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Das geheime Buch
Reise ins Ungewisse
von
Heiko Bacher
Fortsetzung: Teil 5
Wer nicht alles mitbekommen hat und nicht
nur die kurze Zusammenfassung lesen möchte, geht ganz an den Anfang
zur 18. Ausgabe zurück oder zur
letzten Rossipotti-Ausgabe
Was bisher geschah:
Der dreizehnjährige Tom wird von Kart
Orkid, einem Agenten des unbekannten Volkstammes Mok, gebeten, sein
Volk vor der Entdeckung und Zerstörung zu retten. Tom verspricht
zu helfen und in den Sommerferien nach Frankreich zu den Moks zu
fahren. Doch nicht nur er, sondern auch die zwölfjährige
Jenny soll den Moks helfen. Denn in dem uralten "Buch des Tuns"
der Moks steht geschrieben, dass nur die beiden Kinder den Moks
helfen können. Jenny glaubt Kart Orkid kein Wort und denkt
nicht daran, nach Frankreich zu fahren. Auch nicht, als Kart Orkid
auf rätselhafte Weise verschwindet und das Oberhaupt der Moks
Tom einen hilferufenden Brief schreibt. Doch Tom lockt Jenny mit
einer fingierten Entführung in die Auvergne und überredet
sie, dort mit ihr nach den Moks zu suchen. Jenny willigt ein, und
ein paar Schwierigkeiten und getrennte Wege später treffen
sie den ersten Mok, Lurk, in einer großen, viel verzweigten
Höhle.
Lurk führt die Kinder durch die Höhle zur Hauptversammlung
der Moks vor deren Oberhaupt, Pok Alk. Dort erfahren sie, was der
Gründer des Mokstamms den Moks prophezeit hat: Zwei Kinder,
To-Am und Jen-Yi, werden kommen und die Moks vor gelbem Hagel und
dem Untergang ihres Stammes retten. - Nach der Versammlung werden
Jenny und Tom zu einer Mokfamilie (den Eltern Lenka und Enk und
der Tochter Kala) gebracht, die die beiden Kinder in einer Art Schnellkurs
in die Sitten und Gebräuche einführen soll. Am nächsten
Morgen zeigt Kala den beiden Kindern zuerst die Bibliothek. Dort
sollen sich Tom und Jenny mit der Kultur der Moks beschäftigen.
Sie erfahen, dass die Moks zu dem kleinwüchsigen, afrikanischen
Volksstamm der Pygmäen gehören und als indigenes Volk
von den großwüchsigen Menschen in Europa bedroht und
versklavt wurden. Aus dem Grund verstecken sie sich seit vielen
Jahrhunderten in der Höhle. Weil Onk Ark, ein Mitglied ihres
Volksstamms, aus der Höhle geflohen und Kart Orkid immer noch
verschwunden ist, haben die Moks große Angst, von den großen
Menschen entdeckt und wieder verfolgt zu werden. Sie trauen sich
nicht mehr aus der Höhle, um mit den wenigen, befreundeten
Bauern Waren und Essen zu tauschen und befinden sich in einer Art
Ausnahmezustand.
Tom und Jenny sollen die Moks aus dieser misslichen Situation befreien
und die Prophezeiung erfüllen. Aber wie den beiden das gelingen
solll, weiß niemand. Bevor die beiden Kinder aufbrechen, werden
sie von Kala und ihren Freunden im Gralsbecken getauft, um ihnen
Stärke und Schutz zu verleihen. Am nächsten Morgen brechen
Tom und Jenny auf und erblicken nach drei Tagen in der Höhle
endlich wieder das Tageslicht ...
Aufbruch ins Blaue
Als Jenny und Tom den Farnvorhang beiseite schoben und nach draußen
traten, schlug ihnen eine Wand aus Hitze und Licht entgegen. Am
liebsten wäre Jenny gleich wieder in die Höhle zurück
geflohen.
Musste es hier draußen auch so heiß und hell sein? Obwohl
die Bäume das Sonnenlicht dämpften, brauchten Jennys Augen
einige Minuten, bevor sie sich wieder an die Helligkeit gewöhnt
hatten.
"Lass uns vom Eingang verschwinden", sagte Tom. "Nicht,
dass zufällig noch jemand kommt und neugierig wird."
Er vergewisserte sich, dass das Farnkraut den Höhleneingang
wieder vollständig verdeckte und sprang die Steinterrassen
aus Kalktuff hinab.
"Warte auf mich", sagte Jenny. Sie war erstaunt, wie flach
sich ihre Stimme hier draußen anhörte. Als ob ihr der
volle Klangkörper fehlte.
Sie stolperte Tom hinterher und holte ihn erst ein, als er schon
ganz unten an der Kalktuffwand angekommen war.
"Ich muss mir erst etwas Vernünftiges anziehen",
sagte Jenny und warf ihren Rucksack ins Gras. Dann tauschte sie
ihren dicken Pullover und die lange Hose gegen ein T-Shirt und einen
kurzen Rock aus.
Auch Tom zog seinen Pullover aus und holte sich ein T-Shirt aus
seinem Rucksack.
"Seit vorgestern scheinen viel mehr als nur drei Tage vergangen
zu sein", sagte Jenny nachdenklich. "Die Jenny, die in
die Höhle stieg, ist nicht mehr die gleiche, die wieder herauskommt."
"Sondern mit allen Wassern gewaschen", grinste Tom.
"Ha, ha", machte Jenny. "Wie witzig!"
Sie schulterte ihren Rucksack und ging in die Richtung, in der sie
das Dorf Rudez vermutete.
"Wo gehst du denn hin?" fragte Tom.
"Ich muss meinen Bus in Rudez kriegen", sagte Jenny.
"Ach, und das soll jetzt witzig sein?" fragte Tom. "Oder
fährst du wirklich nach Hause?"
"Quatsch", sagte Jenny. "Aber müssen wir nicht
sowieso nach Rudez? Irgendwie müssen wir ja nach Rochefort
kommen."
"Was hältst du von Trampen?" fragte Tom.
"In unserem Alter?" fragte Jenny. "Da fallen wir
schneller auf als die Polizei es erlaubt."
"Wahrscheinlich hast du Recht", meinte Tom. "Gut,
gehen wir nach Rudez."
Eine Stunde später saßen die beiden am Straßenrand
von Rudez und warteten auf den Bus nach Aurillac. Jenny legte den
Kopf in den Nacken und sah sich am Blau des Himmels satt. Auch wenn
sie die Kultur der Moks faszinierend fand und ihr völlig anderes
Leben auch irgendwie bewunderte, verstand sie nicht wirklich, wie
man sich sein Leben lang in einer dunklen, engen Höhle verstecken
konnte. Sie selbst brauchte Licht, Luft und die Weite des Himmels,
um leben zu können.
"Wie viel Geld haben wir eigentlich noch?" fragte Jenny.
"Nach der Zugfahrt von Neuhaus bis Aurillac ist sicher nicht
mehr viel übrig von den dreihundert Euro, die du meiner Mutter
abgetrickst hast. Und ich habe auch nur hundertsiebzig Euro dabei."
"In Saus und Braus werden wir sicher nicht leben können",
meinte Tom. "Aber ich habe ein paar Hunderter bei meinen Eltern
locker gemacht. Schließlich bin ich offiziell auch im Ferienlager
und sie haben das Geld nicht an city kids überwiesen,
sondern mir bar gegeben. Außerdem habe ich noch meine Ersparnisse
von 800 Euro dabei."
Jenny pfiff durch die Zähne. Toms Eltern hatten offensichtlich
einiges mehr Geld als ihre Mutter. Aber das hatte sie eigentlich
auch schon immer vermutet. Immerhin wohnte Tom nicht in einer Wohnung
wie sie, sondern in einem allein stehenden Haus mit Garten.
"Das hört sich mehr an als es ist", interpretierte
Tom Jennys Pfeifen falsch. "Die beiden Fahrkarten hierher haben
knapp 300 Euro gekostet und dann hast du noch über 100 Euro
für die Fahrkarte nach Deutschland aus dem Fenster geworfen."
"Hey, die brauche ich als Sicherheit, dass ich wirklich wieder
nach Hause komme."
"Ist ja schon gut!" sagte Tom. "Aber wenn wir nicht
trampen, weil es zu auffällig oder gefährlich ist, werden
wir tatsächlich keine großen Sprünge machen können.
Allein schon die Fahrten werden einen Großteil unseres Geldes
verschlingen."
"Der Bus kommt!" sagte Jenny. Sie stand auf, klopfte den
Staub von der Hose und schulterte ihren Rucksack.
Der Bus hielt direkt neben ihnen und der gleiche Fahrer, der sie
schon hier her gebracht hatte, machte ihnen die Tür auf.
"Das war aber ein kurzer Urlaub!" begrüßte
er die beiden.
Tom nickte und bezahlte die Tickets. Jenny verdrückte sich
schnell nach hinten. Bloß kein Gespräch mit dem Busfahrer!
Erstens war ihr Französisch dafür viel zu schlecht und
außerdem merkte er dann vielleicht schon nach dem zweiten
Satz, dass sie gar keinen Besuch in dem Dorf gemacht hatten.
"Wir haben also etwas über tausend Euro", setzte
Jenny das Gespräch von vorhin fort. "Das ist zwar einiges
mehr als bei meiner letzten Fahrradtour mit Hella, aber trotzdem
nicht genug, um zu zweit drei Wochen durchzukommen. Hella und ich
haben nur in Jugendherbergen geschlafen, aber nach zehn Tagen konnten
wir uns trotzdem nur noch von Wasser und Brot ernähren. Und
wir mussten damals nicht einmal die Fahrtkosten bezahlen. Hast du
zufällig ein kleines Zelt in deinem Rucksack?"
"Nein", sagte Tom. "Übringens sind Campingplätze
auch relativ teuer. Und wild zelten ist in Frankreich verboten.
Falls wir je erwischt werden, können wir den Moks auch nicht
mehr helfen."
"Dann eben doch wieder Jugendherberge", sagte Jenny. "Da
fallen wir auf jeden Fall nicht auf."
