Diät
Nach einer ruhigen, ereignislosen Nacht, schickte die Sonne ihr erstes fahles Licht auf die kalten Steine.
‚Zeit zum Schlafen,’ dachte Emily und gähnte. Sie stand auf, um sich in der Höhle ein ruhiges Plätzchen zu suchen.
Doch da zerriss plötzlich ein Schrei die Stille. Emily hielt inne. Ein zweiter und dritter Schrei folgten. Und dann hallte das Schluchzen einer Kinderstimme durch die Berge.
‚Das Baby’, dachte Emily. ‚Es hat Hunger.’
Emily feixte. Sicher würden die anderen bald von den Schreien geweckt werden und mitbekommen, was Betrüger-Schorschi bereits mit seiner Diät angerichtet hatte!
Das Baby schrie herzzerreißend.
„Ontel Schoschi!“, schrie es. „Ontel Schoooooooschi!“
Emily streckte sich und versuchte, ihre Müdigkeit aus dem Körper zu schütteln. Es war richtig gewesen, hier zu bleiben. Der Tag versprach spannend zu werden. Sehr spannend.
Als erstes kam das kleine, rot bemäntelte Männchen aus seiner Höhle gelaufen.
„Guten Morgen“, sagte Herr Rossi zu Emily. „Kann es sein, dass da ein Baby schreit?“
„Das Baby schreit“, sagte Emily und grinste. „Es sehnt sich offensichtlich nach dem lieben guten Onkel Schorschi.“
„Und warum hört man es hier so laut?“
„Das falsche Echo“, erwiderte Emily. „Es kann Töne meilenweit tragen.“
„Ontel Schoschi Bei holen! Bei holen, dann wieder kommen!“
Die Stimme des Babys wurde immer lauter.
„Bei?“, fragte Herr Rossi. „Was denn für ein Bei?“
„Keine Ahnung“, sagt Emily. „Vielleicht ein Beil?“
„Warum sollte es nach einem Beil rufen?“, fragte Herr Rossi beunruhigt.
„Um uns alle den Kopf abzuschlagen natürlich“, sagte Emily böse. „Immerhin ist es im Vergleich zu uns ein Riese!“
„Könnte Bei nicht auch Bein heißen?“, schlug Herr Rossi unsicher vor. „Vielleicht tut ihm ja sein Bein weh?“
„Quatsch“, murmelte Betrüger-Schorschi im Halbschlaf. „Wenn Babys ‚Bei’ sagen, meinen sie ‚Brei’.“
„Brei?“, fragte Herr Rossi verwundert und beugte sich über Betrüger-Schorschi. „Aber warum ruft das Baby nach Brei?“
Betrüger-Schorschi schlug die Augen auf, und sein Blick fiel auf einen lächerlichen, kleinen Mann mit rotem Trenchcoat. Wer war das?
Er richtete sich auf und bemerkte das schwarz gekleidete Mädchen, das ihn schadenfroh anschaute. Mit einem Schlag fiel ihm alles wieder ein. Emily und ihre ekelhafte Soße, der Torwart und Dr. Slump, sein Flug zum Baby.
„Haben Sie gestern nicht von Schokolade gesprochen?“, bohrte Herr Rossi weiter.
„Schoschi spicht, hält er auch!“, rief es laut über die Berge.
Betrüger-Schorschi zuckte zusammen. Das Baby wartete immer noch auf den versprochenen Brei!
„Sie wollten dem Baby doch Schokolade geben“, wiederholte Herr Rossi seine Frage. „Warum spricht das Baby dann von einem Brei?“
„Weil ich dem Baby Schokoladenbrei versprochen habe“, erfand Betrüger-Schorschi aus dem Stand heraus und fügte erklärend hinzu: „Schokoladenbrei ist für das Baby wahrscheinlich ein zu langes Wort. Deshalb sagt es nur ‚Brei’.“
Das leuchtete Herrn Rossi ein.
„Wo ist das Baby eigentlich?“, fragte Betrüger-Schorschi beunruhigt. Das Geschrei hörte sich erstaunlich nah an, und er hatte keinerlei Lust, dem Baby noch einmal zu begegnen.
„Das falsche Echo trägt das Geschrei viele Meilen weit“, erklärte Herr Rossi.
„Falsches Echo?“, fragte Betrüger-Schorschi. „Heißt das, dass das Baby in Wirklichkeit gar nicht schreit?“
„Im Moment vielleicht nicht, aber zu einer anderen Zeit sicher“, mischte sich Emily ein. „Auch das falsche Echo gibt nur Laute wieder, die es wirklich gab. Aber es kommt nur dann, wenn es Lust dazu hat. Umgekehrt ist es deshalb auch möglich, dass das Baby die ganze Zeit schreit und das falsche Echo lieber Pausen einlegt. Das kann man nie wissen.“
„Lange halte ich dieses Babygeschrei vor meiner Haustüre auf jeden Fall nicht aus“, sagte der Torwart.
