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Das geheime Buch
Reise ins Ungewisse
von
Heiko Bacher
Fortsetzung: Teil 3
Wer den Anfang verpasst hat und nicht nur
die kurze Zusammenfassung lesen möchte, sondern auch den Anfang
des Buches, geht zurück zur
letzten Rossipotti-Ausgabe
.
Was bisher geschah:
Der dreizehnjährige Tom wird von Kart
Orkid, einem Agenten des unbekannten Volkstammes Mok, gebeten, sein
Volk vor der Entdeckung und Zerstörung zu retten. Tom verspricht
zu helfen und in den Sommerferien nach Frankreich zu den Moks zu
fahren. Doch nicht nur er, sondern auch die zwölfjährige
Jenny soll den Moks helfen. Denn in dem uralten "Buch des Tuns"
der Moks steht geschrieben, dass nur die beiden Kinder den Moks
helfen können. Jenny glaubt Kart Orkid kein Wort und denkt
nicht daran, nach Frankreich zu fahren. Auch nicht, als Kart Orkid
auf rätselhafte Weise verschwindet und das Obherhaupt der Moks
Tom einen hilferufenden Brief schreibt. Doch Tom lockt Jenny mit
einer fingierten Entführung in die Auvergne und überredet
sie dort, mit ihr nach den Moks zu suchen. Jenny willigt ein, doch
aus ihrer gemeinsamen Suche wird nichts. Denn während Jenny
auf einer Kuhwiese einen Mittagsschlaf macht, sucht Tom alleine
weiter. Aus irgendeinem Grund kehrt er nicht wieder zu Jenny zurück,
selbst dann nicht, als es anfängt in Strömen zu regnen.
Jenny macht sich Sorgen um Tom, und während sie nach ihm sucht,
entdeckt sie plötzlich den Eingang einer Höhle.
Nach mehreren Abzweigungen trifft sie tatsächlich auf Tom und
den Mok Lurk. Lurk führt die Kinder durch die Höhle und
durch gefährliches Strudelgewässer zur Hauptversammlung
der Moks vor deren Oberhaupt, Pok Alk. Dort erfahren sie, was der
Gründer des Mokstamms den Moks prophezeit hat: Zwei Kinder,
To-Am und Jen-Yi, werden kommen und die Moks vor gelbem Hagel und
dem Untergang ihres Stammes retten. - Nach der Versammlung werden
Jenny und Tom zu einer Mokfamilie gebracht, die die beiden Kinder
in die Sitten und Gebräuche einführen soll. Lurk klopft
an einer Höhlentür und ein kleiner Mok öffnet die
Tür ...
"Lok Kala!" sagte Lurk. "Ist deine Mutter oder
dein Vater da?"
Kala nickte und winkte sie zur Tür rein.
Sie traten in einen mit Kerzenlicht spärlich erleuchteten Raum,
in dem außer dem feuchten, leicht modrigen Geruch nichts an
eine Höhle erinnerte. Die unebenen Tropfsteinwände und
der Boden waren mit dicken Teppichen bedeckt und gaben Jenny das
Gefühl, in der Jurte ihres mongolischen Klassenkameraden Bajar
zu sein. Bajars Eltern hatten in ihrem Garten ein Nomadenzelt aufstellen
lassen, und Bajar verkroch sich immer darin, wenn er allein sein
wollte.
"Lok Jen-Yi und To-Am!" sagte eine freundliche Stimme.
Aus einem Gang, den Jenny zuvor nicht bemerkt hatte, trat Lenka,
die Mok-Frau, der sie vor der Versammlung am Bootssteg begegnet
waren.
"Lok Lenka!" sagte Lurk. "Ist Enk auch da?"
"Enk schmückt sich!" sagte Lenka und sah verschmitzt
zu Kala.
"Enk sollte sich mehr auf seine Aufgaben konzentrieren",
sagte Lurk knapp. "Ihr helft To-Am und Jen-Yi, so gut ihr könnt.
Kala, du zeigst ihnen morgen unsere Bibliothek und unsere Schule.
Übermorgen müssen sie gut gerüstet sein!"
Übermorgen schon?' dachte Jenny entsetzt. Hieß
das, dass sie bereits in anderthalb Tagen ausziehen mussten, um
die Moks vor dem "fallenden gelben Hagel" zu retten? Irgendwie
hatte sie gedacht, dass sie sich hier noch in aller Ruhe umsehen
und danach wieder nach Hause fahren und Hella, Lea und Kim genüsslich
von ihrer abenteuerlichen Reise erzählen konnte. Aber die Moks
schienen felsenfest davon überzeugt, dass sie und Tom ausziehen
würden, ihren Stamm zu retten!
Jenny fühlte sich wie im falschen Film. Wie sollten sie und
Tom die Moks vor gelbem Hagel, schwarzen Wolken und dem Tod retten?
Glaubten die Moks wirklich, dass ein zwölfjähriges Mädchen
und dreizehnjähriger Junge ihren Stamm vor dem Untergang bewahren
konnten?
"Sie ist unkonzentriert", holte Lurk Jenny aus ihren Betrachtungen
zurück. "Das kann schädlich sein."
"Sie ist noch ein Kind!" sagte Lenka.
Lenka legte Jenny eine Hand auf den Arm und Jenny begriff, dass
Lurk sie gemeint hatte. Lurk kritisierte sie jetzt schon? Umso besser!
"Richtig!" ergriff Jenny die Gelegenheit. "Ich bin
ein unkonzentriertes Kind und für diese Mission völlig
ungeeignet! Ich werde deshalb übermorgen nicht gegen den gelben
Hagel kämpfen, sondern mich in Aurillac in den Zug setzen und
wieder nach Hause fahren!"
"Sie ist zornig!" sagte eine dunkle Stimme. "Das
ist gut für uns!"
Alle drehten sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war,
und Lenka, Kala und selbst Tom verzogen ihre Gesichter zu einem
Grinsen. Jenny drehte sich um und sah in einem Gang den "geschmückten"
Enk stehen: Enk trug weiße Turnschuhe, eine etwas knappe Jeanshose
und ein viel zu großes T-Shirt, auf das fünf Köpfe
gedruckt waren. "Backstreetboys" stand als Schriftzug
über den Köpfen.
Backstreetboys?' dachte Jenny. Sind die nicht schon
lange tot?'
"Du machst uns lächerlich!" sagte Lurk zu Enk. "Ich
gehe jetzt. Ihr wisst, was zu tun ist!"
Lenka, Kala und Enk verbeugten sich und Lurk verschwand schnell
durch die Tür.
"Endlich!" sagte Kala. "Lurk macht die Luft eisig!"
"Wie findet ihr mich?" sagte Enk und trat auf Tom und
Jenny zu.
"Spitze!" sagte Jenny. "Allerdings nicht mehr up
to date!"
"Up to date?" fragte Enk ratlos.
"Nicht mehr zeitgemäß", erklärte Jenny.
"Solche T-Shirts trägt heute keine mehr."