"Wenn Onk Ark gewusst hätte, dass es Hotels für Kinder
und Jugendliche gibt, wäre er sicher auch in eine Juhe gegangen",
meinte Tom.
"Vielleicht hat er es ja darauf angelegt, bemerkt zu werden",
sagte Jenny.
"Warum denn?" sagte Tom. "Gebracht hat es ihm jedenfalls
nichts. Jetzt sitzt er im Waisenhaus."
Jenny zuckte mit den Schultern und schaute gedankenverloren aus
dem Fenster. Irgendwie kam ihr die Sache mit Onk Ark und Kart Orkid
seltsam vor. Irgendetwas stimmte da nicht. Sie konnte zwar keine
Erklärung dafür finden, aber schließlich gab es
auch keine vernünftige Erklärung dafür, warum Onk
Ark sich so unvorsichtig verhalten hatte.
"Wir sind da", Tom stand auf und lief zur Bustür.
Jenny nickte und sprang hinter ihm aus dem Bus.
"Und was sollen wir jetzt tun?" fragte sie.
"Zuerst fahren wir nach Rochefort!" sagte Tom. "Und
dann sehen wir weiter."
"Wenn mein Handy eines der neuen wäre, könnten wir
jetzt nachsehen, wie wir nach Rochefort kommen", sagte Jenny.
"Aber meine Mutter war ja der Meinung, dass ich so etwas überhaupt
nicht brauche."
"Brauchst du auch nicht", sagte Tom und zeigte auf ein
Fahrkartenhäuschen, "Zum Glück gibt es immer noch
eine reale Infrastruktur. Übrigens habe ich auch kein Smartphone."
"Du bist ja auch ein hoffnungsloser Fall", maunzte Jenny
und trottete hinter Tom zum Fahrkartenhäuschen.
Der Fahrkartenverkäufer machte umständlich ein kleines
Fenster auf und fragte, was die beiden wünschten.
"Fährt hier ein Bus nach Rochefort?" fragte Tom auf
französisch.
"Kommt darauf an, welches Rochefort", sagte der Verkäufer
gedehnt. "Rochefort du Gard, Rochefort en Terre, Rochefort
en Valdaine, Rochefort Montagne, Rochefort sur Loire ..." Jenny
stöhnte. Wenn es so viele verschieden Rocheforts gab, würden
sie Onk Ark nie finden. Aber Tom ließ sich nicht aus der Ruhe
bringen.
"Gibt es auch ein Rochefort, das am Atlantik liegt?"
"In Frankreich oder Belgien?"
"Frankreich."
"Dann meinst du wahrscheinlich Rochefort Charente-Maritim",
sagte der Verkäufer. "Aber da fährt kein Bus von
hier aus. Da müsst ihr mit dem Zug fahren." Er zeigte
Richtung Bahnhof und Tom bedankte sich für die Auskunft.
"Woher weißt du, dass mit Rochefort die Stadt am Meer
gemeint ist?" fragte Jenny, als sie zum Bahnhof liefen.
"Weil die Moks von Rochefort am Atlantik geredet haben."
"Vielleicht weil sie kein anderes Rochefort kannten?"
sagte Jenny. "Im Grunde wissen die Moks doch nicht mehr als
wir. Außerdem liegt Belgien doch auch am Atlantik? Dann könnte
es genau so gut das belgische Rochefort sein."
"Und wenn schon", sagte Tom. "Irgendwo müssen
wir doch anfangen. Oder hast du einen besseren Einfall?"
Jenny schüttelte den Kopf. Nein, sie hatte leider auch keinen
besseren Plan.
Und im Grunde war sie froh, dass Tom die Stadt am Atlantik ausgesucht
hatte. So würde sie heute noch das Meer sehen!
Eigentlich war es toll, dass sie mehr oder weniger ziellos durch
Frankreich fuhren. Eigentlich konnte sie sich beinahe entspannt
zurück lehnen, das Geld auf den Kopf hauen und sich wie im
Urlaub fühlen.
Und vor drei Tagen, als ihr die Moks wie ein wilde Fantasie Toms
vorgekommen waren, wäre ihr so eine Fahrt ins Blaue sicher
viel lieber gewesen, als die Aussicht auf ein gefährliches
Abenteuer.
Aber: Seit diesen drei Tagen hatten sich die Umstände eben
erheblich geändert. Sie hatte die Moks kennen gelernt und wusste
nun aus erster Hand, dass dieses Volk von ihr und Tom erwarteten,
gerettet zu werden. Und sie fühlte sich den Moks aus irgendeinem
Grund gegenüber verpflichtet und wollte ihnen auch helfen.
Die große Frage war nur, wie?
Sie hatten keine Ahnung, was überhaupt von ihnen erwartet wurde.
Vielleicht gab es ja nicht einmal eine Gefahr und die Prophezeiung
und ihre ganzen Rettungsversuche würden sich als unsinniger
Witz erweisen?
Tom wedelte mit den gerade gekauften Zugfahrkarten vor Jennys Gesicht.
"Schweifen deine Gedanken mal wieder in die Eisdiele oder ins
Schwimmbad von Neuhausen ab?" sagte Tom.
"Ganz im Gegenteil", sagte Jenny. "Ich denke nur,
dass es etwas ganz anderes ist, ein Abenteuer in echt zu erleben,
als darüber zu lesen. In Büchern kommt das Abenteuer automatisch.
Alles fügt sich so schlüssig zueinander. Es geht nur darum,
dass der Held in einer unausweichlichen Situation mutig, schlau
oder stark ist. Aber im echten Leben? Wir wissen überhaupt
nicht, was wir tun sollen. Das Abenteuer kommt nicht auf uns zu
und sagt, 'Hallo, kämpfe mit mir!', sondern wir müssen
es irgendwo suchen. Die Moks erwarten, dass wir uns mutig vor sie
stellen. Aber wie denn? Wo ist denn unser Ungeheuer, gegen das wir
kämpfen sollen?"
"Hier!" sagte Tom und zeigte auf den Zugfahrplan in der
Bahnhofshalle. "Der Zug braucht neuneinhalb Stunden nach Rochefort!"
"Ich meine doch nicht den alltäglichen Stress, sondern
echte Gefahren!" maulte Jenny.
"Natürlich ist ein Abenteuer im Buch etwas anderes als
in echt", sagte Tom. "Und weißt du auch warum? Weil
man im Buch die langweiligen Stellen weglässt. Aber ich verspreche
dir: Falls wir unsere Geschichte je danach aufschreiben, machen
wir es genauso! Dann wirst du staunen, wie abenteuerlich es bei
uns zugegangen ist: Die Helden gingen nach Rochefort, um den Feind
aufzuspüren. Doch da fiel gelber Hagel und schlug sie in die
Flucht. Aber Tom und Jenny gaben nicht auf. Als der gelbe Hagel
endlich zu fallen aufhörte, schnappten sich Tom und Jenny den
Feind und retteten so die Moks."
"Ich dachte, du nimmst die Moks ernst", sagte Jenny, konnte
sich ein Grinsen aber nicht verkneifen.
"Tu ich auch!" sagte Tom. "Ich wollte dich nur etwas
aufmuntern. Im übrigen finde ich, dass unsere letzten drei
Tage fürs erste abenteuerlich genug waren. Da macht es nichts,
wenn wir mal ein paar Tage Abenteuerpause haben."
"Gleich ein paar Tage?!" sagte Jenny. "So viel Zeit
haben wir nicht. Dann sind unsere Ferien um, und wir haben nichts
erreicht."
"Unsere Ferien gehen noch über vier Wochen", stellte
Tom sachlich fest. "Aber gehen wir lieber zu unserem Gleis.
In fünf Minuten kommt der Zug."
Wieder eine tagesfüllende Zugfahrt. Wieder banges Fragen,
ob Jenny das Richtige tat. Immerhin wusste sie jetzt, dass es die
Moks wirklich gab. Und wer weiß, vielleicht wusste sie in
weiteren drei Tagen ja, wie sehr die Moks bedroht waren und ob überhaupt?
Tom schien die Fahrt zu genießen. Er erzählte Jenny von
früheren Frankreichurlauben, machte sie draußen auf Fasane,
Bussarde oder Rehe aufmerksam und zeigte ihr Burgen und nette Stadtansichten.
Als er merkte, dass Jenny nicht ganz bei der Sache war, stöpselte
er sich seinen MP3 Player in die Ohren und döste ein Weilchen.
Jenny ließ die Gedanken schweifen und versuchte, nicht an
die Moks und ihre seltsame Prophezeiung zu denken.
Plötzlich fiel ihr ein, dass sie dringend ihre Mutter anrufen
sollte. Was, wenn ihre Mutter schon öfters versucht hatte,
sie zu erreichen? Hatte sie dann womöglich schon bemerkt, dass
es das von Tom erfundene Ferienlager city kids gar nicht
gab?
Jenny kramte ihr Handy aus dem Rucksack, schaltete es an und stellte
erleichtert fest, dass die Batterien noch fast voll waren.
"Bist du das Jenny?" meldete sich ihrer Mutter. Jenny
glaubte, aus ihrer Stimme Gewissensbisse heraus zu hören, weil
sie Jenny ohne deren Einwilligung ins Camp geschickt hatte. "Warum
meldest du dich nicht? Ich habe dir mindestens fünfmal auf
deine Mailbox gesprochen."
Mist! Jenny hatte weder die Mailbox abgehört, noch hatte sie
sich überlegt, welche Geschichte sie ihrer Mutter auftischen
sollte. Aus dem Bauch heraus sagte sie: "Tut mir leid, Mama.
Aber so ein blöder Idiot aus dem Feriencamp hat mir das Handy
weggenommen, weil er gemeint hat, das sei irre witzig."
"Wahrscheinlich ist er interessiert an dir?!"
Jenny stieß erleichtert Luft aus. Ihre Mutter hatte die Ausrede
ohne Probleme geschluckt und auch offenbar noch nicht im Feriencamp
angerufen.
