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Das geheime Buch
Reise ins Ungewisse
von
Heiko Bacher
Fortsetzung Teil 10
Wer den Roman noch nicht kennte oder nicht nur die
kurze Zusammenfassung lesen möchte, geht ganz an den Anfang
der Geschichte zur 18. Rossipotti-Ausgabe
zurück oder zum letzten Kapitel in der letzten
Rossipotti-Ausgabe
Was bisher geschah:
Der dreizehnjährige Tom und die zwölfjährige
Jenny werden von Kart Orkid, einem Agenten des unbekannten Volkstammes
Mok, gebeten, ihnen zu helfen. Laut einer uralten Prophezeiung des
"Buch des Tuns" sind die beiden Kinder "To-Am"
und "Jen-Yi" dazu bestimmt, die Moks vor "gelbem
Hagel" und dem Untergang ihres Stammes zu retten.
Jenny glaubt Kart Orkid kein Wort und denkt nicht daran, nach Frankreich
zu einem Volkstamm zu fahren, den es ihrer Einschätzung nach
gar nicht gibt. Doch Tom lockt Jenny mit einer vorgetäuschten
Entführung in die Auvergne, und so erfährt Jenny, dass
es die Moks wider Erwarten doch gibt.
Die Moks leben in einer großen, viel verzweigten Höhle
und haben ihre eigene Kultur und Geschichte. Tom und Jenny lernen,
dass die Moks zu dem kleinwüchsigen Volksstamm der Pygmäen
gehören und als indigenes Volk von den großwüchsigen
Menschen in Europa vor langer Zeit bedroht und versklavt wurden.
Aus dem Grund verstecken sie sich seit vielen Jahrhunderten in der
Höhle. Da nun einer der Moks, Onk Ark, aus der Höhle geflohen
ist, weil er nicht mehr in Dunkelheit leben möchte, und der
Agent Kart Orkid aus unerklärten Gründen verschwunden
ist, haben die Moks große Angst, dass sich die Prophezeiung
erfüllt und sie von den großen Menschen entdeckt und
wieder verfolgt oder sogar vernichtet zu werden. Sie trauen sich
nicht mehr aus der Höhle, um mit den wenigen, befreundeten
Bauern Waren und Essen zu tauschen und befinden sich in einer Art
Ausnahmezustand.
Tom und Jenny reisen nach Rochefort am französischen Atlantik,
weil die Stadt in der Prophezeiung genannt wird. Dort erfahren sie,
dass der kindergroße Kart Orkid bei seiner Suche nach Onk
Ark in ein Waisenhaus gesteckt wurde und dort nach kurzer Zeit von
irgendwelchen Männern abgeholt und irgend wohin gebracht wurde.
Daneben finden sie den abtrünnigen, plötzlich reich gewordenen,
aber sehr schweigsamen Onk Ark in der Umgebung kriminell wirkender
"Auftraggeber". Außerdem lernen die beiden Kinder
den Journalisten Yves Scot kennen, der sich seit dem Auftauchen
der merkwürdigen Kinder Onk Ark und Kart Orkid in Rochefort
dem Geheimnis ihrer Herkunft auf die Spur kommen und eine große
Story daraus stricken will. Bisher hat er immerhin heraus bekommen,
dass Kart Orkid von den unbekannten Männern ins Gefängnis
gesteckt wurde. Scot bittet die Kinder, ihm zu helfen, und schleust
sie ins Gefängnis zu Kart Orkid ein. Da Kart Orkid im Gefängnis
nicht offen sprechen kann, erfahren sie von ihm nicht viel mehr,
als dass sie nach einem schwarzen Zeichen auf gelbem Grund recherchieren
sollen. Yves Scot gegenüber behaupten sie allerdings, von Kart
Orkid keinerlei brauchbare Informationen bekommen zu haben, weshalb
Scot nicht weiter an den Kindern interessiert ist.
Was sie nicht wissen, ist, dass sie spätstens seit ihrem Gefängnisbesuch
von den Auftraggebern von Onk Ark, Agenten des Europäischen
Geheimdienstes (Direction Europain de la Securite, kurz: DES),
beobachtet werden. Denn auch der Europäische Geheimdienst ist
an der Höhle der Moks interessiert.
Über das Internet bekommen Tom und Jenny heraus, dass mit dem
schwarzen Zeichen auf gelbem Grund wahrscheinlich das Zeichen für
Biogefährdung oder für atomare Gefahr gemeint ist. Weil
ihnen die Prophezeiung nun über den Kopf wächst, beschließen
sie, zu den befreundeten Bauern der Moks zu fahren und sich von
ihnen helfen zu lassen.
Von den Bauern erfahren Jenny und Tom, dass die Orte Tricastin und
Marcoule keine Dörfer, sondern Atomanlagen sind. Die Bedeutung
des schwarz-gelben Zeichens kreist sich deshalb immer mehr auf "atomare
Gefahr" ein, und Jenny ist sich sicher, dass die Höhle
der Moks als Endlager für Atommüll genutzt werden soll.
Auch den anderen kommt diese Einschätzung sehr möglich
vor, und so planen die Bauern, die Mitglieder der Bauern-Organisation
Gesunde Landwirtschaft sind, ihre Organisation gegen das Endlager
in ihrer Nähe zu mobilisieren. Gleichzeitig schicken sie Tom
und Jenny mit dem Zug nach Hause. Zum einen, weil sie ihre Mission
erfüllt zu haben scheinen, zum anderen, um sie vor weiteren
Gefahren zu schützen. Doch auf der Zugfahrt nach Hause werden
die beiden Kinder aus dem fahrenden Zug gestoßen und vom Europäischen
Geheimdienst entführt, der von den Kindern erfahren möchte,
was sie bereits über das schwarze Zeichen auf gelbem Grund
wissen und an die Bauern ausgeplaudert haben.
In der Zwischenzeit entdeckt Yves Scot, dass er seit seinem Gefängnisbesuch
mit den Kindern vom Geheimdienst überwacht wird. Die mit den
Moks befreundeten Bauern müssen dagegen feststellen, dass es
sehr schwierig ist, ohne jede Beweise für das geplante Endlager
für Atommüll, die anderen Bauern gegen das Endlager zu
mobilisieren. Als sie den Bauern als Beweis sogar den Eingang der
eigentlich streng geheimen Mokhöhle als geplanten Ort der Einlagerung
zeigen möchten, werden sie von einem Forstarbieter, der behauptet,
das ganze Waldgebiet sei mit Eichenspinnern verseucht, vertrieben.
Die anderen Bauern glauben dem Forstarbeiter und so scheint der
Kampf gegen das Endlager und für die Rettung der Moks verloren
...
Und dann wird gelber Hagel fallen
"Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren!" sprach der
vornehme Mann in sein Funktelefon. "Das Kind ist zwar noch
nicht in den Brunnen gefallen, aber ich schlage vor, am Montag mit
dem Einlagern der Fässer zu beginnen ... Ja, natürlich
muss das die Direktion und nicht ich entscheiden ... Ich weiß,
dass mir das nicht hätte passieren dürfen! ... Wenn es
schief geht, werde ich selbstverständlich Verantwortung dafür
übernehmen ... ich weiß, dass mir nichts anderes übrig
bleibt ... aber die Kinder sind doch unberechenbarer als gedacht
... außerdem sind es Kinder ... ja, Biogefährdung ...
keine Ahnung ... ja, ich werde keine weiteren Schritte mehr ohne
Ihre Einwilligung unternehmen ... Auf Wiederhören!"
Der vornehme Mann, der innerhalb des DESs Resident Liberty genannt
wurde, stützte die Ellenbogen auf den Schreibtisch und presste
die Fingerspitzen aneinander. Die Dinge fingen an, ihm zu entgleiten.
Oder sie entwickelten sich anders, als es der DES geplant hatte.
Dabei hatte am Anfang alles so einfach ausgesehen. Die Zusammenarbeit
mit Onk Ark war federleicht gewesen, seine Angaben über die
Höhle und die Moks sehr präzise und hilfreich. Gleichzeitig
war er leicht einzuschüchtern und verstand es überhaupt
nicht, sich für sich selbst einzusetzen. Nachdem Onk Ark dem
französischen Geheimdienst gleich nach seiner Einweisung ins
Waisenhaus sein eigenes Volk an sie verraten hatte, nur um sich
selbst ein bequemes Leben zu sichern, wurden die Informationen an
den Europäischen Geheimdienst DES weiter geleitet. Der DES
hatte die Chance, in der Höhle der Moks ein europäisches
Endlager für radioaktiven Müll einzulagern, sofort erkannt.
Die Regierungen der Europäischen Länder waren mit der
geheimen Einlagerung hochzufrieden. Endlich war die Frage, wohin
der ganze Atommüll verschoben werden sollte, gelöst! Und
das sogar, ohne irgend einen gesellschaftlichen Widerstand befürchten
zu müssen! Denn niemand würde je heraus bekommen, wohin
der ganze Müll verschwand. Vor diesem Hintergrund überlegte
sich selbst Deutschland wieder, seine Atomkraftwerke länger
als geplant am Netz zu lassen oder sogar neue zu bauen. Nur Frankreich
war am Anfang skeptisch gewesen. Schließlich sollte das Endlager
mitten in Frankreich entstehen. Aber nachdem ein unabhängiges
Expertenteam der französichen Regierung versicherte, dass die
Einlagerung der Fässer ökologisch völlig unbedenklich
sei und mit Problemen frühestens in hundert Jahren zu rechnen
sei, stimmte auch die französische Regierung den Plänen
zu. Alles war also bestens. Das Gemeinwohl der Menschen, die in
Europa lebten, zumindest in nuklearer Hinsicht für die nächsten
Generationen gesichert.
Doch dann war Kart Orkid aufgetaucht und ihre Schwierigkeiten hatten
begonnen. Dieser bockige Agent der Moks war offensichtlich bereit,
für sein Volk zu sterben und gab ihnen keinerlei Informationen.
Schlimmer noch, sobald er geahnt hatte, dass die Moks in irgendeiner
Gefahr waren, wollte er aus dem Waisenhaus verschwinden und die
Moks informieren!
Das hatte natürlich auf keinen Fall geschehen dürfen,
und sie hatten ihn sofort aus dem Verkehr gezogen und in eines ihrer
Hochsicherheitsgefängnisse gesteckt. Doch anstatt, dass sie
ihn dort unschädlich gemacht hatten, hatte er es verstanden,
Informationen aus ihnen heraus zu quetschen. Ja, es war ihm sogar
gelungen, diese an befreundete Kinder weiterzugeben!
Zugegeben, die Kinder hatten nur Besuchsrecht bekommen, weil der
DES es so gewollt hatte. Auf diese Weise wollte der DES heraus finden,
was Kart Orkid den Kindern anvertrauen würde. Und sie wollten
erfahren, was die Kinder bereits wussten und in welcher Beziehung
sie zum Journalisten Yves Scot standen.
Doch nach dem Gefängnisbesuch waren sie beinahe so schlau wie
zuvor gewesen. Aus den verschlüsselten Wortfetzen konnten sie
nur entnehmen, dass Kart ihnen Informationen über das Atomkraftzeichen
weiter tratschte und dass der Journalist sehr wahrscheinlich ahnungslos
war. Das hatte auch die spätere Bespitzelung des Journalisten
bestätigt. Der Besuch hatte ihnen selbst also nichts Positives,
dagegen einiges Negatives eingebracht.
Dass Scot wirklich von nichts wusste, hatte Resident Libertys Karriere
gerettet. Denn nachdem seine beiden Agenten zu schlampig gewesen
waren, die Kinder schon am Strand von Portes-des Barques zu entdecken
und sich über deren Kenntnisstand zu informieren, wurde er
nach dem negativen Ausgang des Gegfängnisbesuchs dafür
verantwortlich gemacht, dass die Kinder nun Informationen von Kart
Orkid erhalten hatten und diese weiter tragen konnten. Im Unterschied
zu dem potentiell gefährlichen Scot wurden die Kinder allerdings
zu lange nicht als echte Gefahr für die Sache des DES angesehen.
Und zwar deshalb, weil es nur Kinder waren, und man sie gegebenfalls
einfach verschwinden lassen konnte. Wie der DES schnell heraus gefunden
hatte, wussten die Eltern der Kinder nicht einmal, wohin Tom und
Jenny verreist waren. Die Kinder waren unvorsichtig genug gewesen,
ihren Eltern zu erzählen, dass sie in ein Ferienlager gehen
wollten. Nun, die Unvorsichtigkeit oder Dummheit der Kinder war
ihr Glück: Ihre Eliminierung würde niemand mit dem DES
in Verbindung bringen können.
Doch so einfach ihre Eliminierung auch sein würde: Es war trotzdem
ein Fehler gewesen, die Kinder nicht von vorne herein ernster genommen
zu haben. Denn hätte er es getan und sie früher verhört,
hätte er früher erfahren, dass nicht nur sie selbst, sondern
auch einige Bauern wussten, dass es die Moks gab!
Das aber war eine Katastrophe! Denn im Unterschied zu den Kindern,
konnten sie nicht alle Bauern verschwinden lassen! Wie konnten sie
aber dann verhindern, dass die Bauern ihr Wissen über die Moks
und die Höhle an die Öffentlichkeit bringen? Noch schien
es zwar so, als ob die Bauern selbst ein starkes Interesse daran
hatten, die Existenz der Moks geheim zu halten. Aber wie lange war
das noch so?
Wie er aus den Unterlagen des DES wusste, waren zumindest die Pignons
in der GL organisiert. Was, wenn die Pignons die GL gegen die angebliche
Biogefährdung im Wald mobilisierten? Das war mehr als wahrscheinlich.
