom und Jenny mit dem Zug nach Hause. Zum einen, weil sie ihre
Mission erfüllt zu haben scheinen, zum anderen, um sie vor
weiteren Gefahren zu schützen. Doch auf der Zugfahrt nach Hause
werden die beiden Kinder aus dem fahrenden Zug gestoßen und
entführt ...
Ohne Glauben und Hoffnung
Dunkelheit. Kälte. Ein schimmliger Geruch in der Luft.
Jenny lehnte mit dem Rücken an dem feuchten Gemäuer und
fühlte sich elend. Seit gestern war sie mit Tom in diesem verdammten
Keller eingesperrt und wusste nicht einmal, warum. Die Entführer
hatte ihnen nichts gesagt. Weder, was sie von ihnen wollten, noch
was sie mit ihnen vorhatten. Bis jetzt hatte man ihnen nur Essen
und warme Kleidung gegeben und sie je nach Bedarf aufs Klo geführt.
Gestern hatte Jenny noch wütend gegen die Tür gepoltert
und geschrieen, dass man sie sofort frei lassen sollte. Sie hatte
nach einer Falltür, einem verbarrikadierten Fenster oder irgendeiner
andere Möglichkeit gesucht, um zu entkommen.
Doch heute wusste sie, dass der Kellerraum ohne jedes Schlupfloch,
und ihr Versuch aus dem Raum zu entkommen, lächerlich und albern
war.
So saß sie nur zusammen gesunken und zitternd da und wartete,
wie sich die Dinge weiter entwickeln würden.
Tom lag neben ihr auf einer Luftmatraze und schlief. Immer wieder
stöhnte er. Vielleicht hatte er Alpträume oder wegen des
Sturzes aus dem Zug immer noch Kopfweh. Wahrscheinlich hatte er
eine Gehirnerschütterung, denn gestern hatte er sich zwei Mal
übergeben. Heute ging es ihm zwar ein wenig besser. Trotzdem
schlief er offensichtlich lieber, als sich über ihre deprimierende
Lage Gedanken zu machen.
Warum wurden wir ausgerechnet am Schluss unserere Reise entführt?!'
dachte Jenny zum wiederholten Mal. Gerade in dem Moment, als
uns eigentlich keinerlei Gefahr mehr drohte?! Und warum haben wir
uns überhaupt von diesem Typen im Zug bequatschen lassen? Hätten
wir uns nicht denken können, dass der kein Bahnmitarbeiter
war, der uns in seiner Bistrokabine ein Gratis-Eis für
die jungen Fahrgäste der Bahn' austeilen möchte? Wie bescheuert
waren wir eigentlich?! Andererseits: Hätten wir wirklich ahnen
können, dass wir ausgerechnet auf dem Weg nach Hause abgegriffen
und entführt werden?'
Jenny schluckte und schloss die Augen. Ich will nach Hause.
Ich will zu meiner Mama! Ich will, dass das hier alles aufhört!'
Jenny schluchzte und seit langer Zeit zum ersten Mal liefen ihr
mehrere Tränen die Wangen hinab. Die ersten Tränen wischte
Jenny noch verschämt mit dem Handrücken ab, doch bald
flossen die Tränen rückhaltslos. Obwohl sie versuchte,
möglichst leise zu weinen, wachte Tom nach einigen lauteren
Schluchzern auf.
"Was ist?" fragte er benommen.
"Nichts!" sagte Jenny und wischte sich ihre Tränen
und den Rotz mit dem Pulloverärmel ab.
"Haben Sie dir weh getan?" fragte Tom und richtete sich
mühsam auf.
Jenny schüttelte den Kopf. "Und du, wie geht es dir?"
Tom drehte den Kopf vorsichtig hin und her. "Ich glaube, besser!
Der Schlaf hat mir gut getan."
"Wenigstens das!" sagte Jenny und schluckte ihre Tränen
runter. "Du solltest etwas trinken! In der Ecke haben sie uns
zwei Wasserflaschen hingestellt."
Tom nickte und ging auf wackligen Beinen zu den Wasserflaschen.
"Hast du irgendetwas heraus bekommen?" fragte Tom und
nahm einen Schluck Wasser aus der Flasche.
Jenny schüttelte den Kopf. Die Dunkelheit verschluckte ihre
Geste, und Tom fragte nach einer Weile nochmals: "Gibt es etwas
Neues?"
"Nein", sagte Jenny. Sie holte ein altes, halb zerfetztes
Taschentuch aus ihrer Hose und versuchte, sich damit die Nase zu
putzen. Nach einer Weile sagte sie: "Es gibt nur etwas Altes,
nämlich, dass ich nie diese Reise ins Ungewisse mit dir hätte
unternehmen dürfen! Ich bereue es so, so, so, dass ich wegen
dir nach Frankreich gefahren bin!"
Tom schwieg und Jenny hörte nur das Glucksen der Wasserflasche.
"Wenn ich du wäre, würde ich auch lieber still mein
Wasser trinken ..."
"Du ahnst gar nicht, wie gerne ich die ganze Reise rückgängig
machen würde!" sagte Tom. "Es tut mir schrecklich
leid, dass ich dich in die Sache mit reingezogen habe!"
Jenny schniefte.
"Weißt du, was komisch ist?" sagte sie nach einer
Weile. "Dass sich deine gefakte Entführung am Anfang unserer
Reise nun doch als echt heraus gestellt hat! Vielleicht sind wir
ja nur entführt worden, weil du diese Entführung erfunden
hast!"
"Hä?!" machte Tom befremdet. "Was redest du
denn da? Ich gebe zu, dass meine List, dich hier her zu locken,
dumm und gemein war! Aber meine Idee mit der Entführung hat
doch rein gar nichts mit dieser echten hier zu tun! Wie kommst du
nur auf so eine verrückte Idee?"
"Seit ich die Moks und ihre Prophezeiung kenne, halte ich Vieles
für möglich", meinte Jenny. "Zum Beispiel kommt
es mir jetzt durchaus möglich vor, dass jemand schon vor 1000
Jahren unsere Zukunft vorausgesehen hat! Dieser Jemand wusste vielleicht
nicht, dass wir hier eingesperrt werden würden. Aber er sah
bestimmt voraus, dass wir die Sache überleben und die Moks
am Ende sogar retten werden! Denn schließlich steht am Ende
der Prophezeiung:
aber in Trümmern wird To-Am und Jen-Yi das Licht der Hoffnung
tragen und nicht erlöschen lassen.
Das neue Schiff wird die Reisen wieder aufnehmen
Sie werden die Gaststätten zurückbekommen,
in der Nähe zwei Säulen aus Porphyr erbaut."
Tom schwieg betreten. Er dachte an die Worte, die ihm M. Pignons
über die Prophezeiung gesagt hatte: Dass sie in Wirklichkeit
keine alte Weissagung, sondern nur eine politischen Handlungsanweisung
des heutigen Anführers der Moks, Pok Alk, wäre! Wenn das
stimmte, waren die letzten Worte der Prophezeiung nur zur Beruhigung
der Moks und Tom und Jenny eingebaut worden. Ihre Rettung wäre
also nicht vorherbestimmt, sondern äußerst ungewiss!
"Übrigens gefallen mir diese Schlusszeilen der Prophezeiung
am besten", sagte Jenny. "Sie sind das einzige, was mich
hier drin glauben lässt, dass alles gut ausgehen wird. Nur
deshalb halte ich diesen Scheiß-Keller überhaupt aus!"
Stille.
"Warum sagst du nichts?" fragte Jenny. "Wieso stehst
du da in deiner Ecke und machst keinen Mucks? Stimmt etwas nicht?"
Natürlich stimmte etwas nicht, dachte Tom bitter. Und zwar
eine ganze Menge! Sie waren hier gefangen wie Mäuse in der
Falle! Weder ihre Eltern noch die Bauern ahnten, dass sie verschwunden
waren. Und sie hatten keine Hoffnung aus diesem Keller irgendwie
zu entkommen, schon gar nicht durch die Kraft der Prophezeiung!
Jenny hatte ja gleich geahnt, dass die Prophezeiung nur Humbug war.
Nur er hatte bis vor zwei Tagen daran geglaubt wie ein Blinder!
Aber ausgerechnet jetzt, da M. Pignon ihm endlich die Augen geöffnet
hatte und er die Prophezeiung nur noch für eine orakelhafte
Presserklärung der Moks hielt, glaubte Jenny plötzlich
an die Weissagung und klammerte sich daran wie ein Ertrinkender
an einen Strohhalm!
Aber durfte er ihr sagen, dass die Prophezeiung nichts als Bluff
war? Ausgerechnet jetzt, da Jenny sich so sehr daran klammerte?
Natürlich nicht! Er musste ihr diesen kleinen Funken Hoffnung
auf jeden Fall erhalten! Zwar nicht, indem er ihren Glauben an die
Prophezeiung weiter nährte, aber immerhin so, dass er ihn auch
nicht zerstörte. Schweigen, dachte Tom, er musste einfach darüber
schweigen.
"Du verheimlichst mir etwas", sagte Jenny. "Du weißt
etwas, das ich nicht wissen darf! - Hat dein Schweigen etwas mit
M. Pignon zu tun?"
Tom sagte nichts, und Jenny fuhr fort. "Ja, sicher hat es das!
Denn vorgestern hat dir M. Pignon irgend etwas gesagt, das ich nicht
wissen soll! Das habe ich genau bemerkt. Und plötzlich wolltest
du nach Hause fahren! Obwohl du doch immer derjenige warst, der
bleiben wollte! Tom, was hat dir M. Pignon gesagt?"
"Nichts", sagte Tom gepresst.
"Tom!" sagte Jenny wütend. "Ich habe dir schon
mehrmals gesagt, dass ich deine Tricks nicht ausstehen kann. Gerade
hier und jetzt müssen wir zusammen halten!"
"Ich halte auch zu dir", sagte Tom. "Und ich trickse
dich nicht aus. Aber ich habe immer noch starkes Kopfweh und kann
kaum klar denken. Und du redest etwas von Prophezeiungen und von
komischen Theorien, von wegen, dass ich diese Entführung erfunden
habe!"
"Entschuldige!" sagte Jenny wütend. "Es ist
ja auch wirklich schlimm, dass ich versuche, uns hier mit der Prophezeiung
aufzubauen, während du lieber stöhnst und dich in Kopfschmerzen
flüchtest!"
Das war gemein, Jenny wusste es. Aber war es in so einer Sitution
nicht schwierig, nett und ruhig zu bleiben? Schließlich hatte
sie schreckliche Angst vor den Entführern, sie sehnte sich
nach ihrer Mutter, nach ihrem Vater, sie hasste dieses Kellerloch
und fürchtete, hier nie wieder raus zu kommen! Wie sollte sie
da cool bleiben?!
Tom machte Jennys letzte Bemerkung nichts aus. Er selbst hatte ein
viel zu schlechtes Gewissen, als dass er Jenny irgendetwas hätte
übel nehmen können. Anstatt deshalb beleidigt oder sauer
auf sie zu sein, dachte er lieber nach, wie er sie beide aus dem
dunklen Kellerloch befreien konnte.
"Irgendwie werden wir hier schon wieder rauskommen", sagte
Tom leise. "Ich weiß noch nicht wie, aber ich verspreche
dir, dass wir hier wieder raus kommen."
"Sicher, nichts leichter als das!" giftete Jenny. "Wir
wissen ja noch nicht einmal, wer uns hier eingesperrt hält!"
"Das werden wir bald erfahren", sagte Tom. "Außerdem
waren es sicher die beiden Männer, die uns in ihrem Mercedes
von Aurillac bis in das Kaff im Cantal verfolgt haben! Und die haben
sicher etwas mit den Auftraggebern von Onk Ark zu tun."
"Ja, sicher, wahrscheinlich", meinte Jenny und nahm einen
Schluck aus der Wasserflasche. "Ich frage mich allerdings,
wie sie heraus bekommen haben, wo wir sind?! Hatte Mme de Sel den
Mercedes nicht in dem kleinen Dorf mit der Crèperie abgehängt?