"Doch, Jungs sind so", interpretierte ihre Mutter ihr
Prusten. "Und offensichtlich hat er dir das Handy reumütig
wieder zurück gebracht. Er ist sicher verliebt in dich."
"So ein Quatsch!" sagte Jenny.
"Warum?" fragte Jennys Mutter. "Ist er nicht nett?"
Jenny schaute Tom an und sagte: "Es geht so. Aber meistens
geht er mir auf die Nerven."
"Lass die Dinge einfach auf dich zukommen, Jenny. Verkrampf
dich nicht. Das habe ich viel zu lange gemacht, und es ist mir nicht
gut bekommen. Denke nur an den Augenblick, nicht an das Morgen.
Das kommt früh genug. A propos: Klaus klingelt gerade an der
Tür! Wir müssen Schluss machen. Pass gut auf dich auf!
Und melde dich bald wieder! Tschüß!"
"Tschüß!" murmelte Jenny und schaltete das
Handy ab.
Das war wieder mal typisch für ihre Mutter! Da wartet sie angeblich
drei Tage auf den Anruf von ihrer Tochter. Aber wenn der dann kam,
war ihr wieder einmal Klaus wichtiger als sie! Andererseits konnte
ihr nur recht sein, wenn ihre Mutter so schnell aufgelegt hatte.
Da konnte sich Jenny schon nicht verplappern. Oder umgekehrt: Sie
musste nicht so viel lügen.
"Gibt's was Neues?" fragte Tom und streckte sich. Offensichtlich
hatte er mitbekommen, dass Jenny ihre Mutter angerufen hatte.
"Nein", sagte Jenny. "Alles in bester Ordnung. Sie
meinte, ich solle nur an den Augenblick denken und gut auf mich
aufpassen."
"Hast du ihr etwa etwas von unserem Auftrag erzählt?"
brauste Tom auf.
"Quatsch", sagte Jenny. "Aber so ist meine Mutter
nun einmal: Hat keine Ahnung, worum es gerade geht und trifft trotzdem
ins Schwarze! Übrigens sind wir in einer halben Stunde in Rochefort."
"Wird allmählich auch Zeit", sagte Tom. "Ich
habe ziemlichen Hunger. Und weißt du was: Nach drei Tagen
Moknahrung muss ich erst mal wieder etwas Lichtdurchflutetes zwischen
die Zähne bekommen."
Als Jenny und Tom in Rochefort aus dem Zug stiegen, waren sie überrascht,
wie klein der Bahnhof war.
"Rochefort scheint eine Kleinstadt zu sein", sagte Tom.
"Wenn wir Glück haben, läuft uns Onk Ark direkt vor
die Füße."
"Wenn er überhaupt hier ist", sagte Jenny und schaute
sich nach dem Ausgang um.
Vor dem Bahnhof war ein kleiner Platz mit einigen Parkplätzen.
Jenny hatte bisher geglaubt, dass in südlichen Ländern
abends immer der Bär tobte, aber hier war nicht gerade viel
los. Die meisten der wenigen Leute, die in Rochefort ausgestiegen
waren, verschwanden in irgendwelchen Autos. Der Rest gruppierte
sich an einer Bushaltestelle.
"Am besten, wir fahren mit dem Bus zuerst in die Jugendherberge."
"Ach, und wo ist die?" fragte Jenny.
"Keine Ahnung, aber das lässt sich sicher herausfinden",
sagte Tom zuversichtlich und ging auf die Wartenden an der Bushaltestelle
zu.
Nach ein paar Minuten winkte er Jenny zu sich:
"Wir haben Glück. Der Bus muss jeden Augenblick kommen.
Ich hoffe nur, dass die Jugendherberge noch freie Plätze hat."
Der Bus fuhr wieder ein Stück zurück in die Richtung,
aus der sie gekommen waren. Wie so oft, schien auch diese Jugendherberge
etwas außerhalb der Stadt zu liegen. Jenny war erstaunt, wie
breit die Straßen und wie nieder die Häuser waren. Sie
war zwar noch nie in Frankreich gewesen, aber irgendwie hatte sie
gedacht, dass sich die französischen Städte entweder in
engen Gassen um malerische Häuser wanden oder prächtige
hohe Häuser mit verzierten Wänden an breiten Chausseen
standen.
Hier sah es dagegen eher so aus, wie sie sich amerikanische Städte
vorstellte. Die einzelnen Häuser waren erstaunlich weit auseinander
und duckten sich in vorgelagerte Gärten. Außer ein paar
Autos auf den Straßen wirkte alles etwas unbelebt. Aber vielleicht
lag es daran, dass der Bus gerade durch einen Außenbezirk
fuhr?
Doch nachdem der Bus unter einer Autobahn durchgefahren war, bog
er in ein schönes Viertel mit alten Häusern ein.
"Wir müssen raus", sagte Tom nach ein paar Minuten
und zog Jenny hinter sich her.
Bald standen sie vor einem einladend wirkenden Haus mit dem bekannten
dreieckigen internationalen Wimpel der Youth hostels. Und bald hatten
sie in ihre Viererzimmer eingecheckt. Jenny bei den Mädchen,
Tom bei den Jungs.
"Mann, habe ich einen Kohldampf", sagte Tom, als Jenny
an seine Tür klopfte. "Lass uns essen gehen!"
"Meinst du wirklich, dass wir Geld dafür haben?"
sagte Jenny. "Eigentlich haben wir genug Proviant für
die nächsten fünf Tage dabei."
"Und ich dachte, du bist die Verfressenere von uns beiden!"
grinste Tom. "Also wenn du lieber unseren Proviant essen willst,
gerne. Dann gehe ich alleine essen."
"Wenn du denkst, dass du das Geld alleine auf den Kopf hauen
kannst, während ich hier trockene Moknahrung kaue, hast du
dich geschnitten."
"Prima", sagte Tom. "Dann lass uns in das Restaurant
gehen, an dem wir vorhin vorbei gefahren sind."
Jenny hatte das Restaurant zwar nicht bemerkt, war aber froh, dass
sie einfach nur neben Tom her laufen musste.
Das Restaurant war mit nur fünf Tischen ziemlich klein und
sah zum Glück nicht besonders teuer aus. Tom und Jenny wurden
an einen Zweiertisch im hinteren Raum geführt und bekamen eine
Speisekarte.
"Typisch, dass wir nicht am Fenster sitzen durften!" maulte
Jenny. "Wenn wir erwachsen wären, würden wir jetzt
nicht kurz vor dem Klo sitzen."
Tom zuckte mit den Schultern und schaute sich um. An den Wänden
hingen Bilder von einem brennenden Segelschiff im Hafen, einem großen
Steintor und einer Brücke.
"Nach dem Essen würde ich gerne ans Meer gehen!"
sagte Jenny. "Ich war noch nie am Atlantik."
"Rochefort liegt gar nicht direkt am Meer", sagte Tom,
"sondern mindestens fünfzehn Kilometer landeinwärts."
"Woher weißt du das?"
"Vorhin am Busbahnhof habe ich den Stadtplan studiert."
"Und was sollen dann die Hafenbilder hier drin?" fragte
Jenny, "ist auf denen gar nicht Rochefort abgebildet?"
"Keine Ahnung", sagte Tom. "Der Hafen hier liegt
jedenfalls an einem Fluss."
Jenny blätterte durch die Karte und legte sie frustriert zur
Seite. "Ich verstehe eh nicht, was ich bestelle. Dann kann
ich gerade so gut das Billigste nehmen."
"Nicht schlecht", sagte Tom und übersetzte: "Hähnchen
mit Fritten und Salat. Das gleiche nehme ich auch."
Während sie auf das Essen warteten, zeigte Tom mit dem Kopf
in Richtung Tresen und sagte:
"Der Wirt starrt die ganze Zeit in unserer Richtung."
"Wahrscheinlich ist es ihm langweilig", vermutete Jenny
und drehte sich nach dem Wirt um. "Hier drin ist ja auch nicht
gerade viel los."
"Ich glaube nicht, dass das der Grund ist", sagte Tom.
"Dem geht irgend etwas im Kopf rum. Das sieht man doch!"
"Du und deine Fantasien!" Jenny verdrehte die Augen. "Warum
sollte er irgendein Interesse an uns haben?"
"Wir sind in Rochefort!" sagte Tom, beugte seinen Kopf
zu Jenny vor und zitierte leise die Prophezeiung: "Die Freundschaft
wird verunreinigt durch Streit/den Hass suchend, der ganze Glaube
verdorben und die Hoffnung, Rochefort, ohne Einsicht ..."
"Der einzige, der hier ohne Einsicht ist, bist du", sagte
Jenny. "Allerdings wundere ich mich, dass du die Prophezeiung
schon auswendig kannst."
"Ich bin eben gut vorbereitet", erklärte Tom. "Stelle
dir vor, jemand stiehlt uns die Prophezeiung und ..."
Tom hörte abrupt auf, zu sprechen, weil der Wirt ihnen das
Hähnchen mit Pommes brachte. Anstatt wieder zu gehen, blieb
er an ihrem Tisch stehen und fragte:
"Vous êtes des Allemandes?"
Jenny und Tom nickten.
"Von wo?" fragte er auf deutsch weiter.
"Neuhausen", sagte Jenny. Tom verpasste ihr einen Tritt
unter dem Tisch, aber Jenny fand nichts dabei, auf eine so harmlose
Frage zu antworten.
"Ist das in der Nähe vom Schwarzwald?" fragte der
Wirt weiter.
"Nicht wirklich", sagte Jenny. "Neuhausen liegt zwar
auch noch in Süddeutschland, aber einiges nordöstlicher
als der Schwarzwald."
"Der Schwarzwald ist sehr schön", sagte der Wirt.
"Da wohnt meine Tante. Als Kind war ich immer in den Sommerferien
dort. Ward ihr mal im Schwarzwald?"
"Nur kurz", versuchte Tom das Gespräch zu beenden.
"Immer dann, wenn wir in den Frankreichurlaub fahren."
"Und wo sind eure Eltern?" fragte der Wirt.
