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Rossipottis 11 Uhr Termin
* * *
Zeitlose Modernität
von Christoph Gross Ich befinde mich
An einem Ort, wo
Ich Angst haben
Muss, unversehens in
Den Boden einzubrechen:
Vom Boden verschluckt
Zu werden... Ich sehe
Mehrere eigentümliche Pflanzen.
Ich befinde mich
In einer unwirklichen,
In einer magischen Welt. -
Das Schicksal dieser Welt
Liegt in meinen Händen;
Ich bin diese Welt!
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Illustration: Christoph Gross |
Christoph Gross hat Rossipotti das illustrierte Gedicht netterweise zur Verfügung gestellt.
Vielen Dank!
* * *
Gruselfaktor:
Höhere Wesen
von Rolf Hannes
Neulich fand ich in einem Stoß Altpapier ein Schulheft.
Flüchtig blätterte ich es durch und entdeckte nach dem
üblichen Schulkram am Ende des Hefts diese Geschichte:
Im Haus meiner Großeltern hab ich seit jeher ein Zimmer,
das nur mir gehört. Es liegt im ersten Stock, wo auch das Arbeitszimmer
meines Großvaters ist. Dieses Zimmer ist voller Bücher,
rings an den Wänden und in allen Ecken und sogar auf dem Boden
liegen sie. Dort, zwischen all seinen Büchern ist er vor einigen
Tagen gestorben, ohne daß es jemand gemerkt hat. Meine Großmutter
sagt, sie habe ihn morgens mit einem Buch neben sich friedlich sitzend
in der Sofaecke gefunden. Wenn ich meine Ferien bei meinen Großeltern
verbrachte, war ich nirgendwo lieber, als im Arbeitszimmer meines
Großvaters. Es übt einen unwiderstehlichen Reiz auf mich
aus, weil mich die vielen Bücher anziehen wie nichts anderes
im ganzen Haus. Aber ich durfte nie allein in dieses Zimmer.
Zu meinem Großvater hatte ich ein sehr inniges Verhältnis.
Er war mir tot kein bißchen weniger vertraut, und ich schielte
nach den Büchern, von denen ich mir nun heimlich einige hätte
anschauen können, denn fast alle hatte mir mein Großvater
nicht anzufassen erlaubt. Er hatte gemeint: "Das ist nichts
für kleine Mädchen."
Gerade das reizte mich. Wissbegierig wie ich bin, war mein Großvater
stolz auf mich, aber seine Bücher durfte ich nicht berühren.
Das Dumme war nur, meine Großmutter hatte meinen Großvater
genau auf seinem Sofa in seinem Arbeitszimmer aufgebahrt.
Zwei Abende lang bis in die späte Nacht hinein hatte meine
Großmutter bei ihrem toten Mann gewacht, die dritte, letzte
Nacht vor der Beerdigung wollte sie sich ausruhen, um für den
nächsten Tag gewappnet zu sein, an dem einiger Trubel zu erwarten
war. Im Nachthemd und auf nackten Füßen lauschte ich
an meiner Tür, bis ich die weggehenden Schritte meiner Großmutter
nicht mehr hörte. Dann schlich ich mich ins Zimmer meines Großvaters.
Es war Mitte Juni, wo die Abende genügend Licht verströmen,
um in einem Buch alle Buchstaben erkennen zu können ohne zusätzliches
Licht, das mich verraten konnte. Das Gesicht meines Großvaters
sah aus, als ob er schliefe. Das lag am rosigen Schimmer, der von
der Abendröte durch die Fenster kam. Mir kam es vor, als würde
er mich anlächeln. Ich ging hin und gab ihm einen Kuss auf
die Stirn. Da bemerkte ich ein Buch an seiner Seite liegen. Meine
Großmutter hatte es sicherlich dort vergessen.
Das Buch handelt von Engeln. Der Titel war Von himmlischen Boten.
Und im Untertitel kam das Wort Angelologie vor. Heißt
so das Wort für Engelskunde, ich habe es noch nie gehört.
Angelologie klingt wie eine Wissenschaft. Ich habe nie daran gezweifelt,
von Engeln begleitet zu werden, sie sind wie ein kaum spürbarer
Lufthauch um einen herum, das ist klar, aber ich wusste nicht, dass
auch Erwachsene sich ernsthaft damit beschäftigen. Ich empfinde
die Engel eher für Kinder zuständig. Je nach Laune nenne
ich meine Engel auch Elfen oder Waldschrate. Einmal schnappte ich
ein Wort auf, das ich noch nie gehört hatte. Vampir. Wenn ich
über eine Wurzel stolperte, wusste ich, dass da ein Zwerg oder
Gnom die Hand im Spiel hatte. Hatten die einmal schlechte Laune,
konnte man der Länge nach hinschlagen und sich die Lippen aufreißen.
Rutschte ich aber von einem Ast ab und kam mit dem Schrecken davon,
wusste ich, da hatte einer der guten Geister mich aufgefangen und
den Sturz abgebremst. Gut, das Knie war aufgeschrammt, das war eine
Kleinigkeit. Sie können nicht auf alles aufpassen. Aber die
Hauptsache haben sie im Griff.
Aber was ist mit Vampiren? Als ich neben meinem toten Großvater
saß, musste ich darüber grübeln. Ein Junge, mit
dem ich manchmal spielte und den ich gefragt hatte, ob er etwas
über Vampire wisse, hatte mit dem Zeigefinger vorm Mund "pst"
gezischt. "Sag das nicht laut, die verstecken sich überall."
"Was machen sie denn Böses?" fragte ich. "Sie
saufen Blut, jede Menge, von Tieren und Menschen, aber immer nur
soviel, daß sie nicht sterben, weil sie ja wiederkommen wollen
zum Saufen, verstehst du. Wenn sie einen einmal in der Mangel haben,
kommt man nicht wieder los von ihnen. Die Opfer, weißt du
wie die aussehn, ganz blass sehen die aus, so kreideblass wie der
Alte oben am Zastlerweg." "Wie der Alte am Zastlerweg",
sagte ich, "ist der so bleich, weil ihm ein Vampir Blut abzapft,
glaubst du das?" Der Junge erwiderte: "Klar glaub ich
das, der ist so weiß, weil er kaum mehr Blut hat. Das merkt
der gar nicht, dass das von einem Vampir kommt, die sind sehr geschickt.
Die schleichen sich nachts an beim Schlafen."
Ganz bestimmt hatte mein Großvater Engel, denke ich mir.
Ihn konnten Vampire unmöglich je besucht haben. So gesund wie
er ausgesehen hatte, mussten Engel ihn vor Vampiren beschützt
haben. Vielleicht sitzt auch heute nacht ein Engel an seinem Bett,
eine gute Fee, die ihn behütet. Das Zimmer war so voller Glanz
und Stille, mir war, als hörte ich leise gläserne Musik.
Und wie steht es um meine Großmutter? Vielleicht haben die
meisten Menschen gute Geister um sich, und wissen es nur nicht.
Meine Großmutter hat bestimmt welche, das spüre ich schon
an der Luft um sie herum. Obwohl die Leute sagen, sie sei gar keine
fromme Frau, sie geht kaum in die Kirche. Mit Frömmigkeit,
oder wie meine Großmutter es nennt, mit Frömmelei, hat
das wenig zu tun. Frömmelei, das ist so ein Wort, das mich
durcheinanderbringt. Das ist wohl der Überschuss an Frömmigkeit,
den es nicht braucht für gestandene Engel oder höhere
Wesen wie ich sie nenne.
In diesem Augenblick rutschte mir das Buch von den Knien und schlug
mit einem dumpfen Plumps auf die Dielen. Ich bin sehr erschrocken.
Auf dem Gesicht meines Großvaters war das gleiche freundliche
Lächeln wie vorhin. Das Zimmer war ganz in rötlichen Schimmer
getaucht, dieses weißliche Rosa, das ich im Frühling
so an den Apfelblüten bewundere. Leise streckte ich mich vom
Stuhl und stieg vorsichtig über das Buch und legte es behutsam
zurück. Das war wie wenn ein Engel mir einen Wink gegeben hätte.
Rolf Hannes hat Rossipotti
diese Geschichte netterweise zur Verfügung gestellt. Vielen
Dank!
* * *
Gruselfaktor:
Der Tod und die Lerche
von Ditmar Danelius
Aschfahl, die hagere Gestalt eingehüllt in einen
grauschwarzen, den Boden schleifenden Mantel, so geht der Tod durch
die Nacht. - Die Turmuhr hat zwölf Mal geschlagen. Die sternklare
Vollmondnacht hat die Welt mit ihrem Silberlicht geheimnisvoll verzaubert.
In jener Stunde, von der hier die Rede ist, trifft der Tod mit unseligen
Geistern zusammen, die selbst den Tod erschaudern lassen: dem Grauen,
dem Bösen, dem Hass, dem Zorn, der Feigheit und Lüge
Man versammelt sich nahe am Ufer eines dunkel glitzernden Waldsees
unter einer tausendjährigen Eiche, hat den Tod eingeladen dabei
zu sein. Und wer lädt schon den Tod ein?!
Das Grauen hat feuerrotes Haar, im blassen aufgedunsenen Gesicht,
graugrüne rot unterlaufen Augen - wer in sie blickt, dem stockt
der Atem: kalt funkelt Mordlust. Das erdfarbene Gewand ist blutgetränkt.
Leichengeruch liegt in der Luft
Das Böse hat vielerlei Gestalt, mal herzlose Schönheit,
mal hässlich wie eine Ausgeburt der Hölle oder ein Jedermann
- und ist voller Hinterlist. Heute Nacht ist es kleinwüchsig,
hat pechschwarzes Lockenhaar und Pausbacken wie ein Posaunenengel.
In den Augen blitzt eisig die Bosheit. Es hat ein Herz aus Stein.
Menschen Leid zu bringen, ist die hämische Freude des Bösen.
Und es kennt keine andere.
Der Hass hat ein Gesicht voller Narben, die sich in die Haut zu
fressen schienen als würde sich der Hass selbst verzehren.
Die Lippen blutleer, der Blick stechend, die Stimme metallen
Der Zorn hat ein wie schmerzverzerrtes Gesicht. Als litt er an sich
selbst. Er findet keinen Frieden. Er ist wie ein ewiges Donnern
und Grollen, gefolgt von hell zuckenden Blitzen, jeden Augenblick
droht er alle Beherrschung zu verlieren
Die Feigheit ist spindeldünn und flink wie ein Wiesel. Sie
kann es nicht auf einem Fleck aushalten, tanzt ständig um die
mächtige, behäbige Eiche herum und spricht mit verstellter
Stimme. Mal lieblich, zwitschernd wie ein Vögelchen, mal derb
wie ein Straßenjunge, mal bittend wie ein Bettler
Die Lüge übertrifft alles an Verstellung. Mal hat sie
das Aussehen eines unschuldigen Mädchens, dann plötzlich
einer Hexe. Mal sind ihre Beine kurz und ihre Größe ist
Zwergenhaft, mal scheint sie stark und mächtig wie ein Riese
All diese Plagen der Menschen haben sich versammelt, verstanden
sich prächtig und empfahlen aufs Beste ihre Dienste dem Tod.
- Zähneknirschen, Grollen, hässliches Kichern und unheimliches
Flüstern ist zu hören. Selbst dem Tod war nicht wohl in
ihrer Nähe.
Er vernahm, wie sie sich mit ihren Taten voreinander brüsteten
- und zum Abschied ihr Versprechen, nichts unversucht zu lassen,
Verderben über die Menschen zu bringen. Das Grauen wollte morden,
das Böse Menschen schaden, wo es sie zu fassen bekam, der Hass
die Seele der Menschen vergiften, der Zorn noch unbändiger
Wüten, die Feigheit den Menschen allen Mut nehmen, die Lüge
mit all ihrer Kunst der Verstellung Verwirrung
stiften
Stahlstich: Paul Gustave Doré
Hell
schien der Mond in dieser Nacht, wunderschön funkeln die Sterne.
Als gäbe es nichts Hässliches auf der Welt. - Und als
der Tag erwacht, das Morgenrot die Landschaft in ihr flammendes
Licht taucht, da verwandeln sich die unseligen Geister wie in unsichtbare
Schwefelschwaden und trugen ihr Gift in die Herzen der Menschen.
Die Mordlust, die Bosheit, den Hass, den Zorn, die Feigheit, die
Lüge
Auch der Tod macht sich auf. Bald mochte er ein wenig ausruhen und
setzt sich an eine Tanne, die stolz in den Himmel ragt. Um sie herum
war weiches Moos. Er saß eine Weile, fühlt sich recht
übel nach der grausigen Begegnung mit den unberufenen Spießgesellen.
Sind sie selbst dem Tod zuwider in ihrem Tun, der nur tut, was er
tun muss, wenn es an der Zeit ist Menschen in sein Totenreich zu
holen. - Doch diese Gesellen, sie handeln aus niederen Beweggründen,
sind niemals seinesgleichen. Und wie oft sorgen sie mit dafür,
dass ein Mensch in sein Angesicht schaut. - Der Tod ist jenseits
von gut und böse.
Ein leichter Wind kommt auf. Sacht wiegen sich die Bäume. -
Da hört er hoch oben am Himmel einen herzlichen Gesang. Es
war eine Lerche am frühblauen Himmel. Sie sang von der Liebe.
Sie sang von der Freude. Sie sang vom hellen Sonnenschein. Von den
Blumen auf den Wiesen, den Vögeln in der Luft, dem plätschern
des Baches, dem Rauschen der Bäume im Wind. Sie kündete
von der Schönheit der Welt, vom Lachen der Kinder, dem Gesang
schöner Mädchen. Ihre Lieder waren so voller Lebensfreude,
dass selbst der Tod ihnen lauschen musste. Nun erfasst ihn eine
so heimliche Sehnsucht nach etwas Trost und er bittet die Lerche:
"Singe weiter, kleines Vögelchen. Jubiliere. Lass mich
hören, was du an so herrlich lebendigen Geschichten in deinen
Melodien hoch am blauen Himmel zu erzählen weißt, bitte,
Lerche, singe weiter
"
Und die Lerche tat es.
Und so kommt es wohl, dass der Tod, trotz all der grausigen Pflichten
die ihm obliegen, immer mal wieder, ja, eine Ausnahme macht. Todkranke
genesen plötzlich - und niemand weiß warum.
Vielleicht hat der Tod, irgendwo am Waldesrand, einer Lerche gelauscht
Ditmar Danelius hat Rossipotti
diese Geschichte netterweise zur Verfügung gestellt. Vielen
Dank!
* * *
Der Untergang des Hauses Usher
von Edgar Allan Poe
Ich war den ganzen Tag lang geritten, einen grauen und lautlosen
melancholischen Herbsttag lang durch eine eigentümlich
öde und traurige Gegend, auf die erdrückend schwer die
Wolken herab hingen. Da endlich, als die Schatten des Abends hernieder
sanken, sah ich das Stammschloss der Usher vor mir. Ich weiß
nicht, wie es kam aber ich wurde gleich beim ersten Anblick
dieser Mauern von einem unerträglich trüben Gefühl
befallen. Ich sage unerträglich, denn dies Gefühl wurde
durch keine der poetischen und darum erleichternden Empfindungen
gelindert, mit denen die Seele gewöhnlich selbst die finstersten
Bilder des Trostlosen oder Schaurigen aufnimmt. Ich betrachtete
das Bild vor mir das einsame Gebäude in seiner einförmigen
Umgebung, die kahlen Mauern, die toten, wie leere Augenhöhlen
starrenden Fenster, die paar Büschel dürrer Binsen, die
weißschimmernden Stümpfe abgestorbener Bäume
mit einer Niedergeschlagenheit, die ich mit keinem anderen Gefühl
besser vergleichen kann als mit dem trostlosen Erwachen eines Opiumessers
aus seinem Rausche, dem bitteren Zurücksinnen in graue Alltagswirklichkeit,
wenn der verklärende Schleier unerbittlich zerreißt.
Es war ein frostiges Erstarren, ein Erliegen aller Lebenskraft
kurz, eine hilflose Traurigkeit der Gedanken, die kein noch so gewaltsames
Anstacheln der Einbildungskraft aufreizen konnte zu Erhabenheit,
zu Größe. Was mochte es sein dachte ich, langsamer
reitend , ja, was mochte es sein, dass der Anblick des Hauses
Usher mich so erschreckend überwältigte? Es war mir ein
Rätsel; aber ich konnte mich der grauen Wahngespenster nicht
erwehren; ich musste mich mit der wenig befriedigenden Erklärung
begnügen, dass es tatsächlich in der Natur ganz einfache
Dinge gibt, die durch die Umstände, in denen sie uns erscheinen,
geradezu niederdrückend auf uns wirken können, dass es
aber nicht in unsere Macht gegeben ist, eine Definition dieser Gewalt
zu finden. Es wäre möglich, überlegte ich, dass eine
etwas andere Anordnung der einzelnen Bestandteile dieses Landschaftsbildes
genügen würde, um die düstere Stimmung des Ganzen
abzuschwächen, ja vielleicht sogar vollständig aufzuheben.
Von diesem Gedanken getrieben, lenkte ich mein Pferd an den steilen
Abhang eines schwarzen sumpfigen Teiches, der von keinem Hauch bewegt
neben dem Schlosse lag, und spähte ins Wasser doch ein
Schauder, stärker als zuvor, schüttelte mich beim Anblick
der auf den Kopf gestellten und verzerrten Bilder der grauen Binsen,
der gespenstischen Baumstümpfe und der toten, wie leere Augenhöhlen
starrenden Fenster.