Denn egal um welche biogefährlichen Stoffe es sich dabei handelte,
um Bakterien, Viren oder andere gefährlichen Mikroorganismen,
so würden sie vehement in das Biosystem eingreifen. Dadurch
stellten sie natürlich eine Gefahr für die Lebensgrundlage
der Bauern dar! Wie lange würden sie ihre eigenen Interessen,
die Biogefährlichen Stoffe in ihrem Wald zu verhindern, den
Interessen der Moks, nicht entdeckt zu werden, unterordnen?
Es war wirklich ein großer Fehler von ihm gewesen, diese Information
nicht früher aus den Kindern heraus gelockt zu haben! Wenn
er früher von den mit den Moks befreundeten Bauern gewusst
hätte, hätte er völlig anders gehandelt. Dann hätte
er das von den Kindern gestreute Gerücht über die biogefährlichen
Stoffe dem DES selbst zu Nutze machen können! Das wäre
ein genialer Schachzug gewesen und hätte ihm sicher viel Lob
und vielleicht sogar eine Sonderprämie eingefahren! Aber so?
Leider war in seinem Beruf der Grad zwischen großem Erfolg
und totalem Misserfolg oft erstaunlich schmal.
Aber nicht nur die Kinder hatte er in seinem Verhör falsch
behandelt. Auch diesen verräterischen Onk Ark. Auch aus Onk
Ark hätte er heraus bekommen können, dass die Moks seit
Jahrhunderten mit Bauern befreundet sind!
Warum nur hatte Onk Ark ihm nichts von der Freundschaft zwischen
den Moks und den Bauern erzählt? War Onk Ark etwa doch nicht
so harmlos, wie er immer geglaubt hatte?
Immerhin hatte Onk Ark auch die Kinder auf Yves Scot Spur gebracht.
Das hatte zumindest Tom vorhin behauptet. Und auch das hatte Onk
Ark ihm verschwiegen. Aus Angst oder Berechnung oder aus einem ganz
anderen Grund? Welches Spiel trieb Onk Ark? War er möglicherweise
ein Doppelagent?
Resident Liberty stöhnte. Eigentlich glaubte er nicht, dass
der Mok irgendetwas gegen sie plante. Immerhin hatte er keinerlei
Versuch unternommen, Kontakt zu den Moks aufzunehmen, seit sie ihn
rund um die Uhr beschatteten. Aber vielleicht war er raffinierter
als sie alle dachten? Oder lag sein illoyales Verhalten nur daran,
dass er als Mok in anderen Bahnen dachte als sie selbst? Und falls
es so war: Inwieweit waren seine Angaben dann überhaupt vertrauenswürdig?
Nervös stand Resident Liberty auf und trat ans Fenster. Er
schob mit zwei Findern die Lamellen der Jalousie auseinander und
spähte nach draußen. Vor dem dunklen Himmel zeichneten
sich schwach ein paar Bäume ab. Das gegenüber stehende
Haus war nur noch als schwarzer Schatten erkennbar. Kein Auto, kein
Fußgänger schien um diese Uhrzeit noch unterwegs zu sein.
Die einzige Bewegung kam vom Wind. Kraftvoll rüttelte er an
den Ästen und bog sie nach unten. Womöglich kam heute
noch ein Sturm auf. Zumindest wohl aber ein Gewitter. Für die
Pflanzen in seinem Garten würde ein Regen sehr nützlich
sein. Die letzten Tage waren heiß und trocken gewesen, und
niemand hatte sich um den Garten gekümmert. Er selbst war seit
mehreren Tagen im Dauereinsatz und hatte keine Zeit dafür gehabt.
Seine Frau war auf Geschäftsreise und seine einzige Tochter,
die sich sonst in ihrer Abwesenheit um Haus und Garten gekümmert
hatte, schon seit mehr als einem Jahr aus dem Haus.
Er seufzte. Die Zeit verging schnell. Viel zu schnell. Manchmal
hatte er das Gefühl, das Leben dauerte nur einen Wimperschlag
lang. Auf jeden Fall zu kurz, um sich auf die wirklich wichtigen
Dinge konzentrieren zu können.
Immer wieder beschlich ihn das Gefühl, sein Leben mit den falschen
Dingen zu vergeuden. Was machte er schon? Wenn man einmal von der
offiziellen Variante absah, dass er, wie alle anderen Mitarbeiter
des DESs, die Europäische Union vor schwerwiegender internationalen
Kriminalität, Terroranschlägen und allgemeinen Gefahren
beschützte, blieb in Wirklichkeit nicht viel von seiner, Peter
Flynts, Tätigkeit übrig. Im Gegenteil. Als Resident Liberty
spionierte er Leute aus, bedrohte sie und verdrehte immer wieder
die Realität, nur um die Ziele des DES umsetzen zu können!
So wie zuletzt beim Auftrag "Eichenspinnerprozession",
bei dem sie eine Situation künstlich hergestellt und als natürlich
dargestellt hatten! War so eine Arbeit wirklich sinnvoll?
Sollte er den kurzen Wimpernschlag seines Lebens nicht lieber mit
seiner Frau im Garten sitzen, sich besser um seine Pflanzen kümmern
und den Schmetterlingen bei ihrem ersten, oder vielleicht auch letzten
Flug zusehen?
Peter Flynt stöhnte und ließ die Jalousie wieder zuschnappen.
Solche Gedanken waren Gift für ihn! Solche Fragen durfte er
sich nicht stellen! Wahrscheinlich entglitten ihm deshalb in letzter
Zeit öfters die Dinge! Wahrscheinlich war er deshalb nicht
mehr in Höchstform. Nicht, weil er zu alt für diesen Job
war, wie seine Tochter vermutete - und mit 52 war er das sicher
noch nicht - sondern weil er sich solchen trüben Gedanken hingab!
Doch damit musste jetzt Schluss sein! Er musste sich konzentrieren,
er durfte die Dinge nicht schleifen lassen. Er musste seine Agenten
härter anpacken, er musste wieder Herr der Situation werden!
Mit energischen Schritten ging er zu seinem Schreibtisch, zog aus
einer Schublade einen tennisballgroßen, harten Gel-Gymnastikball
und fing an, ihn zu kneten. Das tat gut! Der Druck des Balls auf
seinen Handflächen holte ihn wieder zurück in seine Welt.
In die Welt des geheimen Kampfs für das europäische Gemeinwohl!
Entschlossen warf er den Ball an die Decke, fing ihn wieder auf,
warf ihn hoch, fing ihn auf ... so lange, bis sich alle seine Gedanken
in diesem Fang-Spiel gesammelt hatten und er mit dem Gummiball zu
verschmelzen schien.
"Sie wollten uns sprechen, Resident Liberty?" sagte Agent
Brunner alias Mister X und trat mit Agent Moulin in das Bürozimmer.
Resident Liberty fing den Ball ein letztes Mal auf, freute sich,
dass er ihn kein einziges Mal hatte fallen lassen, und legte ihn
in die Schublade zurück.
"Ja, richtig", sagte Resident Liberty zackig und sah seine
Agenten scharf an. "Es ist Zeit, Sie daran zu erinnern, welche
Rolle Ihnen als Agent zukommt!"
Agent Brunner runzelte die Stirn. "Was meinen Sie damit?"
"Sie beide haben in diesem Auftrag mehrmals versagt!"
stellte Resident Liberty sachlich fest. "Sie haben die Kinder
nicht bei Portes-des-Barques entlarvt, sie haben die Verfolgung
der Kinder von Aurillac nach Sanissage verpatzt und Sie haben es
nicht geschafft, zu verhindern, dass die Kinder ihr Wissen an die
Bauern weiter geben."
"Wie hätten wir ahnen können, dass zwei x-beliebige
Kinder am Strand an Onk Ark interessiert sind?" versuchte Agent
Brunner sich zu verteidigen. "Und nach dem Gefängnisbesuch
lautete unser Auftrag nur, die Kinder zu beobachten, nicht, sie
zu entführen. Und haben wir sie verloren? Nein! Den Auftrag
zur Entführung haben Sie uns erst einen Tag später erteilt.
Und den haben wir wieder ohne Probleme ausgeführt!"
"Genau das meine ich damit, einmal über ihre Rolle als
Agenten nachzudenken!" sagte Resident Liberty. "Natürlich
sind Sie in erster Linie Befehlsempfänger. Aber das heißt
nicht, dass Sie selbst nicht den Kopf einschalten sollen! Meiner
Meinung nach hätten Sie beispielsweise die Fischerhütte
in Portes-des Barques keine Sekunde lang aus den Augen lassen dürfen.
Und Sie hätten natürlich auch nicht Mme de Sel einfach
weiter fahren lassen dürfen, sondern sie bis zu ihrem Hof verfolgen
und dort bleiben müssen. Denn dann hätten Sie gleich und
nicht erst einen halben Tag später bemerkt, dass die Kinder
längst bei den Pignons sind und dort ihr Wissen verbreiten
können. Verstehen Sie, was ich meine?"
Agent Brunner schwieg, aber Agent Moulin meldete sich zu Wort.
"Ja, wir verstehen Sie: Wenn wir vorausschauend gehandelt hätten,
hätten wir sowohl verhindert, dass die Kinder Yves Scot kontaktieren,
als auch, dass sie den Pignons die Gefahr durch das schwarze Zeichen
auf gelbem Grund mitteilen können."
"Exakt!" sagte Resident Liberty. "Möchten Sie
sich nicht auch dazu äußern, Agent Brunner?"
"Wenn wir vorausschauend gehandelt hätten, wüssten
die Kinder weder etwas von dem Zeichen, noch hätten sie die
Bauern informieren können, dass die Moks gefährdet sind."
"Ich sehe, dass Sie bereit sind, Ihre Schuld einzugestehen",
sagte Resident Liberty. "Ich bin schon gespannt, welche Konsequenzen
das für Sie haben wird. Zuerst bringen wir aber diesen Auftrag
zu Ende. Und zwar reibungslos. Checken Sie zuerst, ob die Kinder
uns mit der Biogefährdung einen Bären aufgebunden haben!"
"Ist schon geschehen!" sagte Agent Brunner diensteifrig.
"Ich habe eben von Forstarbeiter 2 telefonisch erfahren, dass
ungefähr vor einer Stunde 15 Bauern in der Nähe des Höhleneingangs
im Wald waren und dort herum geschnüffelt haben."
"Wegen der Biogefährdung?" fragte Resident Liberty
knapp. "Oder haben die Bauern etwas anderes im Wald gesucht?"
"FA 2 hat nur mitgeteilt, dass die Bauern das Absperrband durchgerissen
haben und mindestens einer der Bauern seine Geschichte von der Eichenspinnerprozession
nicht geglaubt hat. Ich gehe davon aus, dass der Bauer statt dessen
die Biogefährdung im Hinterkopf hatte."
"Wenn uns die Kinder früher erzählt hätten,
dass sie den Bauern ihren Verdacht wegen der Biogefährung mitgeteilt
haben, hätten wir uns das zu Nutze machen können und den
Wald nicht wegen der Eichenspinnerprozession, sondern gleich wegen
der Biogefährdung im Wald dicht machen können!" zischte
Resident Liberty, "In dem Fall wären die Bauern regelrecht
froh gewesen, dass wir den Wald abriegeln und sich die Behörden
so gut um das Problem kümmern. Sie wären getrost auf Ihre
Höfe zurück gegangen und wir könnten in aller Ruhe
die radioaktiven Fässer in die Höhle einlagern!"
"Sie sind zu weich mit den Kindern gewesen, Chef!" wagte
sich Agent Brunner zu sagen.
"Ja, Weichheit ist meine Schwäche!" sagte Resident
Liberty kalt. "Vor allem Ihnen gegenüber! So wie ich es
sehe, sind vor allem Sie daran Schuld, dass die Kinder überhaupt
so weit gekommen sind!"
"Gut", sagte Agent Brunner, "aber hatte es nicht
auch einen Vorteil, dass wir die Kinder nicht früher gestoppt
haben? Sonst hätten wir nie heraus gefunden, dass auch Yves
Scot hinter uns her schnüffelt! Doch so können wir ihn
observieren und sind über jeden seiner Schritte informiert!"
"Scot ist ein winziger Fisch", sagte Resident Liberty.
"Er macht nichts, was uns interessiert. Offensichtlich hatte
er nach dem Gefängnisbesuch auch keinerlei Kontakt mehr zu
den Kindern. Die Bauern und die Moks sind ihm völlig unbekannt.
Auch wenn er sich für Kart Orkid interessiert, so tappt er
doch völlig im Dunkeln. Die Direktion hat sogar angeordnet,
dass seine Observierung eingestellt wird. Wir brauchen die Männer
jetzt an anderer Stelle. Reden Sie sich also nicht auf Yves Scot
raus!
Stellen Sie mir nachher eine Verbindung zu diesem Forstarbeiter
her, er muss mir genaustens Bericht über den nächtlichen
Besuch der Bauern erstatten. Nicht, dass mir durch Ihre schlampige
Recherche wieder etwas durch die Lappen geht! - Kommen wir nun zu
einem weiteren Punkt: Den Moks. Nachdem wir wissen, dass es befreundete
Bauern gibt, müssen wir die Moks noch mehr unter Druck setzen,
dass sie mit niemandem außerhalb der Höhle Kontakt aufnehmen.
Agent Brunner, leiten Sie bitte etwas Dementsprechendes in die Wege."
"Sie werden mit niemandem Kontakt aufnehmen", sagte Agent
Brunner. "Das verbietet schon der Handelsvertrag des DES, den
die Moks unterzeichnet haben! Danach garantieren wir Ihnen ein geheimes,
unbehelligtes Leben in der Höhle und versorgen sie mit Lebensmitteln
und Dingen, die sie brauchen, und sie lagern im Gegenzug unsere
Fässer bei sich ein."