"Wir treffen sie nachher in der Stadt", sagte Tom und
sah Jenny bedeutungsvoll an. "Wir hatten keine Lust auf ihr
Kulturprogramm."
"Gut, dass ihr nicht allein reist", sagte der Wirt. "Ich
dachte schon, dass ihr eines dieser Kinder seid, die nachher im
Waisenhaus landen."
"Welche Kinder?" Tom tat erstaunt. "Und warum Waisenhaus?"
"Haben die deutschen Zeitungen etwa nichts von den beiden mysteriösen
Kinder-Fällen berichtet?" fragte der Wirt.
Tom und Jenny schüttelten den Kopf.
"Hier wurde zwei Wochen lang über nichts anderes geredet",
sagte der Wirt. "Aber das ganze ist ja auch hier in Rochefort
passiert. Direkt vor unserer Haustür! Einen der beiden Jungen
habe ich sogar selbst bewirtet! Da am Fenster saß er und bestellte
sich ein blutiges Steak mit Nudeln. Das kam mir gleich komisch vor.
Welches Kind bestellt sich schon ein blutiges Steak? Aber ihm schien
es geschmeckt zu haben. Richtig ausgehungert schien mir der Junge.
Und einen merkwürdigen Dialekt hatte er. So ein kehliges Französisch
wie ich es noch nie gehört habe."
"Und deshalb wurde er ins Waisenhaus gesteckt?" fragte
Tom.
"Ah?! Bah!" machte der Wirt. "Natürlich nicht!
Ich rufe doch nicht die Polizei an, weil sich einer ein blutiges
Steak bestellt! Nein, die Kinder sind auch anderen aufgefallen.
Kurz nacheinander tauchten die wie aus dem Nichts auf. Weder sie
selbst, noch irgend jemand anderes konnte sagen, wohin sie gehören.
Mindestens einer davon, übrigens der, der bei mir sein Steak
gegessen hat, war nicht ganz richtig im Kopf. Er behauptete, er
sei erwachsen und zeigte einen selbst gemalten Pass vor! Der andere
war dagegen, laut Medienberichten, total zugeknöpft und schien
vor irgendetwas große Angst zu haben. Da man ihre Eltern nicht
fand, ging die Polizei schließlich davon aus, dass sie irgendwelchen
kriminellen Schlepper- oder Diebesbanden aus dem Osten davon gelaufen
sind."
"Und wo sind die beiden jetzt?" fragte Tom.
"Wie gesagt: Im Waisenhaus", sagte der Wirt. "Bei
dem ersten hatten sie zuerst überlegt, ob man ihn nicht besser
in eine Psychiatrie für Kinder einweisen sollte. Aber da er
nicht gewalttätig war, entschied man sich doch fürs Waisenhaus.
Das kommt den Staat auch wesentlich billiger. Obwohl ..."
"Obwohl was?" fragte Jenny gespannt.
Der Wirt sah Jenny und Tom prüfend an und schien zu überlegen,
ob er den beiden seine Gedanken anvertrauen konnte oder nicht. Schließlich
rang er sich dazu durch: "Ich denke, dass sie den Jungen besser
doch in eine Anstalt gesteckt hätten. Schon zu seinem eigenen
Schutz. Wer weiß, was mit ihm sonst noch passiert?! Stellt
euch vor: Neulich habe ich ihn gesehen, wie er in einem teuren Anzug
mit einer Zigarre in der Hand in Port-des Barques herumgelaufen
ist und Selbstgespräche mit sich geführt hat."
"Vielleicht haben sie ihn verwechselt?" fragte Jenny.
"Ich denke, er sitzt im Waisenhaus. Da kann er doch nicht mit
Zigarre und Anzug wo ganz anders rumlaufen?"
Der Wirt zuckte mit den Achseln: "Ein Waisenhaus ist ja schließlich
kein Gefängnis. Aber ich bin mir ganz sicher, dass es derselbe
war. Schließlich habe ich ihn lange genug studieren können,
als er hier in meinem Restaurant gegessen hat. Aber fragt mich nicht,
wie er an den Anzug und die Zigarre gekommen ist."
Der Wirt machte eine Handbewegung, wie wenn man jemandem etwas aus
der Tasche stiehlt und ging dann zu einem anderen Gast, der einen
Kaffee haben wollte.
Jenny und Tom aßen schnell ihr restliches, inzwischen fast
kalt gewordenes Essen auf und hatten es danach eilig, zu gehen.
Sie wollten sich unbedingt über das Gehörte unterhalten.
"Mensch, haben wir ein Glück, dass der Wirt so geschwätzig
war ", sagte Jenny, als sie draußen zurück zur Jugendherberge
liefen.
"Hoffentlich war er wirklich geschwätzig und wollte uns
nicht ausspionieren", sagte Tom.
"Was soll er denn spioniert haben?" fragte Jenny. "Er
hat doch die ganze Zeit gequatscht und nicht wir. Wir haben dagegen
von ihm enorm viel erfahren."
"Da der ganze Klatsch anscheinend in der Zeitung gestanden
hat, hätten wir das alles morgen auch im Internet erfahren."
"Nur, dass wir gar nicht im Internet geschaut hätten",
meinte Jenny. "Weil wir bisher davon ausgegangen sind, dass
die Sache gar nicht an die Öffentlichkeit gelangt ist."
"Ich wäre natürlich zuerst ins Internet!" sagte
Tom. "Morgen wäre ich gleich als erstes in ein Internet-Café
gegangen."
"Ach ja?!" sagte Jenny gereizt. "Und du Superhirn
hättest im Internet natürlich auch gleich herausgefunden,
dass der Wirt Onk Ark in Port-des Barques gesehen hat? Oder glaubst
du, dass es Kart Orkid war, der mit Zigarre und Anzug durch die
Straßen läuft?"
"Wohl kaum", sagte Tom. "Der Wirt hat doch gesagt,
dass der erste seinen Pappe-Pass gezeigt hat. Also muss es Onk Ark
gewesen sein. Denn wie wir von den Moks wissen, war ja genau Onk
Ark derjenige, der sich mit seinem Ausweis verraten hat."
"Na, siehst du!"
"O.K. wir hatten wirklich Glück, dass der Wirt ein so
aufmerksamer Beobachter ist", gab Tom zu.
"Und wir hatten vor allem auch Glück, dass er uns seine
Beobachtung mitgeteilt hat", fügte Jenny hinzu.
"Ja, o.k.", sagte Tom. "ich frage mich nur, ob der
Wirt nicht zu viel mitdenkt?"
"Ach was", meinte Jenny. "Der tratscht einfach gerne.
Was soll er auch sonst den ganzen Tag über machen? Auf jeden
Fall haben wir heute ganz nebenbei schon erstaunlich viel erfahren.
So viel, dass es uns die nächsten beiden Tage sicher nicht
langweilig wird. Morgen fahren wir zuerst nach Port-des Barques
und suchen Onk Ark. Danach müssen wir irgendwie Kart Orkid
im Waisenhaus besuchen, und mit ihm beraten, was wir weiter tun
sollen. Und wer weiß, vielleicht haben wir in drei Tagen schon
alle Fäden in der Hand und die Moks sind so gut wie in Sicherheit!"
Rochefort ohne Einsicht
Nach drei Tagen hatten sie keinen einzigen Faden in der Hand, sondern
die Fäden waren im Gegenteil zu einem verworrenen Knäuel
geworden.
Zwar hatten Tom und Jenny Onk Ark tatsächlich in Port-des Barques
in einer eigenen Wohnung in einem schicken Häuserblock gefunden.
Aber Onk Ark hatte sich geweigert, mit ihnen zu reden, nachdem er
gehört hatte, in welchem Auftrag sie unterwegs waren.
Zwar hatten sie tatsächlich herausgefunden, in welches Waisenhaus
Kart Orkid gesteckt worden war. Aber aus unerfindlichen Gründen
war er daraus schon wieder verschwunden. Die Leitung des Waisenhauses
wollte nicht mit ihnen reden und von einer Lehrerin erfuhren sie
nur so viel, dass Kart Orkid schon nach ein paar Tagen von mehreren
Männern abgeholt worden war. Wer die Männer waren und
wohin die Reise gegangen war, hatte die Lehrerin nicht gewusst.
Das alles war sehr myteriös. Wer hatte Kart Orkid aus dem Waisenhaus
entführt? Und warum wohnte Onk Ark in einem schicken Appartement?
Was hatte das alles zu bedeuten?
Tom und Jenny konnte sich einfach keinen Reim darauf machen.
Das einzige, was Tom und Jenny in den letzten Tagen zweifelsfrei
heraus gefunden hatten, war, dass Onk Ark wirklich viel Geld haben
musste. Denn er wohnte nicht nur in einem Appartement mit Blick
aufs Meer und trug teure Anzüge, sondern er fuhr auch noch
in einem neuen Auto durch die Gegend.
Aber wie war er zu dem Geld gekommen? Geklaut, wie der Wirt vermutet
hatte? Sehr unwahrscheinlich. Das war viel zu riskant. Denn dann
wäre er schneller wieder im Waisenhaus als ihm lieb sein konnte.
Wahrscheinlicher war da schon, dass er seine Geschichte verkauft
hatte. Dass er also die Moks für viel Geld verraten hatte.
Trotzdem blieben auch hier noch viele Fragen offen. Zum Beispiel,
an wen hatte er die Geschichte verkauft? Die Medien kamen nicht
in Frage, denn dann würden schon seit Wochen Journalisten vor
der Mokhöhle Schlange stehen.
Als Forschungsobjekt an die Wissenschaft? Sehr unwahrscheinlich.
Denn auch das wäre sicher schon bis in die Medien durchgesickert.
Und hatten Wissenschaftler überhaupt so viel Geld?
Nein, sicher nicht. Geld hatte eigentlich nur die Wirtschaft. Aber
wer von der Wirtschaft hatte Interesse an einem Mok? Die Moks, ans
Tageslicht gezerrt, wären doch nur störende Subjekte,
die man in keiner Weise ausschlachten konnte. In ihrer Höhle
richteten sie dagegen keinen Schaden an. Sollten sie also bleiben,
wo sie waren.
