[Diese
Seite drucken]
Das geheime Buch
Reise ins Ungewisse
von
Heiko Bacher
Fortsetzung: Teil 2
Wer den Anfang verpasst hat und nicht nur
die kurze Zusammenfassung lesen möchte, sondern auch den Anfang
des Buches, geht zurück zur
letzten Rossipotti-Ausgabe
.
Was bisher geschah:
Der dreizehnjährige Tom wird von Kart
Orkid, einem Agenten des unbekannten Volkstammes Mok, gebeten, sein
Volk vor der Entdeckung und Zerstörung zu retten. Tom verspricht
zu helfen und in den Sommerferien nach Frankreich zu den Moks zu
fahren. Doch nicht nur er, sondern auch die zwölfjährige
Jenny soll den Moks helfen. Denn in dem uralten "Buch des Tuns"
der Moks steht geschrieben, dass nur die beiden Kinder den Moks
helfen können. Jenny glaubt Kart Orkid kein Wort und denkt
nicht daran, nach Frankreich zu fahren. Auch nicht, als Kart Orkid
auf rätselhafte Weise verschwindet und das Obherhaupt der Moks
Tom einen hilferufenden Brief schreibt. Doch Tom lockt Jenny mit
einer fingierten Entführung in die Auvergne und überredet
sie dort, mit ihr nach den Moks zu suchen. Jenny willigt ein, doch
aus ihrer gemeinsamen Suche wird nichts. Denn während Jenny
auf einer Kuhwiese einen Mittagsschlaf macht, sucht Tom alleine
weiter. Aus irgendeinem Grund kehrt er nicht wieder zu Jenny zurück,
selbst dann nicht, als es anfängt in Strömen zu regnen.
Jenny macht sich Sorgen um Tom, und während sie nach ihm sucht,
entdeckt sie plötzlich den Eingang einer Höhle ...
Jenny war froh, dass sie zu Hause daran gedacht hatte, die Taschenlampe
mitzunehmen. Dabei hatte sie zwar eher an ein dunkles Kellerverlies
und Toms Entführer als an eine Höhle gedacht, aber so
war es ihr natürlich lieber. Andererseits - war es wirklich
viel besser, alleine in eine Höhle zu steigen? Jenny fielen
Geschichten von vermissten Höhlenwanderern, giftigen Gasen
und Sauerstoffmangel ein. Und gab es nicht auch wilde Tiere, die
in Höhlen hausten? Was, wenn sie gleich ein Bär ansprang?
Vielleicht war Tom ja schon von einem angefallen worden und die
Knochen lagen gleich hinter dem Eingang?
"Ach was!" sprach Jenny sich selbst Mut zu. "Du hörst
zu viele Horrorgeschichten! Das ist eine stinknormale Höhle.
Du bist zu Hause in Bayern schon in mehreren Höhlen gewesen
und jedes Mal wieder lebendig heraus gekommen. Außerdem ist
Tom sicher schon in der Höhle und wartet dort auf dich. Und
wenn nicht, dann entdeckst du hier vielleicht das Versteck der Moks.
Und wäre das nicht sagenhaft: Jenny, die Entdeckerin eines
bislang unbekannten Volksstamms?!"
Jenny schaltete die Taschenlampe ein und betrat die bauchförmige
Eingangshalle der Höhle. Der Strahl der Lampe fiel auf zerklüftete,
brüchige Wände. Es war klamm und viel kälter als
draußen. Jenny tauschte ihr Cape gegen einen dicken Pullover
und die nasse Hose gegen eine trockene ein.
Vorsichtig erkundete sie die Höhle. Nach einigen Metern stieß
sie an eine feuchte Wand. Im Schein der Lampe schimmerte ein schwaches
Rinnsal, das den algenbewachsenen Stein hinablief. Jenny ging der
Wand entlang langsam vorwärts. Nach etwa zwanzig Metern verlor
sich das Licht in der Dunkelheit und Jenny nahm an, dass die Halle
dort in einen Gang mündete.
Richtig! Schon bald entdeckte sie einen schmalen Gang, der sich
nach einigen Metern nochmals verengte. Sie nahm ihren Rucksack ab
und zwängte sich seitwärts weiter.
Wie still es hier war! Jenny hörte nur ihr Atmen und das Kratzen
des Rucksacks auf dem Stein. Bisher war sie noch nie alleine in
einer Höhle gewesen. Entweder hatte ihr Vater sie geführt
und ihr etwas über die Entstehung von Höhlen erzählt
und Fledermäuse gezeigt oder sie war mit ihrer Klasse unterwegs
und durch das Kichern, Schwatzen und Klettern ihrer Freundinnen
von der Stille abgelenkt gewesen. Aber jetzt, da sie ganz alleine
war, hüllte sie die Lautlosigkeit der Höhle ein und drückte
sie nieder.
Endlich weitete sich der Gang und Jenny konnte ihren Rucksack wieder
aufsetzen. Sie atmete tief durch und ging weiter. Nach einigen Metern
gabelte sich der Gang und Jenny fluchte. Jetzt brauchte sie dringend
etwas, womit sie die Höhle markieren konnte. Wie konnte sie
sonst später aus dem Gewirr der Gänge wieder hinaus finden?