Nichtsdestoweniger beschloss ich, in diesem schwermutvollen Hause
einen Aufenthalt von mehreren Wochen zu nehmen. Sein Eigentümer,
Roderick Usher, war einer meiner liebsten Jugendfreunde gewesen,
doch seit unserer letzten Begegnung waren viele Jahre dahingegangen.
Da hatte mich jüngst bei meinem Aufenthalt in einem entlegenen
Teil des Landes ein Brief erreicht ein Brief von ihm ,
dessen seltsam ungestümer Charakter keine andere als eine persönliche
und mündliche Beantwortung zuließ. Das Schreiben zeugte
entschieden von nervöser Aufregung. Der Verfasser sprach von
einer heftigen körperlichen Erkrankung von niederdrückender
geistiger Zerrüttung und von dem innigen Wunsch, mich,
der ich sein bester und tatsächlich sein einziger persönlicher
Freund sei, wiederzusehen; er hoffe, meine erheiternde Gesellschaft
werde seinem Zustande etwas Erleichterung bringen. Die Art und Weise,
in der dies und vieles andere gesagt war die Herzensbedrängnis,
die aus seinem Verlangen sprach , das war es, das mir kein
Zögern erlaubte, und ich gehorchte daher dieser höchst
seltsamen Aufforderung unverzüglich.
Obgleich wir als Knaben geradezu vertraute Kameraden gewesen waren,
wusste ich dennoch recht wenig über meinen Freund. Seine Zurückhaltung
war immer außerordentlich gewesen; sie war ihm ganz selbstverständlich
erschienen. Immerhin war mir bekannt, dass seine sehr alte Familie
seit unvordenklichen Zeiten wegen einer eigentümlichen Reizbarkeit
des Temperaments bekannt gewesen war, einer Reizbarkeit, die lange
Jahre hindurch in vielen erhaben eigenartigen Kunstwerken sich aussprach;
später betätigte sich dies feinfühlige Empfinden
in mancher Handlung großmütiger, doch unauffälliger
Mildtätigkeit und in der leidenschaftlichen Hingabe an das
Studium der Musik weniger also an ihre altbekannten leichtfaßlichen
Schönheitsformen, als an die tiefverborgenen Probleme dieser
Kunst. Ich hatte auch die sehr bemerkenswerte Tatsache erfahren,
dass der Stammbaum der Familie Usher, die jederzeit hochangesehen
gewesen, zu keiner Zeit einen ausdauernden Nebenzweig hervorgebracht
hatte, mit anderen Worten, dass die Abstammung der ganzen Familie
in direkter Linie herzustellen war. Und ich vergegenwärtigte
mir, dass in dieser Familie neben dem ungeteilten Besitztum auch
die besonderen Charaktereigentümlichkeiten sich ungeteilt von
Glied zu Glied vererbten, und sann darüber nach, inwieweit
im Laufe der Jahrhunderte die eine dieser Tatsachen die andere beeinflußt
haben könne. Wahrscheinlich, so sagte ich mir, ist es eben
dieser Mangel einer Seitenlinie, ist es dies von Vater zu Sohn immer
sich gleichbleibende Erbe von Besitztum und Familienname, das schließlich
beide so miteinander identifiziert hatte, dass der ursprüngliche
Name des Besitztums in die wunderliche und doppeldeutige Bezeichnung
das Haus Usher übergegangen war eine Benennung,
die bei den Bauern, die sie anwendeten, beides, sowohl die Familie
wie das Familienhaus, zu bezeichnen schien.
Ich sagte vorhin, dass der einzige Erfolg meines etwas kindischen
Beginnens meines Hinabblickens in den dunklen Teich
der gewesen war, den ersten sonderbaren Eindruck, den das Landschaftsbild
auf mich gemacht hatte, noch zu vertiefen. Es ist zweifellos: das
Bewusstsein, mit dem ich das Anwachsen meiner abergläubischen
Furcht denn dies ist der rechte Name für die Sache
verfolgte, diente nur dazu, diese Furcht selbst zu steigern. Denn
ich kannte schon lange das paradoxe Gesetz aller Empfindungen, deren
Ursprung das Entsetzen, das Grauen ist. Und einzig dies mag die
Ursache gewesen sein einer seltsamen Vorstellung, die in meiner
Seele entstand, als ich meine Augen von dem Spiegelbild im Pfuhl
wieder hinaufrichtete auf das Wohnhaus selbst; es war eine Einbildung,
so lächerlich in der Tat, dass ich sie nur erwähne, um
zu zeigen, wie lebendig, wie stark die Eindrücke waren, die
auf mir lasteten. Ich hatte so auf meine Einbildungskraft eingearbeitet,
dass ich wirklich glaubte, das Haus und seine ganze Umgebung sei
von einer nur ihm eigentümlichen Atmosphäre umflutet
einer Atmosphäre, die zu der Himmelsluft keinerlei Zugehörigkeit
hatte, sondern die emporgedunstet war aus den vermorschten Bäumen,
den grauen Mauern und dem stummen Pfuhl ein giftiger, geheimnisvoller,
trüber, träger, kaum wahrnehmbarer bleifarbener Dunst.
Von meinem Geist abschüttelnd, was Traum gewesen sein musste,
prüfte ich eingehender das wirkliche Aussehen des Gebäudes.
Das auffallendste an ihm schien mir sein beträchtliches Alter
zu sein. Die Zeitläufe hatten ihm seine ursprüngliche
Farbe genommen. Ein winzig kleiner Pilz hatte alle Mauern wie mit
einem Netzwerk überzogen, dessen feinmaschiges Geflecht von
den Dachtraufen herabhing. Doch von irgendwelchem außergewöhnlichen
Verfall war das Gebäude noch weit entfernt. Kein Teil des Mauerwerks
war eingesunken, und die noch vollkommen erhaltene Gesamtheit stand
in seltsamem Widerspruch zu der bröckelnden Schadhaftigkeit
der einzelnen Steine. Dies Haus stand gleichsam da wie altes Holzgetäfel,
das in irgendeinem unbetretenen Gewölbe viele Jahre lang vermoderte,
ohne dass je ein Lufthauch von draußen es berührte, und
das darum in all seinem inneren Verfall stattlich und lückenlos
dasteht. Außer diesen Zeichen eines allgemeinen Verfalls bot
das Haus jedoch nur wenige Merkmale von Baufälligkeit. Vielleicht
hätte allerdings ein scharfprüfender Blick einen kaum
wahrnehmbaren Riss entdecken können, der an der Frontseite
des Hauses vom Dach im Zickzack die Mauer hinunterlief, bis er sich
in den trüben Wassern des Teiches verlor.
Diese Dinge bemerkte ich, während ich über einen kurzen
Dammweg zum Hause hinaufritt. Ein wartender Diener nahm mein Pferd,
und ich trat unter den gotisch gewölbten Torbogen der Halle.
Ein Kammerdiener mit leichtem, leisem Schritt führte mich schweigend
durch dunkle und gewundene Gänge bis in das Arbeitszimmer seines
Herrn. Vieles, was ich unterwegs erblickte, trug irgendwie dazu
bei, das unbestimmte niederdrückende Gefühl, von dem ich
schon gesprochen habe, zu verstärken. Diese Dinge um mich her
das Schnitzwerk der Deckentäfelung, der ebenholzglänzende
Flur, die düsteren Wandteppiche mit ihrem phantastischen Waffenschmuck,
der bei meinen Tritten rasselte , das alles waren Dinge, die
schon meiner Kindheit vertraut gewesen waren, wie ich mir unumwunden
eingestehen musste , dennoch wunderte ich mich, was für
unheimliche Vorstellungen so gewöhnliche Dinge erwecken konnten.
Auf einer der Treppen begegnete ich dem Hausarzt. Sein Gesichtsausdruck
erschien mir gemein und durchtrieben, obgleich mein Anblick ihn
verblüffte. Er begrüßte mich verwirrt und ging weiter.
Jetzt riss der Kammerdiener eine Türe auf und führte mich
hinein zu seinem Herrn.
Das Zimmer, in dem ich mich nun befand, war sehr groß und
hoch. Die Fenster waren lang und schmal und hatten gotische Spitzbogenform;
sie befanden sich so hoch über dem schwarzen eichenen Fußboden,
daß man nicht an sie heranreichen konnte. Ein schwacher Schimmer
rötlichen Lichtes drang durch die vergitterten Scheiben herein
und reichte gerade hin, die hervortretenden Gegenstände des
Gemachs erkennbar zu machen; doch mühte sich das Auge vergebens,
bis in die entfernten Winkel des Zimmers oder in die Tiefen der
schmuckreichen Deckenwölbung vorzudringen. Dunkle Teppiche
hingen an den Wänden. Die Einrichtung war im allgemeinen überladen
prunkvoll, unbehaglich, altmodisch und schadhaft. Eine Menge Bücher
und Musikinstrumente lagen umher, doch auch das vermochte nicht,
die tote Starrheit des öden Raumes zu beleben. Ich fühlte,
dass ich eine Luft einatmete, die schwer von Gram und Sorge war.
Wie ernste, tiefe, unheilbare Schwermut lastete es hier auf allem.
Bei meinem Eintritt erhob sich Usher von einem Sofa, auf dem er
lang ausgestreckt gelegen hatte, und begrüßte mich mit
warmer Lebhaftigkeit, die mir zuerst übertrieben schien
etwa als gezwungene Liebenswürdigkeit des blasierten Weltmannes.
Ein Blick jedoch auf sein Gesicht überzeugte mich von seiner
völligen Aufrichtigkeit. Wir setzten uns, und da er nicht gleich
sprach, betrachtete ich ihn minutenlang und wurde von Mitleid
und Grauen ergriffen. Sicherlich, kein Mensch hatte sich je in so
kurzer Zeit so schrecklich verändert wie Roderick Usher! Nur
mit Mühe gelang es mir, die Identität dieser gespenstischen
Gestalt da vor mir mit dem Gefährten meiner Kindheit festzustellen.
Doch seine Gesichtsbildung war immer merkwürdig und auffallend
gewesen: eine leichenhafte Blässe; große klare und unvergleichlich
leuchtende Augen; Lippen, die etwas schmal und sehr bleich waren
aber von ungemein schönem Schwunge; eine Nase von edelzartem
jüdischen Schnitt, doch mit ungewöhnlich breiten Nüstern;
ein schöngebildetes Kinn, dessen wenig kräftige Form einen
Mangel an sittlicher Energie verriet; Haare, die feiner und zarter
waren als Spinnenfäden. Diese einzelnen Züge, verbunden
mit einer massigen Kraft und Breite der Stirn über den Schläfen,
bildeten ein Antlitz, das man nicht leicht vergessen konnte. Und
nun hatte die übertriebene Entwicklung dieser charakteristischen
Einzelheiten genügt, den Ausdruck seiner Züge derart zu
verändern, dass ich nicht einmal wusste, ob er es wirklich
war. Vor allem war ich bestürzt, ja entsetzt von der jetzt
gespenstischen Blässe der Haut und dem jetzt übernatürlichen
Strahlen des Auges. Das seidige Haar hatte ein ungewöhnliches
Wachstum entfaltet, und wie es da so seltsam wie hauchzarter Altweibersommer
sein Gesicht umflutete, konnte ich beim besten Willen nicht dies
arabeskenhaft verschlungene Gewebe mit dem einfachen Begriff Menschenhaar
in Beziehung bringen.
Im Benehmen meines Freundes überraschte mich sofort eine gewisse
Verwirrtheit seiner Rede fehlte der Zusammenhang; und ich
erkannte dies als eine Folge seiner wiederholten kraftlosen Versuche,
ein ihm innewohnendes Angstgefühl, das ihn wie Zittern überkam,
zu unterdrücken einer heftigen nervösen Aufregung
Herr zu werden. Ich war allerdings auf etwas Derartiges gefasst
gewesen; sowohl sein Brief als auch meine Erinnerung an bestimmte
Wesenseigenheiten des Knaben hatten mich darauf vorbereitet, und
auch sein Äußeres wie sein Temperament ließen dergleichen
ahnen. Sein Wesen war abwechselnd lebhaft und mürrisch. Seine
Stimme, die eben noch zitternd und unsicher war (wenn die Lebensgeister
in tödlicher Erschlaffung ruhten), flammte plötzlich auf
zu heftiger Entschiedenheit wurde schroff und nachdrücklich
dann schwerfällig und dumpf, bleiern einfältig
wurde zu den sonderbar modulierten Kehllauten der ungeheuren
Aufregung des sinnlos Betrunkenen oder des unverbesserlichen Opiumessers.
So sprach er also von dem Zweck meines Besuches, von seinem dringenden
Verlangen, mich zu sehen, und von dem trostreichen Einfluß,
den er von mir erhoffe. Nach einer Weile kam er auf die Natur seiner
Krankheit zu sprechen. Es war, sagte er, ein ererbtes Familienübel,
ein Übel, für das ein Heilmittel zu finden er verzweifle
nichts weiter als nervöse Angegriffenheit, fügte
er sofort hinzu, die zweifellos bald vorübergehen werde. Sie
äußere sich in einer Menge unnatürlicher Erregungszustände.
Einige derselben, die er mir nun beschrieb, verblüfften und
erschreckten mich, doch mochte an dieser Wirkung seine Ausdrucksweise,
die Form seines Berichtes, schuld sein. Er litt viel unter einer
krankhaften Verschärfung der Sinne; nur die fadeste Nahrung
war ihm erträglich; als Kleidung konnte er nur ganz bestimmte
Stoffe tragen; jeglicher Blumenduft war ihm zuwider; selbst das
schwächste Licht quälte seine Augen, und es gab nur einige
besondere Tonklänge und diese nur von Saiteninstrumenten
, die ihn nicht mit Entsetzen erfüllten.
Ich sah, dass er der Furcht, dem Schreck, dem Grauen sklavisch
unterworfen war. "Ich werde zugrunde gehen", sagte er,
"ich muss zugrunde gehen an dieser beklagenswerten Narrheit.
So, so und nicht anders wird mich der Untergang ereilen! Ich fürchte
die Ereignisse der Zukunft nicht sie selbst, aber ihre Wirkungen.
Ich schaudere bei dem Gedanken, irgendein ganz geringfügiger
Vorfall könne die unerträgliche Seelenerregung verschlimmern.
Ich habe wirklich kein Entsetzen vor der Gefahr, nur vor ihrer unvermeidlichen
Wirkung vor dem Schrecken. In diesem entnervten, in diesem
bedauernswerten Zustand fühle ich, dass früher oder später
die Zeit kommen wird, da ich beides, Vernunft und Leben, hingeben
muss verlieren im Kampf mit dem grässlichen Phantom:
Furcht."
Noch einen andern sonderbaren Zug seiner geistigen Verfassung erfuhr
ich nach und nach aus abgerissenen, unbestimmten Andeutungen. Er
war hinsichtlich des Hauses, das er bewohnte, in gewissen abergläubischen
Vorstellungen befangen. Schon seit Jahren hatte er sich nicht mehr
aus dem Hause herausgewagt infolge eines Einflusses, dessen
eingebildete Wirkung er mir in so unbestimmten, schattendunkeln
Worten mitteilte, dass ich sie hier nicht wiedergeben kann. Wie
er sagte, hatten einige Besonderheiten in der Bauart und dem Baumaterial
seines Stammschlosses in dieser langen Leidenszeit auf seinen Geist
Einfluss erlangt einen Einfluss also, den das Physische der
grauen Mauern und Türme und des trüben Pfuhls, in den
sie alle hinabstarrten, auf seine Psyche ausübte.
Stahlstich: Paul Gustave Doré
Jedoch gab er zögernd zu, dass die seltsame Schwermut, unter
der er leide, einer natürlicheren, gewissermaßen handgreiflicheren
Ursache zugeschrieben werden könne nämlich der
schweren und langwierigen Krankheit ja der offenbar nahen
Auflösung einer zärtlich geliebten Schwester
der einzigen Gefährtin langer Jahre der letzten und
einzigen Verwandten auf Erden. Ihr Hinscheiden, sagte er mit einer
Bitterkeit, die ich nie vergessen kann, würde ihn (ihn, den
Hoffnungslosen, Gebrechlichen) als den Letzten des alten Geschlechtes
der Usher zurücklassen. Während er sprach, durchschritt
Lady Magdalen so hieß seine Schwester langsam
den entfernten Teil des Gemachs und verschwand, ohne meine Anwesenheit
beachtet zu haben. Ich betrachtete sie mit maßlosem Erstaunen,
das nicht frei war von Entsetzen und dennoch konnte ich mir
keine Rechenschaft geben über das, was ich fühlte. Wie
Erstarrung kam es über mich, als meine Augen ihren entschwebenden
Schritten folgten. Als sich die Tür hinter ihr geschlossen
hatte, suchte mein Blick unwillkürlich und begierig das Antlitz
des Bruders aber er hatte das Gesicht in den Händen
vergraben, und ich konnte nur bemerken, daß seine mageren
Finger, zwischen denen viele leidenschaftliche Tränen hindurchsickerten,
von noch gespenstischerer Blässe waren als gewöhnlich.