Jenny und Tom hatten das alles in den letzten drei Tagen hundert
Mal durchgekaut und versucht, von den unterschiedlichsten Seiten
aus zu betrachten. Aber ihre Gedanken drehten sich immer im Kreis.
Jetzt saßen sie auf der Kaimauer an dem kleinen Hafen von
Rochefort und kauten auf einem der letzten Mok-Brote mit Kaninchenfleisch.
Wirklich traurig würden sie nicht sein, wenn der Vorrat der
Moks endlich aufgebraucht sein würde. Hier an den vollen Markständen
und einladenden Ladenfenstern vorbei zu gehen und sich selbst nur
von trockenem Brot, altem Fleisch und Algenkräckern zu ernähren,
war ganz schön zermürbend.
"Es geht kein Weg daran vorbei: Wir müssen Onk Ark zum
Reden bringen", Jenny hüpfte von der Kaimauer und klopfte
sich die Brotkrümel von der Hose. "So kommen wir auf jeden
Fall nicht weiter."
"Schon", sagte Tom. "Aber wir können Onk Ark
nicht dazu zwingen, mit uns zu reden."
"Dann bleiben wir eben so lange vor seiner Wohnung sitzen,
bis es ihm zu blöd wird", schlug Jenny vor.
"Sitzstreik", sagte Tom und schüttelte nachdenklich
den Kopf. "O.K. wir können es immerhin versuchen."
Tom und Jenny fuhren mit dem Bus nach Porte des Barques und schlenderten
zum Appartement von Onk Ark. Besonders eilig hatten sie es nicht,
oder anders ausgedrückt: Sie rissen sich nicht gerade darum,
vor der Tür auf Onk Ark zu warten.
Zur selben Zeit, als sie auf den Appartementblock zugingen, in dem
Onk Ark wohnte, stiegen zwei aalglatte Typen mit Sonnenbrille aus
einem dunklen Mercedes, sahen sich unauffällig um und verschwanden
dann ins Haus.
"Komische Gestalten", sagte Tom. "Die haben sicher
etwas mit Onk Ark zu tun."
"Tom!" Jennys Stimme klang genervt. "Nicht jeder,
der anders aussieht als du es gewohnt bist, ist gleich verdächtig.
Das waren einfach zwei gut gekleidete Männer, die nach Hause
gehen oder jemanden besuchen."
"Onk Ark!" sagte Tom. "Sie besuchen Onk Ark."
"Ja, und wahrscheinlich haben sie im Kofferraum Kart Orkid
versteckt."
"Glaubst du wirklich?" fragte Tom mit angehaltenem Atem.
"Tom, wach auf!" sagte Jenny. "Wir sind hier nicht
in einem deiner fantastischen Romane, sondern in einem stinknormalen,
französischen Küstenstädtchen."
"Stinknormal?" sagte Tom. "Ich dachte, seit du die
Moks kennen gelernt hast, kommt dir nichts mehr stinknormal
vor?!"
"Mann!" seufzte Jenny. "Das heißt doch nicht,
dass ich nicht trotzdem noch zwischen Realität und Fantasie
unterscheiden kann."
Tom sagte nichts, sondern zerrte Jenny schnell hinter eine Häuserwand.
"Sag mal, spinnst du?"
"Psst!" flüsterte Tom. "Sie kommen."
Jenny wollte lautstark protestieren, doch Tom hielt ihr schnell
die Hand vor den Mund. Hatte er womöglich wirklich etwas gesehen?
Jenny machte sich von Toms Hand frei und spähte vorsichtig
um die Häuserwand.
Tatsächlich! Die Situation hatte sich sichtbar verändert.
Die zwei gelackten Typen traten wieder aus der Tür und hatten
Onk Ark zwischen sich genommen! Zu Jennys Überraschung manövrierten
sie Onk Ark allerdings nicht zum Auto, sondern spazierten in Richtung
Meer.
"Los! Hinterher!" sagte Jenny.
"Was?!" sagte Tom. "Und wenn das Killer sind?"
"Ach was!" sagte Jenny. "Wenn du Angst hast, bleibst
du hier. Ich möchte auf jeden Fall wissen, was die da machen."
Tom stöhnte, aber er wollte Jenny auch nicht alleine gehen
lassen.
Möglichst unauffällig gingen sie deshalb hinter Onk Ark
und seinen Begleiter her und taten so, als ob sie harmlose Kinder
irgendwelcher Urlauber wären.
Onk Ark schaute immer wieder ängstlich zurück, schien
sie aber nicht zu bemerken. Offensichtlich war ihm der Spaziergang
alles andere als angenehm.
Bald kamen sie in eine kleine Bucht, in der nur wenige Menschen
waren. Es war Ebbe und das Wasser hatte sich bis auf wenige Pfützen
vom Strand verzogen.
Die Dreiergruppe vor ihnen hatte beinahe das Ende der Bucht erreicht.
Wie es schien, peilten sie einen Holzsteg an, der ins Meer reinragte.
Am Ende des Stegs war allerdings kein Boot befestigt, wie Jenny
erwartet hatte, sondern ein kleines Häuschen.
"Sie gehen zu dem Fischerhäuschen", meinte Tom. "Das
steht jetzt sicher leer. Die Fischer kommen erst bei Flut, um mit
ihren Senknetzen zu fischen."
Jenny nickte. Die Häuschen waren bei Ebbe ein ideales Versteck.
Doch die beiden hatten sich getäuscht. Die drei Männer
umrundeten den Holzsteg und waren bald aus ihrer Sichtweite.
Jenny und Tom folgten ihnen bis zum Rand der Bucht, getrauten sich
dann aber nicht mehr, weiter zu gehen. Nicht, dass die beiden Männer
noch Verdacht schöpften.
Jenny zog sich die Schuhe aus und tat so, als ob sie im Schlick
Muscheln sammeln würde. Mehrere Meter meereinwärts erspähte
sie die Männer und Onk Ark zwischen weiteren Holzstegen. Doch
bald verschwanden sie auch hier aus ihrer Sicht.
Jenny ging wieder zu Tom und fragte: "Was jetzt?"
Tom zuckte mit den Schultern. "Warten wir ein Weilchen. Vielleicht
kommen sie gleich zurück."
Tatsächlich kamen sie nach etwa zehn Minuten wieder. Allerdings
ohne Onk Ark!
Jennys Gedanken überschlugen sich: Wo hatten sie ihn gelassen?
Waren die Männer doch Killer? Hatten sie Onk Ark kurzerhand
umgebracht? Was sollten Tom und sie jetzt tun?
Jenny lief schnell wieder ein Stück in die Meerpfützen
zurück, um genug Distanz zwischen sich und die beiden immer
näher kommenden Männer zu bringen. Erst in einem Sicherheitsabstand
von 20 Metern blieb sie stehen und winkte Tom, zu ihr zu kommen.
Aber Tom war dieses Mal komischerweise wesentlicher cooler als sie.
Er blieb einfach sitzen und tat so, als ob er tief in Gedanken versunken
war.
Als sie auf seiner Höhe waren, streiften sie ihn beinahe! Und
für einen Moment dachte Jenny, sie würden hinter ihm stehen
bleiben und ihm einen Pistole ins Genick rammen. Aber das war natürlich
Quatsch. Jetzt war offensichtlich sie diejenige, die zuviel Vorstellungskraft
hatte!
Die Männer liefen an Tom vorbei, ohne ihn auch nur eines Blickes
zu würdigen. Bald verschmolzen sie mit den anderen Urlaubern
und waren nicht mehr zu sehen. Jenny seufzte und watete wieder an
den Strand.
"Glaubst du, dass sie ...", fragte Jenny. Sie wollte nicht
aussprechen, was sie befürchtete.
Aber Tom verstand sie auch so.
"Ich hoffe nicht", sagte er. "Wir müssen auf
jeden Fall nachsehen."
"Was?!" rief Jenny. "Und wenn er tatsächlich
... und wir von jemandem beobachtet werden? Dann nimmt man uns als
Mörder fest!"
"Wir sind noch nicht strafmündig", sagte Tom. Es
sollte witzig klingen, aber Jenny hörte, dass auch Tom Angst
hatte. "Falls er noch lebt, müssen wir ihm helfen. Ich
würde es nicht aushalten, ihm nicht geholfen zu haben und womöglich
an seinem Tod schuld zu sein."
Jenny blickte beschämt auf den Boden. Sicher, falls er noch
lebte, musste man ihm helfen. Aber konnte das nicht auch die Polizei?
Mussten sie selbst nicht zuerst an sich selber denken?
Tom ließ ihr keine Zeit zum Überlegen. Er lief einfach
in die Richtung, aus der die Männer vorhin gekommen waren.
Bald war auch er nicht mehr zu sehen.
"Warte!" rief Jenny hinter ihm her. "Du kannst mich
hier doch nicht alleine lassen!"
So schnell es ging, zog sie ihre Schuhe an und rannte den nassen
Strand entlang Tom hinterher. Nach der Uferkrümmung entdeckte
sie ihn zum Glück. Er kletterte gerade auf einen der Holzstege,
die zu den Fischerhäuschen auf Stelzen führten.
"Tom! Warte!"
Tom drehte sich um und winkte. Offenbar war er froh, dass er doch
nicht alleine in die Hütte gehen musste.
Jenny sprang auf den Holzsteg und fragte: "Und wenn er wirklich
hier ist?"
"Weiß ich nicht", Tom zuckte mit den Schultern und
versuchte, die Tür zu öffnen. "Verschlossen."
Jenny ging um die Hütte und sah durch das kleine Fenster.
"Scheint leer zu sein."
"Dann probieren wir die nächste Hütte."
Doch auch die nächste und übernächste Hütte
war verschlossen und leer. Tommy und Jenny suchten mit den Augen
das Ufer ab, aber auch dort war niemand zu entdecken.
Über ihnen kreischten die Möwen und stürzten sich
immer wieder auf den schlickig sandigen Boden, um sich eine Muschel
oder einen kleinen Krebs zu schnappen.