"Es ist auch zehn Jahre alt!" seufzte Enk. "Das hat
ein Camper in der Nähe unserer Höhle vergessen. Wir haben
damals den Höhleneingang bewacht, um ihn im Notfall zu vertreiben.
Und ich hatte das Glück, dass ich gerade Wachtdienst hatte,
als er sein Zelt abgebrochen und das Hemd vergessen hat."
"Ich finde eure Mok-Kleidung besser", sagte Tom. "Hier
unten ist es viel zu klamm für T-Shirts und Jeans."
"Spielverderber!" sagte Kala. "Immer nur die schwarze
Kleidung der Moks anzusehen ist langweilig!"
"Aber hier unten ist es viel zu dunkel!" meinte Tom. "Bunte
Farben wären hier die reinste Verschwendung."
"Du redest wie die Garde des Häuptlings!" meinte
Kala. "Kart Orkid hat offensichtlich ganze Arbeit geleistet!"
"Kart Orkid?" fragte Tom irritiert. "Was hat der
denn damit zu tun? Wo ist er überhaupt?"
"Wahrscheinlich ist er zum Feind übergelaufen", sagte
Kala. "Kaum reist er durch die Welt, muss ihm aufgefallen sein,
dass er es draußen viel besser hat. Und dann hat er sich wie
Onk Ark einfach verdrückt! Und wer darf seinen Verrat ausbaden?
Wir! Wir haben seither striktes Ausgehverbot und müssen uns
so still und unauffällig verhalten wie nur möglich."
"Was heißt hier Ausgehverbot?" fragte Tom erstaunt.
"Ich dachte, ihr habt die Höhle eh noch nie verlassen
dürfen?"
"Und was glaubst du, woher wir hier unten Nahrungsmittel, Kleider,
Bücher und andere Dinge herbekommen?" fragte Kala angriffslustig.
"Aber Kart Orkid hat mir gesagt, dass nur die Agenten des Häuptlings
den Stamm verlassen dürfen."
"Da siehst du, was du von Kart Orkids Reden zu halten hast!"
Tom schüttelte verwirrt den Kopf und sah hilfesuchend zu Jenny.
Doch Jenny zuckte nur mit den Schultern. Im Grunde war es ihr egal,
was mit Kart Orkid passiert war oder zu wem er übergelaufen
war. Kala schien ihr auf jeden Fall ein sehr nettes Mokmädchen
zu sein!
"Du darfst Kart Orkid keinen Verräter nennen, so lange
es nicht bewiesen ist", mischte sich Enk mit ernster Stimme
in den Streit zwischen den Kindern ein.
Enks gute Laune von vorhin war wie weggeblasen und die fremde Kleidung
an seinem Körper wirkte auf einmal falsch und tatsächlich
beinahe lächerlich.
"Hattet ihr den Eindruck, dass Onk Ark und Kart Orkid unter
einer Decke stecken?" fragte Enk.
Jenny machte mit den Händen eine abwehrende Geste, und Tom
sagte: "Jenny hat mit Kart Orkid nie geredet. Und ich hatte
nicht den Eindruck, dass Kart Orkid lügt."
"Lasst To-Am und Jen-Yi doch erst einmal ausruhen!" Lenka
nickte Tom und Jenny zu und ging durch den Gang voraus in den Nachbarraum.
Auch dieser Raum war mit Decken ausgekleidet. In seiner Mitte standen
ein großer, mit Schüsseln gedeckter Holztisch und darum
herum Hocker aus Baumstämmen. In einer kleinen Ausbuchtung
machte Jenny eine Feuerstelle und ein mit Küchenutensilien
vollgestopftes Regal aus.
"Setzt euch", sagte Lenka und trug einen Topf mit dampfendem
Etwas auf den Tisch. "Ihr müsst sehr hungrig sein."
Jenny nickte. Tatsächlich knurrte ihr der Magen und sie hätte
jetzt gerne ein ganzes Hähnchen verdrückt. Aber das, was
sie in der Pfanne sah, machte ihr nicht gerade Appetit: Ein dunkler
Blätterbrei mit undefinierbaren Klumpen.
"Für euch hat Mama sogar unseren letzten Kohl herausgerückt",
sagte Kala.
"Das wäre nicht nötig gewesen", sagte Jenny
schwach und überlegte, ob in der Pfanne wirklich nur ganz normaler
Kohl war.
"Heißt das, ihr hättet lieber Algenschlabber probiert?"
sagte Kala.
"Kala!" ermahnte sie Lenka. "Mach den beiden doch
nicht Angst! Das ist einfach nur Kaninchen in Kohl! Algen essen
wir nur in Notzeiten, wenn unsere Ausgänge belagert oder wie
jetzt gesperrt sind. Zum Glück sind unsere Lager aber noch
nicht leer. Für ein paar Wochen können wir uns noch ganz
gut ohne Algen ernähren. Auch wenn es euch anders vorkommt:
Wir sind nicht vollständig zu Höhlenbewohnern geworden,
sondern haben durchaus noch unsere Quellen, an Nahrung über
der Erde zu kommen. Mit Getränken ist es allerdings schon schwieriger.
Außer Wasser gibt es hier nur Moos- und Algenwein. Jenny?"
Jenny nickte und reichte Lenka ihren Teller.
"Mein Lieblingsgericht ist trotzdem geröstete Feldermaus!"
sagte Kala. "Auch wenn Papa immer meint, ich solle nicht zu
sehr verrohen."
"Gegen Fledermäuse ist wirklich nichts einzuwenden",
sagte Lenka. "Die gibt es hier in Hülle und Fülle
und sie haben vor ihrem Tod sicher kein schlechteres Leben als bei
euch die Hühner oder Schweine."
"Man braucht aber viel zu viele, um davon satt zu werden",
sagt Enk. "Das ist Verschwendung. Ein zivilisierter Mensch
sollte klüger sein. Aber wir Moks werden von Generation zu
Generation unzivilisierter. Wir sitzen in unserer Höhle und
essen ohne Verstand kiloweise Fledermäuse und Käfer!"
"In unserer Welt sind wir noch viel verschwenderischer!"
sagte Tom mit vollem Mund. "Da würden ein paar Fledermäuse
gar nicht auffallen."
"Was heißt das?" Enks Augen wurden zu schmalen Schlitzen.
"Esst ihr etwa tonnenweise Schweine?"
"Das nicht gerade", sagt Tom. "Aber wir produzieren
auf jeden Fall mehr als wir konsumieren. Und wir konsumieren oder
verbrauchen mehr als wir brauchen."
"Das verstehe ich nicht", sagte Kala. "Wie kann man
mehr verbrauchen als man braucht?"
"Indem man es wegschmeißt", sagte Jenny. "Wir
kaufen zum Beispiel mehr Essen als wir wirklich essen können.
Der Rest kommt in den Müll. Oder Kleider: Wenn einem ein Pullover
oder eine Hose nicht mehr gefällt, schmeißt er es weg
und holt sich etwas Neues, obwohl das alte noch nicht kaputt ist."
"Und warum?" Kala machte große Augen.
"Weil es chic ist!" sagte Jenny. "Weil es Mode ist!