Er war unbemerkt aus der Höhle getreten. An Betrüger-Schorschi gewandt, fragte er: „Sind Sie immer noch der Meinung, dass es klug ist, das Baby auf Diät zu setzen?“
„Sicher“, erwiderte Betrüger-Schorschi. „Es wäre lächerlich, auf ein falsches Echo Rücksicht zu nehmen.“
„Dann werde ich gleich veranlassen, dass niemand mehr das Baby füttern darf?“
Betrüger-Schorschi nickte.
„Auf Ihre Verantwortung?“
„Natürlich auf meine Verantwortung“, sagte Betrüger-Schorschi. „Das Baby ist schließlich nur ein Baby!“
Der Torwart schüttelte verständnislos den Kopf und verschwand in der Höhle.
„Jetzt setzt er Himmel und Hölle in Bewegung, um deine Diät bekannt zu machen“, sagte Emily. „Das wird ein Riesenspaß werden.“
„Ontel Schoschi“, schrie das Baby nun wieder laut. „Ontel Schoschi Bei holen!“
„Wenn das mal gut geht“, sagte Herr Rossi. „Wenn das mal kein Erdbeben geben wird!“
„Und wenn schon“, sagte Emily. „Wenn es uns zu viel wird, liefern wir Betrüger-Schorschi einfach dem Baby aus. Wer uns die Suppe einbrockt, muss sie auch auslöffeln.“
„A propos Suppe“, sagte Betrüger-Schorschi. „Ein Frühstück wäre jetzt angemessen.“
Er ging zu seinem Korb, holte einige Zutaten heraus und ging damit in die Höhle. Nach erstaunlich kurzer Zeit hatte er ein Frühstück zubereitet, und Emily und Herr Rossi setzten sich erfreut an den gedeckten Tisch.
Stolz präsentierte ihnen Betrüger-Schorschi seine neueste Küchenkreation: Wassergurke auf gerösteten Haferflocken, dazu Nussschaum auf Speckscheiben und getrocknete Tomaten in Olivenöl auf dicken Graubrotscheiben.
„Ihh!“, meckerte Emily. „Ich esse zum Frühstück doch keine Wabbelgurke und keinen Speckschlabber!“
„Es ist zwar gewöhnungsbedürftig, aber immerhin etwas“, sagte Herr Rossi und kostete tapfer. „Hm, lecker! Wirklich lecker! Wer hätte das gedacht?“
Nun kam auch der Torwart aus der angrenzenden Grotte zu ihnen und setzte sich an den Tisch.
„Erstaunliche Kombination“, sagte der Torwart und probierte die Gurke.
„Wenn in meinem Korb mehr Platz gewesen wäre, könnte ich Ihnen noch ganz andere Dinge vorsetzen“, sagte Betrüger-Schorschi und schob sich genüsslich einen Löffel Nussschaum in den Mund „So bin ich doch ein wenig eingeschränkt.“
„Ontel Schoschi!“, hallte das falsche Echo nun so laut wie nie zuvor über die Berge. „Ontel Schoschi!“
„Die Bewohner wissen jetzt übrigens über Ihre Diät Bescheid“, sagte der Torwart zu Betrüger-Schorschi. „Ich habe Ihre Behandlungsmethode weiter telegraphiert. Aber Sie können sie auch sofort wieder rückgängig machen.“
„Warum sollte ich?“
„Ontel Schoschi Bei holen“, schrie das Baby. Seine Stimme hörte sich immer verzweifelter an. „Bei holen, dann wieder kommen!“
Emily nahm sich noch etwas von den gerösteten Haferflocken.
„Ontel Schoschi spicht, hält er auch“, weinte das Baby.
Herr Rossi nahm sich noch zwei Wassergurken.