"Komm, gehen wir zur nächsten Fischerhütte",
sagte Tom.
"Du meinst, das bringt was?"
"In Luft aufgelöst kann er sich auf jeden Fall nicht haben",
sagte Tom. "Und da die Männer nach zehn Minuten wieder
gekommen sind, muss er hier ganz in der Nähe sein."
"Noch eine Hütte mache ich mit", sagte Jenny. "Dann
wird mir die Sache zu unheimlich."
Tom nickte und kletterte auf den nächsten Holzsteg.
Als sie auf das dazu gehörige Häuschen zugingen, zuckte
Tom plötzlich und machte Jenny ein Zeichen, dass sie stehen
bleiben sollte.
"Ich habe ein scharrendes Geräusch gehört",
flüsterte er. "Falls das Onk Ark ist, lebt er noch."
Jenny nickte und griff nach Toms Hand. Tom schaute sie erstaunt
an und Jenny wusste auch warum: Sie hatte seine Hand bisher immer
abgeschüttelt. Aber darüber wollte sie jetzt besser nicht
nachdenken.
"Komm!" flüsterte sie. "Bringen wir es hinter
uns."
Die Hütte hatte keine Tür und das Tageslicht fiel schräg
auf einen Holztisch.
Mit angehaltenem Atem betraten Jenny und Tom die Hütte.
"Da!" flüsterte Jenny und deutete auf ein Decken-Bündel
hinter dem Tisch. "Ich glaube, da liegt er."
Tom nickte, machte sich von Jennys Hand los und ging zu dem Bündel.
Mit dem Fuß kickte er ganz leicht in den Deckenhaufen.
Der Haufen zuckte, machte aber sonst keinen Mucks.
Tom bückte sich und zog die Decken zur Seite. Und tatsächlich,
es war Onk Ark!
Sein Mund war mit einem Klebestreifen zugeklebt und seine Hände
und Beine waren gefesselt. Erschrocken starrte er die beiden Kinder
an.
Tom riss ihm den Klebestreifen vom Mund und sagte:.
"Zum Glück leben Sie noch. Und zum Glück haben Sie
jetzt endlich genügend Zeit, um mit uns zu reden."
"Von wegen Zeit!" stieß der Mok mühsam zwischen
den Lippen vor. "Sie werden bald wieder kommen.
"Wer?" fragte Tom.
"Verstellt euch nicht", sagte Onk Ark. "Ihr habt
sie gesehen. Wie hättet ihr mich sonst gefunden?"
"Dann bringen wir Sie zuerst woanders hin", überlegte
Tom.
Onk Ark schüttelte wild mit dem Kopf.
"Auf keinen Fall bringt ihr mich von hier weg! Sie wollen mir
nur einen Denkzettel verpassen. Außerdem habe ich euch schon
gesagt, dass ich mit euch nichts zu tun haben will. Ich sage euch
nichts. Rien!"
"Ihnen wird nichts anderes übrig bleiben", sagte
Tom. "Entweder Sie reden mit uns, oder wir bringen Sie hier
weg und rufen die Polizei."
"Bande!" sagte Onk Ark und spuckte vor Tom aus. "Wollt
besser sein als sie. Dabei arbeitet ihr mit den gleichen Mitteln.
Sie haben mir auch gedroht. Dabei habe ich gar nicht mit dem Journalisten
gesprochen."
"Mit welchem Journalisten?" fragte Tom und machte Jenny
Zeichen mit der Hand. Jenny verstand und ging zum Ausgang der Hütte,
um nach den beiden Typen Ausschau zu halten.
"Irgend so ein Yves Scot", sagte der Mok. "Irgend
jemand muss ihm gesagt haben, dass es Moks gibt."
"Und weiter?"
"Nichts weiter!" maulte Onk Ark. "Wahrscheinlich
wollte er die Geschichte groß raus bringen. Und das gefällt
meinen Auftraggebern gar nicht."
"Welchen Auftraggebern?"
Onk Ark biss sich verärgert auf die Lippe. "Nichts.- Es
gibt keine Auftraggeber."
"Und wer waren dann die beiden Männer, die Sie hier her
gebracht haben? Ich dachte, das waren Ihre Auftraggeber? Oder war
das womöglich noch jemand ganz anderes?"
Onk Ark schwieg und schaute Tom wütend an.
"Kannst du uns dann wenigstens sagen, wo Kart Orkid steckt?
Er ist aus dem Waisenhaus verschwunden."
"Ist er das?" fragte Onk Ark, und Tom meinte ein Lächeln
über sein Gesicht huschen zu sehen. "Ein Mok der übelsten
Sorte. Hielt Dunkelheit für Licht und Licht für Dreck."
"Und du bist ein guter Mok?" rief Jenny vom Eingang herüber.
"Verrätst dein Volk und machst Geschäfte mit Verbrechern?"
"Das sind keine Verbrecher", sagte Mok. "Sondern
Menschen wie jeder andere auch. Und wenn ich vielleicht kein guter
Mok bin, so bin ich doch ein guter Mensch. Oder zumindest nicht
schlechter als die meisten von uns!"
"Wenn du so hilfreich und gut bist, kannst du uns doch sicher
sagen, wie du zu deinem vielen Geld gekommen bist?"
"Pah!" machte Onk Ark. "Spielst dich hier auf wie
Mok der Tor."
"Jenny!" sagte Tom. "Ich glaube wir müssen Onk
Ark nach draußen bringen. Die stickige Luft hier verbrennt
ihm das Gehirn."
Er ging auf Onk Ark zu und wollte seine Beine packen.
"Weg, lass das!" schrie Onk Ark und stieß Tom mit
seinen gefesselten Beinen von sich weg. "Wenn ich nicht mehr
hier bin, bringen sie mich um!"
"Ich dachte, es sind ehrbare Bürger?"
"Du Kind!" stieß Onk Ark hervor. "Du verstehst
nichts von der Welt. Aber ich kenne sie von unten und von oben.
Und oben ist immer da, wo das Licht ist, wo die Macht und das Geld
sind! Ehrbar oder nicht - wen interessiert das?"
Mit einem schnellen Griff packte Jenny von der Seite Onk Arks Füße
und schleifte ihn so ein paar Meter weit.
"Ihr macht also wirklich ernst?!" quiekte Onk Ark. "Fühlt
euch doch nur so stark, weil ich die Größe eines Kindes
habe. Wollt ihr wirklich einen Mok auf dem Gewissen haben? Nein?!
Dann legt mich wieder so hin, wie ihr mich gefunden habt. Dann gebe
ich euch auch einen Tipp!"
Jenny schaute Tom an und las aus seinen Augen, dass es das Beste
war, zu tun, was Onk Ark ihnen vorgeschlagen hatte. Die Sache hier
war einfach zu groß für sie. Wer wusste schon, welche
Geister sie herauf beschworen, wenn sie Onk Ark verschleppten oder
befreiten? Und, wie Jenny feststellen musste, Onk Ark hatte leider
Recht: Wenn Onk Ark nicht so klein und schmächtig wäre,
hätten sie sicher mehr Angst vor ihm und wären ihm gegenüber
längst nicht so cool. Und war das nicht etwas schäbig,
nur mutig zu sein, weil der andere viel schwächer und im Moment
völlig wehrlos war?
Sie legten Onk Ark wieder an seinen Platz zurück und warteten,
was er ihnen zu sagen hatte.
"Brave Kinder!" sagte Onk Ark. "Weil ich ein ehrlicher
Mensch bin, gibt es hierfür auch den versprochenen Tipp: Mein
Geld fließt aus verschiedenen Quellen. Soviel ich weiß
aus ganz Europa. Und ihr könnt zu den Moks gehen und ihnen
sagen, dass tatsächlich bald gelber Hagel vom Himmel fallen
wird."
"Das ist kein Tipp!" sagte Jenny. "Soviel hätten
wir uns auch selbst zusammen reimen können."
"Ach so? Hättet ihr das?" stieß Onk Ark heiser
hervor. "Dann seid ihr ja ganz schlau. So schlau, dass ihr
jetzt besser verschwindet. Aber macht mir vorher noch den Klebestreifen
auf den Mund!"
Den Weg zum Bus zurück liefen die beiden schweigend neben
einander her. Den Männern waren sie glücklicherweise nicht
mehr begegnet. Es war später Nachmittag und der kleine Strand
fing sich bereits zu leeren an.
In ihrer jetzigen Situation machte Port de Barques einen trostlosen
Eindruck auf Jenny. Das Dorf wirkte mehr wie ein Durchgangsort zwischen
anderen, attraktiveren Hafenstädten des Festlands und der vorgelagerten
Insel Ile Madam. Auch der Strand war nicht besonders einladend
gewesen. Die Holzstege mit ihren viereckigen Senknetzen und die
Fischerhäuschen auf Stelzen sahen zwar ganz reizvoll aus. Trotzdem
fragte sie sich, warum Onk Ark ausgerechnet hier sein Lager aufgeschlagen
hatte? Vielleicht wusste er nicht, dass es noch viel schönere
Plätze auf der Welt gab?
"Onk Ark ist ein hoffnungsloser Fall!" sagte Tom als sie
an der Bushaltestelle warteten. "Kart Orkid hatte in seinem
Urteil über ihn völlig recht."
"Ich verstehe vor allem nicht, warum er lieber in der Hütte
auf diese Verbrecher wartet, als sich von uns befreien zu lassen",
meinte Jenny.
"Weil er nicht glaubt, dass die Männer Verbrecher sind",
sagte Tom. "Oder anders ausgedrückt: Er glaubt, dass andere
Menschen auch nicht besser sind. Du hast doch gehört, dass
er denkt, er ist jetzt oben, am Licht. Wir dagegen sind für
ihn unten im Dreck. "
"Vielleicht sind sie auch wirklich keine Verbrecher im herkömmlichen
Sinn?" überlegte Jenny. "Vielleicht sind sie ganz
normale, sogenannte ehrenwerte Bürger, die aus dem Wissen um
die Moks irgendein Kapitel schlagen können?"