Aber womit sollte sie die Wege kennzeichnen? Die Höhlen, die
sie bisher besucht hatte, waren alle schon von vorigen Besuchern
oder Touristenverbänden durch Schnüre, Lichter oder Tafeln
markiert gewesen.
Auf keinen Fall durfte sie auf gut Glück in einen der Gänge
gehen. Das hatte ihr Vater ihr eingeschärft. Ohne Höhlenmarkierung
keine Höhlenwanderung mit verschiedenen Abzweigungen. Andererseits
hatte sie keine Lust, ohne jeden Hinweis auf Tom oder die Moks wieder
umzukehren.
Jenny kramte in ihrem Rucksack und entdeckte eine verknautschte,
aber ungeöffnete Packung Pflaster. Super! Mit Pflastern konnte
man die unterschiedlichen Gänge wunderbar markieren.
"Danke Mama, dass du mich vor jeder Klassenfahrt mit Pflastern
eindeckst!" dachte Jenny. "Ich werde dich deswegen auch
nie wieder auslachen! Wer weiß, vielleicht rettet mir diese
Packung ja sogar das Leben!"
Jenny riss eines der schon geschnittenen Pflaster aus seiner Papierhülle
und klebte es auf Aughöhe auf einen glatten Stein. Die weißen
Punkte auf dem Klebestreifen leuchteten, als Jenny sie mit ihrer
Taschenlampe anstrahlte.
"Das müsste gehen", dachte sie zufrieden.
Kurz entschlossen bog sie in den rechten Gang ein. Der Gang fiel
leicht ab und Jenny rutschte ein paar Mal auf den glitschigen Steinen
aus. Nach einigen Metern stand Jenny in einer Art Sackgasse vor
zwei schmalen Spalten, die knapp fünfzig Zentimeter breit waren.
Von ihrem Vater wusste sie, dass es durchaus möglich war, durch
solche Löcher zu kriechen und man sogar hoffen konnte, dass
sich dahinter ein breiter Gang oder eine Halle befinden konnte.
Trotzdem entschied sich Jenny, umzukehren, so lange sie noch die
Möglichkeit hatte, den linken Gang zu erkunden. Sie markierte
die Spalten mit einem Pflaster und machte sich auf den Rückweg.
Bald war sie an der ersten Abzweigung angelangt. Im linken Gang
fiel das Licht ihrer Taschenlampe immer häufiger auf grüne,
algenbewachsene Steine. Die Luft roch hier nicht mehr klamm und
kalt, sondern irgendwie modrig und beinahe stickig.
Stickig?
Jennys Herz begann schnell zu schlagen. Bedeutete das etwa, dass
hier allmählich der Sauerstoff ausging?
War es nicht höchste Zeit, umzukehren?
Jenny sog mehrmals die Luft aus und ein und versuchte herauszubekommen,
ob der Sauerstoffgehalt der Luft wirklich weniger geworden war.
Eigentlich nicht. Eigentlich kam es ihr eher so vor, als ob die
Luft vor allem immer wärmer wurde. Aber warum? War sie etwa
schon so weit unter der Erde?
Jenny atmete tief durch und ging trotz einer Stimme in ihr, dass
es sehr unklug war, vorsichtig schlitternd weiter. Nach einigen
Metern machte der Gang eine scharfe Biegung und Jenny stolperte
gegen eine Wand. Die Taschenlampe rutschte ihr aus der Hand und
ihr Knie stieß auf einen kantigen Stein. Jenny fluchte und
griff nach der Taschenlampe. Doch was war das? Der Strahl der Lampe
war nur noch ein matter Punkt im flackernden Licht des Ganges!
Tom?
Aufgeregt ging Jenny dem immer heller werdenden Lichtschein entgegen.
Doch schon bald endete der Gang auf einem Felsvorsprung. Jenny ging
vorsichtig bis an dessen Rand und stieß einen erstaunten Schrei
aus:
Unter ihr lag eine mächtige, mit Kerzenlicht schummrig erleuchtete
Tropfsteinhöhle! An den Rändern des Raums türmten
sich riesige Stalagmiten und an einen von ihnen stand lässig
gelehnt Tom und sprach mit einem Jungen in einer seltsamen schwarzen
Uniform!
Die Moks
"Tom!" rief Jenny und lachte erleichtert.
"Jenny!" rief Tom. "Wie hast du alleine hier her
gefunden? Ich hätte nie gedacht, dass du das schaffst!"
Mit einem Schlag fiel Jenny wieder ein, dass Tom sie auf der Wiese
einfach alleine gelassen hatte. So ein Mistkerl!
"Wie konntest du mich nur alleine lassen?" beschwerte
sie sich. "Ich hatte keine Ahnung, wo du bist. Es hat in Strömen
geregnet und in der Höhle hätte ich mich verirren können!"
Jennys Stimme überschlug sich. Offensichtlich hatte sie die
einsame Suche nach Tom mehr belastet, als sie es sich vorhin eingestanden
hatte.
"Tut mir leid!" sagte Tom. "Aber als ich den Höhleneingang
entdeckt habe, war ich so aufgeregt, dass ich nicht wieder umkehren
und dich holen wollte. Und dann bin ich ewig in der Höhle herum
geklettert, bis mich Lurk gefunden und hier hergebracht hat und
..."