Viele wollen in der neuen Saison nicht mit den Kleidern aus der
alten herumlaufen."
"Siehst du!" sagte Kala zu ihrem Vater. "Und du erlaubst
mir nicht einmal, mir für meinen Weihtag eine neue Hose zu
besorgen!"
"Ihr solltet Kala nicht solchen Unsinn erzählen!"
überging Enk seine Tochter. "Es kann gar nicht sein, dass
ihr mehr verbraucht als ihr braucht. Denn dann entsteht ein völliges
Ungleichgewicht und ich frage mich, wer die Rechnung von dem Ganzen
bezahlt?"
Jenny sah Tom betroffen an und auch Tom schwieg.
"Siehst du Kala", sagte Enk, "es stimmt nicht, was
die beiden sagen. Und deshalb kannst du an deinem Weihtag auch die
alte Hose anziehen."
"Enk!" sagte Lenka. "Lass das. Ich habe Kala außerdem
schon eine neue Hose besorgt!"
Enk schnappte nach Luft, sagte aber nichts. Jenny konzentrierte
sich auf ihr Essen und hoffte, dass die Luft bald wieder dünner
werden würde. Das Kaninchen und der Kohl schmeckten eigentlich
nicht viel anders, als sie es von ihrer Oma kannte. Trotzdem fühlte
sich das Essen unangenehm fremd an und sie hätte es am liebsten
stehen lassen.
Plötzlich musste Jenny an ihre Mutter denken. Hoffentlich machte
sie sich keine Sorgen um sie! Hoffentlich hatte sie nicht versucht,
sie auf ihrem Handy oder sogar im Ferienlager anzurufen! Ihre Mutter
war sicher nicht sehr ängstlich, aber wenn sie herausbekam,
dass es das Ferienlager gar nicht gab, würde sie sich schon
ihre Gedanken machen und sicher auch bald zur Polizei gehen. Am
liebsten wäre Jenny gleich aus der Höhle gesprungen, um
ihre Mutter anzurufen.
"Du musst dir keine Sorgen machen!" Lenka hatte Jennys
Stimmungswechsel beobachtet und versuchte sie nun etwas aufzuheitern.
"Die Rede hat sich schlimm angehört, aber ich glaube nicht,
dass es wirklich so schlimm kommt, wie prophezeit."
"Heißt das, du glaubst den Worten Tors nicht?" fragte
Enk.
"Doch, aber ..."
"Dann solltest du Jen-Yi und To-Am auch nicht mit falschen
Worten beruhigen!"
"Tor spricht mit symbolischen Wörtern", sagte Lenka.
"Ich glaube nicht, dass wirklich gelber Hagel fällt oder
jemand vergiftetes Schwefelwasser trinken wird. Das sind Symbole
für schlimme Ereignisse oder teuflisch böse Taten."
"Womit wir wieder beim Thema wären", sagte Enk. "Kala
räum bitte den Tisch ab, damit wir die kopierte Prophezeiung
mit To-Am und Jen-Yi durchgehen können."
Kala räumte still den Tisch ab und Lenka brachte eine kleine
Pergamentrolle.
"Pok Alk hat uns diese Kopie übersandt", erklärte
Enk. "Wenn wir darüber gesprochen haben, werdet ihr sie
bekommen, damit ihr wisst, wohin ihr eure Schritte lenken sollt."
Das kann ja heiter werden', dachte Jenny. Wir sollen
den durchgeknallten Worten eines Typen folgen, der schon über
tausend Jahre tot ist! Immerhin scheinen wir nicht wirklich in Gefahr
zu sein, sondern sind eigentlich nur eingeladen worden, bei einer
Art künstlich erzeugter Massenhysterie anwesend zu sein. -
Oder ist an den Worten womöglich doch etwas Wahres dran? Hoffentlich
nicht!'
"Lurk hat Recht, Jen-Yi ist unkonzentriert", sagte Enk.
"Oder hast du mitbekommen, wie wir die ersten sechs Zeilen
der Prophezeiung deuten?
"Ich heiße nicht Jen-Yi!" sagte Jenny trotzig. "Sondern
einfach Jenny! Und das ist nicht To-Am, sondern Tom! Vielleicht
haltet ihr es jetzt gar nicht mehr für nötig, mit uns
die Prophezeiung zu besprechen?"
"Jen-Yi oder Jenny ist nicht wichtig!" sagte Enk. "Innerhalb
der tausend Jahre hat eine Lautverschiebung stattgefunden. Aus Jen-Yi
wurde einfach Jenny."
"Ach, und vielleicht wurde aus weißem Hagel mit der Lautverschiebung
einfach gelber Hagel?" fragte Jenny frech. "Wenn Tor aber
eigentlich ei-großen weißen Hagel gemeint hat, hatte
er vielleicht einfach nur die Klimakatastrophe im Kopf?"
"Welche Klimakatastrophe?" fragte Enk und Kala gleichzeitig.
Jenny verdrehte die Augen und stieß einen Seufzer aus.
"Die ganze Welt hat ein riesengroßes Umweltproblem",
versuchte Tom zu erklären. "Angefangen hat es vor mehr
als fünfzig Jahren mit verschmutzten Flüssen, verpesteter
Luft und kaputten Wäldern. Inzwischen haben es die Menschen
allerdings mit der Umweltverschmutzung so weit gebracht, dass das
ganze Klima verrückt spielt: Die Polkappen und Gletscher schmelzen,
die Schutzschicht um die Erde ist so dünn geworden, dass die
Sonne die Erde verbrennt. Und wenn es kalt sein sollte, ist es warm
und wenn es warm sein sollte, ist es kalt."
"Ich verstehe", murmelte Enk. "Die Umwelt zahlt die
Rechnung für eure Verschwendung!"
"Warum hat uns das keiner gesagt?" fragte Kala. Sie schaute
mit entsetzten Augen ihre Eltern an.
"Weil unsere Helfer Sonderlinge und Tagträumer sind",
sagte Lenka. "Würden sie sonst den Moks helfen?"
"Ach was!" sagte Enk. "Sie nehmen uns nicht ernst.
Deshalb erzählen sie uns nichts davon. Sie denken, wir haben
hier unten ganz andere Probleme. Und auf gewisse Weise stimmt das
auch. Im Moment droht uns ganz konkret unsere Vernichtung!"
Enk tippte auf die Prophezeiung und sagte:
"Die ersten Zeilen haben wir also schon geklärt, Jenny.
Dem Stamm Mok droht mit der schwarzen Wolke ein Unheil, das uns
alle umbringen wird. Ursache des Unglücks ist Geldgier und
Neugier. Lesen wir weiter: Das Beben wird so stark sein im
Monat August, dass Saturn/Steinbock, Jupiter, Merkur im Stier sich
in ihre Gefilde/zurück ziehen werden./Auch Venus, Krebs, Mars
..."
"Die Zeilen mit den Sternen können wir überspringen",
sagte Lenka. "Seit wir unter der Erde wohnen, haben wir keine
Sterndeuter mehr. Wir werden nie heraus bekommen, was diese Worte
bedeuten."