"Ihre Methoden Onk Ark einzuschüchtern fallen aber nicht
unter die Mittel normaler und ehrenwerte Kommunikation", sagte
Tom nüchtern.
"Irgendwie tut mit Onk Ark leid", sagte Jenny. "Er
wollte einfach nicht mehr in einer dunklen Höhle leben und
sich ein schönes Leben machen."
"Das wollen viele!" sagte Tom. "Der Punkt ist doch,
dass er sein Leben auf Kosten von anderen lebt. Aber wenn du das
schon nicht einsiehst, brauche ich mich nicht zu wundern, dass auch
Onk Ark ohne Einsicht ist."
"Natürlich sehe ich es ein!" protestierte Jenny.
"Ich versuche doch nur, seine Beweggründe zu verstehen."
"Manche Dinge will ich gar nicht verstehen", sagte Tom.
"Aber wenigstens hat uns Onk Ark trotzdem einen wichtigen Hinweis
gegeben. Auch wenn er es nicht wollte."
"Du meinst diesen Yves Scot?" fragte Jenny.
"Ja, und zum Glück dürfte es nicht schwer sein, einen
Journalisten aufzuspüren", meinte Tom. "Mit vier
Klicks sind wir wahrscheinlich schon halb in seinem Wohnzimmer."
"So betrachtet können wir mit unserem Trip nach Port des
Barques ganz zufrieden sein", sagte Jenny. "Sollten wir
das in Rochefort nicht mit einem Eis feiern? Ich brauche dringend
mal wieder Zucker im Blut."
Am anderen Morgen waren Jenny und Tom voller Tatendrang.
"Das Internet-Café ist gleich in der Nähe",
sagte Tom.
Jenny nickte und stellte ihr beladenes Frühstückstablett
auf einem der freien Tische im Essensraum der Jugenherberge ab.
"Wir kommen doch viel schneller voran als gedacht", sagte
Jenny und stopfte sich den Rest des Brötchens in den Mund.
"Und wir haben in den letzten vier Tagen nur knapp 200 Euro
ausgeben."
"Du hast recht", sagte Tom. "Aber jetzt, da wir eine
Spur haben, bin ich viel zu ungeduldig, um hier einfach nur rumzusitzen."
Er zeigte auf einen Touristen-Stadtplan. "Hier ist das Internet-Café.
Hoffentlich macht es nicht erst mittags auf. Denn Zeit ist Geld.
Und von beidem haben wir nicht genug."
Jenny ließ sich nicht von der Hektik Toms anstecken und biss
genussvoll in ein mit Marmelade bestrichenes Baguette. Obwohl es
etwas pappig schmeckte, aß sie es viel lieber als den getrockneten
Fisch und die Algen der Moks. Auch die Moks würden sicher froh
sein, wieder einmal frisches Gemüse und Obst zwischen die Zähne
zu bekommen. Aber um ihren Tauschhandel mit den befreundeten Bauern
wieder aufnehmen zu können, müssten sie sich erst frei
bewegen können. Und das konnten sie nicht, so lange nicht klar
war, was und ob überhaupt etwas gegen sie im Gange war. Schon
die fehlende frische Nahrung war also Grund genug, den Moks zu helfen!
Jenny spülte das Brötchen mit einem klebrig-wässrigen
Kakao nach und sagte zu Tom: "Erinnerst du dich daran, wie
du mir gesagt hast, dass diese Reise das Abenteuerlichste sein wird,
was ich je machen werde?"
"Klar", sagte Tom. "Und ... habe ich recht gehabt?"
"Was mein Leben bis dahin angeht auf jeden Fall", sagte
Jenny. "Aber wer weiß, was danach kommt. Und bei dir?"
"Ich weiß gar nicht mehr, ob ich noch so einen gesteigerten
Wert auf Abenteuer lege", sagte Tom. "Im Grunde will ich
das alles nur überstehen, ohne dass uns zu viel passiert. Außerdem
habe ich ein schlechtes Gewissen, dass ich dich in die Sache mit
reingezogen habe."
"Wenn die Prophezeiung stimmt, machen wir beide eh nur das,
was das Schicksal uns vorgibt."
Tom sah sie erstaunt an: "Glaubst du das etwa wirklich?"
Jenny wunderte sich selbst, was sie gerade gesagt hatte. Was für
merkwürdige Gedanken purzelten plötzlich aus ihrem Mund?
Andererseits hatten diese Gedanken vielleicht gar nicht mal so
unrecht? Auf jeden Fall nahmen sie ihr viel Verantwortung ab. Es
kam so, wie es kam. Unabhängig davon, ob sie etwas richtig
oder falsch machte.
"Glaubst du denn plötzlich an die Prophezeiung?"
fragte Tom erstaunt.
"Mehr als am Anfang", überlegte Jenny. "Aber
eigentlich nur, weil mir nichts anderes übrig bleibt."
"Bei mir ist es genau umgekehrt", sagte Tom. "Wie
du weißt, war ich am Anfang Feuer und Flamme. Aber jetzt frage
ich mich, ob die Prophezeiung nur benuzt wird, unerklärliche
Vorgänge zu deuten."
"Hört, hört!" sagte Jenny. "War das nicht
von Anfang an meine Meinung?"
Tom zuckte mit den Schultern.
"Prophezeiung hin oder her" sagte Jenny."Tatsache
ist doch, dass Onk Ark irgend welche dubiosen Geschäfte macht
und Kart Orkid aus dem Waisenhaus sicher nicht zu seinen Eltern
gebracht wurde."
Jenny stellte ihr Geschirr auf ein Tablett, stand auf und sagte:
"Und deshalb gehen wir jetzt ins Internet-Café und knöpfen
uns diesen Yves Scot vor. Wer weiß, vielleicht hängt
er ja auch in der Sache mit Kart Orkid drin."
"Yves Scot scheint nicht gerade berühmt zu sein",
sagte Jenny, als sie im Internet-Café vor dem Rechner saßen
und auf die Homepage des Journalisten starrten. In der Rubrik "Referenzen"
konnte er nur auf Artikel in einer Lokalzeitung und zwei weitere
Veröffentlichungen in Fachzeitschriften verweisen.
"Hauptsache, er hat eine eigene Homepage", sagte Tom und
klickte auf den Menuepunkt Kontakt. "Sieh mal. Yves
Scot wohnt tatsächlich auch hier in Rochefort. Sogar eine Telefonnummer
steht dabei. Dafür, dass laut Prophezeiung 'Rochefort ohne
Einsicht' ist, haben wir hier aber sehr viel Glück!"
"Damit sind wahrscheinlich mehr die Leute gemeint als unser
Glück", sagte Jenny. "Onk Ark war ja nicht gerade
gesprächig. Und ich wette, dass der Journalist uns gegenüber
auch nichts sagen will."
Tom klickte sich zum kurzen Lebenslauf und übersetzte Jenny
so gut es ging:
"Geboren in Rochefort 1980, Abitur, Journalismusstudium an
der Universität in Straßburg, dann wieder zurück
nach Rochefort. Hier seit 2005, Lokaljournalist. Wenn ich es richtig
verstehe, widmet er sich so spannenden Themen wie eingesperrten
Hunden, jaulenden Katzen und sterbenden Fischen. Warum interessiert
sich so jemand für die Moks?"
"Vielleicht hat er irgendwo nur die Hälfte aufgeschnappt
und glaubt, bei den Moks handelt es sich um eine bedrohte Tierrasse?"
"Möglich", sagte Tom. "Vielleicht geht es aber
auch gar nicht um die Moks? Vielleicht ist der Journalist wegen
einer ganz anderen Sache hinter den Freunden von Onk Ark her? Vielleicht
wegen einer Ölverschmutzung ..."
"Das würde zu den sterbenden Fischen passen", stimmte
Jenny zu. "Auf jeden Fall müssen wir davon ausgehen, dass
Yves Scot eher zu den Guten gehört, wenn er für Onk Arks
Partner gefährlich wird."
"Wahrscheinlich", meinte auch Tom. "Und wie sollen
wir ihn fragen, was er vorhat? Falls er im Geheimen recherchiert,
wird er niemandem etwas sagen. Und Kindern sowieso nicht."
"Wir könnten so tun, als ob wir für die Schule recherchieren
und ein Interview machen möchten."
"Mit unserem schlechten Französisch?" sagte Tom.
"Sehr witzig."
"Dann sind wir eben ausländische Schüler, die sich
selbst ein Ferienprogramm aufgestellt haben: Interview mit einem
Lokaljournalisten."
"Wir als absolute Streber!" sagte Tom. "Das ist ja
albern."
"Ach ja?!" sagte Jenny. "Und was schlägst du
vor? Wahrscheinlich, dass du Nachts in seine Wohnung steigst, seinen
Rechner klaust, dann im youth hostel sein Passwort knackst und innerhalb
von einer Stunden im Besitz seiner gesamten Dateien bist?!"
"Ganz sicher nicht!" sagte Tom. "Mir ist außerdem
schon dein Vorschlag viel zu abenteuerlich. So ein Interview ist
doch voll peinlich und macht ihn sicher gleich misstrauisch. Was
sollen denn ausländische Schüler von ihm schon wissen
wollen?"
"Vieles", sagte Jenny. "Zum Beispiel wie viele Touristen
jährlich nach Rochefort kommen."
"Das kannst du beim Reisebüro oder auf dem Bürgermeisteramt
nachfragen, aber doch nicht bei einem Journalisten, der sich für
Tierreportagen interessiert!"
"Gut, dann fragen wir ihn eben, wie er zu seiner Arbeit gekommen
ist, was er genau macht, wie ihm seine Arbeit gefällt, warum
der Fisch stirbt und so weiter."
"Und dann wird er uns sicher sagen: Übrigens: Ich bin
gerade an einer ganz heißen Sache dran, die wird euch bestimmt
interessieren ..."
"Ha, ha", machte Jenny. "Dann mach du doch einen
besseren Vorschlag."
"Gut", sagte Tom kurz entschlossen. "O.K.! Dann machen
wir das Interview und geben uns als deutsche Schüler aus. Mehr
als schief gehen, kann es auch nicht."