Aber der Torwart schob seinen Teller zur Seite und sagte: „Widerlich ist das! Das Baby ist ein Bewohner des Blauen Gebirges und steht damit unter meinem Schutz! Ich kann es nicht einfach verhungern lassen!“
„Du hast die Verantwortung doch an Betrüger-Schorschi abgegeben“, warf Emily ein. „Entspanne dich und iss lieber den leckeren Schlabber, den Betrüger-Schorschi uns vorgesetzt hat!“
„Ontel Schoschi!“
„Ich fühle mich trotzdem verantwortlich“, sagte der Torwart. „Ich muss das Baby beschützen!“
„Und uns?“, stieß Emily zornig aus. „Musst du uns nicht auch beschützen? Wenn wir das Baby immer weiter füttern, werden wir bald alle nichts mehr zu essen haben!“
„Dass ich nie an einen Ort komme, wo ich meine Ruhe habe“, jammerte Herr Rossi. „Hier habe ich zwar ein Zuhause und ein Gärtchen gefunden, aber mein Glück? Nein! Hätte ich doch nur mein Pfeifchen nicht verloren!“
„Die Diät ist die einzige Chance“, sagte Betrüger-Schorschi beschwichtigend zum Torwart und leckte sich mit der Zunge seine Lippen ab. „Betrachten Sie das Baby nicht als Bewohner, sondern als Ungeheuer.“
Das Babygeschrei draußen wurde leiser. Bald wimmerte es nur noch.
„Sie sind Arzt!“, rief der Torwart. „Fliegen Sie jetzt sofort zu dem Baby und sehen Sie nach, ob es Ihre Hilfe braucht!“
„Ach und wie?“, fragte Betrüger-Schorschi. „Ich kann nicht fliegen wie die Flupppuppe. A propos, wo ist sie überhaupt, die Flupppuppe? Ich habe sie heute morgen noch nicht gesehen.“
„Die Flupppuppe ist gestern plötzlich verschwunden“, sagte der Torwart mürrisch, „und jetzt verstehe ich auch, warum: Sie und die Flupppuppe stecken unter einer Decke! Das Ganze ist ein abgekartetes Spiel! Ehrlich gesagt hätte ich das nie von der Flupppuppe gedacht!“
„Das ist kein abgekartetes Spiel“, sagte Betrüger-Schorschi und wischte sich den Mund mit einer Serviette ab. „Sie selbst haben mich und die Flupppuppe zum Baby geschickt.“
„Außerdem hast du gestern die Puppe mit deinem lächerlichen Gerede über Nylonpuschel vertrieben!“, sagte Emily. „Was soll daran abgekartet sein?“
„Wir müssen dem Baby trotzdem helfen!“, schrie der Torwart. „Ich lasse es nicht zu, dass in meinem Gebiet Babys verhungern!“
„Hören Sie mal!“, sagte Herr Rossi und lauschte. „Wenn mich nicht alles täuscht, kommt die Flupppuppe gerade wieder. Ich höre da so ein Zischen in der Luft.“
Der Torwart und Betrüger-Schorschi horchten auf, dann stürzten beide nach draußen. Emily und Herr Rossi folgten ihnen.
Von der Flupppuppe war allerdings weit und breit nichts zu sehen. Dafür schnitt Dr. Slumps Flugauto eine weiße Spur durch die Luft und landete kurze Zeit später auf der Felsplattform. Hektisch öffnete Dr. Slump die Fenstertüre und rief: „Schnell einsteigen! Das Baby schreit sich die Lunge aus dem Leib! Die ganze Bevölkerung ist auf dem Weg zum Kesselberg, um sich das Spektakel anzusehen!“
Emily und der Torwart sprangen ohne zu Zögern auf die Rücksitze. Emily, weil sie sich eine tragische Vorstellung erhoffte, der Torwart, weil er irgend etwas zur Deeskalation beitragen wollte.
„Sie da“, rief Dr. Slump Betrüger-Schorschi zu. „Sie müssen auf jeden Fall auch mitkommen! Das ist schließlich eine einmalige Chance, die Bewohner des Blauen Gebirges kennen zu lernen.“
„Ihr Auto ist voll“, versuchte sich Betrüger-Schorschi vor einer erneuten Begegnung mit dem Baby zu drücken. „Außerdem muss ich warten, bis die Flupppuppe wieder kommt.“
„Ach was“, sagte Dr. Slump. „Wer weiß, ob die Flupppuppe überhaupt wieder auftaucht. Außerdem ist neben mir noch genügend Platz für Sie!“
Dr. Slump drückte aufs Gas, flog dicht an Betrüger-Schorschi heran, packte ihn am Arm und zog ihn mit erstaunlicher Kraft neben den Fahrersitz. Dann schlug er das Einstiegsfenster zu und düste mit unglaublicher Geschwindigkeit davon.
Herr Rossi blieb als einziger auf dem Felsvorsprung zurück und schaute verwundert dem schnell kleiner werdenden Flugauto hinterher.
Eigentlich wäre er gerne mitgeflogen und hätte das Baby angesehen. Aber so konnte er sich in aller Ruhe um seine Karotten kümmern. Und das war immerhin auch etwas.