"Die Verträge sind mir bekannt", sagte Resident Liberty
abweisend."Trotzdem wissen wir nicht, wie sehr sich die Moks
an Verträge halten! Denken Sie nur an Onk Ark! Und selbst wenn
unsere Handelspartner loyal sind: Wissen wir, was sich in deren
Höhle gerade zusammen braut? Aber ich werde das sicher nicht
mit ihnen, sondern mit der Direktion diskutieren! Etwas anderes:
Haben die Moks die Lebensmittel angenommen?"
"Ja", sagte Agent Moulin. "Und soweit wir von Agent
Sciutto informiert wurden, halten sich die Moks auch hundertprozentig
an die Abmachung, mit niemandem außer mit unseren Leuten Kontakt
aufzunehmen."
"Gut", sagte Resident Liberty. "Ich gehe übrigens
davon aus, dass die Direktion grünes Licht dafür geben
wird, dass der erste Atommülltransport am Montag statt finden
wird. Je schneller wir mit dem Einlagern beginnen, desto besser.
Die Schneise im Wald ist soweit fertig, dass Laster bis an die Steintreppe
heran fahren können. Unsere Mitarbeiter werden dann die Fässer
zum Eingang der Höhle tragen, und dort werden sie von den Moks
in Empfang genommen. Noch ist unklar, ob die Moks einem von uns
erlauben werden, die Höhle zu betreten, aber das ist nebensächlich.
Die Moks werden schon wissen, wo sie die Fässer lagern sollen
... bleibt im Moment nur noch die Anordnung an Sie, wie Sie weiter
mit den Kindern vorgehen sollen."
Agent Brunner fuhr mit der Handkante seinen Hals entlang und grinste.
Je eher die Kinder eliminiert werden würden, umso schneller
würde er wieder nach Hause gehen und nach seiner Frau sehen
können.
"Eben nicht!", sagte Resident Liberty mit Nachdruck. "Die
Direktion hat ausdrücklich angeordnet, dass wir die Kinder
so lange hier lassen sollen, bis klar ist, wie sich die Lage weiter
entwickelt. Erst, wenn die Einlagerung in geordneten Bahnen ist,
können wir es riskieren, die Kinder verschwinden zu lassen.
Agent Brunner, ich hatte gerade den Eindruck, dass es Sie überfordert,
auf die Kinder aufzupassen. Agent Moulin, Sie übernehmen."
Agent Moulin nickte und Resident Liberty beendete das Gespräch.
"Yvette", rief Yves Scot, "kannst du bitte mal kommen?"
Scot stand in seinem Wohnzimmer und starrte auf einen Punkt auf
seiner Frankreichkarte.
"Gleich!" rief Yvette und schaltete den Fön aus.
"Was gibt's?"
"Mir ist gerade etwas aufgefallen!"
"Was denn?" Yvette trat neugierig ins Wohnzimmer.
Während sie sich durch die Haare fuhr und sie mit einem Zopfgummi
zu einem Pferdeschwanz band, folgte sie Scots Blick auf die Frankreichkarte.
"Möchtest du mit mir verreisen?" sagte sie erfreut
und fuhr neckisch fort: "Oder suchst du einen geeigneten Ort
für unsere Hochzeit? Yves und Yvette Scot! Das passt gut zusammen!
Yves und Yvette Bellier klingt allerdings noch besser."
"Sicher!" sagte Scot, legte einen Arm um sie und küsste
sie in den Nacken. Dann flüsterte er ihr leise ins Ohr: "Hast
du zufällig eine Nadel auf meiner Landkarte versetzt?"
"Was?!" Yvette bog den Kopf zurück und sah Scot irritiert
an. "Was denn für eine Nadel?!"
"Psst!" sagte Yves leise. "Hier auf dieser Frankreichkarte!
Da wurde eine Nadel umgesteckt! Warst du das?"
"Warum denn?" sagte Yvette aufgebracht und löste
sich aus Scots Armen. "Warum sollte ich eine Nadel auf deiner
Karte umstecken?"
"Vielleicht hast du sie einfach nur so zum Spaß woanders
hin gesteck?"
"Ich bin doch kein kleines Kind, das seine Zeit mit Nadelsteckspielen
vertreiben muss!"
"Bist du dir sicher?" flüsterte Scot eindringlich.
"Natürlich bin ich mir sicher!" sagte Yvette. "Warum
ist das überhaupt wichtig?"
"Das kann ich dir jetzt nicht sagen!" sagte Scot leise.
"Aber es könnte etwas bedeuten. Wenn du es nicht warst,
muss irgendjemand anderes die Nadel umgesteckt haben."
"Ach, und wer sollte dieser Jemand sein?" Yvette klang
genervt. "In letzter Zeit benimmst du dich so seltsam! So,
als ob du verfolgt werden würdest! Man darf nicht mehr laut
sprechen, du willst dich nicht mehr in deiner Wohnung mit mir treffen.
Und wenn wir uns hier treffen, fragst du mich, ob ich deine Nadeln
an der Landkarte umgesteckt habe! Das ist doch verrückt!"
"Ja, das ist es wirklich", murmelte Yves. "Bis vor
wenigen Tagen, hätte ich selbst noch nicht geglaubt, dass sich
die Dinge so entwickeln würden."
"Welche Dinge denn?"
"Nicht jetzt", flüsterte Yves. "Vielleicht später.
Jetzt muss ich zuerst heraus bekommen, was es mit dieser Nadel auf
sich hat."
"Klingt so, als ob du heute nicht mir mir ans Meer fahren willst",
sagte Yvette lauernd.
Scot nickte.
"Andere Frauen werden wegen wichtiger Termine oder anderen
Frauen versetzt!" stöhnte Yvette. "Aber mein Freund
versetzt mich wegen einer Nadel! - Ist das ein gutes oder ein schlechtes
Zeichen?"
"Der Strand ist heute sowieso nass", versuchte Yves der
Diskussion auszuweichen. "So, wie es heute Nacht geschüttet
hat."
"Rede dich nicht auf den Regen hinaus!" sagte Yvette.
"Ich gehe auch gerne einfach nur am Meer spazieren!"
"Yvette, ich habe jetzt keine Zeit für so etwas!"
sagte Yves. "Dafür fahren wir übernächstes Wochenende
nach Nantes zum Open-Air-Jazz-Festival! Das verspreche ich dir!"
"Das glaubst du doch selbst nicht", sagte Yvette. "Du
magst Jazz doch überhaupt nicht!"
"Stimmt" sagte Yves, "aber daran kannst du sehen,
welche Opfer ich für dich bringen würde."
"Die Betonung liegt auf würde!" sagte Yvette. "Wenn
du dich wirklich opfern willst, fahre heute mit mir ans Meer!"
Yvette schlang ihre Arme um Scot und sah ihn zärtlich an. "Bitte,
bitte, opfere dich heute für mich!"
"Yvette!" sagte Yves und machte sich aus ihren Armen frei.
"Ich habe heute wirklich keine Zeit! Ich muss mich um die Nadel
kümmern! Das könnte sehr wichtig sein! Wir fahren ein
anderes Mal ans Meer!"
"Wenn du heute nicht mitkommst, werde ich mit Marc fahren!"
sagte Yvette bitter. "Für Marc wird es sicher kein Opfer
sein, mit mir ans Meer zu fahren!"
"Tu, was du nicht lassen kannst!" sagte Yves und drehte
sich zu seiner Frankreichkarte. "Aber lass mich in Ruhe!"
"Du bist ein Grobian! Ich weiß nicht, warum ich überhaupt
mit dir zusammen bin", rief Yvette und ging aus dem Zimmer.
Nachdem sie ihre Jacke angezogen und ihre Handtasche geholt hatte,
verließ sie Türe schlagend die Wohnung.
Scot seufzte und fragte sich, ob er Yvette heute nicht auch auf
sanftere Art losgeworden wäre. Aber er hielt es für unwahrscheinlich.
Yvette reagierte nur selten auf leise Töne. Sie klammerte sich
so lange wie möglich an ihn. Und wenn er dann energisch wurde,
brauste sie auf und beschimpfte ihn.
Nun, wahrscheinlich würde sie sich auch schnell wieder beruhigen
und ihn spätestens morgen wieder anrufen. Wenn nicht, würde
er zu ihr gehen und sich bei ihr entschuldigen. Das hatte bisher
immer geklappt. Um Yvette musste er sich keine Sorgen machen. Dafür
umso mehr um diese Nadel, die an der falschen Stelle steckte.
Scot war sich ganz sicher, dass zuletzt drei Stecknadeln auf der
Karte gesteckt hatten. Eine Nadel hatte in Rochefort, eine auf der
Insel Saint-Martin-de-Re und eine in Portes-des-Barques gesteckt.
Die Nadeln von Saint-Martin-de-Re und Portes-des-Barques steckten
immer noch dort, die Nadel von Rochefort war dagegen weg und steckte
jetzt dafür in der Nähe des Cantals auf einem winizigen
Dorf namens Sanissage!
Angenommen, Yvette hatte wirklich nicht mit den Nadeln gespielt,
und er selbst war auch nicht plötzlich zum Schlafwandler geworden,
dann musste wirklich jemand anderes hier gewesen sein und sich an
seiner Landkarte zu schaffen gemacht haben!
Da er vom Geheimdienst überwacht wurde, überraschte ihn
die Tatsache, dass jemand in seiner Wohung war, nicht. Was ihn allerdings
verwunderte, war, warum der Spion die Nadel auf seiner Karte umgesteckt
hatte!
Doch wohl kaum, um ihm irgendwelche Hinweise zu geben?
Aber warum dann? War es dem Spion während seiner letzten Wohnungsdurchsuchung
etwa langweilig geworden, und er hatte deshalb zwischendurch mit
den Stecknadeln gespielt? Steckte die Nadel also zufällig in
der Nähe des Cantals?
Oder steckte sie nicht zufällig da, sondern weil dieser Ort
für den Geheimdienst doch sehr wohl eine Bedeutung hatte? Steckte
sie da, weil der Spion, während er in seiner Wohnung war, telefonisch
über Sanissage informiert worden war, und dieser dann, ohne
lange nachzudenken, den Zielort auf seiner Karte gesucht und mit
der Nadel gekennzeichnet hatte? Und war der Spion einfach zu schlampig
oder nachlässig gewesen, die Nadel danach wieder zu entfernen?
Das war alles sehr spekulativ. Aber es war immerhin möglich.
Ging er also einmal davon aus, diese Spekulation stimmte: War Sanissage
dann womöglich der nächste Einsatzort des Spions? Und,
weiter gesponnen, hatte dieser Ort dann für Scot selbst keinerlei
Bedeutung, oder war Sanissage im Gegenteil genau der Ort, woher
der rätselhafte Junge kam? Oder war Sanissage womöglich
der Ort, wohin die beiden deutschen Kinder verschwunden oder gebracht
worden waren?
Scot hatte zwar keinerlei Hinweis darauf, dass die Kinder von irgendwem
irgendwohin gebracht worden waren. Aber seit er erfahren hatte,
dass die Kinder früher als geplant abgereist waren, hatte er
ein mulmiges Gefühl im Bauch.
Da er selbst seit dem Besuch im Gefängnis observiert wurde,
war es durchaus denkbar, dass der Geheimdienst auch die Kinder beobachten,
oder schlimmer noch, sie wie den rätselhaften Jungen hatten
irgendwo hin bringen lassen.
Hatte Sanissage in diesem Zusammenhang womöglich irgendeine
Bedeutung? Oder waren das alles nur seine Hirngespinste?
Wie auch immer. Mit Sanissage hatte Scot auf jeden Fall seit Tagen
einen ersten Hinweis in der Sache mit dem rätselhaften Jungen.
Hier konnte er weiter recherchieren. Denn seit seinem Gefängnisbesuch
war in dem Fall völlige Flaute gewesen. Zum einen, weil er
von dem rätselhaften Jungen im Gefängnis keinerlei Information
mehr würde bekommen können. Zum anderen, weil er sonst
nirgendwo mehr etwas über ihn hatte heraus finden können.
Neugierig schaltete Scot deshalb den Computer an und gab "Sanissage"
in der Suchmaschine ein. Die ersten Treffer waren enttäuschend.
Nur Fotos von Blumen, Wasserfällen und Bergansichten. Auch
die nächsten Treffer waren mit Wanderwegbeschreibungen und
Hinweise auf Straßen-Baustellen in der Nähe des Dorfes
alles andere als aufschlussreich.
Ernüchtert klickte sich Scot durch verschiedene Seiten und
Links, bis er schließlich einen mehrere Jahre alten Zeitungsartikel
entdeckte, der ihn aufhorchen ließ. Der Artikel schilderte
den Vorgang eines Bauernprotestes in Sanissage. Damals hatten mehrere
Bauern der Organisation Gesunde Landwirtschaft gegen die schlechte
Bezahlung der Milch demonstriert. Um ihren Unmut auszudrücken,
hatten sie den Fahrer eines Milchlasters dazu gezwungen, die schon
geladene Milch auf die Felder zu kippen. So eine Aktion war natürlich
viel öffentlichkeitswirksamer als nur Plakate in die Höhe
zu halten. Und so hatte es die kleine Demonstration tatsächlich
in den Politik-Teil einer überregionale Tageszeitung geschafft.
Wie der Vorstand der GL, ein gewisser Henry Pignons, in dem Artikel
mitteilte, war der Protest Teil eines größeren Bauernprotestes,
an dem sich etwa 50 000 Bauern in rund 23 Städten beteiligt.
Scot konnte sich noch gut an die Proteste erinnern. Das war 2009
gewesen, und die Bauern waren auf die Straße gegangen, um
gegen den Preisverfall ihrer landwirtschaftlichen Produkte und für
staatliche Subventionen zu demonstrieren. Die Landwirte hatten damals
wichtige Straßen und Verkehrsachsen blockiert. In Poitiers
hatten einige Bauern im Stadtzentrum sogar 1000 Kubikmeter Erde
ausgekippt. Und in Sanissage, wie er nun durch diesem Artikel erfuhr,
hatten sie offenbar Milch auf die Straße geschüttet.