Dann hatte sich Tom also vorhin in der Höhle verirrt?
Jenny hatte beinahe Mitleid mit ihm. Aber nur beinahe. Denn schließlich
hatte er sie immer noch alleine gelassen! Außerdem war er
selbst Schuld, dass er sich verirrt hatte. Mit ihr hätte er
die Halle auch ohne diesen Jungen, der anscheinend Lurk hieß,
gefunden. Und warum hatte er dann erst noch stundenlang mit Lurk
gequatscht? Er hätte ihn gleich bitten sollen, ihn zu ihr zu
bringen! Hatte er ihr nicht versprochen, sie rechtzeitig zum Bus
zu bringen? Auf Tom war einfach kein Verlass. Das war jetzt schon
das zweite Mal, dass sie Stunden ihrer kostbaren Zeit für diesen
Typen geopfert hatte, während er sich noch kein einziges Mal
um sie gekümmert hatte. Im Gegenteil, er brachte sie nur in
Gefahr! Doch damit war jetzt Schluss ...
"...Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?" Toms
Stimme klang gereizt.
"Nö", sagte Jenny. "Aber das brauche ich auch
nicht! Ich gehe nämlich jetzt! Wenn ich mich beeile, bekomme
ich noch den Bus nach Aurillac. Viel Spaß mit Lurk und den
Moks!"
Jenny drehte sich um und verschwand hinter der Biegung.
"Was soll das denn jetzt?" hallte Toms Stimme hinter ihr
her. "Spielst du jetzt die beleidigte Leberwurst oder was?"
Jenny ging wieder zurück und sagte betont ruhig: "Ich
spiel ganz sicher nicht die Leberwurst. Aber du offensichtlich den
Hanswurst! Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Ich habe dir
erst heute morgen gesagt, dass ich auf deine blöden Tricks
keine Lust mehr habe! Und du hast mir versprochen, dass du in Zukunft
fair zu mir bist!"
"Aber ich bin fair!" sagte Tom. "Nur, weil mich meine
Neugier in die Höhle getrieben hat, habe ich dich doch nicht
ausgetrickst! Und was kann ich dafür, dass ich nicht gleich
wieder heraus gefunden habe?"
"Und warum bist du mich dann mit Lurk nicht sofort holen gegangen?"
"Aber das bin ich doch!" rief Tom aufgeregt. "Bei
unserem Rückweg sind wir an dieser Halle vorbei gekommen und
ich war so beeindruckt, dass Lurk mir ein paar Worte dazu erzählt
hat. Und dann bist du schon dort oben gestanden!"
"Das kann jeder behaupten!"
"Ich bin sogar so fair, dass ich dir sage, dass ich die Reise
ohne dich gar nicht gemacht hätte!" sagte Tom. "Ganz
egal, was in dem alten Buch der Moks steht. Diese blöden
Tricks' habe ich doch nur angewendet, damit du mitkommst!"
Jenny schmollte weiter.
"Streit macht tot!" stellte Lurk nach einer Weile fest.
Er hatte eine dumpfe, fast tonlose Stimme.
"Das ist wohl etwas übertrieben", meinte Jenny.
"Was ist jetzt?" fragte Tom. "Kommst du mit Lurk
und mir zu den anderen Moks oder fährst du wieder nach Hause?"
Jenny schwieg beleidigt. Aber immerhin drehte sie sich nicht um,
sondern blieb auf dem Felsvorsprung stehen.
"Siehst du die Treppenstufen, die von dir in die Halle führen?"
fragte Tom.
Jenny schüttelte den Kopf.
"Du musst um den Stalagmit gehen, dann siehst du sie. Aber
sei vorsichtig, sie sehen glitschig aus."
Jenny nickte und überlegte, dass es sicher spannender war,
die Moks kennen zu lernen als alleine zurück nach Rudez zu
gehen. Sie steckte ihre Taschenlampe in ihren Rucksack und kletterte
langsam die niederen Treppenstufen, die in den Fels gehauen waren,
hinab. Betont langsam ging sie auf Tom und Lurk zu.
"Hallo", sagte Jenny zu Lurk. "Ich bin Jenny."
"Lurk", sagte der Junge in Uniform. "5. Abgeordneter
des Oberhaupts der Moks, Pok Alk."
"Abgeordneter?" staunte Jenny und war beeindruckter als
sie es zugeben wollte. "In deinem Alter bist du schon zum Mitarbeiter
deiner Regierung gewählt worden?"
"Lurk ist schon über vierzig", erklärte Tom.
Stimmt! Die Moks sahen ja aus wie Kinder.
Trotzdem war es kaum zu glauben, dass Lurk ein Erwachsener sein
sollte. Nicht nur, dass er klein und schlank war wie sie, auch seine
Haut war glatt wie bei einem Kind, und er hatte überhaupt keinen
Bartwuchs. Oder konnte man die Bartstoppeln bei der Beleuchtung
nur nicht sehen? Allerdings wirkte die Farbe seiner Haare und Haut
neben Toms kräftigem Braun ungesund gelb und fahl. War das
etwa ein Zeichen seines Alters?