Schon lange hatte die Krankheit der Lady Magdalen der Geschicklichkeit
der Ärzte gespottet. Eine beständige Apathie, ein langsames
Hinwelken und häufige, wenn auch vorübergehende Anfälle,
vermutlich kataleptischer Natur, das war die ungewöhnliche
Diagnose. Bislang hatte sie standhaft der Gewalt der Krankheit getrotzt
und war noch nicht bettlägerig geworden. Am Tage meiner Ankunft
aber unterlag sie gegen Abend der vernichtenden Macht des Zerstörers
so berichtete ihr Bruder mir des Nachts in unaussprechlicher
Aufregung, und ich erfuhr, dass der flüchtige Anblick, den
ich von ihr gehabt, wohl auch der letzte gewesen sein werde
daß Lady Magdalen wenigstens lebend nicht mehr von mir erblickt
würde.
In den nächsten Tagen wurde ihr Name weder von Usher noch
von mir erwähnt; und während dieser Zeit war ich ernstlich
und angestrengt bemüht, meinen Freund seinem Trübsinn
zu entreißen. Wir malten und lasen zusammen, oder ich lauschte
wie im Traum seinen seltsamen Improvisationen auf der Gitarre. Und
wie nun eine innige und immer innigere Vertrautheit mich immer rückhaltloser
eindringen ließ in die Tiefen seiner Seele, kam ich immer
mehr zu der bitteren Erkenntnis, dass alle Versuche vergeblich sein
mussten, ein Gemüt zu erheitern, dessen Schwermut wie eine
ewig unwandelbare positive Eigenschaft sich ergoss und alle Dinge
der Welt stetig und ausnahmslos mit düsteren Strahlen beflutete.
Ich werde stets ein Andenken bewahren an die vielen feierlich ernsten
Stunden, die ich so allein mit dem Haupt des Hauses Usher zubrachte;
dennoch ist es mir nicht möglich, einen Begriff zu geben von
dem Charakter der Studien oder Beschäftigungen, in die er mich
einspann oder zu denen er mich hinwies. Sein übertriebener,
ruheloser, geradezu krankhafter Idealismus warf auf all unser Tun
einen schwefelig feurigen Glanz. Seine langen improvisierten Klagegesänge
werden mir ewig in den Ohren klingen; unter anderem habe ich in
schmerzlichster, quälendster Erinnerung eine seltsame Variation
eine Paraphrase über Carl Maria von Webers letzte
Gedanken. Die Bildwerke, die seine rastlose Phantasie erstehen
ließ und die seine Hand in wunderbar verschwommenen Strichen
wiedergab, weckten in mir ein tödliches Grauen, das umso grausiger
war, als ich nicht enträtseln konnte, weshalb diese Bilder
mich so schauerlich berührten; so lebhaft sie mir auch vor
Augen stehen ich würde mich vergeblich bemühen,
mehr von ihnen wiederzugeben als eben möglich ist, mit Worten
flüchtig anzudeuten. Durch die übertriebene Einfachheit,
ja Nacktheit seiner Bilder fesselte er erzwang er die Aufmerksamkeit.
Wenn je ein Sterblicher vermochte, eine Idee zu malen, so war es
Roderick Usher. Mich wenigstens überwältigte unter
den damals obwaltenden Umständen bei den reinen Abstraktionen,
die der Hypochonder wagte auf die Leinwand zu werfen , mich
überwältigte eine ganz unerhörte Ehrfurcht, von der
ich nicht einen Schatten hatte empfinden können bei der Betrachtung
der sicherlich glühenden, aber doch zu körperlichen Träume
Füßlis.
Eines der phantastischen Gemälde meines Freundes, ein Bild,
das nicht so streng abstrakt war, sei hier schattenhaft nachgezeichnet
so gut es Worte eben können. Es war ein kleines Bild
und zeigte das Innere eines ungeheuer langen rechtwinkligen Gewölbes
oder Tunnels mit niederen, glatten weißen Mauern, die sich
ohne jede Teilung schmucklos und endlos hinzogen. Durch gewisse
feine Andeutungen in der Zeichnung des Ganzen wurde im Beschauer
der Gedanke erweckt, da dieser Schacht sehr, sehr tief unter der
Erde lag. Nirgends fand sich in dieser Höhle eine Öffnung,
und keine Fackel noch andere künstliche Lichtquelle war wahrnehmbar
dennoch quoll durch das Ganze eine Flut intensiver Strahlen
und tauchte alles in eine gespenstische und ganz unvermutete Helligkeit.
Ich habe vorhin schon von der krankhaften Überreizung der
Gehörsnerven gesprochen, die dem Leidenden alle Musik unerträglich
machte, ausgenommen die Klangwirkung gewisser Saiteninstrumente.
Vielleicht war es hauptsächlich diese Einschränkung, durch
die er auf die Gitarre angewiesen war, die seinen Vorträgen
solch phantastischen Charakter lieh. Aber das erklärte noch
nicht die feurige Lebendigkeit dieser Impromptus. Sicherlich waren
sie, sowohl was die Töne als was die Worte anbetraf (denn nicht
selten begleitete er sein Spiel mit improvisierten Versgesängen),
das Resultat jener intensiven geistigen Anspannung und Konzentration,
von der ich schon früher erwähnte, dass sie nur in besonderen
Momenten höchster künstlerischer Erregtheit bemerkbar
war. Die Worte einer dieser Rhapsodien sind mir noch gut in Erinnerung.
Sie machten wohl einen um so gewaltigeren Eindruck auf mich, als
ich in ihrem mystischen Inhalt eine verborgene Andeutung zu entdecken
glaubte, dass Usher ein klares Bewusstsein davon habe, wie sehr
seine erhabene Vernunft ins Wanken geraten sei. Die Verse, die betitelt
waren Der verzauberte Palast, lauteten ungefähr
wenn nicht wörtlich so:
In der Täler grünstem Tale
Hat, von Engeln einst bewohnt,
Gleich des Himmels Kathedrale
Golddurchstrahlt ein Schloss gethront.
Rings auf Erden diesem Schlosse
Keines glich;
Herrschte dort mit reichem Trosse
Der Gedanke königlich.
Gelber Fahnen Faltenschlagen
Floss wie Sonnengold im Wind
Ach, es war in alten Tagen,
Die nun längst vergangen sind!
Damals kosten süße Lüfte
Lind den Ort,
Zogen als beschwingte Düfte
Von des Schlosses Wällen fort.
Wandrer in dem Tale schauten
Durch der Fenster lichten Glanz,
Geister zu dem Sang der Lauten
Schreiten in gemessnem Tanz
Um den Thron, auf dem erhaben,
Marmorschön,
Würdig solcher Weihegaben
War des Reiches Herr zu sehn.
Perlengleich, rubinenglutend
War des stolzen Schlosses Tor,
Ihm entschwebten flutend, flutend
Süße Echos, die im Chor,
Weithinklingend, froh besangen
Süße Pflicht!
Ihres Königs hehres Prangen
In der Weisheit Himmelslicht.
Doch Dämonen, schwarze Sorgen,
Stürzten roh des Königs Thron.
Trauert, Freunde, denn kein Morgen
Wird ein Schloss wie dies umloh'n!
Was da blühte, was da glühte
Herrlichkeit!
Eine welke Märchenblüte
Ist's aus längst begrabner Zeit.
Und durch glutenrote Fenster
Werden heute Wandrer sehn
Ungeheure Wahngespenster
Grauenhaft im Tanz sich drehn;
Aus dem Tor in wilden Wellen,
Wie ein Meer,
Lachend ekle Geister quellen
Ach, sie lächeln niemals mehr!
Ich entsinne mich gut, dass diese Ballade uns auf ein Gespräch
führte, in dem Usher eine seltsame Anschauung kundgab. Ich
erwähne diese Anschauung weniger darum, weil sie etwa besonders
neu wäre (denn andere haben ähnliche Hypothesen aufgestellt),
als wegen der Hartnäckigkeit, mit der Usher sie vertrat. Seine
Anschauung bestand in der Hauptsache darin, dass er den Pflanzen
ein Empfindungsvermögen, eine Beseeltheit zuschrieb. Doch hatte
in seinem verwirrten Geist diese Vorstellung einen kühneren
Charakter angenommen und setzte sich in gewissen Grenzen auch ins
Reich des Anorganischen fort. Es fehlen mir die Worte, um die ganze
Ausdehnung dieser Idee, um die unbeirrte Hingabe meines Freundes
an sie auszudrücken. Dieser sein Glaube knüpfte sich (wie
ich schon früher andeutete) eng an die grauen Quadern des Heims
seiner Väter. Die Vorbedingungen für solches Empfindungsvermögen
waren hier, wie er sich einbildete, erfüllt in der Art der
Anordnung der Steine, in dem sie zusammenhaltenden Bindemittel und
ebenso auch in dem Pilzgeflecht, das sie überwucherte; ferner
in den abgestorbenen Bäumen, die das Haus umgaben, und vor
allem in dem nie gestörten, unveränderten Bestehen des
Ganzen und in seiner Verdoppelung in den stillen Wassern des Teiches.
Der Beweis der Beweis dieser Beseeltheit sei, so sagte
er, zu erblicken (und als er das aussprach, schrak ich zusammen)
in der hier ganz allmählichen, jedoch unablässig fortschreitenden
Verdichtung der Atmosphäre in dem eigentümlichen
Dunstkreis, der Wasser und Wälle umgab. Die Wirkung dieser
Erscheinung, fügte er hinzu, sei der lautlos und grässlich
zunehmende vernichtende Einfluss, den sie seit Jahrhunderten auf
das Geschick seiner Familie ausgeübt habe; sie habe ihn zu
dem gemacht, als den ich ihn jetzt erblicke zu dem, was er
nun sei. Solche Anschauungen bedürfen keines Kommentars,
und ich füge ihnen daher nichts hinzu.
Unsere Bücher die Bücher, die jahrelang des Kranken
hauptsächliche Geistesnahrung gebildet hatten entsprachen,
wie vermutet werden konnte, diesem phantastischen Charakter. Wir
grübelten gemeinsam über solchen Werken wie Ververt
et Chartreuse von Grasset, Belphegor von Macchiavelli,
Himmel und Hölle von Swedenborg, Die unterirdische
Reise des Nicolaus Klimm von Holberg, die Chiromantie von Robert
Flud, von Jean d'Indaginé und von de la Chambre; brüteten
über der Reise ins Blaue von Tieck und der Stadt
der Sonne von Campanella. Ein Lieblingsbuch war eine kleine
Oktav-Ausgabe des Directorium Inquisitorium des Dominikaners
Emmerich von Gironne, und es gab Stellen in Pomponius Mela
über die alten afrikanischen Satyrn und Ögipans, vor denen
Usher stundenlang träumend sitzen konnte. Sein Hauptentzücken
jedoch bildete das Studium eines sehr seltenen und seltsamen Buches
in gotischem Quartformat einem Handbuch einer vergessenen
Kirche , des Vigiliae Mortuorum secundum Chorum Ecclesiae
Maguntinae.
Ich konnte nicht anders, als an das seltsame Ritual dieses Werkes
und seinen wahrscheinlichen Einfluss auf den Schwermütigen
denken, als er eines Abends, nachdem er mir kurz mitgeteilt hatte,
dass Lady Magdalen nicht mehr sei, seine Absicht äußerte,
den Leichnam vor seiner endgültigen Beerdigung in einer der
zahlreichen Grüfte innerhalb der Grundmauern des Gebäudes
aufzubewahren. Die rein äußere Ursache, die er für
dieses Vorgehen angab, war solcher Art, dass ich mich nicht aufgelegt
fühlte, darüber zu diskutieren. Er, der Bruder, war (wie
er mir sagte) zu diesem Entschluss gekommen infolge des ungewöhnlichen
Charakters der Krankheit der Dahingeschiedenen, infolge gewisser
eifriger und eindringlicher Fragen ihres Arztes und infolge der
abgelegenen und einsamen Lage des Begräbnisplatzes der Familie.
Ich will nicht leugnen, dass, wenn ich mir das finstere Gesicht
des Mannes ins Gedächtnis rief, dem ich am Tage meiner Ankunft
auf der Treppe begegnete dass ich dann kein Verlangen hatte,
einer Sache zu widersprechen, die ich nur als eine harmlose und
keineswegs unnatürliche Vorsichtsmaßregel ansah.
Auf Bitten Ushers half ich ihm bei den Vorkehrungen für die
vorläufige Bestattung. Nachdem der Körper eingesargt worden
war, trugen wir ihn beide ganz allein zu seiner Ruhestätte.
Die Gruft, in der wir ihn beisetzten, war so lange nicht geöffnet
worden, dass unsere Fackeln in der drückenden Atmosphäre
fast erstickten und uns nur wenig gestatteten, Umschau zu halten.
Die Gruft war eng, dumpfig und ohne jegliche Öffnung, die Licht
hätte einlassen können; sie lag in beträchtlicher
Tiefe, genau unter dem Teil des Hauses, in dem sich mein eigenes
Schlafgemach befand. Augenscheinlich hatte sie in früheren
Zeiten der Feudalherrschaft als Burgverlies übelste Verwendung
gefunden und hatte später als Lagerraum für Pulver oder
sonst einen leicht entzündlichen Stoff gedient, denn ein Teil
ihres Fußbodens sowie das ganze Innere eines langen Bogenganges,
von dem aus wir das Gewölbe erreichten, war sorgfältig
mit Kupfer bekleidet. Die Tür aus massivem Eisen hatte ähnliche
Schutzvorrichtungen. Ihr ungeheures Gewicht brachte einen ungewöhnlich
scharfen kreischenden Laut hervor, als sie sich schwerfällig
in den Angeln drehte.
Nachdem wir unsere traurige Bürde an diesem Ort des Grauens
auf ein vorbereitetes Gestell niedergesetzt hatten, schoben wir
den noch lose aufliegenden Deckel des Sarges ein wenig zur Seite
und blickten in das Antlitz der Ruhenden. Eine verblüffende
Ähnlichkeit zwischen Bruder und Schwester fesselte jetzt zum
erstenmal meine Aufmerksamkeit, und Usher, der vielleicht meine
Gedanken erriet, murmelte ein paar Worte, denen ich entnahm, dass
die Verstorbene und er Zwillinge gewesen waren, und dass Sympathien
ganz ungewöhnlicher Natur stets zwischen ihnen bestanden hatten.
Unsere Blicke ruhten jedoch nicht lange auf der Toten denn
wir konnten sie nicht ohne Ergriffenheit und Grausen betrachten.
Das Leiden, das die Lady so in der Blüte der Jugend ins Grab
gebracht, hatte wie es bei Erkrankungen ausgesprochen kataleptischer
Art gewöhnlich der Fall ist auf Hals und Antlitz so
etwas wie eine schwache Röte zurückgelassen und den Lippen
ein argwöhnisch lauerndes Lächeln gegeben, das so schrecklich
ist bei Toten. Wir setzten den Deckel wieder auf, schraubten ihn
fest, und nachdem wir die Eisentüre wieder verschlossen hatten,
nahmen wir mit Mühe unsern Weg hinauf in die kaum weniger düsteren
Räumlichkeiten des oberen Stockwerkes.
Und jetzt, nachdem einige Tage bittersten Kummers vergangen waren,
trat in der Geistesverwirrung meines Freundes eine merkliche Änderung
ein. Sein ganzes Wesen wurde ein anderes. Seine gewöhnlichen
Beschäftigungen wurden vernachlässigt oder vergessen.
Er schweifte von Zimmer zu Zimmer mit eiligem, unsicherem und ziellosem
Schritt. Die Blässe seines Gesichts war womöglich noch
gespenstischer geworden aber der feurige Glanz seiner Augen
war ganz erloschen. Die gelegentliche Heiserkeit seiner Stimme war
nicht mehr zu hören, und ein Zittern und Schwanken, wie von
namenlosem Entsetzen, durchbebte gewöhnlich seine Worte. Es
gab in der Tat Zeiten, wo ich vermeinte, sein unablässig arbeitender
Geist kämpfe mit irgendeinem drückenden Geheimnis, zu
dessen Bekenntnis er nicht den Mut finden könne. Zu andern
Zeiten wieder war ich gezwungen, alles lediglich als Äußerungen
seiner seltsamen Krankheit aufzufassen, denn ich sah, wie er stundenlang
ins Leere starrte und zwar mit dem Ausdruck tiefster Aufmerksamkeit,
als lauschte er irgendeinem eingebildeten Geräusch. Es war
kein Wunder, dass sein Zustand mich erschreckte, mich ansteckte.
Ich fühlte, wie sich ganz allmählich, doch unablässig
seine seltsamen Wahnvorstellungen, die er mir niemals mitteilte,
in mich hineinfraßen.
Es war besonders in der Nacht des siebenten oder achten Tages nach
der Bestattung der Lady Magdalen in der Gruft, als ich mich sehr
spät zum Schlafen zurückgezogen hatte, dass ich die volle
Gewalt dieser Empfindungen erfuhr. Kein Schlaf nahte sich meinem
Lager, während die Stunden träge dahinkrochen. Ich bemühte
mich, der Nervosität, die mich ergriffen hatte, Herr zu werden.