Aber woher wussten die Männer dann, dass wir am übernächsten
Tag im Zug nach Paris sitzen würden?"
Tom zuckte mit den Schultern.
"Abgesehen davon, bringt es uns eigentlich auch gar nichts,
zu wissen, wer uns entführt hat", meinte Jenny. "Denn
selbst, wenn wir wüssten, dass die Entführer beispielsweise
etwas mit Onk Ark und seinen Auftraggebern zu tun hätten, brächte
uns das keinen Schritt weiter!"
"Doch", meinte Tom. "Dann wüssten wir immerhin,
was sie von uns wollen: Informationen über die Moks! Und die
dürfen wir ihnen nicht geben!"
Jenny nickte. "Und was sollen wir machen, wenn sie versuchen,
die Informationen mit Gewalt aus uns heraus zu pressen? - Ich glaube
kaum, dass ich schweigen werde, wenn sie mir eine Pistole unter
die Nase halten! Ich bin keine Heldin!"
"Ich bin auch kein Held", sagte Tom. "Wahrscheinlich
ist es das Beste, wenn wir uns so lange wie möglich dumm stellen
und möglichst keine Informationen an sie weiter geben. Schon
zu unserem eigenen Schutz! Denn so lange sie noch glauben, weitere
Informationen von uns zu bekommen, werden sie uns nichts antun.
Hoffe ich zumindest."
"Vielleicht hat die Entführung auch gar nichts mit den
Moks zu tun?!" sagte Jenny hoffnungsvoll. "Vielleicht
ist alles ein Irrtum und sie halten uns für die Kinder irgendwelcher
reichen Leute?"
"Möglich", sagte Tom. "Aber wenig wahrscheinlich."
"Hätten wir doch vorgestern wenigstens nicht unsere Eltern
angerufen und ihnen gesagt, dass es uns gut geht!" sagte Jenny.
"Zumindest meine Mutter wird sich so erst frühestens in
drei, vier Tagen wundern, warum ich mich nicht mehr bei ihr melde."
Tom ging zu Jenny und setzte sich neben sie auf ihre Luftmatraze.
"Uns wird nichts passieren", sagte er. "Sie können
uns nicht einfach verschwinden lassen."
"Es verschwinden immer wieder Kinder", sagte Jenny, "ohne
dass sie jemals wieder auftauchen!"
"Ja, aber immerhin wissen die de Sels und die Pignons von uns
und den Moks", sagte Tom. "Die lassen uns nicht im Stich!"
"Glaubst du das wirklich?" Jenny bezweifelte das. "Glaubst
du, dass sie der Polizei etwas von den Moks erzählen, nur um
sie so vielleicht auf unsere Spur zu bringen? Glaubst du nicht,
dass sie lieber schweigen werden, um die Moks nicht zu verraten?
Glaubst du nicht, dass ihnen die Moks wichtiger sind als wir?"
Tom seufzte. Ein ganzes, bisher unentdecktes Volk oder zwei Kinder,
die für alle sichtbar waren? Er hatte keine Ahnung, was für
die Bauern wichtiger war.
"Weißt du, dass ich mich noch nie so klein gefühlt
habe wie jetzt?" sagte Jenny. "Am liebsten würde
ich wieder in den Bauch meiner Mutter zurück kriechen und von
allem nichts mitbekommen."
Tom legte seinen Arm um Jenny, und Jenny lies ihn gewähren.
Nach einer Weile legte sie sogar ihren Kopf auf seine Schulter.
Lange saßen sie so da, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.
Schnelle Schritte auf der Kellertreppe, dann das Klappern eines
Schlüssels. Die schwere Eisentür öffnete sich, Licht
blendete ihre Augen.
Der unsympathische Kerl, der sie gestern in das Auto verfrachtet
und bisher mit Essen und warmen Kleidern versorgt hatte, trat in
den Raum.
"It's showtime!" sagte er und klapperte mit einem schmierigen
Grinsen im Gesicht mit zwei Paar Handschellen.
Mit schnellem Griff drehte er den Kindern ihre Arme auf den Rücken
und legte ihnen Handschellen an. Dann zeigte er ihnen beiläufig
seinen Revolver im Revers und empfahl ihnen, keinen Fluchtversuch
zu unternehmen.
Tom und Jenny nickten und stolperten dem Mann hinterher die Treppen
hinauf.
Draußen musste es schon wieder Nacht sein, denn nur das Licht
einer Lampe erhellte das Dunkel.
"Hier lang!" sagte der Mann und zeigte nach rechts in
einen schmalen dunklen Flur. Nach ein paar Metern öffnete der
Mann eine Tür und schubste Tom und Jenny in einen kleinen Büroraum.
Helles, kaltes Licht und zwei Männer hinter einem Schreibtisch,
einer sitzend, einer stehend, empfingen sie. Den stehenden Mann
kannten sie bereits aus der Bahn. Es war der Mann, der sie mit seinem
Eistrick in die Falle gelockt hatte. Wieder fand Jenny, dass er
eigentlich ganz nett und harmlos wirkte. Beinahe bieder oder gesetzt,
auf jeden Fall nicht wie jemand, der einen hinterrücks in eine
Falle lockte. Kein Wunder also, dass sie ihm vertraut hatten! Auch
der sitzende Mann sah nicht gefährlich, sondern gepflegt und
vornehm aus. Wenn Jenny ihn irgendwo draußen auf der Straße
gesehen hätte, hätte sie ihn wahrscheinlich für einen
höheren Bankangestellten oder Rechtsanwalt gehalten. Auf jeden
Fall nicht für einen Verbrecher. Und das war er doch? Oder
konnte man jemanden entführen lassen ohne ein Verbrecher zu
sein?
"Ich freue mich, euch so gesund und munter zu sehen!"
sagte der sitzende Mann. Er sprach überraschender Weise deutsch,
allerdings mit einem englischen Akzent. "Wollt ihr euch nicht
setzen?"
Er zeigte auf zwei Stühle, die vor dem Schreibtisch standen.
"Möchtet ihr Brause und Kekse?"
Tom und Jenny nickten und setzten sich auf die Stühle.
Der unsympathische Mann, der sie hergebracht hatte, ging aus dem
Zimmer, wahrscheinlich, um das Getränk und die Kekse zu holen.
"Sicher wundert ihr euch, warum ihr hier seid?"
Tom und Jenny nickten wieder.
"Ehrlich gesagt, wundern wir uns das auch", sagte der
vornehme Mann und lächelte. "Oder besser gesagt: Wir wundern
uns, warum ihr euch in unsere Angelegenheiten einmischt."
Der Mann sah sie erwartungsvoll an.
"Welche Angelegenheiten?" fragte Jenny. Die freundliche
Stimme des Mannes hatte sie mutig gemacht.
"War das eine Antwort?" sagte der Mann und zog eine Augenbraue
nach oben. "In meinen Ohren hörte es sich eher wie eine
Frage an. Die Fragen stelle hier aber ich!"
Jenny senkte betreten den Kopf.
Der unsympathische Mann kam mit einem Tablett, Brause und Keksen
wieder. Er schenkte den Kindern ein und reichte ihnen den Keksteller.
"Danke, Mister X!" sagte der sitzende Mann und lächelte.
Jenny nahm sich keinen Keks, Tom schon. Wahrscheinlich versuchte
er, sich mit dem süßen Geschmack des Gebäcks von
diesem Verhör abzulenken.
"Ich warte immer noch auf eine Antwort!"
Jenny presste die Lippen aufeinander, und Tom biss noch ein kleines
Stück von seinem Keks ab. Ein paar Krümel fielen ihm dabei
auf den Boden.
"Gut", sagte der Mann. "Lassen wir es mit dem netten
Geplänkel."
Er holte ein Foto aus der Schublade und legte es vor die Kinder.
Jenny warf einen Blick auf das Foto und erschrack: Auf dem Foto
war Yves Scot!
"Kennt ihr diesen Mann?"
Tom schüttelte entschieden den Kopf, und Jenny machte es ihm
nach.
"Und wie sieht es mit diesem aus?" fragte der Mann und
legte ein zweites Foto, das Onk Ark zeigte, auf den Tisch.
"Kenne ich nicht", getraute sich Jenny zu sagen. Sie glaubte
kaum, dass Onk Ark irgend jemand erzählt hatte, dass er sie
kannte. Schon zu seiner eigenen Sicherheit nicht.
"Und du?" fragte der Mann Tom.
Auch Tom schüttelte den Kopf.
"Aller guten Dinge sind drei!" sagte der Mann und legte
triumphierend ein Foto mit Kart Orkid auf den Tisch. "Sicher
kennt ihr auch diesen Mann nicht?!"
Tom und Jenny nickten.
"Falsch!" sagte der Mann und lehnte sich entspannt zurück.
"Diesen Mann habt ihr im Gefängnis besucht! Wir haben
davon Video- und Tonaufzeichnungen. Wir wissen, dass ihr mit ihm
über schwarze Zeichen auf gelbem Grund geredet habt! Schwarze
Zeichen auf gelbem Grund sind aber unsere Angelegenheit und deshalb
habt ihr euch in unsere Angelegenheit gemischt! Sind wir uns also
einig darin, dass ihr vorhin gelogen habt?!"
Tom und Jenny nickten.
"Enttarnen wir gleich eine zweite Lüge", sagte der
vornehme Mann. Er beugte sich zu ihnen vor auf den Tisch und nebelte
sie mit dem herben Geruch seines Rasierwassers ein. "Wer hat
euch ins Gefängnis gefahren und euch den Kontakt zu dem Gefangenen
hergestellt?"
Tom tippte auf das Foto von Yves Scot.
"Richtig", sagte ihr Verhörer und zeigte dann mit
dem Finger auf Onk Ark. "Nun zu Lüge Nummer drei: Ihr
kennt auch diesen Mann. Woher? Und was wolltet ihr von ihm?"
"Wir kennen ihn nicht", beharrte Jenny.
Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass dieser Mann von ihren
beiden Begegnungen mit Onk Ark in Porte-des-Barques und dem Fischerhäuschen
wusste. Schließlich musste Onk Ark schon deshalb schweigen,
um sich selbst nicht zu gefährden!
"Oh doch, das tut ihr!" sagte ihr Gegenüber gelassen.
"Aber ich gebe euch noch ein wenig Zeit, euch zu besinnen.
Schließlich will euch nicht gleich bei unserem ersten Treffen
belasten. Am besten schlaft ihr noch eine Nacht in eurem bequemen
Quartier und findet heraus, dass ihr uns am besten die Wahrheit
erzählt. Nichts als die Wahrheit. Sonst ..."
Er nickte einem der Entführer zu und ließ die Kinder
wieder in den Keller zurück bringen. Er selbst steckte die
Fotos ein, schaltete das Licht aus und verließ kurz darauf
das Haus.
Yves Scot fühlte sich unwohl. Irgendetwas stimmte nicht. Irgendetwas
hatte er vor ein paar Tagen unbewusst beobachtet, und das beunruhigte
ihn jetzt. Aber was nur?
Sein Gefühl sagte ihm, dass es etwas mit den beiden deutschen
Kindern zu tun hatte. Denn bereits seit ihrem gemeinsamen Besuch
im Gefängnis auf der Insel Saint-Martin-de-Ré vor zwei
Tagen fühlte er sich nicht mehr im Lot.
Zuerst hatte er gedacht, dass ihn seine Wut über die ungeschickten
Kinder so aus dem Konzept gebracht hatte. Tom und Jenny hatten die
Sache ja auch gründlich vermasselt. Nach deren Auftritt im
Gefängnis würde er aus dem ohnehin schweigsamen, rätselhaften
Jungen nun noch weniger heraus bekommen als zuvor. - Doch seine
Wut über die Kinder war bald verraucht gewesen. Das ungute
Gefühl dagegen nicht.
Als nächstes hatte er seine Verstimmung deshalb auf einen unfertigen
Artikel geschoben, den er wegen des Gefängnisbesuches nicht
rechtzeitig hatte abliefern können. Doch sein Chef hatte ihn
wegen der Verspätung nicht gerügt und so konnte sein ungutes
Gefühl auch damit nichts zu tun haben.