"Ich bringe euch jetzt zu Pok Alk." Lurks Stimme klang
mehr wie eine Frage als wie ein Befehl und Jenny und Tom nickten
zustimmend.
Lurk durchquerte die Halle in der entgegen gesetzten Richtung, aus
der Jenny gekommen war und stieg eine beleuchtete Treppe empor.
Jenny und Tom bestaunten die unzähligen, wie kleine Eiszapfen
von der Decke hängenden Tropfsteine.
Nach ungefähr zehn Metern hörte die Treppe auf und der
darauf folgende, von Fackeln beleuchtete geräumige Gang führte
die beiden Kinder an Palästen, Ungeheuern oder an Frauen erinnernden
Stalagmiten vorbei. Wie Lurk ihnen erklärte, ließ die
ständige Beleuchtung Algen und Moose wachsen und so waren die
meisten Steine mit samtigen Grün überzogen. Immer wieder
mussten sie sich unter einem Tropfsteintor hindurch bücken
oder seitlich durch eine Kluft schieben, aber insgesamt waren die
Gänge gut begehbar.
Jenny, die schon öfters in Höhlen gewandert war, fielen
vor allem die schlichten, aber sehr schönen Wandmalereien auf.
Sie zeigten keine Büffel, Gazellen oder jagende Steinzeitmenschen,
sondern meistens ein Heer von kleinen Menschen, das gegen ein Heer
von großen Menschen kämpften. Einmal entdeckte Jenny
auch das Bild einer Höhle, aus der ein mächtiger Fluss
quoll. Über der Höhle war ein Sichelmond gezeichnet. Jenny
konnte sich die Bilder aber leider nie genauer ansehen, weil Lurk
sie zu Eile antrieb. Hinter einer Spalte glaubten Jenny und Tom
einmal mehrere dunkle Gestalten vorbeihuschen zu sehen. Aber die
Schatten konnten auch von Eulen oder einem Schwarm Fledermäuse
stammen.
Nachdem die kleine Gruppe etwa eine Stunde durch die Höhle
geklettert war, verschmälerte und erhöhte sich der Gang
plötzlich und ein geheimnisvolles, wildes Wasserrauschen tönte
aus dem Inneren des Felsgebirges. Mit jedem Schritt nahm das Tosen
des Wasserfalles zu und endlich gelangten sie zu einem kleinen Bach,
der durch ein enges Felsloch in unbekannte Tiefen stürzte.
Der Gang bog vom Felsloch ab und öffnete sich kurz darauf zu
einer größeren Halle, in der sich verschiedene Gänge
kreuzten. Hier stießen aus den anderen Gängen Leute des
Mokstammes zu ihnen. Vier davon reichten Jenny und Tom gerade mal
an die Schulter und alle sahen Lurk zum Verwechseln ähnlich.
Der fünfte war ungefähr gleich groß wie Tom und
hatte schwarzes, lockiges Haar.
Gab es hier denn keine Frauen und Kinder? Jenny schauderte ein wenig
bei dem Gedanken, als einziges Mädchen unter lauter Jungen
und Männern zu sein.
Die Moks nickten sich zu oder gaben sich im Vorbeilaufen die Hand,
waren aber ansonsten auffallend still. Lurk folgte den anderen Moks
und gemeinsam gingen sie einen breiten Gang hinab.
"Vorsicht rutschig!" warnte Lurks dumpfe Stimme.
Tom nahm Jennys Hand und gemeinsam tasteten sie sich nach unten.
"Stopp!" sagte Lurk nach einer Weile und streckte seinen
Arm aus.
Jenny und Tom blieben stehen und bemerkten erst jetzt den dunklen
Fluss, der ihnen den Weg abschnitt. Ein paar Moks, die vor ihnen
standen, tuschelten aufgeregt untereinander und Lurk erklärte
ihnen, warum: Die Gruppe vor ihnen hatte vier Boote statt zweien
genommen und jetzt waren für die übrig gebliebenen Moks
zu wenig Boote übrig.
"Die Moks vor uns haben offensichtlich nicht daran gedacht,
dass ihr beiden erwartet werdet", sagte Lurk. "Das wird
Konsequenzen haben!"
"Das ist doch nicht so schlimm", meinte Jenny. "Dann
machen wir uns eben dünn!"
"Ein Mok darf nie zuerst an sich denken, sondern immer an die
Gemeinschaft!" sagte Lurk knapp. "Ein Mok, der das nicht
tut, ist ein schlechter Mok!"
Lurk wies die anderen Moks an, zu fünft in ein Boot zu steigen,
anstatt wie sonst zu viert.
"Hoffentlich trägt uns das Boot!" sagte der Mok mit
den schwarzen lockigen Haaren.
"Wenn nicht, gehen wir für eine gute Sache unter, Enk!"
sagte der Mok neben ihm.
Jenny wusste nicht, ob das ein Witz sein sollte, oder ob sie wirklich
in Gefahr waren, unter zu gehen. Aber immerhin sagte Lurk: "Ihr
geht nicht unter. Haltet euch von dem Drachenfelsen fern und rudert
nicht in die Strudelgrotte. Dann dürfte euch nichts passieren.
Tok!"
"Tok!" sagten die anderen Moks dumpf und ruderten schnell
davon.