Scot war sich zwar nicht klar darüber, was die Bauernproteste
mit dem rätselhaften Jungen, den beiden deutschen Kindern und
dem Geheimdienst zu tun hatten. Aber dieser Protest war auf jeden
Fall interessanter als Fotos von Blumen und Bergen. An dieser Stelle
würde er deshalb weiter recherchieren.
Scot gab Gesunde Landwirtschaft in dem Suchschlitz ein und gelangte
schnell auf die Website der GL. Durch die Selbstdarstellung der
GL erfuhr Scot, dass sich die Organisation vor allem für eine
ökologische, genfreie Landwirtschaft einsetzte. Die Demonstration
gegen den Preisverfall war also nur ein Nebenschauplatz gewesen.
Scot klickte sich weiter durch die Website und erfuhr, dass der
Anbau von genmanipuliertem Mais in Frankreich seit 2011 verboten
worden war. Trotzdem engagierte sich die GL weiter für den
Anbau genfreier Pflanzen. Denn es drohte immer noch die Gefahr,
dass andere genmanipulierte Pflanzen wie Soja, Raps oder Kartoffeln
angebaut wurden. Außerdem war die Einfuhr genmanipulierter
Pflanzen aus dem Ausland, vor allem der USA noch erlaubt. Gute Gründe
also, sich weiterhin gegen Genpflanzen zu engagieren.
Das alles war zwar ganz interessant, aber Scot konnte sich nicht
vorstellen, dass sich der Geheimdienst deshalb für die Bauern
interessierte. Auch sah er keinen Zusammenhang zwischen der Bauernorganisation
und der Nadel auf seiner Frankreichkarte. Oder planten die Bauern
dieses Mal einen großen, gewalttätigen Aufstand und riefen
deshalb den Geheimdienst auf den Plan? Aber selbst wenn, dann hatte
das alles nichts mit den deutschen Kindern und dem Jungen im Gefängnis
zu tun!
Oder konnte er, Scot, den Zusammenhang zwischen den Bauern und dem
rätselhaften Jungen nur nicht erkennen? Beispielsweise weil
das Internet - glücklicherweise - längst nicht alle Informationen
preis gab? Es wäre nicht das erste Mal, dass er im Nachhinein
feststellen würde, dass sich die Dinge aus der Nähe oder
in der Realität anders darstellten als in der virtuellen Welt
des Netzes.
Nun, am besten fuhr er einfach mal nach Sanissage und sah sich dort
um. Wenn die Bauern tatsächlich nur das wussten, was er auf
deren Website erfahren hatte oder einen Aufstand planten, sich diese
Spur für ihn also als kalt erwies, dann würde er vor Ort
vielleicht eine andere Verbindung zu dem rätselhaften Jungen
oder auch zu den beiden deutschen Kindern entdecken. Sanissage konnte
durchaus noch etwas anderes außer Blumen, Wasserfällen
und demonstrierende Bauern bergen. Und vielleicht war es genau dieses
andere, was den Geheimdienst auf den Plan rief - und gar nicht die
Bauern.
Nachdem Yvette gegangen war, und er also einen freien Tag hatte,
konnte er gleich heute dort hinfahren. Scot suchte sich aus dem
Impressum der Bauernwebsite die Adresse von Henry Pignon heraus,
schaltete seinen Computer aus, packte sein Portemonnaie ein und
verließ das Haus.
"Auf dem Parkplatz vor unserem Hof steht ein silberner Renault!"
sagte Mignon ins Telefon. "Und darin sitzt ein Mann!"
"Wie lange schon?" fragte Henry Pignon am anderen Ende
der Leitung.
"Sicher seit einer viertel Stunde."
"Hat er dich gesehen?"
"Weiß ich nicht", sagt Mignon. "Auf jeden Fall
finde ich es komisch, dass er nicht aussteigt!"
"Spielen Paul und Hugo draußen?"
"Nein", sagte Mignon. "Sie sind mit Maman beim Einkaufen.
Und Daniel ist bei Theo und bastelt mal wieder an seinem Motorrad
herum. Ich bin also alleine hier."
"Schließ die Tür ab!" sagte Henry. "Ich
komme so schnell ich kann. In etwa zwanzig Minuten bin ich da."
"Glaubst du, der Mann ist gefährlich?" fragte Mignon
ängstlich.
"In diesen Tagen kann man nie wissen!" antwortete Henry.
"Lass ihn auf jeden Fall nicht rein und schließ die Tür
ab. Wenn etwas ist, rufe mich sofort an!"
"Was heißt in diesen Tagen?" fragte Mignon.
"Ich bin bald bei dir!" sagte Henry und drückte die
Verbindung weg.
Mignon legte bedrückt den Hörer auf die Gabel ihres altmodischen
Festnetztelefons und schloß die Haustür ab. Danach ging
sie wieder zurück in die Küche und spähte vorsichtig
aus dem Fenster. Das silberne Auto war immer noch da, und der Mann
saß weiter auf dem Fahrersitz. Mignon konnte sein Gesicht
nicht richtig erkennen, trotzdem kam es ihr so vor, als ob er jetzt
in ihre Richtung glotzte und sie hinter der Gardine beobachtete.
Instinktiv trat Mignon einen Schritt zurück und hoffte, dass
ihr Vater bald kommen würde. Wäre sie vorhin doch nur
mit Maman zum Einkaufen gegangen! Wäre es ihr doch nur nicht
zu langweilig gewesen, zwischen hohen, mit Waren vollgestopften
Regalen herum zu spazieren. Dann würde sie jetzt nicht allein
sein und von diesem Mann beobachtet werden!
Warum wollte Papa so dringend, dass sie die Türe abschloss?
Wofür hielt Papa den Mann? Für einen Mörder? Aber
warum rechnete Papa mit einem Mörder auf ihrem Hof?
Und warum waren ihre Eltern schon seit Tagen so merkwürdig?
Eigentlich hatte alles mit den beiden deutschen Kindern angefangen.
Seit sie hier gewesen waren, taten Maman und Papa plötzlich
so, als ob sie ein großes Geheimnis hätten. Aber was
für ein Geheimnis sollte das schon sein?
Und warum sagten sie ihr nicht, was los war? Schließlich war
sie kein kleines Kind mehr! Als sie neulich ihre Mutter gefragt
hatte, was mit ihnen los wäre, hat diese nur gemeint, dass
sie sich keine Sorgen zu machen bräuchte. Aber warum verhielten
sich ihre Eltern dann so komisch?
Gestern beispielsweise waren sie noch spät abends weg gefahren,
ohne ihr zu sagen, wohin! Das einzige, was sie ihr sagten, war,
dass Mignon ihre beiden kleineren Brüder ins Bett bringen sollte.
Ihre Eltern waren Stunden später wieder gekommen, ihre Kleider
vom Regen völlig durchnässt. Statt ihr irgend etwas zu
erklären, hatten ihre Eltern sie ohne einen Kommentar ins Bett
geschickt. Und als sie dann im Bett gelegen hatte, hatte Migon ihren
Vater brüllen hören, dass auf niemanden mehr Verlass sei
und dass alles noch ein böses Ende nehmen werde. Was aber nahm
warum ein böses Ende? Und wie sah das böse Ende überhaupt
aus? Hatten ihre Eltern kein Geld mehr und mussten den Hof verkaufen?
Oder hatte Daniel irgend etwas mit seinen Freunden ausgefressen?
Mignon sah auf die Uhr und entdeckte, dass erst fünf Minuten
vergangen waren, seit sie ihren Vater angerufen hatte! Zum Glück
rührte sich der Mann nicht und saß immer noch im Auto.
Um sich abzulenken, räumte Mignon die Küche auf. Butter,
Marmelade in den Kühlschrank, Besteck und Geschirr in die Spülmaschine.
Den Milchtopf in die Spüle zum Auswaschen. Mignon ließ
heißes Wasser in den Topf einlaufen, vermischte es mit einem
Tropfen Spülmittel und schrubbte den Topf dann mit einem Schwamm.
Plötzlich fiel draußen eine Autotür. Papa? dachte
Mignon. War Papa schon gekommen? Nein, die Schritte auf dem Kies
hörten sich anders an.
Mignon drehte sich zum Fenster und sah, wie der Mann aus dem Auto
auf die Haustür zuging, neben der Küche lag. Mignon trocknete
sich die Hände an einem Geschirrhandtuch ab und beobachtete
den Mann. Jetzt ging er direkt auf sie zu! Mignon konnte durch die
Gardine in das Gesicht des Mannes sehen.
Das Gesicht war bleich, furchtbar bleich, und schwammig. Wie ein
aufgegangener Briocheteig! In der Mitte des Teigs hob sich eine
spitze Nase ab und die Augen blickten wie übergroße Rosinen,
leer, dunkel, aber vor allem böse durch ihr Fenster.
Papa!" dachte Mignon. "Wann kommst du endlich?!
Ich will nicht alleine mit diesem Mann hier sein! Vielleicht ist
er wirklich ein Mörder?!"
Mignon sah auf die Uhr: Immer noch zehn Minuten, bis ihr Vater kommen
würde. Wie langsam die Zeit verstrich! Konnte sie nicht einmal
schneller vergehen?!
Jetzt verschwand der Mann aus Mignons Gesichtsfeld. Wahrscheinlich
stand er nun unter dem Türbogen vor der Haustür?
Was sollte sie tun? Papa anrufen? Aber wie sollte er ihr durchs
Telefon helfen?
Ein schriller Klingelton gellte durchs Haus.
Mignon erstarrte.
Wieder klingelte es.
"Hallo? Ist da jemand?" rief eine seltsam raue Stimme.
Mignon duckte sich unter den Esstisch, falls der Mann je auf die
Idee kommen würde, durch das Küchenfenster zu sehen.
"Hallo?!" rief die Simme wieder. "Ist denn wirklich
niemand zu Hause?"
Er klingelte nochmals.
Mignon hielt den Atem an und hoffte, dass der Mann wieder von alleine
gehen würde.
Aber der Mann ging nicht. Statt dessen redete er irgendetwas vor
sich hin, machte dann ein paar Schritte auf dem Kies und klopfte
ein paar Sekundne später am Küchenfenster!
Mignon hob den Kopf und erschrack. Der Mann hatte sein Gesicht an
die Scheibe gedrückt und starrte sie an!
"Hallo!" rief der Mann und klopfte wieder an die Scheibe.
"Warum öffnen Sie mir nicht die Tür? Haben Sie mein
Klingeln nicht gehört?"
Mignon zitterte.
"Ist Henry Pignon denn da?" rief der Mann. "Es geht
um die Organisation Gesunde Landwirtschaft. Deshalb würde ich
mich gerne mit ihm unterhalten."
Gesundes Landwirtschaft?' dachte Mignon erleichtert. Wenn
der Mann wegen der GL hier ist, wird er wohl kein Mörder sein?!"
Mignon entspannte sich etwas, blieb aber weiter in geduckter Haltung
unter dem Tisch.
"Bitte öffnen Sie die Tür!" rief der Mann. "Es
ist sehr wichtig!"
Mignon schwieg. Sie wusste einfach nicht, was sie tun sollte.
"Ich sehe doch, dass Sie unter dem Tisch sitzen!" rief
der Mann. "Warum kommen Sie nicht darunter hervor? Oder sind
Sie unter dem Tisch gerade sehr beschäftigt? Aber deshalb können
Sie doch trotzdem mit mir reden?"
"Mein Vater ist nicht da!" rief Mignon. Ihre Stimme hörte
sich in der leeren Küche viel zu laut an.
"Können Sie mir nicht die Türe oder wenigstens das
Fenster öffnen?" sagte der Mann. "So ist unsere Unterhaltung
doch etwas schwierig!"
Mignon überlegte, dass der Mann, wenn er wirklich gefährlich
wäre, einfach das Fenster einschlagen könnte. Also konnte
sie ihm gerade so gut die Tür öffnen! Außerdem glaubte
sie nicht mehr, dass der Mann ihr etwas antun würde. Warum
auch? Er wollte mit ihrem Vater nur etwas wegen der GL besprechen!
Da war es doch albern, wenn sie sich hier versteckte?
Mignon stand auf und rief durch das Fenster: "Ich komme gleich!"
Dann ging sie in den Flur und machte, schon beinahe ohne Angst,
die Haustür auf.
"Sehr nett!" sagte der Mann. "Guten Tag!"
Mignon nickte und sah ihm ins Gesicht. Aus der Nähe sah der
Mann ganz anders aus als durch das Gardinen behängte Fenster.
Sein Gesicht war zwar immer noch blass, aber nicht schwammig. Die
Nase war zwar schmal, aber nicht spitz. Und die Augen waren alles
andere als leer und böse. Im Gegenteil, sie blickten sie in
einem schönen Meer-Blau intensiv und beinahe freundlich an.
"Ich nehme an, Henry Pignon ist dein Vater?"
Mignon nickte.
"Wann kommt er denn?" fragte der Mann.
"Bald!" sagte Mignon. "Was möchten Sie von meinem
Vater?"
"Ich bin Journalist und bin im Internet auf eine interessante
Sache der GL gestoßen. Deshalb möchte ich mich mit deinem
Vater unterhalten. Ich bin übrigens Yves. Yves Scot."
"Und ich Mignon. Mignon Pignon"
"Außergewöhnlicher Name", sagte Yves, "aber
sehr hübsch. Mignon, könntest du mir vielleicht ein Glas
Wasser holen? Ich habe ziemlichen Durst!"
"Möchten Sie nicht reinkommen?" fragte Mignon. "Dann
muss ich Ihnen das Glas nicht rausbringen."