Ich suchte mich zu überzeugen, dass an vielem wenn nicht
an allem , was ich fühlte, die unheimliche Einrichtung
des Gemachs schuld sei; denn es war unheimlich, wie die dunklen
und zerschlissenen Wandteppiche, vom Atem eines nahenden Sturmes
bewegt, stoßweise auf- und niederschwankten und gegen die
Verzierungen des Bettes raschelten. Aber meine Anstrengungen waren
fruchtlos. Ein nicht abzuschüttelndes Grauen durchbebte meinen
Körper, und schließlich hockte auf meinem Herzen ein
Alp ein furchtbarstes Entsetzen. Mit einem tiefen Atemzug
rang ich mich frei aus diesem Bann und setzte mich im Bette auf,
ich spähte angestrengt in das undurchdringliche Dunkel des
Zimmers und lauschte wie getrieben von seltsamen instinktiven
Ahnungen auf gewisse dumpfe, unbestimmbare Laute, die, wenn
der Sturm schwieg, in langen Zwischenräumen von irgendwoher
zu mir drangen. Überwältigt von unbeschreiblichem Entsetzen,
das mir ebenso unerträglich wie unerklärlich schien, warf
ich mich hastig in die Kleider (denn ich fühlte, dass ich in
dieser Nacht doch keinen Schlaf mehr finden würde) und versuchte,
mich aus meinem jammervollen Zustand aufzuraffen, indem ich eilig
im Zimmer auf- und abwandelte.
Ich war erst ein paarmal so hin und her gegangen, als ein leichter
Tritt auf der benachbarten Treppe meine Aufmerksamkeit erregte.
Ich erkannte sogleich Ushers Schritt. Einen Augenblick später
klopfte er leise an meine Tür und trat mit einer Lampe in der
Hand ein. Sein Gesicht war wie immer leichenhaft blaß
aber schrecklicher war der Ausdruck seiner Augen: wie eine irrsinnige
Heiterkeit flammte es aus ihnen sein ganzes Gebaren zeigte
eine mühsam gebändigte hysterische Aufregung. Sein Ausdruck
entsetzte mich doch alles schien erträglicher als diese
fürchterliche Einsamkeit, und ich begrüßte sein
Kommen wie eine Erlösung.
"Und du hast es nicht gesehen?" sagte er unvermittelt,
nachdem er einige Augenblicke schweigend um sich geblickt hatte.
"Du hast es also nicht gesehen? Doch halt, du sollst!"
Mit diesen Worten beschattete er sorgsam seine Lampe und lief dann
an eins der Fenster, das er dem Sturm weit öffnete.
Die ungeheure Wut des hereinstürmenden Orkans hob uns fast
vom Boden empor. Es war wirklich eine sturmrasende, aber doch sehr
schöne Nacht , eine Nacht, die grausig seltsam war in
Schrecken und in Pracht. Ganz in unserer Nachbarschaft musste sich
ein Wirbelwind erhoben haben, denn die Windstöße änderten
häufig ihre Richtung. Die ungewöhnliche Dichtigkeit der
Wolken, die so tief hingen, als lasteten sie auf den Türmen
des Hauses, verhinderte nicht die Wahrnehmung, dass sie wie mit
bewusster Hast aus allen Richtungen herbeijagten und ineinanderstürzten
ohne aber weiterzuziehen.
Ich sage: selbst ihre ungewöhnliche Dichtigkeit verhinderte
uns nicht, dies wahrzunehmen dennoch erblickten wir keinen
Schimmer vom Mond oder von den Sternen ebensowenig aber einen
Blitzstrahl. Doch die unteren Flächen der jagenden Wolkenmassen
und alle umgebenden Dinge draußen im Freien glühten im
unnatürlichen Licht eines schwach leuchtenden und deutlich
sichtbaren gasartigen Dunstes, der das Haus umgab und einhüllte.
"Du darfst du sollst das nicht sehen!" sagte ich
schaudernd zu Usher, als ich ihn mit sanfter Gewalt vom Fenster
fort zu einem Sessel führte. "Diese Erscheinungen, die
dich erschrecken, sind nichts Ungewöhnliches; es sind elektrische
Ausstrahlungen vielleicht auch verdanken sie ihr gespenstisches
Dasein der schwülen Ausdünstung des Teiches. Wir wollen
das Fenster schließen; die Luft ist kühl und dir sehr
unzuträglich. Hier ist eines deiner Lieblingsbücher.
Ich will vorlesen und du sollst zuhören, und so wollen wir
diese fürchterliche Nacht zusammen verbringen."
Der alte Band, den ich zur Hand genommen hatte, war der Mad
Trist von Sir Launcelot Canning, aber ich hatte ihn mehr in
traurigem Scherz als im Ernst Ushers Lieblingsbuch genannt; denn
in Wahrheit ist in seiner ungefügten und phantasielosen Weitschweifigkeit
wenig, was für den scharfsinnigen und idealen Geist meines
Freundes von Interesse sein konnte. Es war jedoch das einzige Buch,
das ich zur Hand hatte, und ich nährte eine schwache Hoffnung,
der aufgeregte Zustand des Hypochonders möge Beruhigung finden
(denn die Geschichte geistiger Zerrüttung weist solche Widersprüche
auf) in den tollen Übertriebenheiten, die ich lesen wollte.
Hätte ich wirklich nach der gespannten, ja leidenschaftlichen
Aufmerksamkeit schließen dürfen, mit der er mir zuhörte
oder zuzuhören schien , so hätte ich mir
zu dem Erfolg meines Vorhabens Glück wünschen dürfen.
Ich war in der Erzählung bei der allbekannten Stelle angelangt,
wo Ethelred, der Held des Trist, nachdem er vergeblich friedlichen
Einlass in die Hütte des Klausners zu bekommen versucht hatte,
sich anschickt, den Eintritt durch Gewalt zu erzwingen. Hier lautet
der Text, wie man sich erinnern wird, so:
"Und Ethelred, der von Natur ein mannhaft Herz hatte und der
nun, nachdem er den kräftigen Wein getrunken, sich unermesslich
stark fühlte, begnügte sich nicht länger, mit dem
Klausner Zwiesprach zu halten, der wirklich voll Trotz und Bosheit
war, sondern da er auf seinen Schultern schon den Regen fühlte
und den herannahenden Sturm fürchtete, schwang er seinen Streitkolben
hoch hinaus und schaffte in den Planken der Tür schnell Raum
für seine behandschuhte Hand; und nun fasste er derb zu und
zerkrachte und zerbrach und riss alles zusammen, dass der
Lärm des dürren, dumpf krachenden Holzes durch den ganzen
Wald schallte und widerhallte."
Bei Beendigung dieses Satzes fuhr ich auf und hielt mit Lesen inne,
denn es schien mir so (obwohl ich sofort überlegte, dass meine
erhitzte Phantasie mich getäuscht haben müsse), als kämen
aus einem ganz entlegenen Teile des Hauses Geräusche her, die
ein vollkommenes sehr fernes Echo hätten sein können von
jenem Krachen und Bersten, das Sir Launcelot so charakteristisch
beschrieben hatte. Zweifellos war es nur das Zusammentreffen irgendeines
Geräusches mit meinen Worten, das meine Aufmerksamkeit gefesselt
hatte. Denn inmitten des Rüttelns der Fensterläden und
der vielfältigen Lärmlaute des anwachsenden Sturmes hatte
der Laut an sich sicherlich nichts, was mich interessiert oder gestört
haben könnte. Ich fuhr in der Erzählung fort:
"Aber als der werte Held Ethelred jetzt in die Türe trat,
geriet er bald in Wut und Bestürzung, kein Zeichen des boshaften
Klausners zu bemerken, sondern statt seiner ein ungeheurer schuppenrasselnder
Drachen mit feuriger Zunge, der als Hüter vor einem goldenen
Palast mit silbernem Fußboden ruhte. Und an der Mauer hing
ein Schild aus schimmerndem Stahl mit der Inschrift:
Wer hier herein will dringen, den Drachen muss er bezwingen;
Ein Held wird er sein, den Schild sich erringen.
Und Ethelred schwang seinen Streitkolben und schmetterte ihn auf
den Schädel des Drachen, der zusammenbrach und seinen üblen
Odem aufgab, und dieses mit einem so grässlichen und schrillen
und durchdringenden Schrei, dass Ethelred sich gern die Ohren zugehalten
hätte vor dem schrecklichen Laut, desgleichen hievor niemalen
erhört gewesen war."
Hier hielt ich wieder bestürzt inne und diesmal mit
schauderndem Entsetzen , denn es konnte kein Zweifel sein,
dass ich in diesem Augenblick (wennschon es mir unmöglich war,
anzugeben, aus welcher Richtung) einen dumpfen und offenbar entfernten,
aber schrillen, langgezogenen, kreischenden Laut vernommen hatte
das vollkommene Gegenstück zu dem unnatürlichen
Aufschrei des Drachen, wie der Dichter ihn beschrieb.
Obwohl ich durch dies zweite und höchst seltsame Zusammentreffen
erschreckt war und tausend widerstreitende Empfindungen, in denen
Erstaunen und äußerstes Entsetzen vorherrschten, mich
bestürmten, hatte ich dennoch Geistesgegenwart genug, nicht
etwa durch eine diesbezügliche Bemerkung die Nervosität
meines Gefährten noch zu steigern. Ich war keineswegs sicher,
dass er die in Frage stehenden Laute vernommen hatte, obgleich allerdings
während der letzten Minuten eine sonderbare Veränderung
mit ihm vorgegangen war. Anfänglich hatte er mir gegenüber
gesessen, so dass ich ihm voll ins Gesicht sehen konnte; nach und
nach aber hatte er seinen Stuhl so herumgedreht, dass er nun mit
dem Gesicht zur Türe schaute. Ich konnte daher seine Züge
nur teilweise erblicken, doch sah ich, dass seine Lippen zitterten,
als flüstere er leise vor sich hin. Der Kopf war ihm auf die
Brust gesunken, aber ich wusste, dass er nicht schlief, denn sein
Profil zeigte mir seine weit und starr geöffneten Augen, und
sein Körper bewegte sich unausgesetzt sanft und einförmig
hin und her. Dies alles hatte ich mit raschem Blick erfasst und
nahm nun die Erzählung Sir Launcelots wieder auf:
"Und nun, da der Held der schrecklichen Wut des Drachen entronnen
war und sich des stählernen Schildes erinnerte, dessen Zauber
nun gebrochen, räumte er den Kadaver beiseite und schritt über
das silberne Pflaster kühn hin zu dem Schild an der Wand. Der
aber wartete nicht, bis er herangekommen war, sondern stürzte
zu seinen Füßen auf den Silberboden nieder, mit gewaltig
schmetterndem, furchtbar dröhnendem Getöse."
Kaum hatten meine Lippen diese Worte gesprochen, da vernahm ich
als sei in der Tat ein eherner Schild schwer auf einen silbernen
Boden gestürzt deutlich, aber gedämpft, einen metallisch
dröhnenden Widerhall. Gänzlich entnervt sprang ich auf
die Füße, aber die taktmäßige Schaukelbewegung
Ushers dauerte fort. Ich stürzte zu dem Stuhl, in dem er saß.
Sein Blick war stier geradeaus gerichtet, und sein Antlitz schien
wie zu Stein erstarrt. Aber als ich die Hand auf seine Schulter
legte, befiel ein heftiges Zittern seine ganze Gestalt; ein krankes
Lächeln zuckte um seinen Mund, und ich sah, dass er leise hastend
und stotternd vor sich hin murmelte, so, als wisse er nichts von
meiner Anwesenheit. Mich tief zu ihm hinabbeugend, trank ich schließlich
den scheußlichen Sinn seiner Worte ein:
"Es nicht hören? Oh, ich höre es wohl und
habe es gehört. Lange lange lange viele
Minuten, viele Stunden, viele Tage habe ich es gehört
aber ich wagte nicht oh, bedaure mich elender Schurke,
der ich bin! Ich wagte nicht, ich wagte nicht zu reden! Wir
haben sie lebendig ins Grab gelegt! Sagte ich nicht, meine Sinne
seien scharf? Ich sage dir jetzt, dass ich ihre ersten schwachen
Bewegungen im dumpfen Sarge hörte. Ich hörte sie
vor vielen, vielen Tagen schon dennoch wagte ich nicht
ich wagte nicht zu reden! Und jetzt heute nacht
Ethelred ha! ha! Das Aufbrechen der Tür des Klausners,
und der Todesschrei des Drachen, und das Dröhnen des Schildes!
Sage lieber: das Zerbersten ihres Sarges, und das Kreischen
der eisernen Angeln ihres Gefängnisses, und ihr qualvolles
Vorwärtskämpfen durch den kupfernen Bogengang des Gewölbes.
Oh, wohin soll ich fliehen? Wird sie nicht gleich hier sein? Wird
sie nicht eilen, um mir meine Eile vorzuwerfen? Hörte ich nicht
schon ihren Tritt auf der Treppe? Kann ich nicht schon das schwere
und schreckliche Schlagen ihres Herzens vernehmen? Wahnsinniger!"
hier sprang er wie rasend auf und kreischte, als wolle er
mit diesen Worten seine Seele hinausbrüllen "Wahnsinniger!
Ich sage dir, dass sie jetzt draußen vor der Türe steht!"
Stahlstich: Paul Gustave Doré
Als läge in der übermenschlichen Kraft dieses Ausrufes
die Macht eines Zaubers so rissen jetzt die riesigen alten
Türflügel, auf die der Sprecher hinzeigte, ihre gewaltigen
ebenholzenen Kinnladen auf. Es war das Werk des rasenden Sturmes
aber siehe draußen vor der Türe stand leibhaftig
die hohe, ins Leichentuch gehüllte Gestalt der Lady Magdalen
Usher. Es war Blut auf ihrer weißen Gewandung, und die Spuren
eines erbitterten Kampfes waren überall an ihrem abgezehrten
Körper zu erkennen. Einen Augenblick blieb sie zitternd und
taumelnd auf der Schwelle stehen dann fiel sie mit einem
leisen schmerzlichen Aufschrei ins Zimmer auf den Körper ihres
Bruders und in ihrem heftigen und nun endgültigen Todeskampf
riss sie ihn tot zu Boden ein Opfer der Schrecken, die er
vorausempfunden hatte.
Wie verfolgt entfloh ich aus diesem Gemach und diesem Hause. Draußen
tobte das Unwetter in unverminderter Heftigkeit, als ich den alten
Teichdamm kreuzte. Plötzlich schoss ein unheimliches Licht
quer über den Pfad, und ich blickte zurück, um zu sehen,
woher ein so ungewöhnlicher Glanz kommen könne, denn hinter
mir lagen allein das weite Schloss und seine Schatten. Der Strahl
war Mondglanz, und der volle, untergehende, blutrote Mond schien
jetzt hell durch den einst kaum wahrnehmbaren Riss, von dem ich
bereits früher sagte, dass er vom Dach des Hauses im Zickzack
bis zum Erdboden lief. Während ich hinstarrte, erweiterte sich
dieser Riss mit unheimlicher Schnelligkeit; ein wütender Stoß
des Wirbelsturms kam; das volle Rund des Satelliten wurde in dem
breit aufgerissenen Spalt sichtbar; mein Geist wankte, als ich jetzt
die gewaltigen Mauern auseinanderbersten sah; es folgte ein langes
tosendes Krachen wie das Getöse von tausend Wasserfällen,
und der tiefe und schwarze Teich zu meinen Füßen schloß
sich finster und schweigend über den Trümmern des "Hauses
Usher".
Edgar Allan Poe: Der Untergang des Hauses Usher.
Aus: Edgar Allan Poes Werke. Gesamtausgabe der Dichtungen und Erzählungen,
Band 2: Geschichten von Schönheit, Liebe und Wiederkunft. Propyläen-Verlag.
Berlin 1922.
* * *
Die Geschichte von dem Gespensterschiff
von Wilhelm Hauff
Mein Vater hatte einen kleinen Laden in Balsora; er war weder arm
noch reich und einer von jenen Leuten, die nicht gerne etwas wagen,
aus Furcht, das Wenige zu verlieren, das sie haben. Er erzog mich
schlicht und recht und brachte es bald so weit, dass ich ihm an
die Hand gehen konnte. Gerade als ich achtzehn Jahre alt war, als
er die erste größere Spekulation machte, starb er, wahrscheinlich
aus Gram, tausend Goldstücke dem Meere anvertraut zu haben.
Ich musste ihn bald nachher wegen seines Todes glücklich preisen,
denn wenige Wochen hernach lief die Nachricht ein, dass das Schiff,
dem mein Vater seine Güter mitgegeben hatte, versunken sei.
Meinen jugendlichen Mut konnte aber dieser Unfall nicht beugen.
Ich machte alles vollends zu Geld, was mein Vater hinterlassen hatte,
und zog aus, um in der Fremde mein Glück zu probieren, nur
von einem alten Diener meines Vaters begleitet.
Im Hafen von Balsora schifften wir uns mit günstigem Winde
ein. Das Schiff, auf dem ich mich eingemietet hatte, war nach Indien
bestimmt. Wir waren schon fünfzehn Tage auf der gewöhnlichen
Straße gefahren, als uns der Kapitän einen Sturm verkündete.
Er machte ein bedenkliches Gesicht, denn es schien, er kenne in
dieser Gegend das Fahrwasser nicht genug, um einem Sturm mit Ruhe
begegnen zu können. Er ließ alle Segel einziehen, und
wir trieben ganz langsam hin. Die Nacht war angebrochen, war hell
und kalt, und der Kapitän glaubte schon, sich in den Anzeichen
des Sturmes getäuscht zu haben. Auf einmal schwebte ein Schiff,
das wir vorher nicht gesehen hatten, dicht an dem unsrigen vorbei.