"Genau!" meinte Jenny. "Und hier können wir
gleich recherchieren, welche Fragen wir ihm überhaupt stellen
sollen."
Sie gab in einer Suchmaschine Rochefort Charente-Maritime
ein und landete kurz danach auf der Internet-Seite der Stadt.
"Leider kann man nicht angeben, in welcher Sprache man die
Seite ansehen möchte", sagte Jenny. "Viele ausländische
Touristen scheint die Stadt nicht zu haben."
"Geh mal auf jeune", sagte Tom. "Wenn wir
Yves Scot interviewen, müssen wir wissen, welche Angebote es
hier für Jugendliche gibt."
Jenny klickte auf die Rubrik, und die beiden studierten das Jugendangebot.
Neben der Möglichkeit zum Fahrradfahren, Klettern und Gokartfahren
gab es in Rochefort eine Mediathek und ein Informationsbüro
für Jugendliche.
"Für mich hören sich die Angebote nicht besonders
spannend an", sagte Tom. "Wie sieht es unter culture
aus?"
"Sieh mal hier", sagte Jenny und tippte auf die Überschrift
eines Artikels. "Rochefort ist die Partnerstadt von Duisburg
und Papenburg. Vielleicht sollten wir uns als Schüler aus Duisburg
ausgeben?"
"Jetzt in den Ferien?" sagte Tom skeptisch. "Besser
nicht. Außerdem kenne ich die beiden Städte gar nicht,
du?"
"Nein", sagte Jenny. "Ich wüsste nicht mal,
wo die genau liegen."
"Dann wäre es doch auch dumm, wenn wir uns als Duisburger
oder Papenburger ausgeben würden. Nein, wir kommen wie in echt
aus Neuhausen."
Jenny und Tom klickten sich noch eine Weile durchs Netz, erfuhren
aber nur wenig über die Stadt. Zum einen verstanden sie zu
wenig französisch, zum anderen schien Rochefort zwar eine ganz
nette Stadt zu sein, aber nicht gerade aufregend. Als Hauptattraktionen
gab es den alten Militärhafen, den sie bereits kannten, eine
Königliche Seilerei, eine Schwebefähre und mehrere Museen.
Nach zwei Stunden vor dem Bildschirm hatten Tom und Jenny immerhin
einen Fragenkatalog für Yves Scot zusammen gestellt:
Welche Attraktionen können Sie als ortsansässiger Journalist
Touristen und vor allem Kindern und Jugendlichen empfehlen?
Gibt es außer der Seilerei, dem Hafen und den Museen irgendwelche
Besonderheiten in Rochefort?
Wie sind Sie Journalist geworden?
Ist das Ihr Traumberuf?
Was ist Ihr Spezialgebiet als Journalist?
Haben Sie ein Thema, das Ihnen besonders am Herzen liegt?
Macht Ihnen Ihre Arbeit Spaß und wenn ja, warum?
"Mir ist immer noch nicht klar, warum das irgendein Schwein
interessieren sollte", sagte Tom. "Oder anders ausgedrückt,
warum uns der Journalist abkaufen sollte, dass wir so einen Mist
wirklich schreiben wollen?"
"Warum?" sagte Jenny. "Wir schreiben diesen Aufsatz
als deutsche Schüler für unsere Schülerzeitung in
Neuhausen. So ein Bericht über einen Austausch ist doch viel
interessanter als der Käse, der immer in unserer Schülerzeitung
steht."
"Sage nichts über die Karl-Otto-Comics!" widersprach
Tom. "Die sind toll!"
"Gut, ja", gab Jenny zu. "Aber die ewig gleichen
Artikel über Lehrer, Sportfeste und Schülerwitze sind
doch gähnend langweilig."
"O.k," sagte Tom. "Wir sind also zwei Schüler,
die nichts Besseres zu tun haben, als in ihrem Frankreichurlaub
einen x-beliebigen Journalisten über seine Hobbys zu befragen.
Und da ist unser nächstes Problem: Wie machen wir ihm glaubhaft,
dass wir uns ausgerechnet ihn ausgesucht haben?"
"Wir machen einfach auf doof!" sagte Jenny. "Unser
Vorteil ist, dass man Kinder oder kleine Jugendliche wie uns gar
nicht ernst nimmt! Wir rufen ihn also an und sagen, dass wir gerne
das Interview mit ihm machen würden. Und wenn er fragt, warum
gerade er, dann sagen wir einfach, dass wir uns nicht getraut haben,
bei einer Zeitung anzurufen, und er im Internet so einfach zu finden
war."
"Und wenn er trotzdem nein sagt?"
"Dann haben wir es wenigstens versucht!"
Tom wunderte sich über Jennys wachsenden Eifer und fragte sich,
ob es an der aushungernden Moknahrung lag.
"Wenn du so voller Elan bist, kannst du ja gleich anrufen",
schlug Tom Jenny vor.
"Ich?" fragte Jenny. "Wieso denn ich? Ich spreche
doch fast kein Französisch. Das musst natürlich anrufen.
Und das Interview führen auch!"
"Ach, deshalb legst du dich so ins Zeug", bemerkte Tom,
"weil du gar nicht mitkommst?!"
"Natürlich komme ich mit!" sagte Jenny. "Aber
reden musst schon du!"
Jenny und Tom bezahlten am Tresen ihre Surfgebühren und suchten
dann in der Stadt einen öffentlichen Fernsprecher. Sie wollten
nicht von einem ihrer Handys aus telefonieren, um ihm nicht ihre
Nummer preiszugeben.
Da heute fast jeder mit einem Handy herum lief, war es allerdings
gar nicht so einfach, ein Telefon zu finden. Und nachdem sie endlich
eines gefunden hatten, fehlte ihnen die passende Chipkarte.
"So ein Mist!" sagte Jenny. "Und woher bekommen wir
jetzt so eine Karte?"
"Im Kiosk", meinte Tom. "Zumindest in Deutschland
werden solche Karten im Kiosk verkauft."
"Wegen einem einzigen Telefonanruf sollen wir Geld für
eine ganze Karte ausgeben?"
"Vielleicht brauchen wir die Karte ja noch öfters",
meinte Tom. "Dann gibt es heute abend eben kein Eis, sondern
Fisch à la Mok."
Nachdem Tom und Jenny sich im Kiosk eine Karte gekauft und wieder
zu der Telefonzelle zurück gelaufen waren, wählte Tom
ohne lange Nachzudenken Yves Scots Nummer.
"Oui?" meldete sich eine helle, junge Männerstimme.
"Vous êtes Yves Scot?"
"Qui est là?"
"Tom Salzig", antwortete Tom und fuhr weiter auf Französisch
fort: "Ich bin ein Junge aus Neuhausen aus Deutschland und
würde gerne ein Interview mit Ihnen machen. "
"Wer schickt dich?" fragte Yves Scot misstrauisch.
"Niemand", sagte Tom und schaute Jenny bedeutungsvoll
an. "Oder doch: Meine Schülerzeitung aus Neuhausen. Wir
haben ein Projekt, dass jeder einen Artikel aus dem Ort, wo er seine
Ferien verbringt, schreibt."
Super! Jenny streckte ihm den nach oben gerichteten Daumen entgegen.
"Schülerzeitung?" Scot wirkte überrascht. "Und
was hat das mit mir zu tun?"
"Ich würde mich gerne mit Ihnen treffen und Tipps von
Ihnen bekommen, wie man gut schreiben kann."
"Und die willst du ausgerechnet von mir?"
Tom leierte den vorhin besprochenen Satz runter, von wegen, dass
er sich nicht traute, an eine Zeitung heran zu treten und der Journalist
Yves Scot so leicht im Internet zu finden gewesen sei.
"Tut mir leid, ich habe keine Zeit, Kindern das Schreiben beizubringen."
"Ah, das haben Sie vielleicht falsch verstanden", versuchte
Tom die Kurve zu kriegen. "Ich möchte ein Interview mit
einem echten Journalisten machen."
"Und wie lange soll das gehen?"
Tom war sich nicht sicher, aber er bildete sich ein, einen geschmeichelten
Tonfall aus Yves Scots Stimme heraus gehört zu haben.
"Wir haben nur ein paar Fragen aufgeschrieben", sagte
Tom.
"Wir?" fragte Scot, sofort wieder misstrauisch.
"Ich und meine Freundin Jenny", sagte Tom schnell. "Wir
machen hier zusammen Urlaub."
"Ah", sagte Scot. "Was für Fragen habt ihr euch
denn ausgedacht?"
"Zum Beispiel was für interessante Dinge es in Rochefort
für Kinder und Jugendliche zu entdecken gibt. Oder welche bedeutende
Menschen aus Rochefort stammen, oder wie sie Journalist geworden
sind. "
"Gut", sagte Scot. "Ich gebe dir eine halbe Stunde
für dein Interview."
"Darf ich noch meine Freundin Jenny mitbringen? Ihr ist es
sonst langweilig."
Jenny schlug ihm gegen das Schienbein, aber Tom tat so, als ob er
es nicht bemerkt hätte.
"Mhhm", machte Scot. "Ihr könnt morgen um neun
Uhr bei mir vorbei kommen. Die Adresse kennt ihr ja wahrscheinlich
bereits. Aber seid pünktlich."
"Aufgehängt", stellte Tom fest und hängte den
Hörer wieder in die Gabel. "Besonders freundlich scheint
er mir nicht zu sein."
"Hauptsache, wir dürfen ihn interviewen", sagte Jenny.
"Schade allerdings, dass er erst morgen Zeit hat. Was sollen
wir denn jetzt einen ganzen Tag lang tun?"
"Wie wär's mit einem Bad im Fluss und genauerem Pläne
schmieden für das Interview?" fragte Tom.
"Nicht schlecht", sagte Jenny. "Auf jeden Fall billiger
und cooler, als in einem Schwimmbad oder Café abzuhängen."
Ende Teil 5
Die Fortsetzung des Romans könnt ihr
im
Rossipotti No. 23
lesen!
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