Was aber war dann der Grund für sein Unwohlsein?
Scot schüttelte den Kopf und fand keine vernünftige Erklärung.
Sicher war nur, dass er sich seit Montag verstimmt fühlte.
Also musste am Montag vor, bei oder nach ihrem
Gefängnisbesuch irgendetwas passiert sein, das ihn jetzt beunruhigte!
Irgendetwas Störendes oder Irritierendes musste er wahrgenommen
haben - ohne dass dieses Etwas bis in sein Bewusstsein vorgedrungen
wäre.
Wieder und wieder ging er deshalb gedanklich den gemeinsamen Tag
mit den Kindern durch: Zuerst dachte er an seine Unterhaltung mit
Tom im Auto und an die schweigsame Jenny auf dem Rücksitz.
Ihr kurzes Geplänkel mit Tom, das er natürlich nicht verstanden
hatte, das er aber trotzdem nicht auffallend in Erinnerung hatte.
Dann dachte er an ihre Ankunft auf der Insel und dem Parken des Autos vor dem Gefängnis.
Wie schnell jemand gekommen war, um sie abzuholen und zum Pförtner
zu bringen. Vor seinem inneren Auge tauchten graue Wände, der
kleine, verglaste Pförtnerbereich auf, Bilder vom umständlichen
Durchsuchen der Taschen verschiedener Besucher und später die
verwunderten Gesichter von Tom und Jenny, als sie erfuhren, dass
sie nicht einmal Stift und Papier in den Besuchsraum mitnehmen durften.
Er dachte an sein eigenes Warten neben dem Pförtnerhäuschen
und an den Vorschlag des Pförtners gleich zu Anfang, lieber
hier als im Auto auf die Rückkehr der Kinder zu warten. Er
erinnerte sich an dessen Angebot, einen Stuhl aus dem Pförtnerhäuschen
auf den Flur zu tragen, damit er es bequemer haben würde. Und
er sah sich wieder vom Stuhl aus den Pförtner beobachten, dessen
zum Teil heimliche, zum Teil ganz offene Freude darüber, die
Besucher zu verärgern oder zu verunsichern. Er dachte an seinen
eigenen wiederholten, nervösen Blick auf die Uhr und seine
Enttäuschung, als Tom und Jenny schon nach zwanzig Minuten
wieder zurück gekommen waren. - Selbst der Pförtner schien
über die Kürze ihres Besuchs überrascht gewesen zu
sein. Denn er hatte die Kinder erstaunt angeschaut, dann aber nichts
weiter zu ihnen gesagt. Statt dessen war er ans Telefon gegangen
und hatte ein paar Sätze in die Muschel genuschelt. Kurze Zeit
später hatte er zur Tür geschaut und gelächelt. Weil
Scot das Lächeln des ansonsten unfreundlichen Pförtners
verwundert hatte, war er dessen Blick gefolgt, hatte dann aber außer
einem, dem Pförtner zunickenden Gefängnsiwärter nichts
entdecken können. Danach hatte der Pförtner Tom und Jenny
ihre Rucksäcke zurück gegeben und ihn selbst aufgefordert,
ihm seinen Stuhl wieder zu bringen ...
Danach! hielt Scot plötzlich in seinen Erinnerungen
inne. Erst nach dem Telefonat und nach der Ankunft
des anderen Wärters hatten Tom und Jenny ihre Taschen wieder
bekommen!
War das nicht seltsam?
Vor zwei Tagen hatte ihn dieser Zusammenhang nicht weiter nachdenklich
gestimmt. Ein Pförtner hatte schließlich mehr zu tun,
als Besuchern ihre Taschen wieder zu geben. Aber jetzt, da er seine
Erinnerungen wieder und wieder nach kleinen Unstimmigkeiten durchkämmte,
kam ihm diese Beobachtung auf einmal bedeutungsvoll vor. Was, wenn
der Pförtner den beiden ihre Taschen absichtlich nicht
gleich zurück gegeben hatte, weil er zuvor etwas anderes
hatte erledigen müssen? Zum Beispiel, seinem Kollegen etwas
telefonisch mitzuteilen? Und, um zu warten, bis der Kollege beim
Pförtner sein und ihm grünes Licht würde geben können,
den Kindern ihre Tasche zurück zu geben?
Hatte der Pförtner deshalb gelächelt, als er seinen Kollegen
eintreten sah? Eben weil der andere den Auftrag zufriedenstellend
und rechtzeitig erledigt hatte?
Aber warum sollten die Gefängniswärter ein Interesse an
ihm und den Kindern haben? War es ihnen nicht völlig egal,
wann sie, ein harmloser Journalist und irgendwelche x-beliebigen
Kinder aus dem Ausland, das Gefängnis wieder verließen?
Doch, sicher doch! Und deshalb war es viel wahrscheinlicher, dass
der Pförtner wirklich nur hatte telefonieren und seinen Kollegen
anlächeln müssen, weil das unter Kollegen eben so üblich
war!
Trotzdem irritierte Scot dieses Danach. Angenommen, seine Theorie
stimmte: Was hätte der Kollege des Pförtners dann draußen
wohl erledigen müssen, bevor sie das Gefängnis hatten
verlassen dürfen? Was war draußen, das ihn unmittelbar
betraf?
Sein Auto! dachte Scot blitzartig. Die Sache musste etwas mit seinem
Auto zu tun haben!
Hatte ihm der Pförtner nicht nur deshalb so großzügig
einen Stuhl angeboten und ihm nahe gelegt, doch lieber im Gefängnis
als im Auto zu warten? Weil in der Zwischenzeit draußen irgendetwas
mit seinem Auto angestellt werden musste?
Gut möglich! Aber was?
Das Naheliegendste war, dass sein Auto durchsucht worden war.
Falls ja, konnte Scot beruhigt sein. Zwar lagerte er allem möglichen
Krempel in seinem Auto, aber ganz sicher nicht seinen Computer oder
wichtige Dokumente! Außerdem glaubte Scot nicht an die Durchsuchung.
Denn wäre es ihm nicht aufgefallen, wenn jemand in seinen Sachen
herum gewühlt hätte?
Was dagegen wäre ihm nicht sofort aufgefallen? dachte Scot
weiter. Etwas Kleines natürlich! Etwas, das hinzu gekommen
und nicht weg genommen worden wäre! Etwas wie eine kleine
Wanze oder ein Abhörgerät beispielsweise.
Scot atmete tief aus und schüttelte den Kopf. Litt er an einem
Verfolgungswahn? Oder hatte der Gefängniswärter wirklich
eine Wanze in seinem Auto versteckt?
War Scot seit seinem Gefängnisbesuch also im Fadenkreuz der
Staatsmacht?
Aber falls ja: Warum? Welches Interesse sollte die Staatsmacht an
ihm haben? An ihm, einem langweiligen, völlig unkriminelle
Lokaljournalisten?
Oder ahnten sie, dass er womöglich gar nicht so harmlos war,
wie es nach außen hin den Anschein hatte? Wussten sie, dass
gar nicht die Kinder, sondern in Wirklichkeit er dem
rätselhaften Jungen hinterher schnüffelte und die offizielle
Variante über die beiden verschwundenen Jungen nicht glaubte?
Und hatten sie den Bluff, dass er angeblich nur zwei deutschen Kindern
helfen wollte, einen tollen Artikel über einen Gefangenen in
ihrer Schülerzeitung zu veröffentlichen, gleich durchschaut?
Hatte man ihn und die Kinder womöglich sogar nur deshalb vorgelassen,
damit sie und ihre Schritte besser beobachtet werden konnten?
Yves Scot stöhnte. Wie naiv war er gewesen, zu glauben, die
Staatsmacht an der Nase herum führen zu können! Genau
umgekehrt war es gewesen: Die Staatsmacht hatte ihn vorgeführt!
Er war ihr ins Netz gegangen, und sie lachte sich jetzt ins Fäustchen!
Aber wer verbarg sich hier überhaupt hinter der Staatsmacht?
Normale Polizisten sicher nicht. Denn auf der Gemeinde-Polizei wusste
niemand etwas vom Verbleib der beiden Jungen, das hatte er überprüft.
Mindestens die Nationalpolizei musste in den Fall verwickelt sein.
Und zwar nicht die Kriminalpolizei, denn auch die wusste seinen
genauen Recherchen nach nichts von dem Geheimnis um den rätselhaften
Jungen.
Wer hatte aber dann den Jungen aus dem Waisenhaus entführen
und in das Gefängnis für Schwerverbrecher sperren lassen?
-
Diese letzte Frage zerrte nun schon seit Wochen an Scot und raubte
ihm fast den Verstand. Denn als einzig mögliche Antwort fiel
ihm immer nur der nationale Nachrichtendienst ein. Nur der Nachrichten-
oder Geheimdienst konnte ungestraft und unbemerkt den Jungen aus
dem Waisenhaus abholen und ihn ohne eine anständige Verurteilung
durch ein Gericht in das Gefängnis bringen lassen. Aber warum,
verdammt nochmal, interessierte sich der Geheimdienst für irgendwelchen
daher gelaufenen Jungen?
Das passte überhaupt nicht zu seiner These, dass die beiden
rätselhaften Jungen womöglich moderne enfants sauvages
waren! Denn, zwei in der Wildnis aufgewachsene Kinder würde
zwar die Wissenschaft, aber sicher nicht den Geheimdienst interessieren.
Auch seine andere Theorie, dass der Junge womöglich einer geheimen
Sekte entlaufen war, schien ihm vor dem Hintergrund nicht wirklich
plausibel zu sein. Denn selbst, wenn der Junge Mitglied einer geheimen,
möglicherweise sogar verbrecherischen Sekte war, machte es
keinen Sinn, nur einen einzelnen Jungen der Sekte ins Gefängnis
zu stecken. Und warum war dann der andere Junge nicht auch eingesperrt
worden?
Was also machte den geheimnisvollen Jungen so wichtig, dass er den
nationalen Nachrichtendienst auf den Plan rief und er selbst in
ein Gefängnis für Schwerverbrecher gesteckt wurde? Und
warum hielten sie Scot für so gefährlich, dass er überwacht
werden sollte? Etwa nur, weil er Nachforschungen über den Jungen
anstellte? Oder hatte er, Scot, unbewusst etwas entdeckt oder getan,
warum er nun vom Nachrichtendienst überwacht wurde?
Halt, Yves, halt, halt!' dachte Scot. Noch weißt
du gar nicht, ob du überhaupt überwacht wirst! Sieh erst
mal in deinem Auto nach, ob dein Verdacht mit der Wanze berechtigt
ist! Findest du keine Wanze, bist du weitaus weniger wichtig als
du gerade vermutest! Und bist du unwichtiger als gedacht, ist es
vielleicht auch der Junge im Gefängnis. Denn dann interessiert
es die Staatsmacht zumindest nicht wirklich, wer den Jungen wann
besucht! Deshalb: Schluss mit den Spekulationen! Sieh dich erst
einmal in deinem Auto um!'
Kurz entschlossen schnappte sich Yves Scot seinen Autoschlüssel,
verließ die Wohnung und öffnete wenig später die
Beifahrertür seines Autos.
Bevor er mit der Suche nach der Wanze begann, schaltete er das Radio
ein. Denn, so dachte er, falls er tatsächlich abgehört
werden würde, sollte niemand mitbekommen, dass er etwas in
seinem Auto suchte. Er drehte die Lautstärke auf und öffnete
mit einem "Klack" zuerst das Handschuhfach.
Gerümpel wie Taschentücher, klebrige Bonbons, Münzen,
alte Theater- und Kinotickets, Verantaltungshinweise, eine Taschenlampe
und Handcreme versperrten ihm die Sicht und mussten erst ausgeräumt
werden. Möglichst leise räumte er das Fach aus. Als es
leer war, erkannte Scot, dass zumindest hier keine Wanze versteckt
war. Er räumte das Handschuhfach wieder ein und untersuchte
dann alle Seitenfächer und kleinen Mülleimer seines Autos
auf einen Minisender. Nichts.