Wildes Jauchzen und Geschrei erscholl aus dem Verdeck herüber,
worüber ich mich zu dieser angstvollen Stunde vor einem Sturm
nicht wenig wunderte. Aber der Kapitän an meiner Seite wurde
blass wie der Tod. "Mein Schiff ist verloren", rief er,
"dort segelt der Tod!"
Ehe ich ihn noch über diesen sonderbaren Ausruf befragen konnte,
stürzten schon heulend und schreiend die Matrosen herein. "Habt
ihr ihn gesehen?" schrien sie. "Jetzt ist's mit uns vorbei!"
Der Kapitän aber ließ Trostsprüche aus dem Koran
vorlesen und setzte sich selbst ans Steuerruder. Aber vergebens!
Zusehends brauste der Sturm auf, und ehe eine Stunde verging, krachte
das Schiff und blieb sitzen. Die Boote wurden ausgesetzt, und kaum
hatten sich die letzten Matrosen gerettet, so versank das Schiff
vor unseren Augen, und als ein Bettler fuhr ich in die See hinaus.
Aber der Jammer hatte noch kein Ende. Fürchterlicher tobte
der Sturm; das Boot war nicht mehr zu regieren. Ich hatte meinen
alten Diener fest umschlungen, und wir versprachen uns, nie voneinander
zu weichen. Endlich brach der Tag an. Aber mit dem ersten Anblick
der Morgenröte faßte der Wind das Boot, in welchem wir
saßen, und stürzte es um. Ich habe keinen meiner Schiffsleute
mehr gesehen. Der Sturz hatte mich betäubt; und als ich aufwachte,
befand ich mich in den Armen meines alten treuen Dieners, der sich
auf das umgeschlagene Boot gerettet und mich nachgezogen hatte.
Der Sturm hatte sich gelegt. Von unserem Schiff war nichts mehr
zu sehen, wohl aber entdeckten wir nicht weit von uns ein anderes
Schiff, auf das die Wellen uns hintrieben. Als wir näher hinzukamen,
erkannte ich das Schiff als dasselbe, das in der Nacht an uns vorbeifuhr
und welches den Kapitän so sehr in Schrecken gesetzt hatte.
Ich empfand ein sonderbares Grauen vor diesem Schiffe. Die Äußerung
des Kapitäns, die sich so furchtbar bestätigt hatte, das
öde Aussehen des Schiffes, auf dem sich, so nahe wir auch herankamen,
so laut wir schrien, niemand zeigte, erschreckten mich. Doch es
war unser einziges Rettungsmittel; darum priesen wir den Propheten,
der uns so wundervoll erhalten hatte.
Am Vorderteil des Schiffes hing ein langes Tau herab. Mit Händen
und Füßen ruderten wir darauf zu, um es zu erfassen.
Endlich glückte es. Noch einmal erhob ich meine Stimme, aber
immer blieb es still auf dem Schiff. Da klimmten wir an dem Tau
hinauf, ich als der Jüngste voran. Aber Entsetzen! Welches
Schauspiel stellte sich meinem Auge dar, als ich das Verdeck betrat!
Der Boden war mit Blut gerötet, zwanzig bis dreißig Leichname
in türkischen Kleidern lagen auf dem Boden, am mittleren Mastbaum
stand ein Mann, reich gekleidet, den Säbel in der Hand, aber
das Gesicht war blaß und verzerrt, durch die Stirn ging ein
großer Nagel, der ihn an den Mastbaum heftete, auch er war
tot. Schrecken fesselte meine Schritte, ich wagte kaum zu atmen.
Endlich war auch mein Begleiter heraufgekommen. Auch ihn überraschte
der Anblick des Verdecks, das gar nichts Lebendiges, sondern nur
so viele schreckliche Tote zeigte. Wir wagten es endlich, nachdem
wir in der Seelenangst zum Propheten gefleht hatten, weiter vorzuschreiten.
Bei jedem Schritte sahen wir uns um, ob nicht etwas Neues, noch
Schrecklicheres sich darbiete; aber alles blieb, wie es war; weit
und breit nichts Lebendiges als wir und das Weltmeer. Nicht einmal
laut zu sprechen wagten wir, aus Furcht, der tote, am Mast angespießte
Kapitano möchte seine starren Augen nach uns hindrehen oder
einer der Getöteten möchte seinen Kopf umwenden. Endlich
waren wir bis an eine Treppe gekommen, die in den Schiffsraum führte.
Unwillkürlich machten wir dort halt und sahen einander an,
denn keiner wagte es recht, seine Gedanken zu äußern.
"O Herr", sprach mein treuer Diener, "hier ist etwas
Schreckliches geschehen. Doch wenn auch das Schiff da unten voll
Mörder steckt, so will ich mich ihnen doch lieber auf Gnade
und Ungnade ergeben, als längere Zeit unter diesen Toten zubringen."
Ich dachte wie er; wir fassten uns ein Herz und stiegen voll Erwartung
hinunter. Totenstille war aber auch hier, und nur unsere Schritte
hallten auf der Treppe. Wir standen an der Türe der Kajüte.
Ich legte mein Ohr an die Türe und lauschte; es war nichts
zu hören. Ich machte auf. Das Gemach bot einen unordentlichen
Anblick dar. Kleider, Waffen und andere Geräte lagen untereinander.
Nichts in Ordnung. Die Mannschaft oder wenigstens der Kapitano mussten
vor kurzem gezechet haben; denn es lag alles noch umher. Wir gingen
weiter von Raum zu Raum, von Gemach zu Gemach, überall fanden
wir herrliche Vorräte in Seide, Perlen, Zucker und so weiter.
Ich war vor Freude über diesen Anblick außer mir, denn
da niemand auf dem Schiff war, glaubte ich, alles mir zueignen zu
dürfen, Ibrahim aber machte mich aufmerksam darauf, dass wir
wahrscheinlich noch sehr weit vom Lande seien, wohin wir allein
und ohne menschliche Hilfe nicht kommen könnten.
Wir labten uns an den Speisen und Getränken, die wir in reichem
Maß vorfanden, und stiegen endlich wieder aufs Verdeck. Aber
hier schauderte uns immer die Haut ob dem schrecklichen Anblick
der Leichen. Wir beschlossen, uns davon zu befreien und sie über
Bord zu werfen; aber wie schauerlich ward uns zumut, als wir fanden,
dass sich keiner aus seiner Lage bewegen ließ. Wie festgebannt
lagen sie am Boden, und man hätte den Boden des Verdecks ausheben
müssen, um sie zu entfernen, und dazu gebrach es uns an Werkzeugen.
Auch der Kapitano ließ sich nicht von seinem Mast losmachen;
nicht einmal seinen Säbel konnten wir der starren Hand entwinden.
Wir brachten den Tag in trauriger Betrachtung unserer Lage zu, und
als es Nacht zu werden anfing, erlaubte ich dem alten Ibrahim, sich
schlafen zu legen, ich selbst aber wollte auf dem Verdeck wachen,
um nach Rettung auszuspähen. Als aber der Mond heraufkam und
ich nach den Gestirnen berechnete, dass es wohl um die elfte Stunde
sei, überfiel mich ein so unwiderstehlicher Schlaf, dass ich
unwillkürlich hinter ein Fass, das auf dem Verdeck stand, zurückfiel.
Doch war es mehr Betäubung als Schlaf, denn ich hörte
deutlich die See an der Seite des Schiffes anschlagen und die Segel
vom Winde knarren und pfeifen. Auf einmal glaubte ich Stimmen und
Männertritte auf dem Verdeck zu hören. Ich wollte mich
aufrichten, um danach zu schauen. Aber eine unsichtbare Gewalt hielt
meine Glieder gefesselt; nicht einmal die Augen konnte ich aufschlagen.
Aber immer deutlicher wurden die Stimmen, es war mir, als wenn ein
fröhliches Schiffsvolk auf dem Verdeck sich umhertriebe; mitunter
glaubte ich, die kräftige Stimme eines Befehlenden zu hören,
auch hörte ich Taue und Segel deutlich auf- und abziehen. Nach
und nach aber schwanden mir die Sinne, ich verfiel in einen tieferen
Schlaf, in dem ich nur noch ein Geräusch von Waffen zu hören
glaubte, und erwachte erst, als die Sonne schon hoch stand und mir
aufs Gesicht brannte. Verwundert schaute ich mich um, Sturm, Schiff,
die Toten und was ich in dieser Nacht gehört hatte, kam mir
wie ein Traum vor, aber als ich aufblickte, fand ich alles wie gestern.
Unbeweglich lagen die Toten, unbeweglich war der Kapitano an den
Mastbaum geheftet. Ich lachte über meinen Traum und stand auf,
um meinen Alten zu suchen.
Dieser saß ganz nachdenklich in der Kajüte. "O
Herr!" rief er aus, als ich zu ihm hineintrat, "ich wollte
lieber im tiefsten Grund des Meeres liegen, als in diesem verhexten
Schiff noch eine Nacht zubringen."
Ich fragte ihn nach der Ursache seines Kummers, und er antwortete
mir: "Als ich einige Stunden geschlafen hatte, wachte ich auf
und vernahm, wie man über meinem Haupt hin und her lief. Ich
dachte zuerst, Ihr wäret es, aber es waren wenigstens zwanzig,
die oben umherliefen; auch hörte ich rufen und schreien. Endlich
kamen schwere Tritte die Treppe herab. Da wusste ich nichts mehr
von mir, nur hie und da kehrte auf einige Augenblicke meine Besinnung
zurück, und da sah ich dann denselben Mann, der oben am Mast
angenagelt ist, an jenem Tisch dort sitzen, singend und trinkend;
aber der, der in einem roten Scharlachkleid nicht weit von ihm am
Boden liegt, saß neben ihm und half ihm trinken." Also
erzählte mir mein alter Diener.
Ihr könnt mir es glauben, meine Freunde, dass mir gar nicht
wohl zumute war; denn es war keine Täuschung, ich hatte ja
auch die Toten gar wohl gehört. In solcher Gesellschaft zu
schiffen, war mir greulich. Mein Ibrahim aber versank wieder in
tiefes Nachdenken.
"Jetzt hab' ich's!" rief er endlich aus; es fiel ihm nämlich
ein Sprüchlein ein, das ihn sein Großvater, ein erfahrener,
weitgereister Mann, gelehrt hatte und das gegen jeden Geister- und
Zauberspuk helfen sollte; auch behauptete er, jenen unnatürlichen
Schlaf, der uns befiel, in der nächsten Nacht verhindern zu
können, wenn wir nämlich recht eifrig Sprüche aus
dem Koran beteten.
Der Vorschlag des alten Mannes gefiel mir wohl. In banger Erwartung
sahen wir die Nacht herankommen. Neben der Kajüte war ein kleines
Kämmerchen, dorthin beschlossen wir uns zurückzuziehen.
Wir bohrten mehrere Löcher in die Türe, hinlänglich
groß, um durch sie die ganze Kajüte zu überschauen,
dann verschlossen wir die Türe, so gut es ging, von innen,
und Ibrahim schrieb den Namen des Propheten in alle vier Ecken.
So erwarteten wir die Schrecken der Nacht. Es mochte wieder ungefähr
elf Uhr sein, als es mich gewaltig zu schläfern anfing. Mein
Gefährte riet mir daher, einige Sprüche des Korans zu
beten, was mir auch half. Mit einem Male schien es oben lebhaft
zu werden; die Taue knarrten, Schritte gingen über das Verdeck,
und mehrere Stimmen waren deutlich zu unterscheiden Mehrere
Minuten hatten wir so in gespannter Erwartung gesessen, da hörten
wir etwas die Treppe der Kajüte herabkommen. Als dies der Alte
hörte, fing er an, den Spruch, den ihn sein Großvater
gegen Spuk und Zauberei gelehrt hatte, herzusagen:
"Kommt ihr herab aus der Luft,
Steigt ihr aus tiefem Meer,
Schlieft ihr in dunkler Gruft,
Stammt ihr vom Feuer her:
Allah ist euer Herr und Meister,
ihm sind gehorsam alle Geister."
Ich muss gestehen, ich glaubte gar nicht recht an diesen Spruch,
und mir stieg das Haar zu Berg, als die Tür aufflog. Herein
trat jener große, stattliche Mann, den ich am Mastbaum angenagelt
gesehen hatte. Der Nagel ging ihm auch jetzt mitten durchs Hirn;
das Schwert aber hatte er in die Scheide gesteckt; hinter ihm trat
noch ein anderer herein, weniger kostbar gekleidet; auch ihn hatte
ich oben liegen sehen. Der Kapitano, denn dies war er unverkennbar,
hatte ein bleiches Gesicht, einen großen, schwarzen Bart,
wildrollende Augen, mit denen er sich im ganzen Gemach umsah. Ich
konnte ihn ganz deutlich sehen, als er an unserer Türe vorüberging;
er aber schien gar nicht auf die Türe zu achten, die uns verbarg.
Beide setzten sich an den Tisch, der in der Mitte der Kajüte
stand, und sprachen laut und fast schreiend miteinander in einer
unbekannten Sprache. Sie wurden immer lauter und eifriger, bis endlich
der Kapitano mit geballter Faust auf den Tisch hineinschlug, dass
das Zimmer dröhnte. Mit wildem Gelächter sprang der andere
auf und winkte dem Kapitano, ihm zu folgen. Dieser stand auf, riss
seinen Säbel aus der Scheide, und beide verließen das
Gemach. Wir atmeten freier, als sie weg waren; aber unsere Angst
hatte noch lange kein Ende. Immer lauter und lauter ward es auf
dem Verdeck. Man hörte eilends hin und her laufen und schreien,
lachen und heulen. Endlich ging ein wahrhaft höllischer Lärm
los, so daß wir glaubten, das Verdeck mit allen Segeln komme
zu uns herab, Waffengeklirr und Geschrei auf einmal aber
tiefe Stille. Als wir es nach vielen Stunden wagten hinaufzugehen,
trafen wir alles wie sonst; nicht einer lag anders als früher.
Alle waren steif wie Holz.
So waren wir mehrere Tage auf dem Schiffe; es ging immer nach Osten,
wohin zu, nach meiner Berechnung, Land liegen musste; aber wenn
es auch bei Tag viele Meilen zurückgelegt hatte, bei Nacht
schien es immer wieder zurückzukehren, denn wir befanden uns
immer wieder am nämlichen Fleck, wenn die Sonne aufging. Wir
konnten uns dies nicht anders erklären, als dass die Toten
jede Nacht mit vollem Winde zurücksegelten. Um nun dies zu
verhüten, zogen wir, ehe es Nacht wurde, alle Segel ein und
wandten dasselbe Mittel an wie bei der Türe in der Kajüte;
wir schrieben den Namen des Propheten auf Pergament und auch das
Sprüchlein des Großvaters dazu und banden es um die eingezogenen
Segel. Ängstlich warteten wir in unserem Kämmerchen den
Erfolg ab. Der Spuk schien diesmal noch ärger zu toben, aber
siehe, am anderen Morgen waren die Segel noch aufgerollt, wie wir
sie verlassen hatten. Wir spannten den Tag über nur so viele
Segel auf, als nötig waren, das Schiff sanft fortzutreiben,
und so legten wir in fünf Tagen eine gute Strecke zurück.
Endlich, am Morgen des sechsten Tages, entdeckten wir in geringer
Ferne Land, und wir dankten Allah und seinem Propheten für
unsere wunderbare Rettung. Diesen Tag und die folgende Nacht trieben
wir an einer Küste hin, und am siebenten Morgen glaubten wir
in geringer Entfernung eine Stadt zu entdecken; wir ließen
mit vieler Mühe einen Anker in die See, der alsobald Grund
fasste, setzten ein kleines Boot, das auf dem Verdeck stand, aus
und ruderten mit aller Macht der Stadt zu. Nach einer halben Stunde
liefen wir in einen Fluss ein, der sich in die See ergoss, und stiegen
ans Ufer. Am Stadttor erkundigten wir uns, wie die Stadt heiße,
und erfuhren, dass es eine indische Stadt sei, nicht weit von der
Gegend, wohin ich zuerst zu schiffen willens war. Wir begaben uns
in eine Karawanserei und erfrischten uns von unserer abenteuerlichen
Reise. Ich forschte daselbst auch nach einem weisen und verständigen
Manne, indem ich dem Wirt zu verstehen gab, dass ich einen solchen
haben möchte, der sich ein wenig auf Zauberei verstehe. Er
führte mich in eine abgelegene Straße, an ein unscheinbares
Haus, pochte an, und man ließ mich eintreten mit der Weisung,
ich solle nur nach Muley fragen.
In dem Hause kam mir ein altes Männlein mit grauem Bart und
langer Nase entgegen und fragte nach meinem Begehr. Ich sagte ihm,
ich suche den weisen Muley, und er antwortete mir, er sei es selbst.
Ich fragte ihn nun um Rat, was ich mit den Toten machen solle und
wie ich es angreifen müsse, um sie aus dem Schiff zu bringen.