"Steigt ein!" sagte Lurk und dieses Mal klang es wie ein
Befehl.
Mit etwas bangem Gefühl stiegen Jenny und Tom in das kleine,
nussschalenförmige Boot.
"Die nächsten beiden Gruppen müssen zu fünft
im Boot fahren", sagte Lurk zu den Moks, die noch am Ufer standen.
"Toku, du kümmerst dich darum."
Ein Mok mit einer Mütze auf dem Kopf nickte.
"Du hast gehört, was ich zu Lenka gesagt habe, Toku. Haltet
euch daran! Tok!"
"Tok!" murmelten die zurück gelassenen Moks und hoben
die Hand zum Gruß.
Lurk nahm die Ruder und stieß sich vom Ufer ab. Das Boot wackelte
ein wenig und fuhr dann schnell flussabwärts.
Die Höhle über dem Fluss war nicht beleuchtet, nur im
Boot steckte eine brennende Fackel, die sich schwach im tiefblauen
Wasser spiegelte. Trotzdem konnten Jenny und Tim die Umrisse koboldhafter
Tropfsteine, mächtiger Säulen, Steinbögen und Felsverstürze
ausmachen. Nach ungefähr zehn Minuten kreuzten sich zwei Klüfte
und bildeten eine große Halle.
"Die Salamandergrotte", erklärte Lurk. "Die
Grotte ist durch verschiedene Gänge und Flussarme mit anderen
Grotten verbunden."
"Auch mit der Strudelgrotte?" fragte Tom.
"Ja", sagte Lurk. "Aber auch mit der Kalteisengrotte,
der Vulkangrotte, der Elkolgrotte und der Häuptlingsgrotte."
Lurk deutete mit der Hand jeweils in verschiedene Richtungen und
die Kinder meinten, die schwarzen Ganglöcher erkennen zu können.
"Wohin fahren wir eigentlich?" fragte Jenny.
"Zur Häuptlingsgrotte", sagte Lurk. "Das Oberhaupt
der Moks erwartet uns."
"Meinen Bus bekomme ich heute auf jeden Fall nicht mehr",
stellte Jenny sachlich fest. "Und mein Handy kann ich hier
drin auch vergessen. Ich hoffe nur, dass meine Mutter nicht probiert,
mich anzurufen."
"Vorsicht!" sagte Lurk. "Bücken!"
Reflexartig bückten sie sich und konnten deshalb nicht sehen,
dass ein riesiger, drachenförmiger Fels ins Wasser ragte. Die
spitzen Zähne streiften Jennys Haare und ritzten in Toms Jacke
einen kleinen Riss.
"Was war das denn?" fragte Tom erschrocken.
"Der Drachenfels", erklärte Lurk. "Er beißt
jeden, der ihm zu nahe kommt."
Wieder wusste Jenny nicht, ob das witzig sein sollte. Sie entschied,
dass die Moks auf jeden Fall einen eigenartigen Humor hatten.
"Kommen wir dann auch an der Strudelgrotte vorbei?" Toms
Stimme klang tatsächlich ein wenig ängstlich.
"Sicher", sagte Lurk. "Das Oberhaupt wartete schon
viel zu lange auf uns. Da können wir uns den Umweg über
den Liebessteg nicht leisten."
Liebessteg war ein seltsamer Name für die Dunkelheit und Kälte
hier unten, dachte Jenny. Allerdings musste es unter den Moks irgendwie
auch Liebesbeziehungen geben. Würden sich die Moks sonst fortpflanzen?
Jenny zuckte die Schultern. Zum Glück hatte sie mit solchen
Dingen noch nichts am Hut.
"... dort müsst ihr euch gut am Bootsrand festhalten",
erklärte Lurk gerade. "und bewegt euch auf keinen Fall.
Jede Bewegung kann tödlich enden!"
"Was?" fragte Jenny, die den Anfang nicht mitbekommen
hatte. "Wo muss ich mich festhalten?"
"Am Bootsrand", sagte Tom, "wenn wir gleich in der
Strudelgrotte sind. Wenn wir ganz still sind, kann uns Lurk sicher
auf die andere Seite bringen."
"Und wenn nicht?"
"Dann kann uns der Strudel nach unten ziehen!"
"Das ist doch wohl ein Witz?"
"Was ist das, ein Witz?" fragte Lurk interessiert.
"Ein Scherz", sagte Jenny ungeduldig, "ein Gag, etwas,
das man nicht ernst meint."
"Dann ist es kein Witz", Lurks dumpfe Stimme klang trocken.
"Ich kenne die Bewegung des Strudels und kann mit ihr mitgehen
und uns sicher auf die andere Seite bringen. Aber wenn ihr euch
bewegt und mich aus der Bahn werft, zieht uns der Strudel nach unten."
Jenny schwieg betroffen. Sicher, sie hatte gewusst, dass diese Reise
kein Spaziergang durch den Park war. Aber seit sie Tom nicht mehr
in der Hand von Entführern wusste und mit ihm gemeinsam in
Aurillac aus dem Zug gestiegen war, war ihr ihr gemeinsamer Ausflug
eher wie eine schlecht organisierte Abenteuerreise vorgekommen,
die zwar Unannehmlichkeiten bereit hielt und sie von ihrer Heimreise
abhielt, von der ihr aber keine Lebensgefahr drohte.