"Die Freundschaft wird verunreinigt durch Streit/den Hass suchend,
der ganze Glaube verdorben und die Hoffnung, Rochefort, ohne Einsicht",
las Enk weiter vor. "Der Bogen des Schatzes wird/durch Tricastin
und Marcoule offenbart/die Vorfahren kannten die Zeichen noch./Einer,
der auszog, wird aufgehängt/für die Augen der Öffentlichkeit
..."
"Das macht doch keinen Sinn", sagte Kala. "Wir haben
schon so oft darüber gesprochen und haben keine Ahnung, was
es heißt."
"Vielleicht können Tom und Jenny uns weiterhelfen?"
"Die ersten beiden Zeilen verstehe ich ja noch", sagte
Jenny. "Irgendjemand streitet und deshalb geht das ganze den
Bach herunter. Aber was mit Rochefort, Tricastin und Marcoule los
ist, weiß ich nicht."
"Rochefort ist eine Stadt am Atlantik", sagte Lenka. "Und
Tricastin und Marcoule sind kleine Städte zwischen Valence
und Avignon."
"Rochefort", überlegte Tom laut. "Ist das nicht
die Stadt, in die Onk Ark gereist ist?"
"Das wissen wir nicht." sagte Enk. "Uns wurden nicht
die Details erzählt, um uns nicht zu beunruhigen."
"Wenn Rochefort wirklich die Stadt ist, in der Onk Ark festsitzt,
bedeutet die Zeile, dass Onk Ark keine Lust hat, wieder nach Hause
zu kommen."
"Warum das denn?" fragte Jenny.
"Weil er 'keine Einsicht' hat", erklärte Tom. "Das
bedeutet wahrscheinlich, dass er nicht mehr zurück kommen möchte,
sondern lieber französischer Staatsbürger wird."
"Und dann wird er 'für die Augen der Öffentlichkeit
aufgehängt'?" fragte Lenka. "Das würde bedeuten,
dass er unseren Stamm verrät und sich selbst auf dem Markt
zur Schau stellt."
"Soweit Rochefort", sagte Enk. "Aber was ist mit
Tricastin und Marcoule? So lange wir das nicht wissen, verstehen
wir auch die Fortsetzung der Prophezeiung nicht: Und dann
wird gelber Hagel fallen, größer als ein Ei/Der Feind
wird gepackt und in den Bottich getaucht,/ mit Gewalt vergiftetes
Schwefelwasser trinken'."
"Immerhin wissen wir, dass alles ein gutes Ende nimmt",
sagte Kala. "Denn am Schluss steht dort doch: 'in Trümmern
wird To-Am und Jen-Yi das Licht der Hoffnung tragen und nicht erlöschen
lassen.' Es stimmt doch, dass uns nichts passieren wird?"
Enk schaute Lenka sorgenvoll an und sagte: "Auf jeden Fall
sollten wir gerüstet sein für unsere Flucht aus der Höhle.
Bevor alles in Trümmern liegt."
"Enk!" sagte Lenka. "Wir können nicht fliehen,
weil wir niemanden haben, der uns aufnehmen könnte."
"Dutroux, Galligaut oder die Benoits könnten uns aufnehmen."
"Sie haben selbst nicht genug, um davon gut leben zu können",
sagte Lenka. "Und was, wenn auch die anderen aus unserem Stamm
eine neue Bleibe suchen? Drei Familien können nicht dreitausend
Moks aufnehmen."
"Ich werde auf jeden Fall nicht warten, bis uns die Höhle
auf den Kopf fällt!" sagte Enk heftig. "Und wenn
du unbedingt hier bleiben willst, werde ich Kala mitnehmen!"
"Was willst du denn über der Erde?" rief Lenka. "Du
bist wie wir ein Höhlenmensch! Deine Augen sind schlecht, du
hast fast keine Ahnung, wie man sich oben verhält, du kannst
dort keinen Beruf ausüben und deine Familie ernähren!
Du wirst wie ein Maulwurf ohne Erde sein!"
"Ich bin ein zivilisierter Mensch wie sie!" rief Enk.
"Ich habe ihre Bücher studiert und sie in den Dämmerungsstunden
oft beobachtet. Ich kenne ihre Sprache und weiß, worüber
sie lachen und weinen."
"Nichts weißt du", lachte Lenka hysterisch. "Du
weißt nicht, wie es sich anfühlt, in einem ihrer Autos
oder Flugzeuge zu sitzen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie es
ist, elektrisches Licht und fließendes Wasser in deiner Wohnung
zu haben. Und du hast keine Ahnung, was es bedeutet, wenn dir die
Sonne den ganzen Tag auf deine blasse, dünne Haut scheint!"
"Ich will es aber wissen!" rief Enk außer sich.
"Ich will mir meine schäbige Gespensterhaut endlich von
der Sonne verbrennen lassen! Ich will die so süß beschriebenen
Farben des Frühlings nicht nur in der Dämmerung sehen,
die bunten Blätter im Herbst, ich will nicht mehr schlechte
Höhlenluft atmen, sondern die frische würzige Luft des
Waldes oder die zarte Honigluft der Wiesen! Ich habe es so satt,
ein Mok zu sein!"
"Siehst du, was du wieder angerichtet hast!" sagte Lenka
und zeigte auf Kala.
Kala saß zusammen gesunken auf ihrem Stuhl und weinte. Sie
hatte die Augen niedergeschlagen und zuckte mit den Schultern. Lenka
ging zu Kala und legte einen Arm um sie.
"Nimm deinen Vater nicht zu ernst", sagte Lenka. "In
Wirklichkeit liebt er unsere Welt und möchte sie gar nicht
verlassen. Was würde er auch ohne seine Höhlenbilder anfangen?
Und kannst du ihn dir ohne Schuschu vorstellen?"
Kala schluchzte.
"Vielleicht würde er mich, wenn du bei ihm bleibst, tatsächlich
gegen eine Leben auf der Erde eintauschen", sagte sie nachdenklich,
"aber seinen eigenen Vater und Lokop, den Sänger, würde
er nie zurück lassen."
Kala zog mit der Nase den Rotz hoch, drückte sich fest an den
Arm ihrer Mutter und sagte leise: "Und ich würde dich
nie zurück lassen!"
"Deine Mutter hat Recht!" sagte Enk. "Ich werde die
Höhle ohne euch nicht verlassen. Aber ich werde auch nicht
zulassen, dass wir unter ihren Trümmern begraben werden."
Licht und Schatten
Jenny lag neben Tom in ihrem Bett aus Teppich und Fell und konnte
nicht einschlafen. Zu viele Dinge gingen ihr im Kopf herum. Der
wütende Enk, die traurige Kala, die vermittelnde Lenka. Die
geheimnisvolle, für Jenny völlig neue Welt dieses versteckten
Höhlenstaats.
Wie konnten es Menschen so lange so tief unter der Erde aushalten?
Oder waren die Moks gar keine richtige Menschen mehr?