Er antwortete mir, die Leute des Schiffes seien wahrscheinlich wegen
irgendeines Frevels auf das Meer verzaubert; er glaube, der Zauber
werde sich lösen, wenn man sie ans Land bringe; dies könne
aber nicht geschehen, als wenn man die Bretter, auf denen sie lägen,
losmache. Mir gehöre von Gott und Rechts wegen das Schiff samt
allen Gütern, weil ich es gleichsam gefunden habe; doch solle
ich alles sehr geheimzuhalten trachten und ihm ein kleines Geschenk
von meinem Überfluss machen; er wolle dafür mit seinen
Sklaven mir behilflich sein, die Toten wegzuschaffen. Ich versprach,
ihn reichlich zu belohnen, und wir machten uns mit fünf Sklaven,
die mit Sägen und Beilen versehen waren, auf den Weg. Unterwegs
konnte der Zauberer Muley unseren glücklichen Einfall, die
Segel mit den Sprüchen des Korans zu umwinden, nicht genug
loben. Er sagte, es sei dies das einzige Mittel gewesen, uns zu
retten.
Es war noch ziemlich früh am Tage, als wir beim Schiff ankamen.
Wir machten uns alle sogleich ans Werk, und in einer Stunde lagen
schon vier in dem Nachen. Einige der Sklaven mussten sie an Land
rudern, um sie dort zu verscharren. Sie erzählten, als sie
zurückkamen, die Toten hätten ihnen die Mühe des
Begrabens erspart, indem sie, sowie man sie auf die Erde gelegt
habe, in Staub zerfallen seien. Wir fuhren fort, die Toten abzusägen,
und bis vor Abend waren alle an Land gebracht. Es war endlich keiner
mehr an Bord als der, welcher am Mast angenagelt war. Umsonst suchten
wir den Nagel aus dem Holze zu ziehen, keine Gewalt vermochte ihn
auch nur ein Haarbreit zu verrücken. ich wusste nicht, was
anzufangen war; man konnte doch nicht den Mastbaum abhauen, um ihn
ans Land zu führen. Doch aus dieser Verlegenheit half Muley.
Er ließ schnell einen Sklaven an Land rudern, um einen Topf
mit Erde zu bringen. Als dieser herbeigeholt war, sprach der Zauberer
geheimnisvolle Worte darüber aus und schüttete die Erde
auf das Haupt des Toten. Sogleich schlug dieser die Augen auf, holte
tief Atem, und die Wunde des Nagels in seiner Stirne fing an zu
bluten. Wir zogen den Nagel jetzt leicht heraus, und der Verwundete
fiel einem Sklaven in die Arme.
"Wer hat mich hierhergeführt?" sprach er, nachdem
er sich ein wenig erholt zu haben schien. Muley zeigte auf mich,
und ich trat zu ihm. "Dank dir, unbekannter Fremdling, du hast
mich von langen Qualen errettet. Seit fünfzig Jahren schifft
mein Leib durch diese Wogen, und mein Geist war verdammt, jede Nacht
in ihn zurückzukehren. Aber jetzt hat mein Haupt die Erde berührt,
und ich kann versöhnt zu meinen Vätern gehen."
Ich bat ihn, uns doch zu sagen, wie er zu diesem schrecklichen
Zustand gekommen sei, und er sprach: "Vor fünfzig Jahren
war ich ein mächtiger, angesehener Mann und wohnte in Algier;
die Sucht nach Gewinn trieb mich, ein Schiff auszurüsten und
Seeraub zu treiben. Ich hatte dieses Geschäft schon einige
Zeit fortgeführt, da nahm ich einmal auf Zante einen Derwisch
an Bord, der umsonst reisen wollte. Ich und meine Gesellen waren
rohe Leute und achteten nicht auf die Heiligkeit des Mannes; vielmehr
trieb ich mein Gespött mit ihm. Als er aber einst in heiligem
Eifer mir meinen sündigen Lebenswandel verwiesen hatte, übermannte
mich nachts in meiner Kajüte, als ich mit meinem Steuermann
viel getrunken hatte, der Zorn. Wütend über das, was mir
ein Derwisch gesagt hatte und was ich mir von keinem Sultan hätte
sagen lassen, stürzte ich aufs Verdeck und stieß ihm
meinen Dolch in die Brust. Sterbend verwünschte er mich und
meine Mannschaft, nicht sterben und nicht leben zu können,
bis wir unser Haupt auf die Erde legten. Der Derwisch starb, und
wir warfen ihn in die See und verlachten seine Drohungen; aber noch
in derselben Nacht erfüllten sich seine Worte. Ein Teil meiner
Mannschaft empörte sich gegen mich Mit fürchterlicher
Wut wurde gestritten, bis meine Anhänger unterlagen und ich
an den Mast genagelt wurde. Aber auch die Empörer erlagen ihren
Wunden, und bald war mein Schiff nur ein großes Grab. Auch
mir brachen die Augen, mein Atem hielt an, und ich meinte zu sterben.
Aber es war nur eine Erstarrung, die mich gefesselt hielt; in der
nächsten Nacht, zur nämlichen Stunde, da wir den Derwisch
in die See geworfen, erwachten ich und alle meine Genossen, das
Leben war zurückgekehrt, aber wir konnten nichts tun und sprechen,
als was wir in jener Nacht gesprochen und getan hatten. So segeln
wir seit fünfzig Jahren, können nicht leben, nicht sterben;
denn wie konnten wir das Land erreichen? Mit toller Freude segelten
wir allemal mit vollen Segeln in den Sturm, weil wir hofften, endlich
an einer Klippe zu zerschellen und das müde Haupt auf dem Grund
des Meeres zur Ruhe zu legen. Es ist uns nicht gelungen. Jetzt aber
werde ich sterben. Noch einmal meinen Dank, unbekannter Retter,
wenn Schätze dich lohnen können, so nimm mein Schiff als
Zeichen meiner Dankbarkeit."
Der Kapitano ließ sein Haupt sinken, als er so gesprochen
hatte, und verschied. Sogleich zerfiel er auch, wie seine Gefährten,
in Staub. Wir sammelten diesen in ein Kästchen und begruben
ihn an Land; aus der Stadt nahm ich aber Arbeiter, die mir mein
Schiff in guten Zustand setzten. Nachdem ich die Waren, die ich
an Bord hatte, gegen andere mit großem Gewinn eingetauscht
hatte, mietete ich Matrosen, beschenkte meinen Freund Muley reichlich
und schiffte mich nach meinem Vaterlande ein. Ich machte aber einen
Umweg, indem ich an vielen Inseln und Ländern landete und meine
Waren zu Markt brachte. Der Prophet segnete mein Unternehmen. Nach
dreiviertel Jahren lief ich, noch einmal so reich, als mich der
sterbende Kapitän gemacht hatte, in Balsora ein. Meine Mitbürger
waren erstaunt über meine Reichtümer und mein Glück
und glaubten nicht anders, als dass ich das Diamantental des berühmten
Reisenden Sindbad gefunden habe. Ich ließ sie in ihrem Glauben,
von nun an aber mussten die jungen Leute von Balsora, wenn sie kaum
achtzehn Jahre alt waren, in die Welt hinaus, um gleich mir ihr
Glück zu machen. Ich aber lebte ruhig und in Frieden, und alle
fünf Jahre mache ich eine Reise nach Mekka, um dem Herrn an
heiliger Stätte für seinen Segen zu danken und für
den Kapitano und seine Leute zu bitten, dass er sie in sein Paradies
aufnehme.
Wilhelm Hauff. Die Geschichte von dem Gespensterschiff.
Aus: Wilhelm Hauff: Märchen-Almanach für Söhne und Töchter
gebildeter Stände. J.B. Metzler'sche Buchhandlung. Stuttgart
1826.
* * *
Die schwarze Spinne
Erzählung
von Jeremias Gotthelf
Über die Berge hob sich die Sonne, leuchtete in klarer Majestät
in ein freundliches, aber enges Tal und weckte zu fröhlichem
Leben die Geschöpfe, die geschaffen sind, an der Sonne ihres
Lebens sich zu freuen. Aus vergoldetem Waldessaume schmetterte die
Amsel ihr Morgenlied, zwischen funkelnden Blumen in perlendem Grase
tönte der sehnsüchtigen Wachtel eintönend Minnelied,
über dunkeln Tannen tanzten brünstige Krähen ihren
Hochzeitreigen oder krächzten zärtliche Wiegenlieder über
die dornichten Bettchen ihrer ungefiederten Jungen.
Ölgemälde: Franz Barbarini
In der Mitte der sonnenreichen Halde hatte die Natur einen fruchtbaren,
beschirmten Boden eingegraben; mittendrin stand stattlich und blank
ein schönes Haus, eingefasst von einem prächtigen Baumgarten,
in welchem noch einige Hochäpfelbäume prangten in ihrem
späten Blumenkleide; halb stund das vom Hausbrunnen bewässerte
üppige Gras noch, halb war es bereits dem Futtergange zugewandert.
Um das Haus lag ein sonntäglicher Glanz, den man mit einigen
Besenstrichen, angebracht Samstag abends zwischen Tag und Nacht,
nicht zu erzeugen vermag, der ein Zeugnis ist des köstlichen
Erbgutes angestammter Reinlichkeit, die alle Tage gepflegt werden
muss, der Familienehre gleich, welcher eine einzige unbewachte Stunde
Flecken bringen kann, die Blutflecken gleich unauslöschlich
bleiben von Geschlecht zu Geschlecht, jeder Tünche spottend.
Nicht umsonst glänzte die durch Gottes Hand erbaute Erde und
das von Menschenhänden erbaute Haus im reinsten Schmucke; über
beide erglänzte heute ein Stern am blauen Himmel, ein hoher
Feiertag. Es war der Tag, an welchem der Sohn wieder zum Vater gegangen
war zum Zeugnis, dass die Leiter noch am Himmel stehe, auf welcher
Engel auf- und niedersteigen und die Seele des Menschen, wenn sie
dem Leibe sich entwindet, und ihr Heil und Augenmerk beim Vater
droben war und nicht hier auf Erden; es war der Tag, an welchem
die ganze Pflanzenwelt dem Himmel entgegenwächst und blüht
in voller Üppigkeit, dem Menschen ein alle Jahre neu werdendes
Sinnbild seiner eigenen Bestimmung. Wunderbar klang es über
die Hügel her, man wusste nicht, woher das Klingen kam, es
tönte wie von allen Seiten; es kam von den Kirchen her draußen
in den weiten Tälern; von dorther kündeten die Glocken,
dass die Tempel Gottes sich öffnen allen, deren Herzen offen
seien der Stimme ihres Gottes.
Ein reges Leben bewegte sich um das schöne Haus. In des Brunnens
Nähe wurden mit besonderer Sorgfalt Pferde gestriegelt, stattliche
Mütter, umgaukelt von lustigen Füllen; im breiten Brunnentroge
stillten behaglich blickende Kühe ihren Durst, und zweimal
musste der Bube Besen und Schaufel nehmen, weil er die Spuren ihrer
Behaglichkeit nicht sauber genug weggeräumt. Herzhaft wuschen
am Brunnen mit einem handlichen Zwilchfetzen stämmige Mägde
ihre rotbrächten Gesichter, die Haare in zwei Knäuel über
den Ohren zusammengedreht, trugen mit eilfertiger Emsigkeit Wasser
durch die geöffnete Türe, und in mächtigen Stößen
hob sich gerade und hoch in die blaue Luft empor aus kurzem Schornsteine
die dunkle Rauchsäule.
Langsam und gebeugt ging an einem Hakenstock der Großvater
um das Haus, sah schweigend dem Treiben der Knechte und Mägde
zu, streichelte hier ein Pferd, wehrte dort einer Kuh ihren schwerfälligen
Mutwillen, zeigte mit dem Stecken dem unachtsamen Buben noch hier
und dort vergessene Strohhalme und nahm dazu fleißig aus der
langen Weste tiefer Tasche das Feuerzeug, um seine Pfeife, an der
er des Morgens trotz ihres schweren Atems so wohllebte, wieder anzuzünden.
Auf rein gefegter Bank vor dem Hause neben der Türe saß
die Großmutter, schönes Brot schneidend in eine mächtige
Kachel, dünn und in eben rechter Größe jeden Bissen,
nicht so unachtsam wie Köchinnen oder Stubenmägde, die
manchmal Stücke machen, an denen ein Walfisch ersticken müsste.
Wohlgenährte, stolze Hühner und schöne Tauben stritten
sich um die Brosamen zu ihren Füßen, und wenn ein schüchternes
Täubchen zu kurz kam, so warf ihm die Großmutter ein
Stücklein eigens zu, es tröstend mit freundlichen Worten
über den Unverstand und den Ungestüm der andern.
Drinnen in der weiten, reinen Küche knisterte ein mächtiges
Feuer von Tannenholz, in weiter Pfanne knallten Kaffeebohnen, die
eine stattliche Frau mit hölzerner Kelle durcheinander rührte,
nebenbei knarrte die Kaffeemühle zwischen den Knien einer frischgewaschenen
Magd; unter der offenen Stubentüre aber stund, den offenen
Kaffeesack noch in der Hand, eine schöne, etwas blasse Frau
und sagte: "Du, Hebamme, röste mir den Kaffee heute nicht
so schwarz, sie könnten sonst meinen, ich hätte das Pulver
sparen mögen. Des Göttis (Paten) Frau ist gar grausam
misstreu und legt einem alles zuungunsten aus. Es kömmt heute
auf ein halb Pfund mehr oder weniger nicht an. Vergiss auch ja nicht,
das Weinwarm zu rechter Zeit bereitzuhalten! Der Großvater
würde meinen, es wäre nicht Kindstaufe, wenn man den Gevatterleuten
nicht ein Weinwarm aufstellen würde, ehe sie zur Kirche gehen.
Spare nichts daran, hörst du! Dort in der Schüssel auf
der Kachelbank ist Safran und Zimmet, der Zucker ist hier auf dem
Tische, und nimm Wein, dass es dich dünkt, es sei wenigstens
halb zuviel; an einer Kindstaufe braucht man nie Kummer zu haben,
dass sich die Sache nicht brauche."
Man hört, es soll heute die Kindstaufe gehalten werden im
Hause, und die Hebamme versieht das Amt der Köchin ebenso geschickt
als früher das Amt der Wehmutter; aber sputen muss sie sich,
wenn sie zu rechter Zeit fertig werden und am einfachen Herde alles
kochen soll, was die Sitte fordert.
Aus dem Keller kam mit einem mächtigen Stück Käse
in der Hand ein stämmiger Mann, nahm vom blanken Kachelbank
den ersten besten Teller, legte den Käse darauf und wollte
ihn in die Stube auf den Tisch tragen von braunem Nußbaumholz.
"Aber Benz, aber Benz", rief die schöne, blasse Frau,
"wie würden sie lachen, wenn wir keinen bessern Teller
hätten an der Kindstaufe!"
Und zum glänzenden Schrank aus Kirschbaumholz, Buffert genannt,
ging sie, wo hinter Glasfenstern des Hauses Zierden prangten. Dort
nahm sie einen schönen Teller, blau gerändert, in der
Mitte einen großen Blumenstrauß, der umgeben war von
sinnigen Sprüchen, zum Beispiel:
O Mensch, fass in Gedanken:
Drei Batzen gilt ds Pfund Anken.
Gott gibt dem Menschen Gnad,
Ich aber wohn im Maad.
In der Hölle, da ist es heiß,
Und der Hafner schafft mit Fleiß.
Die Kuh, die frisst das Gras;
Der Mensch, der muss ins Grab.
Neben den Käse stellte sie die mächtige Züpfe, das
eigentümliche Berner Backwerk, geflochten wie die Zöpfe
der Weiber, schön braun und gelb, aus dem feinsten Mehl, Eiern
und Butter gebacken, groß wie ein jähriges und fast ebenso
schwer; und oben und unten pflanzte sie noch zwei Teller. Hochaufgetürmt
lagen auf denselben die appetitlichen Küchlein, Habküchlein
auf dem einen, Eierküchlein auf dem andern. Heiße, dicke
Nidel stund in schön geblümten Hafen zugedeckt auf dem
Ofen, und in der dreibeinigen, glänzenden Kanne mit gelbem
Deckel kochte der Kaffee. So harrte auf die erwarteten Gevatterleute
ein Frühstück, wie es Fürsten selten haben und keine
Bauren auf der Welt als die Berner. Tausende von Engländern
rennen durch die Schweiz, aber weder einem der abgejagten Lords
noch einer der steifbeinichten Ladies ist je ein solches Frühstück
geworden.
"Wenn sie nur bald kämen, es wäre alles bereit!"
seufzte die Hebamme. "Es geht jedenfalls eine gute Zeit, bis
alles fertig ist und ein jedes seine Sache gehabt hat, und der Pfarrer
ist grausam pünktlich und gibt scharfe Verweise, wenn man nicht
da ist zu rechter Zeit."
"Der Großvater erlaubt auch nie, das Wägeli zu nehmen",
sagte die junge Frau. "Er hat den Glauben, dass ein Kind, welches
man nicht zur Taufe trage, sondern führe, träge werde
und sein Lebtag seine Beine nie recht brauchen lerne. Wenn nur die
Gotte (Patin) da wäre, die versäumt am längsten,
die Göttene machen es kürzer und könnten immerhin
nachlaufen."
Die Angst nach den Gevatterleuten verbreitete sich durchs ganze
Haus.
"Kommen sie noch nicht?" hörte man allenthalben;
in allen Ecken des Hauses schauten Gesichter nach ihnen aus, und
der Türk bellte aus Leibeskräften, als ob er sie herbeirufen
wollte.