Nun, im Dunkel der Höhle und in Erwartung der Strudelgrotte,
fielen ihr wieder alle ihre alten Vorbehalte ein: Dass sie diese
Reise ins Ungewisse von Anfang an völlig absurd und viel zu
gefährlich fand. Dass sie Angst gehabt hatte, im Irgendwo auf
nimmer wieder sehen zu verschwinden und dass sie sich geschworen
hatte, mit Tom nie nach Aurillac zu reisen. Wie hatte es dieser
Blödmann nur geschafft, sie bis hier her, in die Tiefen einer
unbekannten Höhle zu schleppen?
"Jetzt!" sagte Lurk und Jenny hielt sich am Bootsrand
fest.
Tom griff mit der einen Hand den Rand, mit der anderen hielt er
sich an Jennys Arm fest.
Jenny zischte: "Nimm deine Pfoten weg!"
"Still!" bellte Lurk und Jenny traute sich nichts mehr
gegen Toms Hand einzuwenden.
Sie fuhren in eine hohe, runde wassergefüllte Grotte, deren
Wasserspiegel völlig still zu stehen schien. Wo war hier ein
Strudel?
"Je stiller die Wasser, umso reißender die Strömung",
Lurk schien Jennys Gedanken gelesen zu haben.
Er nahm das Ruder und stocherte damit im Wasser. Plötzlich
wurde das Ruder wie von Geisterhand gepackt und herumgerissen. Lurk
gab einen erstickten Laut von sich und lenkte das Boot an den Rand
des Sees. Das Boot schnellte in den Strudel und kreiselte durch
das Wasser. Tom schrie auf und grub seine Nägel in Jennys Arm.
Jenny krampfte sich am Bootsrand fest und hoffte, dass der Spuk
bald vorbei sein würde.
Das Boot wurde immer schneller und schneller und Lurk stocherte
aufgeregt mit dem Ruder im Wasser.
Nach unendlichen zwanzig Sekunden merkte Jenny, dass das Boot wieder
langsamer kreiselte und sie fast auf der anderen Seite der Grotte
angekommen waren.
"Das war knapp!" sagte Lurk. "Ihr habt eine andere
Unwucht erzeugt, als wir Moks es gewöhnlich tun."
"Es war nicht meine Idee, hier her zu kommen", sagte Jenny.
"Ich würde jetzt lieber zu Hause sitzen und mich in der
Sonne räkeln."
"Jenny!" sagte Tom.
"Ja, was denn?" Jenny sah ihn auffordernd an. "Diesen
ganzen Mist hier habe ich doch nur dir zu verdanken! Wäre ich
doch bloß nicht nach Aurillac gefahren. Hätte ich doch
nur nicht nach dir gesucht und wäre in diese Höhle gestiegen."
"Die Gefahr ist vorbei!" sagte Lurk. "Wir sind da."
Durch einen Engpass fuhren sie in die riesige Häuptlingshalle
und trafen auf ein großes Lichtermeer, der an den unzähligen
Booten festgemachten kleinen Fackeln. Dicht an dicht drängten
sich die Boote und tauchten die Halle in ein warmes, festliches
Licht.
"Oh wie schön!" rief Jenny.
Wie schade, dass ihr Vater nicht hier sein und die zauberhafte Pracht
sehen konnte.
Tom sah Jenny von der Seite her scheel an und wunderte sich, wie
launisch Jenny sein konnte. Hatte sie ihn nicht noch vor wenigen
Minuten angefaucht?
Aber eigentlich konnte ihm ihr plötzlicher Stimmungswandel
nur recht sein. Eine gut gelaunte Jenny war ihm auf jeden Fall lieber
als eine zickige.
Die Häuptlingshalle war eine sehr weite, hohe und wassergefüllte
Halle mit mächtigen von der Decke hängenden Tropfsteinen.
Ein einzelner Stalagmit von ungefähr zwei Metern Höhe
ragte aus dem See empor und gab der Halle seine magische Mitte.
Wenn Jenny richtig schätze, drängten sich auf dem See
sicher fünfhundert Boote. Und wenn in jedem Boot vier Moks
saßen, befanden sich in dem Raum ungefähr 2000 Moks!
Als sich ihre Augen an das Licht gewöhnt hatten, entdeckte
sie, dass sich der Saal hinter dem See auf einer Art steinernem
Podest noch einige Meter fortsetzte. Auf dem Podest stand ein mächtiger
Thron und auf ihm saß ein zierlicher, kleiner Mensch. Er hatte
einen tiefroten Mantel an und sein Haupt schmückte ein golden
funkelndes Stirnband mit einem silbern glänzenden Sichelmond.
"Pok Alk!" sagte Lurk ehrfurchtsvoll und deutete auf den
Mann auf dem Thron. "Das Oberhaupt der Moks."
"Jetzt wird's ernst!" flüsterte Tom in Jennys Ohr.
Jenny nickte. Am liebsten hätte sie jetzt Toms Hand festgehalten.
Obwohl sich Bootsplanke an Bootsplanke drückte, gelang es Lurk,
das Boot, auf dem sie saßen, sicher nach vorne Richtung Thron
zu manövrieren.