Danach tastete er alle Sitze, Wände, Rücklehnen und die
Bodenbeläge des Autos ab. Doch auch hier nichts! Überall
nichts!
Beinahe enttäuscht ließ sich Scot auf seinen Fahrersitz
plumpsen und schloss die Tür. Wurde er doch nicht überwacht?
Sah er doch nur Gespenster?
Die Musiksendung wurde von einer Werbung unterbrochen und eine angenehme
Frauenstimme erklärte, welches Deo man benutzen sollte, um
24 Stunden unbesorgt durch die Gegend spazieren zu können.
Scot kurbelte das Fenster seines alten Autos auf und wischte sich
den Schweiß von der Stirn. Die Luft stand still und Scot nahm
eine Broschüre vom Rücksitz, um sich Luft zuzufächeln.
Draußen lief eine alte Frau über die Straße und
zerrte eine Katze an einer Leine hinter sich her. Die Katze versuchte
sich mit den Vorderfüßen am Boden festzustemmen, aber
die Frau war natürlich stärker. Während Scot die
sich sträubende Katze beobachtete, fragte er sich, ob ihn sein
fehlender, beruflicher Erfolg bereits so verdreht hatte, dass es
ihm lieber war, sich als Opfer des Geheimdienstes vorzustellen,
als ein journalistischer Niemand zu sein?
Scot schüttelte bei dem Gedanken den Kopf. Nein, so verrückt
war er doch nicht?!
Oder sah er die Dinge wirklich nicht mehr klar? Aber warum auf einmal?
Hatte er sich bisher nicht immer auf seinen Realitätssinn verlassen
können? War er nicht sogar für seine hieb- und stichfesten
Recherchen bekannt? Und war das nicht genau der Hauptgrund, warum
er weniger erfolgreich als seine Kollegen war? Weil er in seinen
Artikeln eben nicht einfach etwas ins Blaue hinein behauptete, sondern
nur Dinge berichtete, die er sauber recherchiert hatte? Und war
es leider nicht so, dass sich sein Chef und die Leser mehr für
Behauptungen und Gerüchte als für die wirklichen Begebenheiten
interessierten?
Doch, genau so war es! Wenn deshalb hier etwas nicht stimmte,
dann nicht wegen ihm und seiner Wahrnehmung, sondern weil
hier in Wirklichkeit etwas faul war!
Das sagte ihm übrigens nicht nur sein Verstand, sondern auch
sein ungutes Gefühl. Denn bisher hatte er sich nicht nur auf
seinen Realitätssinn, sondern auch auf sein Gefühl verlassen
können. Und sein Gefühl vermittelte ihm gerade sehr deutlich,
dass man ihm irgendetwas ins Auto geschmuggelt hatte.
Nein, nicht irgendetwas, sondern sehr wahrscheinlich eine Wanze!
Hier, nur wenige Zentimeter von ihm entfernt, lauerte sie ihm auf
und gab jeden Atemzug von ihm an einen fremden Lauscher weiter!
Im Radio kam jetzt der Verkehrsfunk und meldete, dass auf der A6
Richtung Paris ein kilometerlanger Stau war. Scot schaltete auf
einen anderen Sender um, der Musik spielte, und dachte an die Wanze.
Vielleicht hatte er die Wanze gerade nur nicht bemerkt, weil sie
kleiner war, als er gedacht hatte? Vielleicht hatte er bisher nur
die offensichtlichen, und nicht die geheimen Verstecke für
eine Wanze untersucht?
Also nochmal: Wo könnte in seinem Auto eine Wanze versteckt
worden sein?
Wo hätte er eine Wanze versteckt, wenn er es damit zu
tun gehäbt hätte?
Im Radio, dachte Scot automatisch. Oder in der Klimaanlage. Dann
konnte man den Sender auch an den Strom anschließen und musste
ihn nicht mit Batterie versorgen.
Aber hätte der Einbau der Wanze in einen der beiden Apparate
nicht länger als zwanzig Minuten gebraucht? Denn nur so lange
waren sie ja im Gefängnis gewesen.
Scot zuckte mit den Schultern. Er hatte keine Ahnung von Wanzen
oder Abhörsystemen. Trotzdem: Einmal angenommen, die Zeit wäre
wirklich zu knapp gewesen, die Wanze im Radio, in der Klimaanlage
oder hinter der Armatur zu verstecken, wo wäre dann noch ein
gutes Versteck?
Pedal!' dachte Scot plötzlich. Unter einem Pedal
würde man die Wanze zumindest nie zufällig entdecken,
auch beim Reinigen des Autos nicht.'
Scot bückte sich nach unten und tastete die Unterseite der
Pedale ab. Unter dem Gaspedal war nichts, unter der Kupplung auch
nicht.
Aber was war das?
An der Unterseite der Bremse fühlte er einen kleinen kastenförmigen
Gegenstand!
Der Gegenstand war nicht viel größer als eine zwei Euro-Münze
und hatte an einem Ende eine kleine Erhebung, wahrscheinlich ein
Mikrophon. Scot zog die Hand wieder zurück, stieg aus dem Auto
und beugte sich zum Pedal hinunter, um den Gegenstand anzusehen.
Aber das Pedal war zu nah am Boden, und er konnte die Unterseite
des Pedals nicht in Augenschein nehmen.
Trotzdem war sich Scot sicher, dass der Gegenstand eine Wanze war.
Denn, was sonst?
Scot überlegte, ob er die Wanze entfernen sollte. Aber würde
das die Spione nicht auf seine Spur lenken?
Sollte er deshalb nicht lieber versuchen, den Spieß umzudrehen,
indem er so tat, als ob er von nichts wüsste und sie mit lauten
Selbstgesprächen in die Irre leiten?
Aber in welche Irre eigentlich? Was wollten die Leute von ihm?
Hörten sie ihn wirklich nur ab, weil er einem rätselhaften
Jungen hinterher geschnüffelt und zwei deutsche Kinder ins
Gefängnis geschleust hatte? Aber war das nicht Pippifax? Und
durfte der Geheimdienst nicht nur allgemeingefährliche Personen
ausspionieren? Worin lag aber seine Gefahr für die Allgemeinheit?
Yves Scot seufzte. Seine Gedanken drehten sich im Kreis.
Sicher war bisher nur, dass er einen guten Riecher gehabt hatte.
Er hatte tatsächlich eine Wanze im Auto, und der Geheimdienst
wollte ihn ausspionieren! Das wiederum konnte aber nur bedeuten,
dass er einer sehr heißen Sache auf der Spur war! Einer Sache,
von der er bisher zwar immer geträumt hatte, die ihn aber jetzt,
da sie für ihn gefährlich wurde, sehr schnell überforderte.
Allein die Vorstellung, dass ihm jemand bei Atmen, Seufzen und laut
Denken zuhörte, gruselte ihn.
Scot schaltete das Radio aus und stieg aus dem Auto. Er wollte lieber
in seiner Wohnung weiter nachdenken als an diesem Ort!
Doch kaum war ein paar Schritte gegangen, fiel ihm auf, dass wahrscheinlich
nicht nur sein Auto, sondern auch seine Wohnung verwanzt war! Denn
in seiner Wohung würden sie viel mehr über ihn erfahren.
Scot lief ein Schauder über den Rücken. Was, wenn sie
ihn dort nicht nur abhörten, sondern sogar mit Video überwachten?
Dann beobachteten sie lauter Dinge, die sie überhaupt nichts
angingen! Zum Beispiel seine Rendezvous mit Yvettes, oder auch seine
vertraulichen Treffen mit seinen Informanten. Erst gestern war ein
Mann vom Fischzuchtverein bei ihm gewesen, der ihn auf eine auffallende
Verunreinigung des Fischteichs in seinem Vorort aufmerksam gemacht
hatte!
Und noch unangenehmer: Waren dann nicht alle, die mit ihm Kontakt
hatten, auch automatisch für den Geheimdienst verdächtig?
Allen voran Yvette? Und was war mit den beiden deutschen Kindern,
die er selbst ins Gefängnis geschleust hatte?! Waren nicht
vor allem sie durch den Besuch ins Gefängnis in den Sucher
des Geheimdienstes geraten?
Scot brach der Schweiß aus. Die Vorstellung, Tom und Jenny
durch ihren Besuch im Gefängnis in Gefahr gebracht zu haben war
furchtbar! Aber hätte er ahnen können, dass der Gefängnisbesuch
solche Folgen nach sich ziehen würde?!
Auf jeden Fall musste er Tom und Jenny bitten, so schnell wie möglich
nach Hause zu fahren! Gleichzeitig durfte er ihnen natürlich
nichts von der wirklichen Sachlage mitteilen. Das würde sie
nur beunruhigen. Allerdings würde das wohl etwas schwierig
werden. Denn die beiden schienen ihm viel zu selbstbewusst und klug
gewesen zu sein, um ihm irgendeine erfundene Geschichte abzukaufen
und wegen ihm ihren Urlaub in Frankreich zu beenden. Trotzdem -
er musste es versuchen! Er musste dafür sorgen, die Kinder
in Sicherheit zu bringen!
Aber wo waren die Kinder überhaupt? Wie sollte er mit ihnen
Kontakt aufnehmen? Er hatte von ihnen keine Handynummer, keine Anschrift,
nichts! Er wusste nicht einmal wie sie mit vollem Namen hießen!
Das einzige, das er wusste, war, dass sie in der Jugendherberge
in Rochefort übernachteten.
Hatte Tom nicht gesagt, dass sie bis Mittwoch, also heute, in Rochefort
bleiben wollten? Dann musste er sofort zu ihnen! Hoffentlich waren
die beiden noch da! Hoffentlich würde er sie noch in der Jugendherberge
antreffen!
Keine halbe Stunde später stand Scot an der Rezeption der
Jugendherberge und erfuhr, dass die Kinder bereits am Dienstag,
also einen Tag zuvor, ausgecheckt hatten.
"Wissen Sie, warum sie einen Tag früher als geplant abgefahren
sind?" fragte Scot nervös.
"Keine Ahnung", sagte der Mitarbeiter am Empfang. "Die
Jugendlichen sagen uns selten, was sie vorhaben. Müssen sie
auch nicht."
"Sind sie allein abgereist oder wurden sie von irgendjemand
abgeholt?"
"Keine Ahnung!" sagte der Mitarbeiter und wurde plötzlich
misstrauisch. "Wer sind Sie überhaupt? Ich darf Ihnen
eigentlich gar keine Auskünfte geben! Wer weiß, vielleicht
sind die Kinder ja wegen Ihnen ein Tag früher abgereist?!"
"Wahrscheinlich", rang Scot sich ein Lächeln ab und
verabschiedete sich.
Als er draußen war, zitterte er, obwohl es so heiß war.
Er stieg ins Auto, steckte den Schlüssel ins Zündschloss
und schaltete das Radio an.
Scot fühlte sich sehr unwohl. Irgendetwas stimmte mit der Abreise
der Kinder nicht. Irgend etwas war mit Tom und Jenny geschehen!
"Das sind wirklich schlechte Neuigkeiten!" sagte Mme
Pignon.
Sie stand in der Küche und schälte Karotten für das
Mittagessen.
Ihr Mann saß neben ihr und trommelte nervös mit den Fingern
auf den Tisch. "Und Catherine und Jaques sind sich wirklich
sicher, dass sie die Lage richtig interpretiert haben?" Mme
Pignon legte den Karotten-Schäler zur Seite und holte den Raspler
aus dem Schrank.
"Sie haben auf jeden Fall gesehen, dass sich in der Nähe
des Haupt-Höhleneingangs der Moks Forstarbeiter herum treiben"
antwortete M. Pignon. "Und sie haben gesehen, dass vor dem
Höhleneingang die Bäume gefällt und eine Schneise
in den Wald gehauen wird. So, als ob eine Straße zu dem Höhleneingang
geschaffen werden soll."