"Gerne!" sagte Yves Scot und trat hinter Mignon über
die Türschwelle.
"Halt!" rief eine Stimme hinter Scots Rücken. "Sofort
stehen bleiben!"
Scot drehte sich um und sah einen stämmigen, sehr wütend
aussehenden Mann, der mit einem Gewehr auf ihn zielte. Reflexartig
versuchte er ins Haus zu fliehen.
Ein Schuss fiel und der Mann schrie: "Kommen Sie sofort aus
meinem Haus!"
"Papa, hör auf!" rief Mignon und stellte sich vor
Scot. "Der Mann ist harmlos!"
"Sie kommen sofort wieder aus dem Haus!" rief Henry und
hielt das Gewehr weiter auf den Eindringling gerichtet.
Mignon rannte zu ihrem Vater und sagte bestimmt: "Nimm das
Gewehr runter! Er hat nichts getan!"
"Wer sind Sie und was wollen Sie?" rief Henry und zielte
weiter auf Scot.
"Ich bin ein Journalist aus Rochefort!" sagte Yves Scot.
"Name?"
"Yves Scot!"
"Können Sie sich ausweisen?"
"Ja!" sagte Scot. "Aber bitte nehmen Sie das Gewehr
herunter!"
Henry ließ das Gewehr langsam sinken, und Scot fischte seinen
Geldbeutel aus der Hosentasche. Dann ging er auf Henry und Mignon
zu und zeigte Henry seinen Personal- und Presseausweis.
"Natürlich können beide Ausweise gefälscht sein",
sagte Henry Pignon. "Aber wir tun mal so, als ob sie es nicht
wären! Was wollen Sie?"
"Können wir das nicht unter vier Augen besprechen?"
fragte Yves Scot. "Die Sache ist etwas eigenartig und je weniger
Leute sie hören, umso besser!"
Henry Pignon schaute Scot undurchdringlich an, sagte aber zu Mignon,
dass er mit Scot in sein Bürozimmer gehen würde.
"Bring uns bitte etwas zu trinken", sagte Henry. "Ich
bin ziemlich durstig!"
Scot folgte Henry Pignon ins Haus, die Treppe hoch in dessen Bürozimmer.
Das Zimmer wirkte gemütlich, wahrscheinlich weil es klein und
mit warm wirkenden Holzmöbeln ausgestattet war. Scot entspannte
sich etwas. Die Szene mit dem Gewehr hatte ihn doch etwas mitgenommen.
Während Pignon die Waffe an die Wand lehnte und sich auf einen
Stuhl setzte, betrachtete Scot die mit Büchern und Ordnern
voll gestellten Regale und den mit Unterlagen und Papieren übersäten
Schreibtisch. Henry Pignon entsprach offensichtlich nicht dem Klischee
eines Bauern. Kein Wunder, schließlich war er auch Mitgründer
und Vorstand der GL.
"Was gibt's?" fragte Henry Pignon und zeigte mit einer
Hand auf einen Sessel.
"Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll!" sagte Yves
Scot und ließ sich auf den Sessel plumpsen. "Die Sache
ist sehr kompliziert."
"Ich müsste jetzt eigentlich schon wieder auf dem Feld
sein!" sagte Henry Pignon abweisend. "Fassen Sie sich
also kurz!"
Yves Scot schluckte. Genau davor hatte er sich gefürchtet.
Vor dieser unmöglichen Situation, dem Bauern erklären
zu müssen, warum er hier war. Denn wie sollte er Informationen
von M. Pignon bekommen, ohne selbst zu viele Informationen preis
geben zu müssen?
Es war eine Sache, zwei völlig unbedarften, deutschen Kindern
die Story mit den beiden rätselhaften Jungen zu verklickern,
aber eine ganz andere, mit einem Erwachsenen darüber zu reden.
Entweder würde der Erwachsene ihn nicht ernst nehmen oder seine
Theorie für verrückt erklären, oder, noch schlimmer,
ihm die Story vor der Nase wegschnappen. Denn je mehr Leute davon
wussten, umso wahrscheinlicher war es, dass sich außer ihm
auch noch andere dafür interessierten. Und das wollte er auf
jeden Fall verhindern. Seit sich der Geheimdienst für die Sache
interessierte, hatte er außerdem Angst, dass er auf einen
Spitzel traf oder jemand völlig Unbeteiligten in die Sache
mit hinein zog und ihn dadurch gefährdete.
Außerdem war es überhaupt nicht sicher, dass die GL und
M. Pignon irgendetwas mit den deutschen Kindern oder dem rätselhaften
Jungen zu tun hatten. In dem Fall war es noch unklarer, was er überhaupt
mit M. Pignon besprechen sollte. Natürlich konnte er ihm irgendetwas
vorlügen, dass er eine Reportage über die GL machen würde,
bla bla, aber würden ihn die Infos, die er so bekommen würde,
irgendwie weiter bringen? Wohl kaum!
Die ganze Fahrt hier her hatte er sich deshalb Gedanken gemacht,
wie er ins Gespräch mit M. Pignon kommen sollte. Was er ihm
erzählen oder vorlügen sollte oder konnte, um M. Pignon
trotzdem irgendwelche, interessante Informationen zu entlocken.
Doch Scot war zu keinem Ergebnis gekommen. Als er schließlich
auf dem Hof der Pignons angekommen war, hatte er deshalb nicht einmal
aus dem Auto steigen wollen. Am Ende war er nur ausgestiegen, um
sich später zu Hause nicht seiner eigenen Feigheit schämen
zu müssen. Schließlich war er Journalist und mit unterschiedlichen
Fragetechniken vertraut. Da musste er so einer Situation doch gewachsen
sein!
Doch, wie er jetzt feststellen musste, nutzten ihm seine Fragetechniken
und seine Professionalität gar nichts. Wie ein Idiot saß
er hier, starrte M. Pignon dumm an, und würde wahrscheinlich
von ihm in weniger als fünf Minuten ohne jede Information wieder
hinaus komplimentiert werden!
"Für wen arbeiten Sie?" fragte M. Pignon, nachdem
Scot nichts sagte.
"Für die Südwest", antwortete Scot.
"Aha, für eine Lokalzeitung", stellte M. Pignon fest.
"Eine Lokalzeitung, die sich an Leute, die am Atlantik wohnen,
richtet. Warum sind Sie dann hier? Ich glaube kaum, dass sich Ihre
Zeitung für unserer Belange interessiert."
"Manchmal sind die Dinge verwickelter, als sie auf den ersten
Blick scheinen", sagte Scot.
"Das sagten Sie bereits", sagte M. Pignon ungeduldig.
"Sehen Sie, ich habe meine Zeit auch nicht gestohlen. Wenn
Sie nichts mitzuteilen haben, gehen Sie bitte wieder."
"Warum haben Sie auf mich geschossen?" fragte Scot aus
einer plötzlichen Intuition heraus.
"Ich habe nicht auf Sie geschossen", sagte M. Pignon.
"Wenn ich das getan hätte, würden wir uns nicht mehr
unterhalten können. Ich habe lediglich einen Warnschuss in
die Luft abgegeben."
"Warum?"
"Weil ich Angst um meine Tochter hatte!" sagte M. Pignon.
"Schießen Sie immer gleich auf Besucher?" sagte
Scot und registrierte das Zusammenzucken seines Gegenübers.
"Nein, natürlich nicht!" sagte Henry Pignon und sah
ihn misstrauisch an. "Aber bei Ihnen hatte ich ein ungutes
Gefühl."
"Und warum?" bohrte Scot nach. "Vielleicht deshalb,
weil sie von jemandem bedroht werden und dachten, dieser Jemand
ich sei?"
Henry Pignon sah ihn abweisend an.
Endlich wusste Scot, wie er das Gespräch in Gang bringen konnte.
M. Pignon hatte vor irgend jemandem Angst! Und wer Angst hatte,
hatte auch Geheimnisse! Oder zumindest Bereiche, die er nicht an
die Oberfläche kommen lassen wollte. Das war der wunde Punkt
von M. Pignon und dadurch würde er ihn zum Sprechen bringen
können!
"Sagen Sie endlich, was Sie wollen und lenken Sie nicht vom
Thema ab!" sagte M. Pignon, dem es offensichtlich unangenehm
war, von Scot gemustert zu werden.
"Ich bin gerade mitten drin!" sagte Yves Scot. "Sie
haben vor irgendetwas Angst. Deshalb schießen Sie auf harmlose
Besucher!"
"Vielleicht sind Sie gar nicht harmlos?" sagte Henry Pignon
lauernd.
"Im Vergleich zu anderen bin ich wahrscheinlich sehr harmlos",
meinte Yves Scot.
Henry Pignon schaute seinen Gegenüber aufmerksam an. Wer war
dieser Yves Scot? Was wollte er von ihm? Und vor allem: Was wusste
er? Kannte er die Moks? Oder wusste er etwas über das Endlager?
Oder war er wegen etwas ganz anderem hier? Aber warum ritt er dann
auf seiner Angst herum?
Die Tür ging auf und Mignon brachte ein Tablett mit einem Wasserkrug
und zwei Gläsern herein.
"Danke Mignon!" sagte Henry.
Mignon nickte, stellte das Tablett auf dem Tisch ab und ging wieder
aus dem Zimmer.
Während Henry Yves Scot und sich selbst Wasser einschenkte,
sagte Scot:
"Ich bin einer gewissen Sache auf der Spur und weiß nicht,
ob sie etwas mit Ihnen oder Sanissage zu tun hat."
"Welcher Sache?" fragte Henry misstrauisch und nahm einen
Schluck Wasser.
"Leider darf ich nicht darüber sprechen!" sagte Scot.
"Zumindest so lange nicht, so lange ich nicht weiß, ob
ich Ihnen vertrauen kann."
Henry Pignon sah Yves Scot gespannt an. Doch Scot schwieg.
"Hat es etwas mit Atomkraft zu tun?" fragte Henry nach
einer Weile.
"Mit Atomkraft?" Scot runzelte die Stirn. "Wieso
denn mit Atomkraft? Nein, damit hat es absolut gar nichts zu tun!"
Erleichtert atmete M. Pignon aus. Scot war offensichtlich nicht
über die Pläne des Endlagers informiert! Und wusste er
nichts vom Endlager, wusste er sehr wahrscheinlich auch nichts von
den Moks! Er musste doch aus einem ganz anderen Grund hier sein!
Vielleicht wollte er einfach nur Informationen über die nächsten
geplanten Aktionen der GL? Aber warum rückte er dann nicht
einfach mit der Sprache raus?
Scot trank mit einem Zug sein Glas leer und fragte:
"Gab es in der letzten Zeit irgendwelche Komplikationen innerhalb
der GL?"
"Komplikationen innerhalb der GL?" fragte M. Pignon erstaunt.
"Wie kommen Sie darauf?"
"Wegen Ihrer Angst!" kam Scot auf ihr voriges Gespräch
zurück. "Irgendetwas
stimmt hier nicht!"
"Wenn es so wäre, würde ich ganz sicher nicht mit
Ihnen darüber sprechen!" sagte Henry Pignon. "Die
Internas der GL gehen Sie ganz sicher nichts an. Außerdem
sehe ich immer noch nicht, was Sie überhaupt von mir wollen!"
Scot stöhnte innerlich. Auf diese Tour kam er hier offensichtlich
doch nicht weiter. Er musste einen Trumpf ausspielen, er musste
Informationen rausrücken, sonst würde M. Pignon ihn wahrscheinlich
bald rauswerfen.
"Hat Ihre Angst vielleicht etwas mit zwei deutschen Kindern
zu tun?" fragte Scot deshalb.
"Welche deutschen Kinder?" versuchte M. Pignon lässig
zu klingen.
Doch Scot sah den nervösen, alarmierten Blick seines Gegenübers
und wusste sofort, dass er mit seiner Frage ins Schwarze getroffen
hatte!
"Wir haben Ferien, da wimmelt es in Frankreich nur so vor deutschen
Kindern", sagte M. Pignon.
"Selbst hier in Sanissage?" fragte Scot.
M. Pignon zuckte mit den Schultern.
"Schade, dass sie nichts von den beiden deutschen Kindern wissen!"
"Warum, was ist mit ihnen?" fragte Henry Pignon angespannt.
"Sie sind verschwunden!" behauptete Yves Scot, teils,
weil er es tatsächlich befürchtete, teils, um M. Pignon
aus der Reserve zu locken.
"Wann?" fragte M. Pignon reflexartig, und Scot hörte
Angst aus der Stimme des Mannes.
"Am letzten Dienstag!"
"Unmöglich", platzte es aus M. Pignon heraus. "Wir
haben sie erst am Donnerstag auf den Bahnhof gebracht. Sie sollten
wieder nach Deutschland zurück fahren!"
"Nur zur Sicherheit, dass wir wirklich von den gleichen Kindern
reden: Hießen die beiden Tom und Jenny?"
M. Pignon nickte resigniert. Er hatte sich dummerweise verplappert
und Scot würde ihm nicht mehr glauben, wenn er jetzt wieder
so tat, als ob er ganz andere Kinder gemeint hatte.
"Woher kennen Sie die Kinder?" fragte M. Pignon. Er wunderte
sich, warum ihm Tom und Jenny nichts von einem Yves Scot erzählt
hatten.
"Aus Rochefort", sagte Yves Scot. "Sie haben eines
Tages bei mir angerufen, weil sie für ihre Schülerzeitung
ein Interview mit einem Journalisten machen wollten."
"Ah ja", sagte M. Pignon erleichtert. "Jetzt weiß
ich, wer Sie sind! Sie sind der Journalist, der die Kinder ins Gefängnis
geschmuggelt hat! Die Kinder haben uns von Ihnen erzählt. Allerdings
haben Sie keinen Namen erwähnt, weshalb ich vorhin überhaupt
nicht an Sie gedacht habe, als Sie mir Ihren Ausweis gezeigt haben."