Die Großmutter aber sagte: "Ehemals ist das doch nicht
so gewesen, da wusste man, dass man an solchen Tagen zu rechter
Zeit aufzustehen habe und der Herr niemanden warte."
Endlich stürzte der Bub in die Küche mit der Nachricht,
die Gotte komme.
Sie kam, schweißbedeckt und beladen wie das Neujahrkindlein.
In der einen Hand hatte sie die schwarzen Schnüre eines großen,
blumenreichen Wartsäckleins, in welchem, in ein fein, weißes
Handtuch gewickelt, eine große Züpfe stach, ein Geschenk
für die Kindbetterin. In der andern Hand trug sie ein zweites
Säcklein, und in demselben war eine Kleidung für das Kind
nebst etwelchen Stücken zu eigenem Gebrauch, namentlich schöne
weiße Strümpfe; und unter dem einen Arme hatte sie noch
eine Drucke mit dem Kränzchen und der Spitzenkappe mit den
prächtigen, schwarzseidenen Haarschnüren. Freudig tönten
ihr die Gottwillchen (in Gott willkommen) entgegen von allen Seiten,
und kaum hatte sie Zeit, von ihren Bürden eine abzustellen,
um den entgegengestreckten Händen freundlich zu begegnen. Von
allen Seiten streckten sich dienstbare Hände nach ihren Lasten,
und unter der Türe stand die junge Frau, und da ging ein neues
Grüßen an, bis die Hebamme in die Stube mahnte: sie könnten
ja drinnen einander sagen, was der Brauch sei.
Und mit handlichen Manieren setzte die Hebamme die Gotte hinter
den Tisch, und die junge Frau kam mit dem Kaffee, wie sehr auch
die Gotte sich weigerte und vorgab, sie hätte schon gehabt.
Des Vaters Schwester täte es nicht, dass sie ungegessen aus
dem Hause ginge, das schade jungen Mädchen gar übel, sage
sie. Aber sie sei schon alt, und die Jungfrauen (Mägde) möchten
auch nicht zu rechter Zeit auf, deswegen sei sie so spät; wenn
es an ihr allein gelegen hätte, sie wäre längstens
da. In den Kaffee wurde die dicke Nidel gegossen, und wie sehr die
Gotte sich wehrte und sagte, sie liebe es gar nicht, warf ihr doch
die Frau ein Stück Zucker in denselben. Lange wollte es die
Gotte nicht zulassen, dass ihretwegen die Züpfe angehauen würde,
indessen musste sie sich ein tüchtiges Stück vorlegen
lassen und essen. Käse wollte sie lange nicht, es hätte
dessen gar nicht nötig, sagte sie. Sie werde meinen, es sei
nur halbmagern, und, deshalb schätze sie ihn nicht, sagte die
Frau, und die Gotte musste sich ergeben. Aber Küchli wollte
sie durchaus nicht, die wüsste sie gar nicht wohin tun, sagte
sie. Sie glaube nur, sie seien nicht sauber, und werde an bessere
gewöhnt sein, erhielt sie endlich zur Antwort. Was sollte sie
anders machen als Küchli essen? Während dem Nöten
aller Art hatte sie abgemessen in kleinen Schlücken das erste
Kacheli ausgetrunken, und nun erhob sich ein eigentlicher Streit.
Die Gotte kehrte das Kacheli um, wollte gar keinen Platz mehr haben
für fernere Guttaten und sagte: man solle sie doch in Ruhe
lassen, sonst müsste sie sich noch verschwören. Da sagte
die Frau, es sei ihr doch so leid, dass sie ihn so schlecht finde,
sie hätte doch der Hebamme dringlichst befohlen, ihn so gut
als möglich zu machen, sie vermochte sich dessen wahrhaftig
nichts, dass er so schlecht sei, dass ihn niemand trinken möge,
und an der Nidle sollte es doch auch nicht fehlen, sie hätte
dieselbe abgenommen, wie sie es sonst nicht alle Tage im Brauch
hätte. Was sollte die arme Gotte anders machen als noch ein
Kacheli sich einschenken lassen?
Ungeduldig war schon lange die Hebamme herumgetrippelt, und endlich
bändigte sie das Wort nicht länger, sondern sagte: "Wenn
ich dir etwas helfen kann, so sage es nur, ich habe wohl Zeit dazu!"
"He, pressiere doch nicht!" sagte die Frau.
Die arme Gotte aber, die rauchte wie ein Dampfkessel, verstand den
Wink, versorgete den heißen Kaffee so schnell als möglich
und sagte zwischen den Absätzen, zu denen der glühende
Trank sie zwang: "Ich wäre schon lange zweg, wenn ich
nicht mehr hätte nehmen müssen, als ich hinunterbringen
kann, aber ich komme jetzt."
Sie stund auf, packte die Säcklein aus, übergab Züpfe,
Kleidung, Einbund ein blanker Neutaler, eingewickelt in den
schön gemalten Taufspruch und machte manche Entschuldigung,
dass alles nicht besser sei. Darein aber redete die Hausmutter mit
manchem Ausruf, wie das keine Art und Gattung hätte, sich so
zu verköstigen, wie man es fast nicht nehmen dürfte; und
wenn man das gewusst hätte, so hätte man sie gar nicht
ansprechen dürfen.
Nun ging auch das Mädchen an sein Werk, verbeiständet
von der Hebamme und der Hausfrau, und wendete das möglichste
an, eine schöne Gotte zu sein von Schuh und Strümpfen
an bis hinauf zum Kränzchen auf der kostbaren Spitzenkappe.
Die Sache ging umständlich zu trotz der Ungeduld der Hebamme,
und immer war der Gotte die Sache nicht gut genug und bald dies,
bald das nicht am rechten Ort. Da kam die Großmutter herein
und sagte: "Ich muss doch auch kommen und sehen, wie schön
unsere Gotte sei." Nebenbei ließ sie fallen, dass es
schon das zweite Zeichen geläutet habe und beide Götten
draußen in der äußern Stube seien.
Draußen saßen allerdings die zwei männlichen Paten,
ein alter und ein junger, den neumodischen Kaffee, den sie alle
Tage haben konnten, verschmähend, hinter dem dampfenden Weinwarm,
dieser altertümlichen, aber guten Bernersuppe, bestehend aus
Wein, geröstetem Brot, Eiern, Zucker, Zimmet und Safran, diesem
ebenso altertümlichen Gewürze, das an einem Kindstaufeschmaus
in der Suppe, im Voressen, im süßen Tee vorkommen muss.
Sie ließen es sich wohlschmecken, und der alte Götti,
den man Vetter nannte, hatte allerlei Späße mit dem Kindbettimann
und sagte ihm, dass sie ihm heute nicht schonen wollten, und dem
Weinwarm an gönne er es ihnen, daran sei nichts gespart, man
merke, dass er seinen zwölfmäßigen Sack letzten
Dienstag dem Boten mit nach Bern gegeben, um ihm Safran zu bringen.
Als sie nicht wussten, was der Vetter damit meine, sagte er: letzthin
habe sein Nachbar Kindbetti haben müssen; da habe er dem Boten
einen großen Sack mitgegeben und sechs Kreuzer mit dem Auftrage,
er solle ihm doch in diesem Sacke für sechs Kreuzer von dem
gelben Pulver bringen, ein Mäß oder anderthalbes, von
dem man an den Kindstaufen in allem haben müsse, seine Weiber
wollten es einmal so haben.
Da kam die Gotte hinein wie eine junge Morgensonne und wurde von
den Mitgevattern Gottwillchen geheißen und zum Tisch gezogen
und ein großer Teller voll Weinwarm vor sie gestellt, und
den sollte sie essen, sie hätte wohl noch Zeit, während
man das Kind zurechtmache. Das arme Kind wehrte sich mit Händen
und Füßen, behauptete, es hätte gegessen für
manchen Tag, es könne nicht mehr schnaufen. Aber da half alles
nichts. Alt und jung war mit Spott und Ernst hinter ihm, bis es
zum Löffel griff, und seltsam, ein Löffel nach dem andern
fand noch sein Plätzchen. Doch da kam schon wieder die Hebamme
mit dem schön eingewickelten Kinde, zog ihm das gestickte Käppchen
an mit dem rosenroten Seidenbande, legte dasselbe in das schöne
Dachbettlein, steckte ihm das süße Lulli ins Mäulchen
und sagte: sie begehre niemand zu versäumen und hätte
gedacht, sie wolle alles zurechtmachen, man könne dann immer
gehen, wann man wolle. Man umstand das Kind und rühmte es wie
billig, und es war auch ein wunderappetitlich Bübchen.
Die Mutter freute sich des Lobes und sagte: "Ich wäre
auch so gerne mit zur Kirche gekommen und hätte es Gott empfehlen
helfen; und wenn man selbst dabei ist, wenn das Kind getauft wird,
so sinnet man um so besser daran, was man versprochen hat. Zudem
ist es mir so unbequem, wenn ich noch eine ganze Woche lang nicht
vor das Dachtraufe darf, jetzt, wo man alle Hände voll zu tun
hat mit dem Anpflanzen."
Aber die Großmutter sagte, so weit sei es doch noch nicht,
dass ihre Sohnsfrau wie eine arme Frau in den ersten acht Tagen
ihren Kirchgang tun müsse, und die Hebamme setzte hinzu, sie
hätte es gar nicht gerne, wenn junge Weiber mit den Kindern
zur Kirche gingen. Sie hätten immer Angst, es gehe daheim etwas
Krummes, hätten doch nicht die rechte Andacht in der Kirche,
und auf dem Heimweg pressierten sie zu stark, damit ja nichts versäumt
werde, erhitzten sich, und gar manche sei übel krank geworden
und gar gestorben.
Da nahm die Gotte das Kind im Dachbette auf die Arme, die Hebamme
legte das schöne, weiße Tauftuch mit den schwarzen Quasten
in den Ecken über das Kind, sorgfältig den schönen
Blumenstrauß an der Gotte Brust schonend, und sagte: "So
geht jetzt in Gottes heiligen Namen!"
Und die Großmutter legte die Hände ineinander und betete
still einen inbrünstigen Segen. Die Mutter aber ging mit dem
Zuge hinaus bis unter die Türe und sagte: "Mein Bübli,
mein Bübli, jetzt sehe ich dich drei ganze Stunden nicht, wie
halte ich das aus!" Und alsobald schoss es ihr in die Augen,
rasch fuhr sie mit dem Fürtuch darüber und ging ins Haus.
Rasch schritt die Gotte die Halde ab den Kirchweg entlang, auf
ihren starken Armen das muntere Kind, hintendrein die zwei Götteni,
Vater und Großvater, deren keinem in Sinn kam, die Gotte ihrer
Last zu entledigen, obgleich der jüngere Götti in einem
stattlichen Maien auf dem Hute das Zeichen der Ledigkeit trug und
in seinem Auge etwas wie großes Wohlgefallen an der Gotte,
freilich alles hinter der Blende großer Gelassenheit verborgen.
Der Großvater berichtete, welch schrecklich Wetter es gewesen
sei, als man ihn zur Kirche getragen, vor Hagel und Blitz hätten
die Kirchgänger kaum geglaubt, mit dem Leben davonzukommen.
Hintenher hätten die Leute ihm allerlei geweissaget dieses
Wetters wegen, die einen einen schrecklichen Tod, die anderen großes
Glück im Kriege; nun sei es ihm gegangen in aller Stille wie
den andern auch, und im fünfundsiebenzigsten Jahre werde er
weder frühe sterben noch großes Glück im Kriege
machen.
Mehr als halben Weges waren sie gegangen, als ihnen die Jungfrau
nachgesprungen kam, welche das Kind nach Hause zu tragen hatte,
sobald es getauft war, während Eltern und Gevatterleute nach
alter schöner Sitte noch der Predigt beiwohnten. Die Jungfrau
hatte auch anwenden wollen nach Kräften, um auch schön
zu sein. Ob dieser handlichen Arbeit hatte sie sich verspätet
und wollte jetzt der Gotte das Kind abnehmen; aber diese ließ
es nicht, wie man ihr auch zuredete. Das war eine gar zu gute Gelegenheit,
dem schönen ledigen Götti zu zeigen, wie stark ihre Arme
seien und wieviel sie erleiden möchten. Starke Arme an einer
Frau sind einem rechten Bauer viel anständiger als zarte, als
so liederliche Stäbchen, die jeder Bysluft, wenn er ernstlich
will, auseinanderwehen kann; starke Arme an einer Mutter sind schon
vielen Kindern zum Heil gewesen, wenn der Vater starb und die Mutter
die Rute allein führen, alleine den Haushaltungswagen aus allen
Löchern heben musste, in die er geraten wollte.
Aber auf einmal ist's, als ob jemand die starke Gotte an den Züpfen
halte oder sie vor den Kopf schlage, sie prallt ordentlich zurück,
gibt der Jungfrau das Kind, bleibt dann zurück und stellt sich,
als ob sie mit dem Strumpfband zu tun hätte. Dann kömmt
sie nach, gesellt sich den Männern bei, mischt sich in die
Gespräche, will den Großvater unterbrechen, ihn bald
mit diesem, bald mit jenem ablenken von dem Gegenstand, den er gefasst
hat. Der aber hält, wie alte Leute meist gewohnt sind, seinen
Gegenstand fest und knüpft unverdrossen den abgerissenen Faden
immer neu wieder an. Nun macht sie sich an des Kindes Vater und
versucht diesen durch allerlei Fragen zu Privatgesprächen zu
verführen; allein der ist einsilbig und läßt den
angesponnenen Faden immer wieder fallen. Vielleicht hat er seine
eigenen Gedanken, wie jeder Vater sie haben sollte, wenn man ihm
ein Kind zur Taufe trägt und namentlich das erste Bübchen.
Je näher man der Kirche kam, desto mehr Leute schlossen dem
Zuge sich an, die einen warteten schon mit den Psalmenbüchern
in der Hand am Wege, andere sprangen eiliger die engen Fußwege
hinunter, und einer großen Prozession ähnlich rückten
sie ins Dorf.
Gemälde: Daniel Teniers
Zunächst der Kirche stand das Wirtshaus, die so oft in naher
Beziehung stehen und Freud und Leid miteinander teilen und zwar
in allen Ehren. Dort stellte man ab, machte das Bübchen trocken,
und der Kindbettimann bestellte eine Maß, wie sehr auch alle
einredeten, er solle doch das nicht machen, sie hätten ja erst
gehabt, was das Herz verlangt, und möchten weder Dickes noch
Dünnes. Indessen, als der Wein einmal da war, tranken doch
alle, vornehmlich die Jungfrau; die wird gedacht haben, sie müsse
Wein trinken, wenn jemand ihr Wein geben wolle, und das geschehe
durch ein langes Jahr durch nicht manchmal. Nur die Gotte war zu
keinem Tropfen zu bewegen trotz allem Zureden, das kein Ende nehmen
wollte, bis die Wirtin sagte: man solle doch nachlassen mit Nötigen,
das Mädchen werde ja zusehends blässer, und Hoffmannstropfen
täten ihm nöter als Wein. Aber die Gotte wollte deren
auch nicht, wollte kaum ein Glas bloßes Wasser, musste sich
endlich einige Tropfen aus einem Riechfläschchen aufs Nastuch
schütten lassen, zog unschuldigerweise manchen verdächtigen
Blick sich zu und konnte sich nicht rechtfertigen, konnte sich nicht
helfen lassen. An grässlicher Angst litt die Gotte und durfte
sie nicht merken lassen. Es hatte ihr niemand gesagt, welchen Namen
das Kind erhalten solle, und den die Gotte nach alter Übung
dem Pfarrer, wenn sie ihm das Kind übergibt, einzuflüstern
hat, da derselbe die eingeschriebenen Namen, wenn viele Kinder zu
taufen sind, leicht verwechseln kann.
Im Hast ob den vielen zu besorgenden Dingen und der Angst, zu spät
zu kommen, hatte man die Mitteilung dieses Namens vergessen, und
nach diesem Namen zu fragen, hatte ihr ihres Vaters Schwester, die
Base, ein für allemal streng verboten, wenn sie ein Kind nicht
unglücklich machen wolle; denn sobald eine Gotte nach des Kindes
Namen frage, so werde dieses zeitlebens neugierig.
Diesen Namen wusste sie also nicht, durfte nicht darnach fragen,
und wenn ihn der Pfarrer auch vergessen hatte und laut und öffentlich
darnach fragte oder im Verschuss den Buben Mädeli oder Bäbeli
taufte, wie würden da die Leute lachen und welche Schande wäre
dies ihr Leben lang! Das kam ihr immer schrecklicher vor; dem starken
Mädchen zitterten die Beine wie Bohnenstauden im Winde, und
vom blassen Gesichte rann ihm der Schweiß bachweise.
Jetzt mahnte die Wirtin zum Aufbrechen, wenn sie vom Pfarrer nicht
wollten angerebelt werden; aber zur Gotte sagte sie: "Du, Meitschi,
stehst das nicht aus, du bist ja weiß wie ein frischgewaschenes
Hemd."
Das sei vom Laufen, meinte diese, es werde ihr wieder bessern, wenn
sie an die frische Luft komme. Aber es wollte ihr nicht bessern,
ganz schwarz schienen ihr alle Leute in der Kirche, und nun fing
noch das Kind zu schreien an, mörderlich und immer mörderlicher.