Und dann die Prophezeiung. War etwas Wahres an ihr? Oder war sie
nur das Hirngespinst des Mokgründers Tor? Wahrscheinlich. Wahrscheinlich
war die ganze Sorge der Moks völlig unbegründet und sie
würden die nächsten 1000 Jahre genauso unbehelligt unter
der Erde leben wie bisher.
Andererseits waren Onk Ark und der Agent Kart Orkid tatsächlich
verschwunden. Vielleicht hatte Onk Ark "getrieben von Neugier
und unwürdigem Gold" die Moks wirklich verraten? Vielleicht
steckte er sogar mit Kart Orkid unter einer Decke und die beiden
würden die Ursache sein, den vorhergesagten Streit und Hass
unter den befreundeten Moks zu säen?
Aber war es dann für sie und Tom nicht sowieso schon zu spät,
irgendetwas dagegen zu unternehmen? Würden dann nicht schon
in wenigen Tagen die Reporter und Wissenschaftler Schlange stehen
und die Moks aus ihren Behausungen weg ans Tageslicht zerren?
"Kannst du auch nicht schlafen?" flüsterte Tom neben
ihr.
"Hm", machte Jenny. "Mir ist das alles ein bisschen
viel auf einmal."
"Mir auch", gab Tom zu, "obwohl mir Kart Orkid ja
schon einiges erzählt hat. Ich glaube übrigens nicht,
dass Kart Orkid ein Verräter ist."
"Warum nicht?"
"Weil er uns sonst nicht zu Hilfe geholt hätte."
"Vielleicht glaubt er selbst nicht an die Prophezeiung",
überlegte Jenny. "Dann hat er uns zu den Moks geschickt,
um von sich selbst abzulenken."
"Er glaubt ganz sicher an die Prophezeiung", sagte Tom.
"Denn er ist selbst Kind einer Prophezeiung."
"Wie meinst du das?"
"Tor hat vorausgesagt, dass sein Vater und seine Mutter sich
lieben werden, obwohl ein jahrzehntelanger Streit zwischen den Familien
der beiden das eigentlich unmöglich gemacht hat. Aber die Prophezeiung
ist wahr geworden und so wurde Kart Orkid geboren."
"Diesen ganzen Schmus hat dir Kart Orkid vielleicht nur vorgelogen."
"Ja, sicher", sagte Tom und seufzte. "Alle lügen,
nur du sprichst immer die Wahrheit."
Jenny schwieg betroffen. Tom hatte Recht. Sie konnte Kart Orkid
nicht einfach als Lügner bezeichnen, nur weil er Dinge erzählte,
an die sie nicht glaubte.
"Was glaubst du dann, was mit Kart Orkid passiert ist?"
fragte Jenny.
"Keine Ahnung", sagte Tom. "Aber hier gehen auf jeden
Fall Dinge vor, die sehr seltsam sind. Kart Orkid ist schon vor
mehr als drei Wochen verschwunden. Onk Ark schon vor zwei Monaten.
Aber trotzdem ist die Höhle immer noch unentdeckt."
"Umso besser", sagte Jenny. "Dann haben sich Onk
Ark und Kart Orkid einfach nur eine Auszeit genommen und das ganze
Problem löst sich bald in Luft auf."
"Die Sache stinkt", sagte Tom. "Wenn wir nicht im
21. Jahrhundert in Europa wären, würde ich denken, dass
das die Ruhe vor dem Sturm ist, in der sich der Feind zum Krieg
rüstet."
Jenny stöhnte. Jetzt hatte sie beinahe angefangen, Tom Glauben
zu schenken und schon fing er wieder an, sich in der Art seiner
Fantasybücher etwas zusammen zu fantasieren.
"Die Franzosen haben in ihren Sommerferien anderes zu tun,
als mit Panzern und Granaten in die Höhle der Moks einzudringen.
Sie sitzen am Meer, lassen sich die Sonne auf den Rücken knallen,
essen Hummer und trinken Wein. So wichtig sind deine Moks sicher
nicht!"
"Wir werden ja sehen", sagte Tom und drehte sich auf die
Seite. "Lustig werden die nächsten Tage auf jeden Fall
nicht."
Am anderen Morgen kitzelte Jenny etwas an der Nase. Jenny blinzelte
mit den Augen und sah das Mokmädchen vor sich.
"Aufstehen!" sagte Kala. "Wir haben einiges vor.
Und wenn du Schuschu kennen lernen willst, musst du gleich rausgehen."
Wohin denn rausgehen? Aus der Höhle etwa? Das klang verlockend.
Jenny sprang aus dem Bett und lief hinter Kala durch drei verschiedene
Höhlen-Räume zum Ausgang von Enks und Lenkas Höhlen-Wohnung.
Oh!
Jenny kniff reflexartig die Augen zusammen. Ein heller, breiter
Lichtstrahl blendete sie.
Licht?!
Woher kam hier Tageslicht?
Jenny öffnete ihre Augen wieder einen schmalen Spalt und sah
etwa dreißig Meter über sich ein breites Loch in der
Höhlendecke.
Ja, natürlich! Das Licht fiel durch eine Doline!
Dolinen waren trichterförmige Erdrutsche, die bis über
300 Meter tief sein konnten. Jenny sah nach oben und glaubte am
Ende der Doline Wurzeln und Äste von Bäumen erkennen zu
können. Vor allem aber sah sie blauen Himmel!
Hier an dem abgelegensten, dunkelsten Ort, den Jenny kannte, fiel
durch eine Senke tatsächlich Sonnenlicht!
Und um das Glück vollkommen zu machen, fiel das Licht in diesem
Moment direkt auf einen Birkenbaum vor Lenkas und Enks Höhle!
Die Blätter der Birke schimmerten zart grün und an den
silbrigen Stamm der Birke schmiegten sich wilde Blumen und reckten
ihre Köpfe ins Licht.
'Wie schön!' dachte Jenny. 'Wie atemberaubend schön!'
"Ist das nicht wie ein Wunder?" fragte Tom und trat neben
sie. "Ist dir jemals eine Birke so schön erschienen?"
Jenny schüttelte den Kopf.
"Und das ist Schuschu!" sagte Kala und hielt Jenny eine
kleine Eule entgegen. "Schuhu kommt jeden morgen durch die
Doline zu uns geflogen und geht dann mit meinem Vater zum Arbeiten."
Schuschu drehte den Kopf in Jennys Richtung und schaute sie mit
ihren großen gelbschwarzen Augen interessiert an.
"Sie weiß noch nicht, ob sie dir trauen kann", sagte
Kala. "Aber immerhin hackt sie nicht mit dem Schnabel nach
dir."
"Schlafen Eulen nicht tagsüber?" fragte Jenny.
"Es gibt viele verschiedene Eulenarten", sagte Kala. "Die
meisten davon sind tatsächlich nachtaktiv. Schuschu ist aber
ein Steinkauz, und Steinkäuze sind tag- und nachtaktiv. Er
kann in der Höhle schlafen oder meinem Vater beim Malen zusehen,
ganz wie er Lust hat."
"Woher habt ihr denn den Kauz?" fragte Jenny.