Fasziniert sahen Jenny und Tom zu, wie die Moks trotz der Enge noch
Platz fanden, ihre Boote beiseite zu fahren, um Lurk hindurch zu
lassen.
"Er sieht wirklich süß aus!" hörte Jenny
eine aufgeregte Mädchenstimme wispern.
Jenny schaute in die Richtung, aus der sie die Stimme gehört
hatte und sah zwei Moks ihre Köpfe zusammen stecken und kichern.
Erstaunlicherweise unterschieden sich die Mokmädchen in keiner
Weise von den anderen Moks. Auch sie hatten kurze Haare, waren in
schwarze Kittel gehüllt und hatten fahle gelbe Haut. Nur ihre
Stimmen hörten sich an wie die Mädchen aus Jennys Klasse.
Im Unterschied zu vorhin, als die Moks in Eile gewesen und ohne
große Worte zu den Booten gehuscht waren, tuschelten und kicherten
sie jetzt aufgeregt. Einzelne standen in ihren Booten auf, um einen
besseren Blick auf Jenny und Tom werfen zu können, andere versuchten
die beiden am Ärmel oder an den Haaren zu greifen, wieder andere
nahmen wenig Notiz von ihnen, sondern unterhielten sich leise mit
ihrem Nebenmann.
Jenny war die Situation etwas peinlich und sie war froh, als Lurk
endlich unterhalb des Thrones an einem kleinen Holzsteg angekommen
war und ihnen gebot, auszusteigen.
"Seid willkommen!" sagte das Oberhaupt der Moks, Pok Alk,
zu ihnen. "Habt Dank, dass ihr gekommen seid, um die Worte
Tors zu erfüllen."
Das Oberhaupt sprach so zeremoniell zu ihnen, dass sich Jenny fragte,
ob sie sich vor ihm auf die Knie werfen sollte oder nicht. Fragend
sah sie zu Tom und auch er schien unsicher zu sein, wie er sich
verhalten sollte.
"Setzt euch!" sagte Pok Alk und zeigte auf zwei sesselförmige
Tropfsteine, die links und rechts neben dem Thron standen.
Jenny und Tom nahmen ihre Rucksäcke ab und setzen sich auf
den kalten, feuchten Stein. Lurk stellte sich rechts neben Pok Alk.
"Danke, dass ihr euch heute alle hier eingefunden habt!"
sprach das Oberhaupt der Moks mit einer dunklen, vollen Stimme zu
seinen Untertanen. "Diejenigen, die wegen Krankheit oder wichtiger
Angelegenheiten nicht kommen konnten, bitte ich, von der heutigen
Versammlung zu unterrichten!"
Die Menge gab ein zustimmendes Gemurmel von sich.
"Wie ihr wisst, sind Toam und Tenyi extra hier her gekommen,
um uns zu helfen und für unser Überleben zu kämpfen.
Wir haben guten Grund zur Hoffnung, dass ihre Hilfe erfolgreich
sein wird, denn im Buch des Tuns unseres großartigen Gründers
Tor steht geschrieben, dass die Kinder uns retten."
Die Moks klatschten und die Wände der Halle gaben den Klang
doppelt und dreifach wieder.
"Ruhe!" rief Pok Alk gebieterisch. "Oder wollt ihr
das Beben des glühenden Dienstags wiederholen?"
Die Menge war augenblicklich still und Jenny schien, dass ein Schaudern
durch die Moks ging.
"Ich lese jetzt die Stelle Tors vor. Für Tenyi und Toam,
damit sie wissen, in welche Richtung sie ihr Tun lenken müssen.
Für euch, damit ihr wieder beruhigt euren Alltag fortführen
könnt, in der berechtigten Hoffnung, dass die Moks überleben
und eure Kinder eine Zukunft haben werden. Hört also, was Tor
schrieb:
Im Jahre zweitausend und X wird eine schwarze Wolke über
unseren Stamm einbrechen.
Gelenkt von der zerfressenden Neugier,
getrieben von unwürdigem Gold.
Leben wird nicht euer neuer Fürst sein,
wenn die Wolke kommt und nicht vorüber zieht.
Das Beben wird so stark sein im Monat August, dass Saturn, Steinbock,
Jupiter, Merkur im Stier sich in ihre Gefilde zurück ziehen
werden.
Auch Venus, Krebs, Mars.
Die Freundschaft wird verunreinigt durch Streit,
den Hass suchend, der ganze Glaube verdorben und die Hoffnung,
Rochefort, ohne Einsicht.
Der Bogen des Schatzes wird
durch Tricastin und Marcoule offenbart
die Vorfahren kannten die Zeichen noch.
Einer, der auszog, wird aufgehängt
für die Augen der Öffentlichkeit.
Und dann wird gelber Hagel fallen, größer als ein
Ei.
Der Feind wird gepackt und in den Bottich getaucht,
mit Gewalt vergiftetes Schwefelwasser trinken.
Doch Feuer, Flamme, Hunger, Betrug, zerquetschendes Ende
werden verhindert, wenn aus den fernen Landen To-Am und Jen-Yi
Große für Kleine, Junge für Alte
sich der Hinterlist entgegen werfen,
die Neugierde zerschlagen und den Glauben niedermähen.