"Aber wäre so eine Straße nicht viel zu auffallend,
um den radioaktiven Müll heimlich in die Höhle schaffen
zu können?" fragte Mme Pignon. "Sind wir bisher nicht
davon ausgegangen, dass die Höhle der Moks heimlich zum Endlager
umfunktioniert werden soll?!"
"So eine Schneise im Wald wundert doch niemanden", meinte
M. Pignon. "Es werden ja nur ein paar Bäume gefällt
und die Wege zwar platt gefahren, aber nicht geteert! Außerdem
treibt sich in dem Waldstück eh fast nie jemand herum. Deshalb
konnten die Moks doch bisher auch so unbemerkt ihren kleinen Tauschhandel
mit uns betreiben!"
"Vielleicht sollten wir zur Forst- und Wasserverwaltung gehen
und nachfragen, ob das Fällen der Bäume wirklich genehmigt
worden ist?" überlegte Mme Pignon. Sie nahm eine Karotte
und raspelte sie in die Salatschüssel.
"Das haben Jaques und Catherine bereits gemacht", winkte
M. Pignon ab. "Dort wusste man von den Arbeiten. Angeblich
hat alles seine Ordnung und die Arbeiter machen nur einen Waldweg,
um den Wald dort besser pflegen zu können!"
Er haute mit der flachen Hand auf den Tisch und rief: "Ich
glaube die Geschichte von den fleißigen Waldarbeitern trotzdem
nicht. Seit Jahrzehnten interessiert sich kein Mensch für diesen
Bereich des Waldes, und auch kein Förster hat es je nötig,
sich dort den Wald anzusehen ... und plötzlich kommt eine ganze
Horde Forstarbeiter vorbei und baut gleich direkt vor dem größten
Eingang der Mokhöhle eine Art Straße, um den Wald besser
pflegen zu können! Und das auch noch ausgerechnet dann, als
Onk Ark anfängt, komische Dinge mit seinen Auftraggebern zu
drehen, die Moks unruhig werden und plötzlich irgendwelche
deutschen Kinder auf unserem Hof auftauchen. Claire, da stimmt doch
etwas nicht!"
"Du brauchst mich nicht so anzuschreien!" sagte Claire
Pignon. "Ich glaube auch nicht, dass das ein ganz normaler
Waldweg werden soll, sondern dass die Arbeiten im Wald viel mehr
beweisen, dass in der Höhle tatsächlich ein Endlager entstehen
soll!"
"Wenn wir doch nur unseren Widerstand schon besser organisiert
hätten!" sagte M. Pignon. "Bis wir alle Bauern von
der Sache mit dem Endlager und der Notwendigkeit einer Demonstration
überzeugt haben, hat die Gegenseite schon längst vollendete
Tatsachen geschaffen! Wenn die radioaktiven Fässer erst einmal
in der Höhle liegen, bekommen wir die sicher nicht mehr raus,
selbst dann nicht, wenn alles an die Öffentlichkeit kommt!"
"Natürlich nicht", stimmte Mme Pignon ihrem Mann
zu.
"Wenn wir wenigstens Toni von der Sache überzeugen könnten,
dann würden die anderen auch mitmachen", sagte M. Pignon
und ein Anflug von Bitterkeit lag in seiner Stimme. "Alle hängen
doch immer nur an den Lippen von Toni! Nur weil Toni die dicksten
Kühe und das gesündeste Getreide hat!"
"Du solltest froh sein, dass Toni mit seinem ökologischen
Landbau Erfolg hat!" sagte Mme Pignon. "Hast du ihn nicht
selbst davon überzeugt, dass es besser für ihn sei, von
herkömmlicher auf ökologische Landwirtschaft umzustellen?!"
"Genau das ärgert mich doch!" polterte M. Pignon.
"Denn anstatt mir dafür zu danken, fährt er mir vor
allen anderen Bauern über den Mund und meint, mein Aktionismus
in allen Ehren, aber noch ernähren die Viecher und die Pflanzen
uns und nicht die Demonstrationen gegen Atomkraft! Der ist doch
selbst ein Rindvieh! Sonst würde er nämlich merken, dass
das eine mit dem anderen zusammen hängt!"
"Das merkt er auch", verteidigte Mme Pignon Toni. "Bei
der Versammlung sagte er doch nur, dass er erst mal Beweise haben
möchte, bevor er gegen ein Endlager demonstriert, von dem noch
nie jemand etwas gehört hat!"
"Natürlich hat noch nie jemand etwas davon gehört!"
wetterte M. Pignon. "Wie denn auch, wenn es das Endlager bisher
nur in den geheimen Pläne der Regierung gibt?!"
"Trotzdem ist es verständlich, dass Toni und die anderen
Bauern nicht wie Don Quichotte gegen ein unsichtbares Ungeheuer
kämpfen wollen! Sie haben schließlich noch nie etwas
von den Moks und der Höhle gehört. Wieso sollen sie da
plötzlich glauben, dass man hier in der Gegend Tausende von
Fässern mit radioaktivem Müll versenken will? - Dass man
die Fässer nicht einfach in den Wald kippen kann, das weiß
schließlich selbst der dümmste Bauer!"
Mme Pignon raspelte energisch eine Karotte nach der anderen in die
Salatschüssel.
"Wir müssen den Bauern den Haupt-Höhleneingang zeigen!"
sagte M. Pignon entschlossen. "Dann sehen sie, wo man die Fässer
versenken kann. Anders werden sie uns die Sache mit dem Endlager
nicht glauben. Und wir zeigen ihnen die gefällten Bäume
der Forstarbeiter'. Beides zusammen muss sie stutzig machen!"
"So gesehen ist es sogar ein Vorteil, dass sich jemand im Wald
zu schaffen macht", meinte Mme Pignon. "Aber wir dürfen
den anderen auf keinen Fall etwas über die Moks sagen! Wir
zeigen ihnen nur den Höhleneingang! Trotz unserer Probleme
mit dem Endlager dürfen wir die Moks nicht verraten! Sonst
wären die ganzen Jahre unserer heimlichen Zusammenarbeit ja
umsonst gewesen."
"Für die Moks schon", sagte M. Pingnon. "Aber
für uns?"
"Henry!" rief Mme Pignon. "Du darfst nicht einmal
daran denken, die Moks zu verraten! Der Kampf gegen das Endlager
ist auch der Kampf für das Weiterleben der Moks in ihrer Höhle!"
Henry Pignon nickte: "Keine Angst! Ich werde sie nicht verraten.
Dafür habe ich das kleine Volk viel zu gern! Wir werden den
Bauern einfach sagen, dass in der Höhle sehr seltene Tiere
leben, die keinerlei Störung ertragen. Das wird sie davon abhalten,
in die Höhle zu gehen. Aber den Höhleneingang müssen
wir ihnen als den Beweis, den Toni haben will, auf jeden Fall zeigen!"
"Das Telefon!" sagte Mme Pignon, wischte sich die Hände
an ihrer Hose ab und ging aus dem Raum.
Während Mme Pignon telefonierte, schweiften M. Pignons Gedanken
zur Versammlung ihrer Umweltorganisation Gesunde Landwirtschaft
(GL) am letzten Donnerstag ab. Zuerst war sie gut gelaufen.
Die Bauern waren wie vermutet alle entsetzt gewesen, als sie erfuhren,
dass in ihrer Nähe ein Endlager für Atommüll entstehen
sollte. Sofort wollten sie auf die Barrikaden gehen, um ihre Felder
und Tiere vor einer möglichen, krank machenden Verstrahlung
und dem schlecht werdenden Image ihrer Region zu schützen.
Doch dann kam Toni und wollte wissen, wann und wie das Endlager
überhaupt entstehen sollte? Er wollte klare Beweise für
seine, Henrys, Behauptungen!
Aber woher sollte Henry diese Beweise nehmen? Er durfte doch weder
die Moks, noch die Höhle, noch die Prophezeiung erwähnen!
So konnte er Toni und den anderen also nichts weiter sagen, als
dass er seine Quellen nicht preisgeben durfte. Aber das reichte
den anderen dann plötzlich auch nicht mehr. Alle wollten auf
einmal wissen, warum er denn seine Quellen nicht nenne dürfe?
Ob seine Quellen überhaupt sicher wüssten, dass im Wald
ein Endlager entstehen solle? Und wo, so fragten sie weiter, wo
gab es im Wald überhaupt einen Platz für ein Endlager?
Schließlich könne man die radioaktiven Fässer wohl
kaum einfach in den Wald kippen?! Oder ob er, Henry, sich das etwa
so vorstelle?!
Einige Bauern waren regelrecht wütend auf ihn geworden und
meinten, M. Pignon würde vor lauter Aktivismus Endlager sehen,
wo es überhaupt keine gäbe! Sie aber hätten keine
Lust, sich vor seinen Narrenkarren spannen zu lassen! Wie würden
sie denn da in der Öffentlichkeit dastehen? Wie Idioten! Aber
auch Bauern hätten schließlich ein Image zu verlieren!
Glücklicherweise waren Daniel, Marielle und Gustave aufgesprungen
und hatten die anderen ermahnt, M. Pignon zu glauben. Schließlich
hätten die Pignons sie bisher mit ihren Informationen noch
nie in die Irre geleitet, und welchen Grund sollten die Pignons
auf einmal haben, sie so an der Nase herum zu führen?
Zum Glück stimmte dieses Argument die meisten Bauern wieder
um. Trotzdem blieben sie misstrauisch und Henry musste versprechen,
bei der nächsten Versammlung mehr, und vor allem konkretere
Informationen mitzubringen. Worin diese Informationen bestehen sollten,
war ihm vorgestern allerdings nicht klar gewesen. Heute wusste er
dagegen, dass er ihnen einfach nur den Höhleneingang zeigen
musste. Denn wenn die Bauern die Höhle sehen würden, die
sie zuvor noch nie gesehen hatten, würden sie sich immerhin
vorstellen können, dass sich dort auch noch andere Dinge abspielten,
von denen sie keine Ahnung hatten! Und sie würden sehen, dass
die Höhle ein wunderbarerer Ort für ein Endlager war ...
Nach der Versammlung am Donnerstag hatten ihn dann Jaques und Catherine
bei Seite genommen und ihn gefragt, ob die Sache mit dem Endlager
womöglich etwas mit den Moks zu tun habe?
Im Unterschied zu den meisten anderen Bauern kümmerten sich
auch Jaques und Catherines Familien seit Urzeiten um die Moks. Sie
hatten bei Henrys geheimnisvollen Reden deshalb bereits geahnt,
dass das Endlager womöglich in der Mok-Höhle geplant war.
Henry war froh, dass er offen mit Jaques und Catherine reden konnte
und weihte sie in alles ein, was er wusste.
"Was denkst du, wann sie anfangen, die Fässer in der Höhle
einzulagern?" hatte Jaques gefragt.
Henry hatte mit den Schultern gezuckt. "Bisher kann man noch
keinerlei Anzeichen feststellen, dass sie damit anfangen."
"Ich frage mich, ob diese Leute nur wissen, dass es die Höhle
gibt oder ob sie auch über die Moks informiert sind?"
hatte Catherine gefragt. "Wenn ja, was soll dann mit den Moks
geschehen?"
"Sie sollen wahrscheinlich heimlich umgesiedelt werden",
hatte Henry vermutet.
"Aber so etwas geht doch nicht heimlich", hatte Catherine
widersprochen. "Egal, wohin man sie umsiedelt: Es wird auf
jeden Fall auffallen, wenn irgendwo plötzlich mehrere Tausend
Menschen wie aus dem Nichts auftauchen. Glaubst du nicht, dass man
sie heimlich verschwinden lassen will?!"
"Meinst du mit verschwinden' etwa umbringen?!" hatte
Jaques aufgebracht gefragt. "Das ginge dann doch zu weit! So
etwas wäre Völkermord! Das kann sich unsere Regierung
nicht leisten."
"Und was, wenn die Regierung gar nicht Bescheid weiß?"
hatte Catherine eingeworfen. "Was, wenn das irgendwelche dunklen
Geschäfte einer Atommüllmafia sind?"