Scot nickte.
M. Pignon sah Yves Scot nachdenklich an. "Und, was wollen Sie
jetzt von mir?"
"Der Sache auf den Grund gehen!" sagte Scot. Er überlegte,
ob er Pignon vertrauen konnte und entschied sich schließlich
dafür. Die Kinder hatten dem Bauern wohl eh schon alles erzählt,
was sie mit ihm erlebt hatten, da würde er M. Pignon wahrscheinlich
eh keine großen Neuigkeiten mehr erzählen. Er würde
im Gegenzug hier aber vielleicht erfahren, was mit den Kindern passiert
war und warum die Nadel auf seiner Karte in Sanissage steckte. Denn
dass ein Zusammenhang zwischen dem Geheimdienst den Kindern und
den Bauern bestand, war so klar wie Kloßbrühe. Deshalb
fuhr er fort: "Ich werde sehr wahrscheinlich vom Geheimdienst
überwacht werde, seit ich mit den Kindern im Gefängnis
war. So etwas macht einen natürlich stutzig, und ich frage
mich, warum dieser Junge im Gefängnis so wichtig war, dass
ich jetzt vom Geheimdienst überwacht werde?"
"Und da kommen Sie einfach so zu uns herein spaziert?"
rief M. Pignon erregt. Er sprang auf und schaute aus dem Fenster.
Zum Glück sah er weder fremde Personen noch Fahrzeuge auf seinem
Hof. "Wir haben schon genug Probleme, da müssen Sie uns
nicht auch noch den Geheimdienst auf den Hals hetzen!"
"Kein Sorge!" sagte Scot. "Ich bin nicht mit meinem
eigenen Auto, sondern mit einem Mietwagen gekommen. Und mein Handy
habe ich zu Hause gelassen. Ich bin mir sicher, dass mich niemand
verfolgt hat!"
"Hoffen wir es!" sagte M. Pignon. "Ich kann Ihnen
übrigens nicht weiter helfen! Um den Jungen in dem Gefängnis
müssen Sie sich schon alleine kümmern. Wir haben nichts
mit ihm zu tun!"
"Dann erzählen Sie mir etwas von den deutschen Kindern!"
sagte Yves Scot.
"Was haben sie hier gemacht? Wirklich Urlaub, wie sie mir selbst
erzählt haben? Ich denke nicht! Und warum waren sie nur zwei
Tage hier? Woher kennen Sie die Kinder eigentlich?"
"Kein Kommentar!"
Mit dem Rücken zu Scot schaute M. Pignon aus dem Fenster und
schien nicht mehr ansprechbar zu sein.
Yves Scot stützte seinen Kopf auf die Hand und sah M. Pignon
abwägend an. Der Mann verheimlichte ihm etwas Wichtiges, und
dieses Wichtige hatte mit den Kindern zu tun! Und vielleicht auch
mit dem Jungen im Gefängnis. Denn hätten die beiden sonst
diesem Bauern von ihren Erlebnissen in Rochefort erzählt?
Während Scot sich die Dinge durch den Kopf gehen ließ,
passierte etwas sehr Merkwürdiges: Wie bei einem Kippbild,
bei dem man in ein und demselben Bild je nach Wahrnehmung zwei völlig
unterschiedliche Motive erkennen kann, veränderte sich auf
einmal Scots Perspektive auf die Kinder und kehrte alles um, was
er bisher in ihnen gesehen hatte. Nicht mehr er war es, der die
Kinder benutzt hatte, um an Informationen heran zu kommen. Sondern
sie waren es, die ihn benutzt hatten!
Plötzlich sah er glasklar, dass die Kinder nicht irgendwelche
x-beliebige Kinder aus Deutschland waren und ihre Begegnung alles
andere als zufällig gewesen war! Nein, sie war das Ergebnis
genauer Planung!
Was Scot allerdings nicht verstand, war, wer die Kinder zu ihm geschickt
hatte? Der Geheimdienst? Nein, das war zu verrückt! Es war
doch wohl hoffentlich verboten, Kinder als Spione einzusetzen? Hatte
dann die geheime Sekte, zu der auch der Junge im Gefängnis
gehörte, sie zu ihm geschickt? Schon möglicher! Und hieß
das dann, dass der Geheimdienst womöglich gar nicht in erster
Linie ihn, sondern die Kinder beobachtete? Aber warum? Wie hing
das alles zusammen?
"Möchten Sie noch ein Glas Wasser?" fragte Henry
Pignon. "Und dann muss ich dringend wieder aufs Feld!"
Scot nickte abwesend. Während M. Pignon zurück zum Schreibtisch
ging und Scot und sich selbst noch ein Glas Wasser einschenkte,
überlegte Scot sich fieberhaft, welche Informationen die Kinder
wohl ursprünglich von ihm hatten haben wollen? Was hatten sie
mit ihrem fingierten Interview in Erfahrung bringen wollen? Mit
dem Gefängnis-Jungen konnte es doch eigentlich nichts zu tun
haben? Denn schließlich hatten die Kinder nicht voraus sehen
können, dass er sie ins Gefängnis hatte schleusen wollen?!
Aber was war es dann? Irgendetwas war an dieser Sache höchst
merkwürdig. Irgendetwas passte überhaupt nicht zusammen!
Scot schwitzte und trank einen Schluck Wasser. Er musste mit den
Kindern sprechen! Am besten jetzt gleich! Er musste sie zur Rede
stellen. Er musste heraus finden, wie alles zusammen hing. Und nicht
zuletzt musste er wissen, ob es ihnen wirklich gut ging. Denn auch
wenn die beiden in etwas Kriminelles verwickelt waren, das sogar
den Geheimdienst auf den Plan gerufen hatte, so waren es doch vor
allem Kinder!
"Haben Sie schon Kontakt zu Tom und Jenny gehabt, seit sie
wieder in Deutschland sind?" fragte Scot M. Pignon mit belegter
Stimme.
M. Pignon schüttelte den Kopf.
"Woher wissen Sie dann, dass die beiden wirklich zu Hause angekommen
sind?" meinte Yves Scot. "Mir haben sie schließlich
auch gesagt, dass sie einen Tag länger in Rochefort bleiben
würden und pfft - waren sie verschwunden!"
"Das eine hat doch mit dem anderen nichts zu tun!" sagte
M. Pignon und lächelte. "Die Kinder hatten einfach keine
Lust mehr auf Rochefort!"
"Und wer sagt Ihnen, dass sie im Zug nach Hause nicht auch
plötzlich keine Lust mehr auf Deutschland hatten?"
"Also gut!" sagte Henry Pingon und griff kurz entschlossen
zum Telefonhörer. "Ich sehe, dass Sie keine Ruhe lassen,
bis Sie etwas von den Kindern erfahren haben. Es kann nicht schaden,
bei ihnen zu Hause anzurufen. Allerdings werde ich das tun, denn
ich gebe Ihnen ganz sicher nicht deren Telefonnummer! Und wenn Sie
mit den Kindern gesprochen und sich überzeugt haben, dass es
ihnen gut geht, gehen Sie bitte! Ich kann Ihnen in Ihrer Sache nicht
weiter helfen."
M. Pignon kramte in seiner Schreibtischschublade und zog einen verknitterten
Zettel hervor. Er nahm den Hörer ab und wählte die Nummer
von Tom so, dass Scot keinen Blick darauf werfen konnte.
"Hallo?" sagte M. Pignon. "Hier spricht M. Pignon.
Sprechen Sie französisch? Ja? Sehr schön! Könnten
Sie mir bitte Tom an den Apparat geben? ... Ich habe ihn im Urlaub
kennen gelernt ... Er ist noch nicht zurück? ... Immer noch
im Ferienlager? ... Ah, danke! ... Richten Sie ihm bitte schöne
Grüße aus! Er soll sich bitte melden, sobald er wieder
zu Hause ist, ja? ... Ja, er hat meine Nummer. Vielen Dank! Auf
Wiedersehen!"
M. Pignon legte auf und sah Yves Scot, halb verwundert, halb besorgt
an. "Tom ist tatsächlich noch nicht zu Hause angekommen!"
"Dann probieren Sie es bei Jenny!" schlug Scot vor.
Henry Pignon schüttelte den Kopf. "Ich möchte keine
Panik erzeugen. Es wirkt sicher komisch, wenn plötzlich irgendein
Mann aus Frankreich bei beiden Eltern anruft und sich nach Tom und
Jenny erkundigt. Bevor wir selber nicht wissen, wo die Kinder sind,
lassen wir die Eltern aus dem Spiel!"
"Aus welchem Spiel?" fragte Scot. "Möchten Sie
mir nicht endlich erzählen, was es mit den Kindern auf sich
hat?"
M. Pignon sah Scot schweigend an.
"Salut!" rief eine fröhliche Stimme im unteren Stockwerk,
dann Gekichere und Gepoltere. Offensichtlich war Mme Pignon mit
den Kindern vom Einkaufen zurück gekommen. Am liebsten hätte
Henry die Unterhaltung mit Scot hier abgebrochen, wäre zu seiner
Familie gegangen, hätte seiner Frau beim Ausräumen des
Autos geholfen und wäre dann selbst wieder aufs Feld gefahren.
Aber nachdem zumindest Tom nicht zu Hause angekommen war, dieser
Journalist also mit seiner Vermutung Recht gehabt hatte, und er
vielleicht auch noch mehr über die Kinder oder sogar das Endlager,
wusste, schien dies nicht mehr möglich zu sein.
Doch wie sollte er sich weiter mit ihm unterhalten? Sollte er ihm
etwa vertrauen? Er war Journalist und würde schneller einen
Artikel über die Moks geschrieben haben, als er kucken konnte.
Und wusste er überhaupt, ob dieser Mann wirklich Yves Scot
war? Vielleicht war dieser Mann ja selbst vom Geheimdienst?
Scot sah Pignon auffordernd an, aber Pignon klebte die Zunge am
Gaumen fest.
"Salut, Henry!" Claire Pignon platzte fröhlich ins
Zimmer. "Mignon sagte mir, dass du hier bist und Besuch hast!"
Sie gab ihrem Mann einen Kuss und sah Yves Scot fragend an.
"Salut!" sagte Scot. "Ich bin Yves Scot, ein Journalist
aus Rochefort und ein Bekannter von Tom und Jenny!"
"Salut!" sagte Claire erstaunt. "Ich bin Claire!
Sind Sie der Journalist, der Tom und Jenny ins Gefängnis geschleust
hat?"
Scot nickte.
"Und was führt Sie hier her?!"
"Das will er uns nicht sagen!" sagte Henry. "Genauso
wenig wie wir ihm sagen können, was uns bedrückt."
"Tom ist nicht in Deutschland angekommen", wandte sich
Scot an Claire Pignon. Wenn er Henry nicht knacken konnte, dann
vielleicht seine Frau.
"Was heißt das?" wandte sich Claire an Henry. "Nicht
angekommen?"
"Keine Ahnung", sagte Henry. "Ich habe auf Scots
Bitte hin gerade mit Toms Vater telefoniert. Der sagte mir, dass
Tom immer noch im Ferienlager ist."
"Das kann doch nicht sein!" sagte Claire. "Er hätte
schon Freitag früh wieder zu Hause sein müssen! Und was
ist mit Jenny? Weiß sie, wo Tom ist?"
"Ich möchte die Mutter erst gar nicht anrufen!" sagte
Henry. "Falls die Eltern sich je kurz schließen, werden
sie sicher besorgt sein."
"Zu Recht!" sagte Claire, "aber dann müssen
wir heraus finden, wo sie sind!"
"Und wie soll das gehen?" fragte Henry. "Sie können
sonst wo sein! Vielleicht hatten sie einfach noch Lust auf Urlaub?!
Und da ihre Eltern davon ausgegangen sind, dass sie im Ferienlager
sind, können sie ihre freie Zeit einfach nur ausgenützt
haben. Ich hätte das in ihrem Alter vielleicht auch gemacht."
"Und was, wenn sie nicht freiwillig Urlaub machen?" fragte
Claire. "Ihnen kann sonst was passiert sein!"
"Was sollen wir denn deiner Meinung nach tun?" fragte
Henry. "Die Polizei können wir schlecht informieren! Erstens
würden wir dort in echte Erklärungsnöte kommen, weshalb
wir die Kinder überhaupt kennen, zweitens würde die Polizei
gleich die Eltern informieren und drittens wissen wir nicht, ob
und welche Informationen die Polizei an gewisse Leute weiter leitet!
Am Ende wird uns noch das Verschwinden der Kinder in die Schuhe
geschoben!"
"Und Sie?" wandte sich Claire an Scot. "Welche Idee
haben Sie?"
"Ich weiß nicht einmal, worum es geht!" sagte Scot.
"Ihr Mann möchte mich nicht einweihen."
"Die Kinder haben uns Informationen geliefert", erklärte
Claire.
"Claire, du vergisst, dass er kein Eingeweihter ist!"
sagte Henry. "Er darf nichts wissen! Außerdem ist er
Journalist und wird gleich alles an die große Glocke hängen!"
"Das ist mir schon klar!" sagte Claire. "Aber die
Kinder sind verschwunden. Ihnen zuliebe müssen wir etwas unternehmen!
Selbst wenn sich danach heraus stellen sollte, dass sie es sich
nur haben gut gehen lassen! Aber wir davon dürfen wir nicht
ausgehen, nicht in dieser Situation. Ich frage mich allerdings,
wie wir ihnen helfen können. Wo sollen wir suchen und wie?"
"Richtig!" sagte Henry, "Wir können nichts unternehmen!
Wir haben unsere eigenen Probleme!" Am besten warten wir erst
einmal ab!"