"Er lag vor ungefähr drei Jahren verwundet vor unserer
Haustür", sagte Kala. "Er war noch ganz klein. Mein
Vater hat ihn gesund gepflegt und wollte ihn wieder fliegen lassen.
Aber Schuschu wollte die erste Zeit lieber bei uns bleiben. Mein
Vater glaubt, dass er oben etwas Schlimmes erlebt hat. Nach ein
paar Monaten ist er dann doch hoch geflogen, aber bis heute jeden
Morgen wieder gekommen. Seitdem lebt er tagsüber bei uns."
"Darf ich ihn mal streicheln?" fragte Jenny.
Kala nickte.
Jenny legte ihre Finger vorsichtig auf das flaumig weiche Gefieder
des Käuzchens. Der Kauz zog den Kopf ein und gurrte.
"Wenn du willst, kannst du ihn auch halten", Kala hob
Schuschu auf Jennys offene Hand.
"Ist der leicht!" sagte Jenny. "Und so klein und
süß!"
Tom grinste und streichelte Schuschus Kopf.
"Ich muss los!" sagte Enk und pfiff. Schuschu flatterte
auf seine Schultern. "Lok Kala!"
"Lok Papa!"
"Lok Jenny und Tom!"
"Lok Enk!" sagte Tom und hob die Hand.
Jenny sah Tom scheel an und nickte Enk zu.
"Kala, Tom, Jenny, das Frühstück ist fertig!"
rief Lenka durch eine Höhlenöffnung, die wie ein Fenster
auf den kleinen Birkenplatz schaute.
"Ich habe gar keinen Hunger" sagte Jenny und wäre
am liebsten im Licht der Doline stehen geblieben.
"Papa hat extra Brot gebacken!" sagte Kala und zog Jenny
mit in die Wohnung.
In der Küche roch es nach Feuer und knusprigem Brot.
Lenka hatte ein leckeres Frühstück mit Butter, Hagebuttenmarmelade,
Kräutertee, Fleischbällchen und sogar Eiern hergerichtet.
"Wie habt ihr geschlafen?" fragte Lenka.
"Nicht besonders", sagten Jenny und Tom wahrheitsgemäß.
Das Brot schmeckte lecker, das Fleisch etwas ungewohnt, aber die
Eier waren waschechte Hühnereier.
Jenny schnitt sich die zweite Scheibe Brot ab und bestrich sie dick
mit Butter.
Tom gab ihr einen leichten Stoß und schüttelte leicht
den Kopf.
"Stört es dich, wenn es mir schmeckt?" missdeutete
Jenny Toms Geste.
"Nein", sagte Tom. "Aber musst du so viel essen?"
"Hast du Angst, dass ich zu dick werde?" fragte Jenny,
immer noch begriffsstutzig.
"Ich freue mich, wenn es ihr schmeckt", sagte Lenka zu
Tom. "Wir werden deshalb nicht verhungern."
Endlich begriff Jenny, was Tom ihr sagen wollte: Die Moks mussten
ihr Essen zur Zeit streng rationieren und sie aß ihnen die
ganze Vorräte weg! Plötzlich schmeckte ihr das Essen nicht
mehr. Mit Mühe würgte sie die letzten Bissen hinunter
und spülte mit dem bitteren Kräutertee nach.
Nachdem sie gefrühstückt hatten, machten sich die drei
auf den Weg zur Bibliothek.
Anders als gestern mit Lurk, wollte Kala kein Boot benutzen, sondern
lieber zu Fuß gehen. Zuerst gingen sie über den kleinen
sonnenbeschienenen Platz und dann eine steile Treppe hoch, die in
den Fels gehauen war. Die Treppe führte nach einigen Metern
auf einen schmalen Gang, und nach einer Biegung waren die letzten
natürlichen Lichtstrahlen leider hinter den Felsen verschwunden.
Kala zündete mit ihrer Fackel zwei von mindestens zehn Fackeln
an, die in dem Gang in einer Halterung steckten. Sie reichte Jenny
und Tom jeweils ein Fackel und sagte "Die Bibliothek wird euch
gefallen. Ihr werdet euch dort fast wie zu Hause fühlen. Wir
haben über 20.000 Bücher!"
Jenny schmunzelte. Sie las zwar ganz gerne. Es wäre aber übertrieben,
zu behaupten, dass sie sich zwischen 20.000 Büchern besonders
wohl fühlen würde. Dann doch lieber zwischen 20.000 Kubikmetern
frischer Luft oder heißem Sandstrand.
"Hat die Bilder alle dein Vater gemalt?" fragte Tom unvermittelt
und zeigte mit seiner Fackel auf eine kleine, gemalte Eule, die
auf einem Baum saß. Über ihr kreiste ein Adler und sah
mit bösen Augen auf sie herab.
"Die meisten Bilder in diesem Gang", sagte Kala. "In
den anderen Gängen gibt es aber auch viele Gemälde von
anderen Künstlern. Wir Moks leben seit tausend Jahren in dieser
Höhle. Da war viel Zeit zum Malen. Die bekanntesten Künstler
sind Nor Tonk und Alai Kan. Vielleicht ist euch gestern schon ein
Gemälde von ihnen aufgefallen? Sie haben sehr laute Gemälde
gemalt."
"Laute Gemälde?" fragte Jenny verwundert.
"Aus der lauten Periode", erklärte Kala. "Vor
etwa zweihundert Jahren gab es eine Spaltung unter den Moks. Die
einen wollten ans Tageslicht, die anderen wollten lieber hier unten
bleiben. Es gab viel Streit, Lärm und Getöse. In dieser
unruhigen Zeit brachten sich mehr als 100 Moks gegenseitig um. Die
Zeichner gaben diese Zeit in lauten, knallig bunten, sehr auffälligen
Bildern wieder. Viele der Moks lieben diese lauten Bilder, aber
ich mag besonders die stille Epoche. Hier ist zum Beispiel ein sehr
stilles Bild."
Kala ging einige Meter den Gang entlang und hielt ihre Fackel auf
den Fels.
"Wo ist hier ein Bild?" fragte Jenny erstaunt. "Ich
sehe nur Stein."
"Siehst du?" sagte Kala stolz. "Diese Bilder sind
so still, dass du die Natur durch sie hindurch sehen kannst! Kunst
sollte meiner Meinung nach nichts anderes tun, als die Natur zu
betonen."
"Aber worin besteht dann die Kunst?" fragte Jenny.
"Bei diesem Bild hier hat der Zeichner zum Beispiel die feinen
Haarrisse des Steins hervorgehoben", erklärte Kala. "Und
hier hat er dem kleinen Tropfstein einen Schatten gemalt. Findest
du nicht, dass der Tropfstein dadurch viel besser zur Geltung kommt?"
Jenny zuckte mit den Schultern.
"Ohne unsere stillen Zeichner wäre unsere Höhle weit
weniger eindrucksvoll", sagte Kala. "Sie sind Meister
der versteckten Inszenierung."
"Und wie zeichnet dein Vater?" fragte Tom.
"Er versucht, die Natur über der Höhle zu malen",
sagte Kala. "Da er sie so selten sieht, malt er sie, wie er
sie sich vorstellt oder in Büchern sieht. Ich weiß deshalb
nicht, ob er ein guter oder schlechter Zeichner ist."