"Wir müssen auf jeden Fall mit den Moks reden!" hatte
Henry gesagt. "Wir müssen ihnen mitteilen, in welcher
Gefahr sie schweben!"
"Wie denn?" hatte Jaques gesagt. "Die Moks zeigen
sich uns doch nicht mehr. Seit über einer Woche ist jeder Kontakt
zu ihnen abgebrochen!"
"Wo sind jetzt eigentlich die beiden Kinder, die bei den Moks
waren und euch die Nachricht überbracht haben?" hatte
Cathrine dazwischen gefragt. "Ist das nicht viel zu gefährlich
für die beiden, in solch eine Sache verwickelt zu sein? Was
haben sich die Moks dabei nur gedacht, zwei Kinder so in Gefahr
zu bringen? Hätten sie doch lieber gleich uns zu Hilfe geholt!"
"Die Kinder sind in Sicherheit", hatte sie Henry schnell
beruhigt. "Wir haben sie gestern selbst zur Bahn nach Hause
gebracht!"
"Gott sei dank!" hatte Cathrine aufgeatmet. "Dann
müssen wir uns nicht auch noch um sie Sorgen machen. Aber wir
müssen auf jeden Fall mit den Moks sprechen!"
"Ja, das sollten wir", hatte auch Jaques gemeint, und
beide hatten versprochen, sich um die Moks zu kümmern und sich
dann wieder bei ihm, Henry, zu melden.
Nun, das hatten sie heute getan und ihm mitgeteilt, dass sie zu
den Moks keinerlei Kontakt hatten aufbauen können. Die Moks
hatten sich offensichtlich ganz in der Höhle zurück gezogen
und waren für sie nicht mehr zu sprechen.
Dafür hatten sie beobachtet, dass sich vor dem Haupt-Höhleneingang
plötzlich Waldarbeiter zu schaffen machten und fleißig
Bäume fällten!
Seine eigene Vermutung am Donnerstag, dass es im Wald selbst noch
keine Anzeichen für eine Veränderung gab, war also heute,
zwei Tage später, schon wieder veraltet! Jetzt existierte das
Endlager nicht mehr nur in ihren Köpfen, sondern die ersten Vorbereitungen
dazu waren bereits sichtbar!
Wer weiß, vielleicht war es nur noch eine Sache von Tagen,
bis die ersten gelben Fässer in die Höhle eingelagert
und die Moks vertrieben werden sollten?! Sie mussten handeln, und
zwar schnell!
"Henry, du glaubst nicht, was mir Frederic de Sel gerade erzählt
hat!" sagte Claire besorgt, als sie wieder in die Küche
zurück kam. "Frederic hat bei der Höhle etwas sehr
Beunruhigendes beobachtet ..."
"Lagern sie etwa jetzt schon Fässer in die Höhle
ein?" fragte Henry angespannt.
"Nein, das nicht", sagte Claire. "Aber Frederic fürchtet,
dass es Verräter unter den Moks gibt. Er glaubt, dass es Moks
gibt, die mit den sogenannten Forstarbeitern zusammen arbeiten!"
"Wie kommt er denn darauf?" fragte Henry verblüfft.
"Hat er etwa in den letzten Tagen mit einem der Moks gesprochen?"
"Nein", sagte Mme Pignon. "Aber er hat beobachtet
wie die Forstarbeiter gestern abend Fleisch, Alkohol, Obst und Schokolade
vor dem Höhleneingang deponiert haben. Und heute morgen waren
die Sachen weg!"
"Vielleicht haben die Forstarbeiter die Sachen am anderen Morgen
selbst wieder weg genommen - nachdem sie bemerkt haben, dass die
Moks ihre Sachen verschmäht haben?" vermutete Henry. "Ich
kann mir nicht vorstellen, dass sich die Moks so schnell bestechen
lassen. Jetzt harren sie schon seit Hunderten von Jahren in der
Höhle aus. Warum sollten sie da ausgerechnet jetzt Geschäfte
mit x-beliebigen Leuten machen wollen?"
Claire zuckte mit den Schultern. "Auf jeden Fall bedeutet es,
dass die Forstarbeiter wissen, dass Menschen in der Höhle leben!"
"Ja, das stimmt allerdings", sagte Henry nachdenklich.
"Das ist wirklich eine schlechte Nachricht! Andererseits hat
es vielleicht auch einen Vorteil. Denn, wenn die Moks bereits entdeckt
sind, können wir mit unserer Heimlichtuerei aufhören und
vor den anderen Bauern endlich mit offenen Karten spielen!"
"Untersteh' dich!" sagte Claire. "Wir müssen
immer noch davon ausgehen, dass das Endlager und damit auch die
Existenze der Moks verheimlicht werden soll! Solange die Öffentlichkeit
aber nichts von den Moks wissen darf, haben wir immer noch die Chance,
das Endlager und die Vertreibung der Moks zu verhindern!"
"Du hast Recht!" gab Henry nach einigem Überlegen
zu. "Obwohl mir die Chance im Moment winzig klein erscheint.
- Und wenn wir nicht bald handeln, ist alles zu spät! Wir müssen
unbedingt versuchen, die Bauern noch heute in den Wald vor den Höhleneingang
zu bekommen! Am besten nach Einbruch der Dunkelheit, da sind die
Forstarbeiter sicher nicht mehr dort und wir können uns in
Ruhe ein Bild ihrer Verwüstungen machen."
Tatsächlich gelang es den Pignons, einige Bauern der GL
dazu zu überreden, sich bei Einbruch der Dunkelheit auf dem
Waldparkplatz bei Rudez zu versammeln.
Gegen 22 Uhr trudelte schließlich der letzte auf dem Parkplatz
ein, und die Pignons konnten die Bauern in ihr Vorhaben einweihen.
"Wie ihr wisst, möchten wir euch heute Abend zeigen, dass
es hier im Wald tatsächlich möglich ist, ein Endlager
für radioaktiven Müll entstehen zu lassen", sagte
Claire. "Natürlich wissen auch wir, dass man die Fässer
nicht einfach in den Wald kippen kann. Aber wie sieht es mit einer
Höhle aus?"
"Eine Höhle wäre sicher nicht schlecht", meinte
Toni. "Zumindest, wenn sie groß genug dafür wäre.
Aber in diesem Wald gibt es keine Höhle!"
"Doch", fuhr Claire fort, "etwa eine Stunde zu Fuß
von hier entfernt liegt eine. Die Höhle ist rießig und
eignet sich hervorragend für ein Endlager!"
"Das ist wohl ein Witz?!" sagte Chantal, eine Ökobäuerin
aus dem Nachbardorf. "Ich wohne seit meiner Kindheit in dieser
Gegend. Wenn es hier irgendwo eine Höhle gäbe, wüsste
ich davon!"
"Ich auch!" sagte Jean, ein stämmiger Bauer mit hitzigem
Gemüt. "Ich frage mich, warum ich überhaupt hier
her gekommen bin! Ich habe keine Zeit, mich von euch verkackeiern
zu lassen!"
"Das tun wir nicht", sagte Claire bestimmt. "Es gibt
hier in der Nähe wirklich eine Höhle, und zu der werden
wir euch jetzt führen! Allerdings müsst ihr uns versprechen,
dass wir uns nur den Höhleneingang ansehen. Wir dürfen
auf keinen Fall in die Höhle hinein gehen! Denn die Höhle
ist der Lebensraum einer bedrohten Tierart. Sie darf nicht gestört
werden!"
"Das wird ja immer schöner", stöhnte Jean, "Erst
erfindest du eine Höhle und dann auch noch eine bedrohte Tierart!
Welche Tiere sollen das denn sein?"
"Die Kleine Hufeisennase!" sagte Henry schnell. "In
der Höhle leben eine der letzten europäischen Kleinen
Hufeisennasen."
"Was soll das denn sein?" fragte Jean spöttisch.
"eine unbekannte Pferderasse?"
"Nein, das sind kleine Fledermäuse", antwortete Henry.
"Sie sind in unserer Region vom Aussterben bedroht!"
"Den kleinen Mäusen wird es schon nichts ausmachen, wenn
wir uns einmal die Höhle ansehen!" sagte Jean.
"Doch!" sagte Claire. "Wir waren früher einmal
dort und haben danach erfahren, dass man die Höhle eigentlich
gar nicht betreten darf."
"Ach, und von wem habt ihr das erfahren?" bohrte Jean
nach.
"Wir haben uns selbst kundig gemacht", sagte Claire.
"Die Fledermäuse sind wirklich sehr empfindlich",
sagte Henry. "Im Unterschied zu anderen Fledermäusen kann
die Kleine Hufeisennase nicht kriechen. Wenn eine beispielsweise
wegen uns auf den Boden fällt, wird sie völlig hilflos
sein."
"Dann heben wir sie eben wieder auf und hängen sie zurück
an die Decke!" sagte Jean.
"Wie denn, wenn du wegen der Dunkelheit fast nichts siehst?"
sagte Claire.
"Wegen Fledermäusen werde ich auf jeden Fall nicht darauf
verzichten, mir die Höhle genauer anzusehen!" sagte Jean
patzig. "Ein Höhleneingang allein sagt noch gar nichts
darüber aus, ob die Höhle dahinter groß genug für
ein Endlager für radioaktiven Müll ist!"
"Das stimmt, Jean. Aber ich bin trotzdem auch dafür, dass
wir den Lebensraum der Kleinen Hufeisennase nicht stören",
sagte Toni. "Die Kleine Hufeisennase ist wirklich sehr empfindlich
und ihre Tierart bedroht. Wenn Henry und Claire uns in der Gegend
hier wider Erwarten den Eingang einer Höhle zeigen können,
ist das meiner Meinung nach schon mehr als genug! Denn, wer von
uns glaubt den beiden schon, dass es hier überhaupt eine Höhle
gibt? Niemand! Also würde es uns doch umgekehrt sicher sehr
nachdenklich machen, wenn sie uns hier auch nur die Spur einer Höhle
zeigen könnten. Zumindest ich würde mir dann Henrys und
Claires Geschichte vom Endlager nochmal gründlich durch den
Kopf gehen lassen!"
"Ok", lenkte Jean ein. "Dann gehen wir eben nicht
in die Höhle und schützen lieber die kleine Fledermaus!
Was tut man nicht alles der Freundschaft wegen!"
"Lasst uns endlich gehen und die Höhle ansehen!"
sagte Claire erleichtert.
Mit schnellen Schritten ging sie voraus in den immer dunkler werdenden
Wald hinein. Nach wenigen Metern bog die Gruppe vom regulären
Waldweg ab und bahnte sich einen eigenen Weg durch's Unterholz.
Äste knackten unter ihren Füßen, Blätter raschelten
und in einiger Entfernung hörte man Autos brummen.
Das Licht wurde immer fahler, bald würde es ganz dunkel sein.
Claire tastete nach ihrer Taschenlampe und schaltete sie ein. Die
anderen Bauern taten es ihr nach und bald hüpften verschieden
große Lichtkegel durch den Wald. Sie beleuchteten schlaglichtartig
umgefallene Bäume, vermooste Steine, versickernde Pfützen
und hohe Farnpflanzen. Einmal huschte ihnen auch ein Reh durch die
Lichtkegel, aber das Tier war schnell wieder in der Dunkelheit verschwunden.
"Wie lange dauert es denn noch?" fragte Robert, ein kleiner,
etwas dicklicher Bauer mit rundem, freundlichem Gesicht. "Wenn
ich gewusst hätte, dass wir eine Nachtwanderung machen, hätte
ich mir ein paar Stullen mitgenommen! Ich hatte vorhin keine Zeit
mehr, etwas zu essen!"
"Tut mir leid", sagte Claire und kramte in ihrer Jackentasche.
"Hier kannst du einen Apfel haben."
Während Robert dankend den Apfel nahm und hineinbiss, fing
Chantal zu meckern an: "Ich habe auch keine Lust mehr, weiter
durch den Wald zu stapfen! Wir sind mindestens schon anderthalb
Stunde unterwegs! Ihr habt euch doch hoffentlich nicht verlaufen?"