"Und wenn es dann zu spät ist?" sagte Claire. "Das
können wir Tom und Jenny nicht antun! Wenn uns schon die Hände
gebunden sind, so kann uns ein Journalist vielleicht dabei helfen,
die beiden zu suchen! Ein Journalist hat auch ganz andere Möglichkeiten
der Recherche! Übrigens kann uns auch in der anderen Sache
ein Journalist von Nutzen sein! Oder hast du vergessen, dass die
Bauern der GL erst mal genug von uns haben?! Dieser Journalist dagegen
interessiert sich offensichtlich für die Kinder und sehr wahrscheinlich
auch für unsere Probleme! Weihen wir ihn also wenigstens in
die sichtbaren Dinge ein! Vielleicht kann er uns ja irgendwie helfen!"
"Und was, wenn er gar kein Journalist ist?" sprach Henry
seine Befürchtungen offen aus. "Oder was, wenn er zwar
Journalist ist, aber für die Gegenseite arbeitet?"
"Würde er dann hier ganz offiziell vor uns sitzen?"
stellte Claire eine Gegenfrage. "Würde er dann nicht heimlich
an Information heran kommen wollen?"
Henry zuckte ratlos mit den Schultern.
"Also", sagte Claire zu Scot. "Kommen wir zu Sache:
Die Kinder haben uns die Information geliefert, dass in einer Höhle
im nächsten Tal von hier ein Endlager für radioaktiven
Müll entstehen soll. Falls sie verschwunden sind, dann sicher
deshalb, weil sie uns die Informationen gebracht haben. Schon deshalb
sind wir in ihrer Schuld und müssen ihnen helfen! Dann haben
wir natürlich auch das riesige Problem mit dem Endlager. Das
müssen wir und die GL natürlich verhindern! Aber die Bauern
der GL glauben uns nicht, dass im nächsten Tal im Wald ein
Endlager entstehen soll. Und zwar deshalb, weil sie die Höhle
nicht kennen, und sich deshalb nicht vorstellen können, wohin
der radioaktive Müll gelagert werden soll. Keine Höhle,
kein Endlager, kein Endlager, kein Protest."
"Und warum zeigen Sie den Bauern nicht einfach die Höhle?"
fragte Scot verwundert.
"Das haben wir gestern Nacht versucht", sagte M. Pignon.
"Aber die Zone um die Höhle ist plötzlich abgesperrt.
Angeblich, weil sich dort gefährliche Eichenspinner eingenistet
haben. Dabei gibt es dort so gut wie keine Eichen!"
"Und woher kennen Sie die Höhle, wenn sie sonst niemand
anders kennt?" fragte Scot interessiert. "Sind Sie Höhlenforscher?"
"Nein", sagte M. Pignon. "Aber wir haben die Höhle
vor langer Zeit bei einem Spaziergang entdeckt. Daher kennen wir
sie."
"Aha!" sagte Scot skeptisch. "Bei einem Spaziergang!
Und außer Ihnen hat nie jemand zuvor die Höhle entdeckt?
Und sie ist auch auf keiner Karte jemals vermerkt worden? Das klingt
unglaublich!"
Claire zuckte mit den Schultern.
"Gut!" sagte Scot zögernd. "Da in diesem Fall
einige Dinge unglaublich sind, bin ich bereit, wenigstens so zu
tun, als glaube ich Ihnen. Trotzdem frage ich mich, woher ausgerechnet
zwei Kinder aus Deutschland wissen, dass dort ein Endlager entstehen
soll?"
"Die Kinder haben Kontakte, die über das normal Sichtbare
hinaus gehen!" sagte M. Pignon schwammig. "Mehr können
wir Ihnen nicht sagen."
"Kontakte wie den rätselhaften Jungen im Gefängnis?"
mutmaßte Scot.
M. Pignon schaute ihn blicklos an, aber Mme Pignon nickte.
Irgendwo ganz hinten in Scots Erinnerungen klingelte es. Hatte Tom
ihm nach seinem Besuch im Gefängnis nicht gesagt, dass der
Junge "Angst vor gelber Farbe" habe? Und konnte diese
Angst nicht Angst vor Atomkraft bedeuten? Immerhin wurde der Atommüll
in gelbe Fässer gepackt, bevor er endgelagert wurde. Hatten
die Kinder also ihre Information über das Endlager von dem
rätselhaften Jungen im Gefängnis bekommen?
"Hm", sagte Scot langsam. "Ich glaube, allmählich
fügen sich die Dinge auch für mich zusammen. Der Junge
im Gefängnis ist wahrscheinlich ein Mitglied einer geheimen
Sekte. Das habe ich übrigens von Anfang an in Erwägung
gezogen. Diese Sekte lebt nun womöglich in der Nähe der
Höhle, weshalb Sie beide sowohl die Sektenmitglieder als auch
die Höhle kennen. Die Kinder aus Deutschland sind wahrscheinlich
schon länger mit Ihnen bekannt und wurden wahrscheinlich von
Ihnen über mich, einem doofen, nichtsahnenden Journalisten,
ins Gefängnis geschleust, um möglichst unauffällig
mit dem Jungen reden zu können. Wie Sie vorhersehen konnten,
dass ich ins Gefängnis gehen würde, ist mir zwar schleierhaft,
tut aber im Moment wohl nichts zur Sache. Im Gefängnis haben
Tom und Jenny von dem Jungen erfahren, dass in der Höhle ein
Endlager entstehen soll. Die Sektenmitglieder wollen verhindern,
dass neben ihren Häusern ein Endlager für radioaktiven
Müll entsteht, weshalb Sie als Organisation, die sich für
Gesunde Landwirtschaft einsetzt, Ihnen helfen wollen."
"Gut gezielt, aber doch nicht getroffen", sagte M. Pignon.
"Tatsächlich zielen die meisten Ihrer Vermutungen haarscharf
daneben", sagte Claire. "Aber bevor Sie dieses krude Wissen
in der Welt verbreiten, sollten wir Sie lieber für unsere Sache
vereinnahmen! Ich hoffe, das siehst du genauso, Henry?"
Henry zuckte mit den Schultern, nickte aber danach.
Scot sah Claire Pignon aufmerksam an. Die Sache fing an, mehr als
spannend zu werden!
"Er soll uns versprechen, dass er nichts veröffentlicht,
bevor wir ihm grünes Licht dafür geben!" sagte Henry.
"Am besten schriftlich!"
"Gute Idee!" sagte Claire und schaltete den Computer an.
"Und er soll uns helfen, die deutschen Kinder wieder zu finden!
Am besten setzen wir gleich einen Vertrag auf. Oder sind Sie nicht
an diesem Deal interessiert?"
"Doch, sehr", sagte Scot, "Aber wenn Sie mein Vertrauen
ganz gewinnen wollen, geben Sie mir am Besten das Exklusivrecht
an der Geschichte. Dann stehe ich zeitlich nicht unter Druck und
gehöre ganz Ihnen!"
"Im Moment dürfen Sie die Geschichte auf gar keinen Fall
veröffentlichen!" sagte Claire bestimmt.
"Aber irgendwann muss die Geschichte ja wohl mal an die Öffentlichkeit?"
sagte Scot. "So ein Endlager ist schließlich nicht Ihre
Privatsache!"
"Nicht unsere, aber vielleicht von jemand anderem", sagte
Mme Pignon rätselhaft. "Die Veröffentlichung hängt
von der Entwicklung der Dinge ab. Im besten Fall, also wenn wir
das Endlager verhindern werden können, wird niemals jemand
etwas von der Sache erfahren!"
"Außerdem können wir Ihnen kein Exklusivrecht an
der Geschichte geben! Wir haben kein Recht auf diese Geschichte!"
warf Henry Pignon ein.
Scot stöhnte. Unter diesen Bedingungen konnte er nicht arbeiten!
"Wenn Sie sich nicht auf unsere Bedinungen einlassen, gehen
Sie jetzt besser!" sagte M. Pignon. "Noch wissen Sie viel
zu wenig, um daraus eine auch nur halbwegs glaubhafte Story entwickeln
zu können."
Scot schüttelte den Kopf und dachte dabei an seine Kollegen,
denen der Stoff, den er bis hier erfahren hatte, völlig ausreichen
würde, irgendetwas über diese bisher unentdeckte Höhle,
ein abgesperrtes Waldgebiet und Gerüchte über ein geplantes
Endlager in die Welt zu setzen.
Aber ihm? Reichte ihm dieses Gerücht auch aus? Eher nicht!
Ihm würde so ein Artikel vor allem Bauchschmerzen bereiten.
"Sind Sie jetzt dabei oder nicht?" fragte M. Pignon ungeduldig,
und Mme Pignon sah ihn eindringlich, fast bittend an.
Scot dachte an seinen Urlaub, den er für diese verrückte
Geschichte würde opfern müssen und an Yvette, die sich
über diese Aktion alles andere als freuen würde. Doch
vor diese beiden Gedanken drängte sich der Wunsch, einmal in
seinem Leben etwas von Bedeutung zu machen. Einmal etwas zu machen,
das über den gewöhnlichen Alltagsmist hinaus ging! Etwas,
bei dem er gefordert war und über sich hinaus würde wachsen
müssen, und sei es nur dadurch, dass er einmal anderen half,
ohne zu wissen, ob ihm das selbst irgendetwas einbrachte.
Und deshalb sagte er, ohne lange zu zögern, und mit ein klein
wenig Pathos: "O.K. Ich bin dabei!"
Claire nickte erleichtert und gemeinsam setzten sie ein Schreiben
auf, in dem Scot versprach, bei der Suche nach den Kindern zu helfen
und alles, was er hier erfahren würde, so lange geheim zu halten,
wie die Bauern es wollten. Allen war klar, dass dieses Schreiben
eher Kinderkram war und bei einem Verstoß seitens Scots vor
keinem Gericht der Welt Bestand haben würde. Trotzdem fühlte
sich Scot daran gebunden. Denn erstens war ihm seine Schweigepflicht
als Journalist gegenüber seinen Informanten wichtig, und zweitens
hatte er vor sich selbst den Anspruch, ein aufrichtiger Mensch zu
sein.
"Die ersten Laster kommen!" sagte Leutnant Picot ins
Funktelefon. Er saß auf einem Jägerstand zwischen Landstraße
und neu errichtetem Waldweg und blickte durch den breiten Schießschlitz
nach draußen.
"Sind alle auf ihrem Posten?" fragte Capitaine Mallegol.
"Ja."
"Keine Eindringlinge bemerkbar?"
"Nein!"
"Dann alles wie abgesprochen."
"Verstanden!"
Leutnant Picot steckte sein Funktelefon weg und ließ seinen
Blick nochmals rundum schweifen, ob irgendjemand im Wald auftauchen
würde. Als er sein Gesichtsfeld gesichert hatte, beobachtete
er die drei, sich auf der Straße nähernden Lastwagen.
Hoffentlich wurde niemand auf den Konvoi aufmerksam! Die knallweißen
Castoren mit ihrer auffallenden secheckigen Form, die die Fässer
enthielten, waren zwar unter grün-braunen Planen versteckt
worden. Trotzdem würde sich möglicherweise irgendjemand
fragen, warum mehrere schwer beladene Laster in den Wald einbogen.
Wenn die Lastwagen erst einmal im großräumig abgesperrten
Bereich der Gendarmerie sein würden, wäre die Gefahr ihrer
Entdeckung gering. Aber bis dahin waren es noch mehrere hundert
Meter, und die galt es von ihm und den anderen Mitarbeitern der
Gendarmerie Nationale zu überbrücken. Jetzt bogen die
Laster von der regulären Straße auf den neu geschlagenen
Waldweg ab. Hoffentlich war der Waldweg nicht zu eng. Hoffentlich
kippten die Laster bei der engen Kurve nicht um. Denn dann hätten
sie nicht nur ein Problem mit den Wagen, sondern auch eines mit
dem radioaktiven Material.
Der erste Lastwagen fuhr in die Kurve. Er schien die Kurve gut zu
packen. Er musste zwar einmal zurück setzten, doch dann schaffte
er die Kurve und konnte weiter fahren. Jetzt der zweite Laster.
Er holte vor der Kurve etwas weiter aus und kam dadurch etwas vom
engen Waldweg ab. Verdammt, jetzt fuhr er mit den rechten Rädern
sogar in einen kleinen Graben! Der Motor heulte auf und der Wagen
schwankte leicht. Leutnant Picot beobachtete angespannt, wie der
Laster mit großem Geheul aus der Rinne fuhr. Geschafft!
Der dritte Fahrer des Castorwagens hatte glücklicherweise keinerlei
Probleme mit dem Weg. Er hielt sich von dem Graben fern, fuhr die
Kurve langsam aber sicher und musste seine Spur auch nicht mehr
korrigieren.
Bald waren alle drei Laster außerhalb der gefährlichen
Zone und damit auch aus Leutnant Picots Blickfeld. Der Leutnant
sah auf seine Uhr. Die nächsten Laster würden erst in
zwei Stunden kommen. So lange würde es brauchen, bis die Laster
ihr Material vor der Höhle ausgeladen haben würden. Und
mehr Laster passten nicht in die Nähe des Höhleneingangs.
In der Zwischenzeit würden er und mehrere Sergeants aufpassen,
dass hier niemand in der Gegend herum schlich und auf ihre Operation
aufmerksam werden würde. Vom Capitaine hatten sie die Weisung
erhalten, alle Personen unverzüglich mit dem Hinweis auf eine
lokale, vorgezogene Jagdsaison aus dem Gebiet zu entfernen und bei
anhaltend fehlender Einsicht notfalls zu erschießen. Bei der
Jagd kam es immer wieder vor, dass Menschen erschossen wurden, da
würden ein paar zusätzliche Jagdopfer niemandem auffallen.