"Aber wie gefallen dir seine Bilder?" fragte Jenny.
"Sie sind zwar nicht still, aber so schön, dass man traurig
davon werden kann", sagte Kala. Sie wendete sich ab und ging
mit schnellen Schritten den Gang entlang.
Nach etwa zehn Minuten blieb sie stehen und kletterte durch einen
Engpass. Jenny und Tom folgten ihr und standen dann in einer weiten,
hohe Halle, die sehr zerklüftet und durch einen breiten Spalt
in zwei Teile getrennt war. Kala ging neben den Spalt und horchte.
"Hört ihr den Gesang?" fragte sie. "Das ist
Lokop, der Sänger. Wenn er ein Konzert gibt, bleibt kein Mokkind
zu Hause."
"Wieso das denn?" fragte Jenny und trat neben Kala.
"Weil er den richtigen Höhlenrhythmus im Blut hat."
Jenny konzentrierte sich auf den Gesang, hörte aber neben dem
stetigen Tropfen von Wasser und dem gelegentlichen Flügelschlagen
von Fledermäusen, nichts.
"Ich höre nur Tropfen und Fledermäuse", sagte
Tom.
"Genau!" sagte Kala. "Lokops Gesang. Ist es
nicht fantastisch, wie gut Lokop die Geräusche imitieren kann?"
"Das macht Lokop?" fragte Jenny und lauschte dem immer
stärker werdenden Tropfen, das allmählich zu einem Wasserfall
anschwoll.
"Fantastisch!" sagte Tom.
"Und das ist noch nicht alles!" Kala brüllte beinahe,
weil der Gesang inzwischen so laut geworden war. "Er kann sogar
mehrstimmig singen! Mit seinem Gesang erzählt er wahre und
erstaunliche Geschichten von unserem Höhlenleben.
Der Gesang endete abrupt und Kalas Worte dröhnten überlaut
in der Halle. "Er kann aber auch witzige Balladen singen."
Nachdem sie eine Weile dem Gesang gelauscht hatten, sagte Kala:
"Lasst uns weiter gehen. In einer halben Stunde sind wir in
der Bibliothek angemeldet und wir haben noch einen guten Weg vor
uns."
Von der Felshalle aus führte ein Gang in einen kleineren Nebenraum
mit Tropfsteinbildungen, an dessen Ende ein schmales Loch war. Kala
kletterte schnell hindurch und wartete, bis Tom und Jenny ihr gefolgt
waren. Nach dem Engpass gelangten sie auf einen engen Gang, der
in vielen Windungen wieder abwärts führte.
"Warum begegnen wir eigentlich so gut wie niemandem?"
fragte Tom nach einer Weile.
"Weil alle beschäftigt sind", sagte Kala. "Jeder
Mok hat eine klare Aufgabe, wie er sich um den Stamm zu kümmern
hat. Jetzt sind alle beschäftigt. Wenn ihr zwei Stunden früher
aufgestanden wärt, hättet ihr die Moks zu ihren Arbeitstellen
gehen sehen."
"Und warum kannst du dann hier herum spazieren?" fragte
Jenny.
"Weil ich die Aufgabe habe, euch unseren Stamm etwas näher
zu bringen", sagte Kala. "Ihr sollt wissen, für wen
ihr in den Kampf zieht."
Von wegen Kampf!' dachte Jenny trotzig. Ich ziehe für
niemanden in den Kampf. Weder für Deutschland, noch für
ein vereinigtes Europa und sicher auch nicht für die Moks.
Auch wenn sie noch so tolle Bibliotheken oder Schulen haben!
"Wir gehen ja immer im Kreis", unterbrach Tom Jenny Gedanken.
"Schon seit mindestens zehn Minuten geht der Gang nach links!"
"Das scheint nur so", sagte Kala. "Wir gehen zuerst
in einer Schnecke nach unten und gehen bald in einer zweiten Schnecke
wieder nach oben. Danach sind wir fast bei der Bibliothek."
Tatsächlich drehte sich der Gang bald wieder nach rechts und
eine kleine, in den Fels gehauene Treppen führten wieder nach
oben.
Im Fackellicht sah Jenny, dass die Wände hier beinahe glatt
waren und wirklich wie das Innere eines Schneckenhauses wirkten.
"Das ist wahrscheinlich ein Gletschergarten", erklärte
Tom, der Jennys erstaunten Blick bemerkt hatte. "In der Eiszeit
sind manchmal am Grund von Gletschern solche Aushöhlungen entstanden.
Das Schmelzwasser auf dem Gletscher fließt durch Spalten ins
Innere des Gletschers, auf dessen Grund das Wasser unter hohem Druck
stand. In dem immer schneller fließenden Wasserstrom bildeten
sich schnelle Wirbel, die sich zusammen mit Sand und Kies wie eine
Schraube in den Fels bohrten.
"Danke, Herr Geologe", sagte Jenny schnippisch. "Und
warum haben wir hier mitten in der Höhle einen Gletschergarten?
Der müsste dann ja bis hoch zum Erdboden gehen."
"Das tut er auch!" sagte Kala. "Die Bibliothek liegt
nur drei Meter unter der Erdoberfläche. Der obere Teil des
Gletschergartens ist mit Geröll verschüttet."
Die Treppenstufen wurden immer breiter und breiter und bald standen
Kala, Jenny und Tom auf einer Plattform, die auf ein großes
Holztor führte. Über dem Tor standen in den Fels gehauen
die Buchstaben BAGM.
"Was bedeuten die Buchstaben?" fragte Jenny.
"Bibliotheca amici gentis mokis", sagte Kala. "Das
bedeutet: Die Bibliothek des Freunds des Moks Stamms. Das ist lateinisch
und stammt aus einer Zeit, als die Moks noch lateinisch gesprochen
haben."
"Und wer war der Freund der Moks?" fragte Tom.
"Ein italienischer Mönch aus dem 14. Jahrhundert, der
vom Papst verfolgt wurde. Der Papst lebte damals in Avignon und
ließ alle unliebsamen Personen als Ketzer verbrennen. Der
italienische Mönch fand bei den Moks einen idealen Unterschlupf.
Zum Dank schenkte er unserem Stamm seine gesamte Bibliothek von
1000 Büchern."
"Und woher kommen die restlichen 19.000?" fragte Tom.
"Viele haben wir selbst geschrieben", sagte Kala. "Der
Rest ist von unseren Kontakten außerhalb. Seit der ersten
Schenkung hatten wir immerhin sechshundert Jahre Zeit weiter zu
sammeln! Doch lasst uns reingehen. Bulk wartet sicher schon. Eure
Fackeln lasst ihr aber bitte draußen."
Sie steckten die Fackeln in dafür vorgesehene Halterungen und öffneten
das Holztor, das sich mit einem knarzenden Geräusch öffnete. Hinter
dem Tor lag ein heller hoher Raum.
"Kommt das Licht wieder durch eine Doline?" fragte Jenny.