"Nein", sagte Claire. "Wir sind bald da. Nachts dauert
es doch länger als tags."
"Heißt das, ihr kommt hier regelmäßig her?"
fragte Chantal lauernd. "Warum denn?"
"Wir gehen hier gerne spazieren", sagte Claire wage und
ärgerte sich, dass sie sich beinahe verplappert hatte.
"Warum habt ihr uns eigentlich nicht schon früher von
der Höhle erzählt?" bohrte Chantal weiter nach.
"Wegen der Kleinen Hufeisennase natürlich!" sagte
Claire.
"Still!" sagte Henry und legte einen Zeigefinger auf die
Lippen..
Die anderen blieben stehen und sahen Henry fragend an.
"Hört ihr auch das leise Knacken?" fragte Henry.
"Wahrscheinlich wieder ein Reh", sagte Toni. "Vielleicht
aber auch nur eine dicke Maus, die durchs Unterholz huscht."
"Da wieder!" sagte Henry leise. "Es kommt näher!"
Alle horchten in die Dunkelheit.
Neben dem entfernten Knacken der Äste durch irgendwelche vorbei
laufenden Tiere, hörte man den Schrei einer Eule, das Rauschen
des Windes in den Wipfeln der Bäume und, etwas weiter weg,
das leise Plätschern eines Baches. Aber sonst?
"Das ist kein Knacksen von Tieren", sagte Henry in die
angespannte Stille, "das hört sich wie ein schleichender
Mensch an!"
"Willst du uns Angst machen?" sagte Chantal mit angehaltenem
Atem. "Wer sollte hier denn herumschleichen?"
"Niemand!" feixte Jean. "Henry will uns wahrscheinlich
nur davon abbringen, die Höhle, die es gar nicht gibt, ansehen
zu wollen! Dabei vergisst er, dass wir keine kleinen Kinder mehr
sind!"
"Hallo! Ist da wer?" rief Henry.
Stille. Kein Knacksen mehr.
"Kommt, gehen wir weiter!" sagte Claire nach einer Weile
und versuchte, die Angst in ihrer Stimme zu verbergen. "Wir
sind bald da. Wir müssen nur noch diese Anhöhe hochsteigen,
dann sind wir vor dem Eingang der Höhle."
Schweigend kletterten die Bauern den Hügel empor, blieben
immer wieder stehen, um zu verschnaufen und in die Stille zu hören.
Aber das Knacken von vorhin war nicht mehr zu hören. Bald waren
sie an der Treppe mit Kalktuff angelangt, die nur noch wenige Meter
vom Eingang der Höhle entfernt war.
Henry wollte mit seiner Taschenlampe gerade auf den Vorhang aus
Farn leuchten und den anderen sagen, dass unter diesem Vorhang der
Eingang lag, als der Strahl seiner Lampe auf ein gelbes Absperrband
mit schwarzem Schriftzug fiel.
"Police nationale zone interdite" las Henry laut.
"Verbotene Zone der National-Polizei?" fragte Toni irritiert.
"Was hat das zu bedeuten?"
"Im Zweifel nichts!" sagte Henry wütend und riss
das Absperrband entzwei. Den anderen erklärte er: "Hier
sind zur Zeit Forstarbeiter dabei, Bäume zu fällen. Aber
das soll uns nicht daran hindern, den Höhleneingang zu besichtigen.
Folgt mir!"
Die Bauern schauten sich besorgt an und wussten nicht, ob sie Henry
folgen sollten oder nicht.
"Möchtet ihr jetzt den Höhleneingang sehen oder nicht?"
fragte Henry. "Jean, ich dachte, du bist kein Kind mehr? Warum
hast du dann Angst? Das Band ist nichts weiter als ein Stück
schwarz-gelber Kunststoff! Außerdem können wir es danach
wieder festknoten! Niemand wird bemerken, dass wir innerhalb der
verbotene Zone der National-Polizei waren!"
Henry ging einige Schritte voraus und kletterte auf die Treppe mit
Kalktuff. Nach einigem Überlegen folgte ihm Claire. Zögerlich
kamen ihnen Jean, Toni, Chantal und schließlich auch die anderen
hinterher.
Als sie nur noch eine Treppe unterhalb des Farnvorhangs standen,
rief eine laute Stimme hinter ihnen:
"Halt! Stehen bleiben! Sie betreten unbefugtes Gelände!"
Claire und die anderen zuckten zusammen. Aber Henry drehte sich
wütend um und rief: "Seit wann ist das Gelände hier
unbefugt?"
Trotzig kletterte er die letzte Stufe aus Kalktuff hoch.
"Bleiben Sie stehen!" bellte die Stimme hinter ihm.
Ein heller Lichtstrahl wurde auf Henry gerichtet und blendete ihn.
"Kommen Sie zu ihrer eigenen Sicherheit wieder aus dem verbotenen
Bereich!" rief die Stimme gebieterisch. Es war klar, dass sie
keinen Widerspruch duldete. Selbst Henry wagte nicht, weiter zu
gehen. Statt dessen sah er Claire an, doch Claire zuckte auch nur
mit den Schultern.
Toni winkte den Bauern und trat mit ihnen langsam den Rückzug
an. Henry sah ein, dass er ohne die Bauern verloren hatte und sprang
die letzte Felstreppe hinunter.
Gemeinsam gingen sie wieder zur Absperrung zurück. Der Mann
senkte seinen Strahler, und man konnte jetzt sehen, dass er eine
grüne Arbeitshose und eine blau-gelbe Jacke anhatte.
Wahrscheinlich war das genau die Sorte Forstarbeiter, die Jaques
und Catherine gestern gesehen hatten, dachte Henry.
"Entschuldigen Sie bitte, dass wir in der verbotenen Zone waren",
sagte Toni stellvertretend für die anderen. "Aber wir
nahmen das Absperrband nicht ernst. Warum ist das hier auch plötzlich
eine verbotene Zone der National-Polizei? Wurde hier etwa jemand
ermordet?"
"Sehe ich aus wie ein Polizist?" sagte der Waldarbeiter.
"Also! Wir haben hier keinen Mord, sondern eine Eichenspinnerprozession!"
"Was denn für eine Eichenspinnerprozession?" fragte
Robert. "Davon habe ich noch nie gehört!"
"Eichenspinner sind Raupen von Schmetterlingen, die auf Wanderschaft
gehen", erklärte der Waldarbeiter. "Für Menschen
sind sie gefährlich, weil deren feine Haare durch die Luft
und auf die Haut und in die Atemwege von Menschen gelangen können.
Das kann schreckliche allergische Reaktionen auslösen, bis
hin zum Tod!"
"Und deshalb sperren sie den Wald ab?" fragte Robert skeptisch.
"Wir haben hier einen sehr starken Befall von Eichenspinnern",
sagte der Waldarbeiter. "Deshalb wird dieses Gelände auch
in den nächsten Tagen noch weitläufiger abgesperrt werden.
Heute haben wir erst damit begonnen ...!"
"In diesem Wald gibt es fast keine Eichen!" platzte Henry
verärgert heraus. "Und deshalb kann es unmöglich
sein, dass es hier so viele Eichenspinner gibt."
"Seien Sie froh, dass ich zufällig vorbei gekommn bin,
um Sie zu warnen", sagte der Waldarbeiter. "Wenn ich heute
Abend nicht etwas im Bauwagen vergessen hätte, würden
Sie alle hier vielleicht schon mit Atemnot oder sogar tot am Boden
liegen!"
"Das ist wohl etwas übertrieben!" sagte Robert und
wollte lustig klingen.
Aber der Waldarbeiter sah ihn nur kalt an.
"In welchem Bauwagen haben Sie denn etwas vergessen?"
fragte Chantal neugierig. "Seit wann soll hier etwas gebaut
werden?"
"Hier wird nichts gebaut, sondern der Wald in Ordnung gebracht",
erklärte der Waldarbeiter. "Nachdem ein paar Einwohner
die Eichenspinner entdeckt haben, haben wir uns seit langem zum
ersten Mal wieder dieses Stück Wald angesehen und dabei festgestellt,
dass der Wald völlig verkommen ist: Kranke Bäume, halb
herunterhängende, verfaulende Äste, jede Menge Schädlinge,
die nicht in einen gesunden Wald gehören ... wir werden hier
erst mal gründlich aufräumen müssen, bevor wir dieses
Stück Wald wieder der Öffentlichkeit zugänglich machen
können."
"Wenn Sie sich hier so genau umgesehen haben, wissen Sie doch
sicher auch, ob es hier einen Höhleneingang gibt?" platzte
Jean plötzlich dazwischen. "Sie haben hier nicht zufällig
den Eingang einer Höhle gesehen?".
"Eine Höhle?" sagte der Forstarbeiter erstaunt. "Nicht,
dass ich wüsste. Wo soll die denn sein?"
"Keine Ahnung!" sagte Henry und sah Jean wütend an.
"Nun, dann sollten Sie jetzt alle am besten nach Hause gehen!"
sagte der Waldarbeiter bestimmt. "Und richten Sie bei Ihren
Nachbarn am besten gleich aus, dass der Wald hier für die nächste
Zeit wegen der Eichenspinnerprozession gesperrt ist!"
"Eichenspinnerprozession, dass ich nicht lache!" tobte
Henry zu Hause. "Das stinkt doch alles zum Himmel! Und jetzt
haben wir den anderen nicht einmal den Höhleneingang zeigen
können!"
"Schlimm ist vor allem, dass die anderen nicht uns, sondern
dem Waldarbeiter geglaubt haben!" sagte Claire. "Sie haben
ihm die Geschichte vom Eichenspinner genauso abgenommen, wie seine
Bemerkung, dass es dort keine Höhle gibt! Ich frage mich, warum
sie ihm mehr glauben als uns? Welchen Grund sollten wir denn haben,
sie stundenlang in dem Wald herum zu führen, um am Ende "Aprilscherz!"
zu sagen?! Keinen! Langsam glaube ich, dass sie ihre ganze Energie
dafür verwenden, uns nicht zu glauben. Denn würden sie
uns glauben, müssten sie auch handeln! Da stecken sie lieber
den Kopf in den Sand und tun so, als sei alles bestens."
"Dabei ist gar nichts bestens, sondern im Gegenteil!"
sagte Henry. "Wir stehen kurz vor einer Katastrophe!"
"Ja", meinte auch Claire und nickte müde. "Wir,
und vor allem die Moks, stehen kurz vor einer Katastrophe! Und so
wie die Dinge stehen, können wir nichts dagegen tun!"
Am selben Abend als Henry und Claire mit den Bauern durch den Wald
stapften, saßen Tom und Jenny zum zweiten Mal in dem kalten
Büroraum ihres häuslichen Gefängnisses und wurden
aufgefordert, dem vornehmen Herren auf der anderen Seite des Schreibtisches
alles zu sagen, was sie über Yves Scot und die Bauern wussten.
"Wenn ihr nicht bald redet, werden wir andere Mittel einsetzen,
euch zum Sprechen zu bringen", sagte der vornehme Mann. "Wir
wissen, dass ihr Onk Ark im Fischerhäuschen getroffen habt!
Er hat es uns selbst berichtet! Wir wissen, dass ihr Kontakt zu
den de Sels und den Pignons hattet! Wir wissen, dass ihr wieder
nach Hause fahren wolltet, was wir natürlich verhindern mussten,
damit ihr dort nicht irgendwelche Lügen erzählt. Was wir
allerdings nicht wissen, ist, was ihr dem Journalisten und den Bauern
genau erzählt habt?"
"Nichts!" sagte Tom.
"Und warum ward ihr dann dort?" fragte der Mann höhnisch.
"Warum seid ihr zum Beispiel mit Yves Scot ins Gefängnis
gefahren?"
"Weil er es wollte!" sagte Tom. "Wir wollten ihn
nur interviewen, für unsere Schülerzeitung, und da hat
er uns gleich ins Gefängnis gesteckt. Er wollte, dass wir für
ihn einen guten Kontakt zu dem rätselhaften Jungen herstellen,
den er als Erwachsener nicht bekommen konnte."