Schwieriger war es da schon, den Personen die Vorverlegung der Saison
zu erklären.
"Kinder mit Hund im Wald!" meldete Sergeant Bonnet. "Kurz
vor der Absperrung auf meiner Seite! Soll ich mich kümmern?"
"Ja!" sprach Leutnant Picot ins Funkgerät. "Aber
nur im äußersten Notfall schießen!"
"Klar! Verstanden!"
Picot hielt sich seinen Feldstecher vor die Augen und suchte Bonnet
und die Kinder. Bonnet schien allerdings seine Position leicht verändert
zu haben, denn er war nicht mehr zu sehen oder hinter mehreren Bäumen
und einem kleinen Hügel verschwunden. Hoffentlich verbockte
Bonnet diese Sache nicht. Immerhin war er noch nicht lange bei der
Gendarmerie.
Während Picot überlegte, ob er unerlaubter Weise seinen
Posten verlassen sollte, um zu Bonnet zu gehen, meldete Bonnet über
das Funkgerät, dass die Kinder die Geschichte von der Jagd
geglaubt und beinahe panikartik wieder zurück rennen wollten.
Er habe sie allerdings den neuen Waldweg entlang geschickt, damit
sie von ihnen besser im Auge behalten werden konnten. Der Hund der
Kinder war an der Leine gewesen, und so hatte er nicht erst eingefangen
werden müssen.
Picot legte das Funkgerät weg und schaute durch den Feldstecher.
Tatsächlich, auf der Hügelkuppe hüpften drei kleine
Punkte auf ihn zu. Die Punkte kamen schnell näher, wurden größer
und strichartiger. Bald waren sie als zwei, in etwa gleich große
Kinder und als ein kleiner, terrierartiger Hund erkennbar. Als die
Kinder noch einige Meter von seinem Hochstand entfernt waren, rief
das Mädchen: "Nicht schießen, bitte nicht schießen!
Wir haben nicht gewusst, dass die Jagdsaison jetzt schon begonnen
hat!"
"Habt keine Angst!" sagte Leutnant Picot und legte den
Feldstecher bei Seite. "Ich warte ganz sicher, bis ihr weg
seid. Außerdem habe ich gerade überhaupt kein Wild vor
meiner Flinte!"
"Vielen Dank, Monsieur!" rief das Mädchen und rannte
an seinem Hochstand vorbei.
Den Jungen hatten dagegen die Rede des vermeintlichen Jägers
mutig gemacht. Er blieb mit dem Hund unter ihm stehen und stellte
fest: "Sie haben ja gar kein Gewehr!"
"Hier ist mein Gewehr!" sagte Leutnant Picot und hob seine
Handfeuerwaffe nach oben.
"Was ist das denn für ein Ding auf dem Gewehr?" fragte
der Junge.
"Das ist ein Zielfernrohr!" sagte Leutnant Picot. "Wenn
da ein Wildschwein oder ein Reh weiter weg ist, kann ich es durch
mein Zielfernrohr immer noch sehen. Und ich kann unterscheiden,
ob es wirklich ein Tier oder ein Mensch ist."
"Komm jetzt endlich!" rief das Mädchen aus einiger
Entfernung. "Im Wald gibt es nicht nur diesen einen Jäger!
Du hast doch von dem anderen gehört, dass der ganze Wald voll
von ihnen ist!"
"Gleich!" rief der Junge. "Er soll mir nur noch eine
Frage beantworten ... du kannst ja schon mal voraus gehen!"
Der Hund bellte und zog an der Leine.
"Warum macht Ihnen das Töten von Tieren Spaß?"
der Junge reckte den Kopf zu ihm hoch und sah ihn herausfordernd
an.
Leutnant Picot überlegte, was er ihm antworten sollte, doch
ihm fiel keine unverfängliche Antwort ein.
Der Hund bellte aufgeregt und das Mädchen rief immer wieder
nach dem Jungen.
"Geh mit deiner Freundin nach Hause!" sagte Picot schließlich.
"Die Jagd hat begonnen!"
"Das ist nicht meine Freundin, sondern meine Schwester!"
sagte der Junge. "Und ich weiß, warum sie gerne auf Tiere
schießen!"
"Warum denn?" fragte Picot belustigt.
"Sie sehen gerne Blut!" sagte der Junge und lachte. "Ich
übrigens auch. Aber nicht Tierblut, sondern Menschenblut!"
Der Junge zielte mit den Armen auf Picot, machte "Bum! Bum!"
und lief dann lachend, den bellenden Hund hinter sich her ziehend,
zu seiner Schwester.
Während Leutnant Picot sich mit dem Jungen unterhalten hatte,
war einige Meter hinter seinem Hochsitz ein Mann durch das Unterholz
geschlüpft. Mit klopfendem Herzen schlich er hinter Büschen
und Baumstämmen Richtung Absperrband, immer darauf bedacht,
von keinem der als Jäger verkleideten Gendarme bemerkt zu werden.
Die Bauern hatten ihm eine Karte gezeichnet, die ihm einen geheimen
Weg zur Höhle abseits der neuen Schneise zeigte. Er konnte
nur hoffen, dass die Gendarme ihre Konzentration vor allem auf das
Gebiet um die neu geschlagene Schneise und nicht auf den Wald dahinter
richteten.
Scot, denn kein anderer war der Mann, versteckte sich hinter einem
Busch, um nochmals einen Blick auf die Karte werfen zu können.
Wenn er die Karte richtig interpretierte, sollte er erst in einem
halben Kilometer scharf nach links zu einem kleinen Fluss abbiegen,
und von dort im Schutz des dichten Gebüsches, das dort wuchs,
in einem großen Bogen um den eigentlichen Weg in Richtung
Höhleneingang gehen. Die Pignons hatten ihm geraten, möglichst
weit weg vom Höhleneingang zu bleiben und nur auf den gegenüber
liegenden Hang zu klettern. Laut den Pignons fiel der Hang auf halber
Höhe etwas nach hinten, bildete also eine Art Falte, und würde
ihm so Sichtschutz von unten geben. Gleichzeitig würde er von
dort oben einen guten Rundumblick auf den Höhleneingang und
die Lastwagen haben.
Der Weg von hier zum geheimen Weg entsprach in etwa der Entfernung
des Absperrbandes. Er würde also erst hinter dem Absperrband
einen großen Bogen um die Gendarme schlagen können.Vorausgesetzt
natürlich, dass sie sich nicht ohnehin überall positioniert
hatten.
Scot faltete die Karte zusammen und sah hoch. Merde! Durch den Busch
sah er, dass nur wenige Meter von ihm entfernt ein Gendarm stand!
Scot hielt die Luft an. Hatte der Gendarm ihn entdeckt? Nein, es
sah nicht so aus. Der Gendarm suchte zwar etwas, aber nicht ihn.
Jetzt machte der Gendarm wieder ein paar Schritte zurück und
drehte sich mit dem Rücken zu Scot. Breitbeinig stand er da
und gab einen wohligen Laut von sich. Ah! Der Gendarm musste offensichtlich
nichts anderes als pinkeln! Kurz danach stapfte er wieder davon
auf seinen alten Posten.
Scot atmete erleichtert aus, wartete noch ein wenig und schlüpfte
dann weiter Richtung Absperrband.
"Irgendwelche Personen gesichtet?" fragte Capitaine Mallegol.
"Zwei Kinder mit einem Hund", gab Leutnant Picot Auskunft.
"Sie haben den Wald ohne Probleme wieder verlassen. Sonst keine
Vorkommnisse."
"Gut. Ende!" Capitaine Mallegol nickte zufrieden. Offensichtlich
waren keine Bauern im Anmarsch. Der Kommandant hatte ihn vor dem
Einsatz in Kenntnis gesetzt, dass auf alle Fälle das Eindringen
der Bauern verhindert werden sollte. Allerdings nicht wie bei den
einzelnen Personen im Notfall mit Waffengewalt, sondern immer nur
mit Festnahmen. Sollte es den Bauern trotzdem gelingen, bis zur
Höhle vorzudringen, sollte heute bei der Verladung der Einsatz
sofort abgebrochen werden. Bei der Einlagerung aller weiterer Fässer
in den nächsten Tagen sollte der Einsatz allerdings fortgesetzt
werden. Diese Weisung war ihm unverständlich, aber Befehl war
Befehl. Nun, im Moment brauchte er sich darüber glücklicherweise
nicht den Kopf zu zerbrechen, denn die Bauern waren offensichtlich
nirgends zu sehen.
Bisher lief überhaupt alles nach Plan. Die Laster waren pünktlich
eingetroffen. Das Ausladen des ersten Lasters dauerte kürzer
als gedacht und die Moks hatten die Fässer wie verabredet tiefer
in die Höhle eingelagert. Zwar hatten sie bisher keinen der
Moks zu Gesicht bekommen. Aber der erste Höhlenraum war bald
frei geräumt gewesen, und sie hatten wieder neue Fässer
einlagern können.
Soct lag auf seiner Anhöhe im Schutz mehrere Farnstauden und
spähte gespannt auf die Szene am gegenüber liegenden Hang.
Mehrere Männer, die wie Forstarbeiter gekleidet waren, standen
vor dem Höhleneingang und schienen auf irgendetwas zu warten.
Über ihnen, sozusagen auf dem Höhleneingang, standen Gendarme.
Sie hielten Gewehre im Arm, sahen im Moment aber recht entspannt
aus. In der Schlucht unter ihm fuhr jetzt ein brauner Laster weg.
Wahrscheinlich war er bereits entladen worden. Gelbe Fässer
mit schwarzem Zeichen sah Scot keine, aber sie waren wohl bereits
in die Höhle geschafft worden.
Nachdem der eine Laster ganz verschwunden war, kam Bewegung in die
Gendarme. Ein anderer Laster, der irgendwo in der Nähe geparkt
haben musste, kam den Hang hochgefahren und hielt unterhalb der
Felstreppe, die zum Höhleneingang führte. Die Gendarme
winkten dem Fahrer und passten auf, dass der Wagen an der richtigen
Stelle zu stehen kam.
Scot zog vorsichtig seine Analogkamera aus seiner Fototasche. Möglichst
bewegungslos schraubte er das Teleskopobjektiv an die Kamera. Dann
schob er die Kamera so weit durch den Farn, dass die Linse zwar
nicht verdeckt wurde, die Kamera selbst aber nicht zu sehen war.
Scot konnte nur hoffen, dass ihn niemand bemerkte! Denn wer wusste,
was diese Gendarmen machen würden, wenn sie ihn entdeckten?
Mit ihren Waffen sahen sie nicht so aus, als ob sie lange zögern
würden, zu schießen. Besser nicht daran denken!
Scot fotografierte die Gendarmen, den parkenden Laster, die Forstarbeiter
und immer wieder den Höhleneingang.
Ah, jetzt tat sich etwas! Vom Laster wurde an der Rückseite
die grün-braune Plane etwas zur Seite geschoben und eine dahinter
liegende Türe geöffnet. Ein Arbeiter stieg auf den Laster
und ein anderer fuhr eine Hebebühne an den Lastwagen heran.
Aufgeregt machte Scot ein paar Fotos. Als er die Türe mit seinem
Objektiv heran zoomte, sah er es: Das erste gelbe Fass mit dem internationalen
schwarzen Warn-Zeichen für radioaktive Strahlung!
Die Bauern hatten also Recht gehabt, nein, die Kinder hatten Recht
gehabt! Und er, Scot, hatte gut daran getan, ihnen zu glauben!
Das war sicher die beste Story, die er kriegen konnte! Nein, das
hier war die beste Story, die jeder kriegen konnte! Direkt vor seinen
Augen passierte einer der größten, ja vielleicht sogar
der größte Umweltskandal Frankreichs und er bekam ihn
auf die Linse!
Aufgeregt schoss Scot ein Bild nach dem anderen. Ein Foto, wie der
Arbeiter das gelbe Fass auf die Hebebühne rollt. Ein Foto von
dem Fass auf der Hebebühne. Ein Foto von dem Arbeiter, der
das Fass unten in Empfang nahm. Scot klickte, wie das Fass von Arbeiter
zu Arbeiter gereicht wurde, wie es vor der Höhle zu stehen
kam und wie es schließlich im Höhleneingang verschwand.
Dann fotografierte er die Fässer, die während dessen aus
dem Castorbehälter ausgeladen worden waren und neben dem Lastwagen
standen. Die ungläubigen Bauern der GL würden Augen machen,
wenn er ihnen dieses Material liefern würde!
Scot war so in das Fotografieren vertieft, dass er darüber
fast die Gefahr vergaß, selbst entdeckt zu werden. Plötzlich
krachte es über ihm, und er fuhr erschrocken zusammen. Im Baum
raschelte es, dann fiel etwas neben ihm zu Boden. Zum Glück
war es nur ein Tannenzapfen! Wahrscheinlich von einem Vogel oder
Eichhörnchen abgebrochen. Erleichtert beugte sich Scot wieder
zu seinem Fotoapparat, war aber nicht mehr so konzentriert wie zuvor.
Nach ein paar weiteren Klicks merkte er außerdem, dass der
Film voll war. Sollte er ihn wechseln oder lieber gehen?
Genug Material für die Bauern hatte er eigentlich. Oder sollte
er warten, ob er vielleicht doch noch einen Mok vor die Linse bekam?
Das wäre natürlich spektakulär! Andererseits hatte
er den Pignons versprochen, die Moks aus dem Spiel zu lassen und
sich nur um die Höhle und die falschen Forstarbeiter zu kümmern.
Nach einigem Überlegen packte Scot deshalb die Kamera in seine
Tasche zurück und verließ möglichst unauffällig
seinen Posten.
Ende
Teil 10
Die Fortsetzung des Romans könnt ihr
in der nächsten Rossipotti-Ausgabe
lesen!
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