"Nein", erklärte Kala stolz. "Einer unserer
Architekten hat eine Technik entwickelt, mit der er Licht durch
Spiegel um die Ecken leiten kann. Die Grube, die hier unten Licht
spendet, ist deshalb an einer ganz anderen Stelle als unser Höhlensystem.
Genial nicht? Weil es nicht ganz ungefährlich ist, haben wir
die Technik aber nur in der Bibliothek und auf der Krankenstation
angewendet."
Tom und Jenny nickten und bewunderten die beinahe transparent wirkende
Bibliothek in dieser dunklen Umgebung.
"Schön, dass ihr hier seid!" sagte Bulk und verbeugte
sich leicht vor Tom und Jenny. "Ich freue mich, dass ich euch
die Bibliothek und unsere kostbarsten Schätze zeigen darf.
Kommt!"
"Ihr braucht hier sicher etwas länger", sagte Kala. "Ich geh dann
in der Zwischenzeit in die Schule, wenn ihr nichts dagegen habt?"
Tom und Jenny schüttelten die Köpfe und winkten Kala zum Abschied.
Kala verbeugte sich vor Bulk und verschwand dann durch die Tür nach
draußen.
Bulk führte Jenny und Tom ans Ende der Halle. Dort zeigte er auf
zwei Regale, die mit dicken, in Leder gebundenen Büchern gefüllt
waren.
"Das sind die Bücher aus der Schenkung des Mönchs
Jacobus de Salus aus dem 14. Jahrhundert. Sie sind so wertvoll,
dass sie nur mit schriftlicher Genehmigung angefasst werden dürfen."
Welchen Nutzen haben die Bücher dann?' dachte Jenny.
Sie sagte ihre Bedenken aber nicht laut, sondern ging still hinter
Bulk her, der sie zu einem anderen Regal führte.
"Diese Bücher hier sind etwa hundert Jahre jünger
aus der Zeit des Buchdrucks", erklärte Bulk und zog sich
weiße Handschuhe an. Er legte ein großes, dickes Buch
auf einen Lesetisch und schlug eine Seite auf. "Wie ihr seht,
haben wir einige der Bücher, die auch ihr in euren Bibliotheken
habt! Es sind Kopien befreundeter Mönche. Das hier ist zum
Beispiel ein berühmter Kupferstich von Martin Schongauer. Sicher
kennt ihr ihn!"
Tom und Jenny grinsten sich schief an. Der Name war ihnen völlig
unbekannt.
"Leider haben wir schon lange keinen Kontakt mehr zu Mönchen",
sagte Bulk und kratzte sich nachdenklich am Kinn. "Doch ihr
seid nicht hier, um Werke eurer Welt gezeigt zu bekommen. Ihr sollt
euch viel mehr die Bücher ansehen, die wir selbst geschrieben
haben."
Er führte die Kinder in einen kleineren Raum, in dem neben
Regalen auch Tische und Stühle standen. Besucher waren allerdings
keine da.
"Unsere alten Bücher haben leider nicht die gleiche Qualität
wie die über der Erde. Wir haben nur dünnes Fledermausleder
und unser Papier ist viel brüchiger. Aus dem Grund müssen
wir die Bücher immer wieder kopieren, um sie nicht dem Verfall
preiszugeben. Die Bücher in den Regalen links lasst ihr bitte
stehen. Die auf der rechten Seite sind neueren Datums und können
durchgeblättert werden. Ihr habt eine Stunde Zeit, euch mit
unserer Kultur zu beschäftigen. Dann werde ich eure Fragen
beantworten. Danach wird Kala wieder hier sein und euch zur Schule
bringen!" Bulk verbeugte sich leicht und ließ die Kinder allein.
"
Jenny ließ sich neben einem der Lesetische auf einen Stuhl
fallen und seufzte: "Ich habe Ferien!"
"Wir sollen uns doch nur eine Stunde lang ein paar Bücher
anschauen", sagte Tom.
"Eine Stunde ist zuviel zum Lernen und zu wenig zum Lesen!"
maulte Jenny. Trotzdem zog sie sich einen knallig blauen Band aus
dem Regal. "Die laute Periode" stand auf dem Cover. "Das
erste Buch gleich ein Volltreffer", sagte sie laut zu sich
selbst und schlug das Buch auf. Auf den ersten Seiten waren kriegerische
Szenen abgebildet, auf denen viel Blut floss. Das Blut war komischerweise
nicht rot, sondern braun gemalt.
Jenny blätterte schnell das Buch durch, bis ihr Blick auf das
Bild mit dem Fluss und dem Sichelmond fiel, das ihr gestern schon
in der Höhle aufgefallen war. Wie sie jetzt sehen konnte, war
das Bild nur ein Ausschnitt aus einem größeren. Das ganze
Bild zeigte eine Außenansicht der Höhle und ein Gebirge,
aus dem ein Fluss in die Höhle floss. Über der Höhle
stand der Sichelmond und tauchte die Szene in silbriges Licht. Aus
irgendeinem Grund wurde Jenny von diesem Bild regelrecht angezogen.
Neben dem Bild stand ein kurzer Text: "Nacht über dem
Cantal ist das bemerkenswerteste Gemälde des Künstlers
Frek Muku und eines der wenigsten Mok-Kunstwerke überhaupt,
die unsere Höhle von außen bei Nacht zeigen. Frek Muku
scheint damit weder der Gruppe der Radikalen, die das Verlassen
unserer Behausung, noch der Gruppe der Traditionellen, die eine
Bewahrung unseres sicheren Höhlenlebens forderten, zugeschrieben
werden zu können. Denn welchen Sinn sollte ein Auszug aus der
Höhle machen, wenn uns draußen nur die Nacht erwartet?"
"Sieh mal, was ich gefunden habe", sagte Tom und legte
einen Stapel Bücher auf den Tisch.
Jenny blickte auf das erste Buch auf dem Stapel und entdeckte einen
Zwerg neben einer Frau auf dem Buchdeckel. "Schneewittchen?"
fragte Jenny erstaunt. "Seit wann interessierst du dich für
Märchenbücher?"
"Der Zwerg soll ein Pygmäe sein", überhörte
Tom Jennys Bemerkung.
"Ein was?" fragte Jenny.
"Ein Pygmäe", wiederholte Tom. "Das ist jemand,
der im Durchschnitt nur 140 Zentimeter wird. Sieh mal, die Bücher
hier handeln alle von kleinwüchsigen Menschen."
"Dann sind die Moks also Pygmäen?" fragte Jenny.
"Scheint so!" meinte Tom. "Ich frage mich nur, was
das zu bedeuten hat!"
Palmina: An
dieser Stelle fehlen mehrere Seiten des Manuskripts. Auf der Seite
vor dem darauf folgenden Kapitel habe ich nur noch folgenden Satz
gefunden:
Tom und Jenny umarmten Kala, Ponka und Enk ein letztes Mal und
traten nach zwei Tagen unter der Erde endlich wieder ans Tageslicht.
Ende Teil 3
Die Fortsetzung des Romans könnt ihr
im
Rossipotti No. 21
lesen!
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