"Erzähl mir keine Märchen!" sagte der Mann.
"Ihr wisst genau, dass es keinen rätselhaften Jungen gibt,
sondern dass unser Gefangener einer der Agenten der Moks ist! Onk
Ark hat uns wie gesagt erzählt, dass ihr von Kart Orkid zu
den Moks gebracht worden seid. Nachdem ihr von Onk Ark nichts erfahren
konntet, wolltet ihr Kart Orkid sprechen. Da kam es euch gerade
recht, dass Yves Scot euch ins Gefängnis geschleust hat! Woher
wusstet ihr überhaupt, dass sich der Journalist für Kart
Orkid interessiert?!"
"Von Onk Ark!" sagte Tom erstaunt. "Ich dachte, Onk
Ark hätte Ihnen alles gesagt?!"
Als Tom den erst überraschten, dann wütenden Gesichstausdruck
seines Gegenübers sah, wusste er, dass er einen Fehler gemacht
hatte: Jetzt hatte er Onk Ark ans Messer geliefert! Onk Ark hatte
diesem vornehmen Herrn doch nicht alles gesagt! Hoffentlich würden
sie Onk Ark jetzt wegen seiner Bemerkung nichts antun! Denn auch
wenn Tom Onk Ark nicht leiden konnte, so wollte er doch nicht, dass
er Schuld an Onk Arks Bestrafung war!
"Gut", sagte der Mann. "Dann wüssten wir das.
Nachdem ihr von Kart Orkid, Onk Ark und Yves Scot nichts mehr erfahren
konntet, seid ihr zu den Bauern gefahren. Ich frage mich, warum?"
"Die de Sels sind Bekannte meiner Großeltern", log
Tom. "Wir kennen sie schon sehr lange."
"Kannst du heute eigentlich auch reden?" wandte sich der
Mann plötzlich an Jenny. "Oder hat es dir die Sprache
verschlagen? Wusstest du schon, dass die de Sels alte Bekannte deines
Freundes sind?"
"Ja, sicher" sagte Jenny leise. "Deshalb sind wir
ja nach Frankreich gefahren. Wir wollten eigentlich nur die de Sels
besuchen."
"Und dort ist euch glücklicherweise wieder eingefallen,
dass euch ja eigentlich Kart Orkid nach Frankreich gelockt hat?"
höhnte der Mann. "Und bei einem gemütlichen Waldspaziergang
seid ihr zufällig zu den Moks gelangt? Rein zufällig habt
ihr dort außerdem erfahren, dass ihr in der Prophezeiung der
Moks vorkommt und habt euch dann nach Rochefort aufgemacht?! Mensch,
Kinder, kommt endlich mal zur Sache! Wir wissen weitaus mehr als
ihr glaubt! Das einzige, was wir nicht wissen, ist, welche Märchen
ihr den Bauern aufgetischt habt und was Yves Scot bereits alles
weiß!"
"Warum interessieren Sie sich denn für unsere Märchen?"
fragte Tom mit einem Zittern in der Stimme. "Wenn es nur Märchen
sind, brauchen Sie sich doch nicht dafür zu interessieren?!"
"Märchen können auch Sprengkraft haben!" ließ
sich der Mann überraschender Weise zu einer Antwort herab.
"Während wir ernsthafte Unterredungen in ganz Europa für
das Wohl der Gesellschaft führen, geht ihr durch die Lande
und erzählt zerstörerischen Bockmist!"
"Wir sind doch nur Kinder!" sagte Jenny. "Uns glaubt
eh keiner."
"Und wir werden auch nie wieder etwas erzählen!"
sagte Tom. "Wir waren ja schon auf dem Weg nach Hause! Wir
werden wirklich niemandem mehr irgendetwas erzählen. Bitte
lassen Sie uns gehen!"
"Zu spät!" sagte der Mann. "Ihr müsst auf
jeden Fall hier bleiben, bis alles über die Bühne ist.
Und damit alles schneller über die Bühne geht, helft ihr
uns am besten, indem ihr uns alles sagt, was ihr wisst!"
Tom zuckte hilflos mit den Schultern und Jenny schwieg.
"Mister X, hilf den beiden mal ein bisschen nach!"
Der unsympathische Kerl, der Mister X genannt wurde, trat auf sie
zu und verdrehte Jennys Arm so, dass sie laut aufschrie. Dann riss
er ihren Kopf an den Haaren zurück und drückte ihren Kiefer
zusammen. Schweiß trat ihr auf die Stirn und ihre Augen waren
angstvoll aufgerissen.
"Hören Sie auf!" rief Tom. "Ich sage Ihnen alles!
Aber hören Sie auf!"
Der vornehme Herr nickte, Mister X ließ Jenny los und verzog
sich wieder in die hintere Ecke des Zimmers.
"Kart Orkid kam vor einigen Wochen nach Deutschland und sagte
mir, dass die Moks unsere Hilfe brauchen würden", begann
Tom. "Er sagte, dass Jenny und ich in der Prophezeiung der
Moks vorkommen würden und nur wir ihnen helfen konnten. Jenny
wollte gar nicht mitkommen, aber ich habe sie nach Frankreich gelockt
und zusammen sind wir zu den Moks gegangen. Dort haben sie uns ihre
Prophezeiung vorgelesen und uns ihre Höhle gezeigt. Wir sollten
nach Onk Ark und Kart Orkid suchen, um heraus zu bekommen, weshalb
die Moks laut Prophezeiung genau bedroht sind ..."
"Heißt das, dass die Moks damals noch nicht wussten,
wodurch sie bedroht sind?" fragte ihr Gegenüber.
"Sie sind vor allem davon ausgegangen, dass ihre Höhle
entdeckt werden würde", sagte Tom. "Sie haben befürchtet,
dass Onk Ark, oder vielleicht auch Kart Orkid, ihre Heimat verraten
und sie dann die Höhle verlassen werden müssen. Unabhängig
davon haben sie aber auch Angst vor einer anderen Katastrophe gehabt,
denn in der Prophezeiung stand, dass gelber Hagel fallen würde."
"Ich kenne die Prophezeiung", sagte der Mann. "Was
habt ihr über die Katastrophe in Erfahrung bringen können?"
"Nicht viel", sagte Tom zu Jennys Verwunderung. "Onk
Ark scheint zwar in irgendwelche dunklen Machenschaften verstrickt
zu sein. Aber sie scheinen nichts mit den Moks oder deren Auffindung
zu tun zu haben. Denn sonst hätte man die Moks ja schon längst
entdeckt?"
"Was ist mit Kart Orkid und dem schwarzen Zeichen auf gelbem
Grund?" fragte der Mann.
"Wir glauben, dass es irgendetwas mit Biogefährdung zu
tun hat!" sagte Tom. "Denn wir haben heraus bekommen,
dass das Zeichen für Biogefährdung drei schwarze Kreissymbole
auf gelbem Grund hat."
"Und was hat das mit den Moks zu tun?" fragte der Mann
lauernd.
"Vielleicht ist das Areal um die Höhle herum verseucht!"
sagte Tom und klang dabei, als ob er sich selbst glaubte. "Vielleicht
sickert das vergiftete Grundwasser dann in die Höhle und vergiftet
damit auch das Trinkwasser der Moks! Das wäre eine ziemliche
Katastrophe für die Moks!"
"Und was haben die Bauern damit zu tun?"
"Deren Familien sind mit den Moks seit Jahrhunderten befreundet",
sagte Tom. "Die Moks haben uns erzählt, dass wir uns an
sie wenden sollen, wenn wir nicht mehr weiter wüssten. Wir
wollten die Bauern deshalb erstens fragen, ob es sein kann, dass
der Wald mit biogefährlichen Stoffen verseucht sein kann. Und
zweitens wollten wir, dass sie uns helfen."
"Was helfen?" fragte der Mann.
"Die Moks vor der Biogefährdung zu schützen."
"Und wie sollte das eurer Meinung nach gehen?"
"Das wussten wir eben nicht", sagte Tom. "Genau deshalb
wollten wir ja, dass sich die Bauern weiter um die Biogefährdung
und die Moks kümmern."
"Und?" fragte der Mann weiter.
"Sie haben versprochen, sich darum zu kümmern", sagte
Tom. "Und sie haben uns am nächsten Tag zum Zug gebracht!"
"Das ist alles?" fragte der Mann und schaute Tom und Jenny
nachdenklich an.
"Ist das nicht viel?" fragte Tom.
"Wir werden sehen!", sagte der Mann. "Und wir werden
sehen, ob du die Wahrheit gesagt hast. Sonst ...!"
Tom und Jenny wurden von Mister X grob gepackt und in den Keller
zurück geschubst. Als er die Tür hinter ihnen verriegelt
hatte, sagte Jenny besorgt: "Was hast du dir nur dabei gedacht,
das zu erzählen?"
"Psst!" flüsterte Tom und sah Jenny bedeutungsvoll
an. "Vielleicht belauschen sie uns! Wir dürfen uns nur
noch ganz leise unterhalten!"
"Dann haben sie uns schon die ganze Zeit belauscht!" meinte
Jenny, senkte aber trotzdem die Stimme und stellte sich dicht neben
Tom. "Ich verstehe nicht, warum du sie angelogen hast! Anstatt
von Biogefährdung zu reden, hättest du ihnen doch auch
von unserem eigentlichen Verdacht erzählen können! Das
kommt doch beides aufs Gleiche raus."
"Kommt es nicht", flüsterte Tom. "Die Vergiftung
ist im Wald, das Endlager in der Höhle! Sie wissen also noch
nicht, dass wir und die Bauern davon ausgehen, dass die Höhle
selbst betroffen ist!"
"Und was, wenn sie heraus bekommen, dass du sie angelogen hast?"
flüsterte Jenny ängstlich. "Glaubst du nicht, dass
sie uns dann umbringen werden?"
"So etwas darfst du nicht denken!" sagte Tom und legte
seinen Arm um Jenny. "Jetzt haben sie erst einmal etwas an
der Biogefährdung zu kauen. Und sie fühlen sich in Sicherheit,
was das Endlager angeht. Vielleicht gibt das den Bauern Zeit, ihren
Widerstand zu organisieren, und vielleicht gibt es auch uns Zeit,
hier lebend wieder heraus zu kommen."
"Wie denn?" sagte Jenny leise.
"Einfach, indem sich unsere Eltern langsam Sorgen machen und
uns suchen!" sagte Tom. "Spätestens wenn wir offiziell
aus dem Ferienlager City Kids wieder nach Hause kommen müssten,
es aber nicht tun, werden sie sich fragen, wo wir bleiben!"
"Wie lange sind wir überhaupt schon hier?" fragte
Jenny. "Drei, vier oder fünf Tage?"
"Heute ist Samstag", sagte Tom. "Das habe ich vorhin
auf der Armbanduhr von dem Mann ablesen können."
"Also sind wir offiziell noch über eine Woche im Ferienlager!"
flüsterte Jenny verzweifelt. "So lange halte ich es hier
drin nicht mehr aus!"
"Doch, das tust du!" sagte Tom und drückte Jenny
fest an sich. "Du musst es aushalten, schon mir zuliebe! Und
ich muss es aushalten, dir zu liebe! Jenny, wir schaffen das! Schließlich
wurden wir in der Gralsquelle getauft! Erinnerst du dich?! Das Wasser
hat uns stark gemacht! Wir sind geweiht!"
Jenny nickte und vergrub ihren Kopf in Toms Halsbeuge. Tom streichelte
Jenny unbeholfen über ihren bebenden Rücken und suchte
mit der freien Hand in seiner Hosentasche nach einem Taschentuch.
"Und wir haben die Prophezeiung!" schluchtzte Jenny. "Tom,
mit der Gralstaufe und der Prophezeiung kann uns doch eigentlich
nichts passieren! Oder?"
Tom nickte. Aber während er Jenny sanft an sich drückte,
liefen auch ihm Tränen über die Wangen.
Ende Teil 9
Die Fortsetzung des Romans könnt ihr in der nächsten Rossipotti-Ausgabe lesen!
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