Häuser, Burgen, Paläste werden nieder gerissen,
aber in Trümmern wird To-Am und Jen-Yi das Licht der Hoffnung
tragen und nicht erlöschen lassen.
Das neue Schiff wird die Reisen wieder aufnehmen
Sie werden die Gaststätten zurückbekommen,
in der Nähe zwei Säulen aus Porphyr erbaut.
Nachdem Pok Alk die Prophezeiung gelesen hatte, herrschte eine
eigentümliche Stille in der Halle. Keiner der Moks sagte ein
Wort, aber ihre Augen waren erwartungsvoll auf Tom und Jenny gerichtet.
Jenny fröstelte. Die Rede Pok Alks hatte sie erschaudern lassen
und die Kälte des Steins kroch ihr den ganzen Körper entlang.
Wie konnte Pok Alk nur glauben, dass das Kauderwelsch des Mokgründers
irgendetwas mit ihnen zu tun hatte? Ein Mädchen namens Ten-Yi
und ein Junge mit dem Namen To -Am sollten kommen und die dunkle
Wolke zur Seite schieben? Das war doch alles Quatsch. Und wenn es
stimmte, dann war sicher nicht sie diese Ten-Yi, sondern irgendeine
Chinesin auf der anderen Seite der Erdkugel. Wahrscheinlich war
es Pok Alk zu aufwändig gewesen, seinen Agenten nach China
zu senden, und so hatte er die billige Variante nach Deutschland
gewählt.
Jenny sah zu Tom, aber der saß steif und mit unbewegtem Gesicht
neben Pok Alk. Konnte es sein, dass er diesen ganzen Quatsch glaubte?
Wahrscheinlich schon. Wäre er sonst hier her gereist? Zugegeben,
verblüffend waren ihre beiden Porträts in dem Buch, die
Tom ihr schon in Deutschland gezeigt hatte und die sie nun in dem
aufgeschlagenen Buch auf Pok Alks Schoß wiederentdeckte. Die
Bilder sahen ihnen beiden tatsächlich täuschend ähnlich.
Aber war es nicht möglich, dass Kart Orkid sie hatte heimlich
porträtieren und die Bilder dann seinem Oberhaupt zukommen
lassen?
Es wäre nicht das erste Mal, dass sich die Herrscher eines
Mummenschanzes bedienten, um ihr Volk zu beeindrucken. Sagte ihre
Mutter nicht immer, Religion sei das 'Opium für das Volk'?
Und war der Glaube an das "Buch des Tuns" nicht so etwas
wie eine Religion? Andererseits: Welchen Nutzen sollte Pok Alk aus
diesem Mummenschanz ziehen können? Jenny fiel keiner ein.
Pok Alk klappte das Buch des Tuns zu und hob die Hand.
Offensichtlich war das das Zeichen zum Aufbruch, denn die Moks erwachten
wie aus einer Starre und drehten ihre Boote bei. Einer genauen Reihenfolge
folgend fuhren sie, ohne sich gegenseitig zu behindern, hintereinander
aus der Halle.
"Die Audienz ist beendet!" sagte Lurk. "Ich bringe
euch zu Enk und Lenka, ihr werdet heute bei ihnen übernachten."
Er verbeugte sich vor Pok Alk. Pok Alk nickte würdevoll und
Jenny und Tom folgten Lurk zum Bootssteg.
Da die meisten Moks die Halle mit ihren Booten bereits verlassen
hatten, konnte Lurk sein Boot schnell aus der Häuptlingshalle
hinaus manövrieren. Nach dem Engpass bog er in einen anderen
Gang ab als den, den sie gekommen waren und Jenny und Tom waren
froh, dass sie nicht mehr an der Strudelgrotte vorbei mussten.
"Bleibt Pok Alk die ganze Zeit auf seinem Thron sitzen?"
fragte Tom erstaunt. "Ganz schön kalt!"
"Das Oberhaupt bleibt sitzen, bis alle gegangen sind",
sagte Lurk. "Das Oberhaupt ist Organ des Denkens und Sprechens,
nicht des Tuns!"
Tom sah Jenny verwundert an, fragte aber nicht weiter. Jenny hoffte,
dass Enk und Lenka gesprächiger waren als Lurk. Bei ihm hatte
sie die ganze Zeit das Gefühl, lästig zu sein.
Nach einer Weile kamen sie in eine kleine Grotte mit einem Bootssteg,
wo Lurk das Boot festmachte. Sie stiegen aus und kletterten eine
schmale Treppe nach oben. Nach einer Felskluft kamen sie in eine
geräumige, ziemlich zerklüftete Halle. Zur Verwunderung
Jennys und Toms stand am Rand der Halle eine schlanke hohe Birke
und um sie herum wuchsen sogar einige Blumen.
"Enk ist ein Exot", erklärte Lurk und führte
sie zu einer hölzernen Tür, die in einer etwas erhöhten
Nische der Halle angebracht war. Er klopfte an der Tür und
kurze Zeit später öffnete ihm ein kleiner Mok.
Ende Teil 2
Die Fortsetzung des Romans könnt ihr
im
Rossipotti No. 20
lesen!
|
|