Die arme Gotte begann es zu wiegen in ihren Armen, heftiger und
immer heftiger, je lauter es schrie, dass Blätter stoben von
ihrem Malen an der Brust. Auf dieser Brust ward es ihr enger und
schwerer, laut hörte man ihr Atemfassen. Je höher ihre
Brust sich hob, um so höher flog das Kind in ihren Armen, und
je höher es flog, um so lauter schrie es, und je lauter es
schrie, um so gewaltiger las der Pfarrer die Gebete. Die Stimmen
prasselten ordentlich an den Wänden, und die Gotte wusste nicht
mehr, wo sie war; es sauste und brauste um sie wie Meereswogen,
und die Kirche tanzte mit ihr in der Luft herum. Endlich sagte der
Pfarrer "Amen", und jetzt war der schreckliche Augenblick
da, jetzt sollte es sich entscheiden, ob sie zum Spott werden sollte
für Kind und Kindeskinder; jetzt musste sie das Tuch abheben,
das Kind dem Pfarrer geben, den Namen ihm ins rechte Ohr flüstern.
Sie deckte ab, aber zitternd und bebend, reichte das Kind dar, und
der Pfarrer nahm es, sah sie nicht an, frug sie nicht mit scharfem
Auge, tauchte die Hand ins Wasser, netzte des plötzlich schweigenden
Kindes Stirne und taufte kein Mädeli, kein Bäbeli, sondern
einen Hans Uli, einen ehrlichen, wirklichen Hans Uli.
Da war's der Gotte, als ob nicht nur sämtliche Emmentalerberge
ihr ab dem Herzen fielen, sondern Sonne, Mond und Sterne, und aus
einem feurigen Ofen sie jemand trage in ein kühles Bad; aber
die ganze Predigt durch bebten ihr die Glieder und wollten nicht
wieder stille werden. Der Pfarrer predigte recht schön und
eindringlich, wie eigentlich das Leben der Menschen nichts anders
sein solle als eine Himmelfahrt; aber zu rechter Andacht brachte
es die Gotte nicht, und als man aus der Predigt kam, hatte sie schon
den Text vergessen. Sie mochte gar nicht warten, bis sie ihre geheime
Angst offenbaren konnte und den Grund ihres blassen Gesichtes. Viel
Lachens gab es, und manchen Witz musste sie hören über
die Neugierde, und wie sich die Weiber davor fürchten und sie
doch allen ihren Mädchen anhängten, während sie den
Buben nichts täte. Da hätte sie nur getrost fragen können.
Schöne Haberacker, niedliche Flachsplätze, herrliches
Gedeihen auf Wiese und Acker zogen aber bald die Aufmerksamkeit
auf sich und fesselten die Gemüter. Sie fanden manchen Grund,
langsam zu gehn, stillezustehn, und doch hatte die schöne,
steigende Maiensonne allen warm gemacht, als sie heimkamen, und
ein Glas kühlen Weins tat jedermann wohl, wie sehr man sich
auch dagegen sträubte. Dann setzte man sich vor das Haus, während
in der Küche die Hände emsig sich rührten, das Feuer
gewaltig prasselte. Die Hebamme glühte wie einer der drei aus
dem feurigen Ofen. Schon vor eilf rief man zum Essen, aber nur die
Diensten, speiste die vorweg, und zwar reichlich, aber man war doch
froh, wenn sie, die Knechte namentlich, einem aus dem Wege kamen.
Etwas langsam floss den vor dem Hause Sitzenden das Gespräch,
doch versiegte es nicht; vor dem Essen stören die Gedanken
des Magens die Gedanken der Seele, indessen lässt man nicht
gerne diesen innern Zustand innewerden, sondern bemäntelt ihn
mit langsamen Worten über gleichgültige Gegenstände.
Schon stand die Sonne überem Mittag, als die Hebamme mit flammendem
Gesicht, aber immer noch blanker Schürze unter der Türe
erschien und die allen willkommene Nachricht brachte, dass man essen
könnte, wenn alle da wären. Aber die meisten der Geladenen
fehlten noch, und die schon früher nach ihnen gesandten Boten
brachten wie die Knechte im Evangelium allerlei Bescheid, mit dem
Unterschied jedoch, dass eigentlich alle kommen wollten, nur jetzt
noch nicht; der eine hatte Werkleute, der andere Leute bestellt,
und der dritte musste noch wohin aber warten solle man nicht
auf sie, sondern nur fürfahren in der Sache. Rätig war
man bald, dieser Mahnung zu folgen, denn wenn man allen warten müsste,
sagte man, so könne das gehen, bis der Mond käme; nebenbei
freilich brummte die Hebamme: es sei doch nichts Dümmeres als
ein solches Wartenlassen, im Herzen wäre doch jeder gerne da,
und zwar je eher je lieber, aber es solle es niemand merken. So
müsse man die Mühe haben, alles wieder an die Wärme
zu stellen, wisse nie, ob man genug habe, und werde nie fertig.
War aber schon der Rat wegen den Abwesenden schnell gefasst, so
war man doch mit den Anwesenden noch nicht fertig, hatte bedenkliche
Mühe, sie in die Stube, sie zum Sitzen zu bringen, denn keiner
wollte der erste sein, bei diesem nicht, bei jenem nicht. Als endlich
alle saßen, kam die Suppe auf den Tisch, eine schöne
Fleischsuppe, mit Safran gefärbt und gewürzt und mit dem
schönen, weißen Brot, das die Großmutter eingeschnitten,
so dick gesättigt, dass von der Brühe wenig sichtbar war.
Nun entblößten sich alle Häupter, die Hände
falteten sich, und lange und feierlich betete jedes für sich
zu dem Geber jeder guten Gabe. Dann erst griff man langsam zum blechernen
Löffel, wischte denselben am schönen, feinen Tischtuch
aus und ließ sich an die Suppe, und mancher Wunsch wurde laut:
wenn man alle Tage eine solche hätte, so begehrte man nichts
anderes. Als man mit der Suppe fertig war, wischte man die Löffel
am Tischtuch wieder aus, die Züpfe wurde herumgeboten, jeder
schnitt sich sein Stück ab und sah zu, wie die Voressen an
Safranbrühe aufgetragen wurden, Voressen von Hirn, von Schaffleisch,
saure Leber. Als die erledigt waren in bedächtigem Zugreifen,
kam, in Schüsseln hoch aufgeschichtet, das Rindfleisch, grünes
und dürres, jedem nach Belieben, kamen dürre Bohnen und
Kannenbirenschnitze, breiter Speck dazu und prächtige Rückenstücke,
von dreizentnerigen Schweinen, so schön rot und weiß
und saftig. Das folgte sich langsam alles, und wenn ein neuer Gast
kam, so wurde von der Suppe her alles wieder aufgetragen, und jeder
musste da anfangen, wo die andern auch, keinem wurde ein einziges
Gericht geschenkt. Zwischendurch schenkte Benz, der Kindbettimann,
aus den schönen, weißen Flaschen, welche eine Maß
enthielten und mit Wappen und Sprüchen reich geziert waren,
fleißig ein. Wohin seine Arme nicht reichen mochten, trug
er andern das Schenkamt auf, nötete ernstlich zum Trinken,
mahnte sehr oft: "Machet doch aus, er ist dafür da, dass
man ihn trinkt!" Und wenn die Hebamme eine Schüssel hineintrug,
so brachte er ihr sein Glas, und andere brachten die ihren ihr auch,
so dass, wenn sie allemal gehörig hätte Bescheid tun wollen,
es in der Küche wunderlich hätte gehen können.
Der jüngere Göttl musste manche Spottrede hören,
dass er die Gotte nicht besser zum Trinken zu halten wisse; wenn
er das Gesundheitmachen nicht besser verstehe, so kriege er keine
Frau. Oh, Hans Uli werde keine begehren, sagte endlich die Gotte,
die ledigen Bursche hätten heutzutage ganz andere Sachen im
Kopf als das Heiraten, und die meisten vermöchten es nicht
einmal mehr. He, sagte Hans Uli, das dünke ihn nichts anders.
Solche Schlärpli, wie heutzutage die meisten Mädchen seien,
geben gar teure Frauen, die meisten meinten ja, um eine brave Frau
zu werden, hätte man nichts nötig als ein blauseidenes
Tüchlein um den Kopf, Händschli im Sommer und gestickte
Pantöffeli im Winter. Wenn einem die Kühe fehlten im Stalle,
so sei man freilich übel geschlagen, aber man könne doch
ändern; wenn man aber eine Frau habe, die einen um Haus und
Hof bringe, so sei es austubaket, die müsse man behalten. Es
sei einem daher nützlicher, man sinne andren Sachen nach als
dem Heiraten und lasse Mädchen Mädchen sein.
"Ja, ja, du hast ganz recht", sagte der ältere Götti,
ein kleines, unscheinbares Männchen in geringen Kleidern, den
man aber sehr in Ehren hielt und ihm Vetter sagte, denn er hatte
keine Kinder, wohl aber einen bezahlten Hof und hunderttausend Schweizerfranken
am Zins, "ja, du hast recht", sagte der, "Mit dem
Weibervolk ist gar nichts mehr. Ich will nicht sagen, dass nicht
hie und da noch eine ist, die einem Hause wohl ansteht, aber die
sind dünn gesät. Sie haben nur Narrenwerk und Hoffart
im Kopf, ziehen sich an wie Pfauen, ziehen auf wie sturme Störche,
und wenn eine einen halben Tag arbeiten soll, so hat sie drei Tage
lang Kopfweh und liegt vier Tage im Bett, ehe sie wieder bei ihr
selber ist. Als ich um meine Alte buhlte, da war es noch anders,
da musste man noch nicht so im Kummer sein, man kriege statt einer
braven Hausmutter nur einen Hausnarr oder gar einen Hausteufel."
"He, he, Götti Uli", sagte die Gotte, die schon
lange reden wollte, aber nicht dazu gekommen war, "es würde
einen meinen, es seien nur zu deinen Zeiten rechte Baurentöchter
gewesen. Du kennst sie nur nicht und achtest dich der Mädchen
nicht mehr, wie es so einem alten Manne auch wohl ansteht; aber
es gibt sie noch immer so gut als zur Zeit, wo deine Alte noch jung
gewesen ist. Ich will mich nicht rühmen, aber mein Vater hat
schon manchmal gesagt, wenn ich so fortfahre, so tue ich noch die
Mutter selig durch, und die ist doch eine berühmte Frau gewesen.
So schwere Schweine wie voriges Jahr hat mein Vater noch nie auf
den Markt geführt. Der Metzger hat ihm manchmal gesagt: er
möchte das Meitschi sehen, welches die gemästet habe.
Aber über die heutigen Buben hat man zu klagen; was um der
lieben Welt willen ist dann mit diesen? Tubaken, im Wirtshaus sitzen,
die weißen Hüte auf der Seite tragen und die Augen aufsperren
wie Stadttore, allen Kegelten, allen Schießeten, allen schlechten
Meitschene nachstreichen, das können sie; aber wenn einer eine
Kuh melken oder einen Acker fahren soll, so ist er fertig, und wenn
er ein Werkholz in die Finger nimmt, so tut er dumm wie ein Herr
oder gar wie ein Schreiber. Ich habe mich schon manchmal hoch verredet,
ich wolle keinen Mann, oder ich wisse dann für gewiss, wie
ich mit ihm fahren könne, und wenn schon hie und da noch einer
ein Bauer abgibt, so weiß man doch noch lange nicht, was er
für ein Mann wird."
Da lachten die andern gar sehr, trieben dem Mädchen das Blut
ins Gesicht und das Gespött mit ihm: wie lange es wohl meine,
dass man einen auf die Probe nehmen müsse, bis man für
gewiss wisse, was er für ein Mann werde.
So unter Lachen und Scherz nahm man viel Fleisch zu sich, vergaß
auch die Kannenbirenschnitze nicht, bis endlich der ältere
Götti sagte: es dünke ihn, man sollte einstweilen genug
haben und etwas vom Tische weg, die Beine würden unter dem
Tische ganz steif, und eine Pfeife schmecke nie besser, als wenn
man zuvor Fleisch gegessen hätte. Dieser Rat erhielt allgemeinen
Beifall, wie auch die Kindbettileute einredeten, man solle doch
nicht vom Tische weg; wenn man einmal davon sei, so bringe man die
Menschen fast nicht mehr dazu.
"Habe doch nicht Kummer, Base!" sagte der Vetter, "wenn
du etwas Gutes auf den Tisch stellst, so hast du mit geringer Mühe
uns wieder dabei, und wenn wir uns ein wenig strecken, so geht es
um so handlicher wieder mit dem Essen."
Die Männer machten nun die Runde in den Ställen, taten
einen Blick auf die Bühne, ob noch altes Heu vorhanden sei,
rühmten das schöne Gras und schauten in die Bäume
hinauf, wie groß der Segen wohl sein möge, der von ihnen
zu hoffen sei.
Unter einem der noch blühenden Bäume machte der Vetter
halt und sagte: da schicke es sich wohl am besten, abzusitzen und
ein Pfeifchen anzustecken, es sei gut kühl da, und wenn die
Weiber wieder etwas Gutes angerichtet hätten, so sei man nahe
bei der Hand. Bald gesellte sich die Gotte zu ihnen, die mit den
andern Weibern den Garten und die Pflanzplätze besehen hatte.
Der Gotte kamen die andern Weiber nach, und eine nach der andern
ließ sich nieder ins Gras, vorsichtig die schönen Kittel
in Sicherheit bringend, dagegen ihre Unterröcke mit dem hellen
roten Rande der Gefahr aussetzend, ein Andenken zu erhalten vom
grünen Grase.
Der Baum, um den die ganze Gesellschaft sich lagerte, stand oberhalb
des Hauses am sanften Anfang der Halde. Zuerst ins Auge fiel das
schöne, neue Haus; über dasselbe weg konnten die Blicke
schweifen an den jenseitigen Talesrand, über manchen schönen,
reichen Hof und weiterhin über grüne Hügel und dunkle
Täler weg.
"Du hast da ein stattliches Haus, und alles ist gut angegeben
dabei", sagte der Vetter, "jetzt könnt ihr auch sein
darin und habt Platz für alles; ich konnte nie begreifen, wie
man sich in einem so schlechten Hause so lange leiden kann, wenn
man Geld und Holz genug zum Bauen hat, wie ihr zum Exempel."
"Vexier nicht, Vetter!" sagte der Großvater, "es
hat von beidem nichts zu rühmen; dann ist das Bauen eine wüste
Sache, man weiß wohl, wie man anfängt, aber nie, wie
man aufhört, und manchmal ist einem noch dies im Wege oder
das, an jedem Orte etwas anders."
"Mir gefällt das Haus ganz ausnehmend wohl", sagte
eine der Frauen. "Wir sollten auch schon lange ein neues haben,
aber wir scheuen immer die Kosten. Sobald mein Mann aber kommt,
muss er dieses recht besehen, es dünkt mich, wenn wir so eins
haben könnten, ich wäre im Himmel. Aber fragen möchte
ich doch, nehmt es nicht für ungut, warum da gleich neben dem
ersten Fenster der wüste, schwarze Fensterposten (Bystel) ist,
der steht dem ganzen Hause übel an."
Der Großvater machte ein bedenkliches Gesicht, zog noch härter
an seiner Pfeife und sagte endlich: es hätte an Holz gefehlt
beim Aufrichten, kein anderes sei gleich bei der Hand gewesen, da
habe man in Not und Eile einiges vom alten Hause genommen. "Aber",
sagte die Frau, "das schwarze Stück Holz war ja noch dazu
zu kurz, oben und unten ist es angesetzt, und jeder Nachbar hätte
euch von Herzen gerne ein ganz neues Stück gegeben."
"Ja, wir haben es halt nicht besser gsinnet und durften unsere
Nachbaren nicht immer von neuem plagen, sie hatten uns schon genug
geholfen mit Holz und Fahren", antwortete der Alte.
"Hör, Ätti", sagte der Vetter, "mache
nicht Schneckentänze, sondern gib die Wahrheit an und aufrichtigen
Bericht! Schon manches habe ich raunen hören, aber punktum
das Wahre nie vernehmen können. Jetzt schickte es sich so wohl,
bis die Weiber den Braten zweghaben, du würdest uns damit so
kurze Zeit machen, darum gib aufrichtigen Bericht!"
Noch manchen Schneckentanz machte der Großvater, ehe er sich
dazu verstund; aber der Vetter und die Weiber ließen nicht
nach, bis er es endlich versprach, jedoch unter dem ausdrücklichen
Vorbehalt, dass ihm dann lieber wäre, was er erzähle,
bliebe unter ihnen und käme nicht weiter. So etwas scheuen
gar viele Leute an einem Hause, und er möchte in seinen alten
Tagen nicht gerne seinen Leuten böses Spiel machen.
"Allemal, wenn ich dieses Holz betrachte", begann der
ehrwürdige Alte, "so muss ich mich verwundern, wie das
wohl zuging, dass aus dem fernen Morgenlande, wo das Menschengeschlecht
entstanden sein soll, Menschen bis hieher kamen und diesen Winkel
in diesem engen Graben fanden, und muss denken, was die, welche
bis hierher verschlagen oder gedrängt wurden, alles ausgestanden
haben werden und wer sie wohl mögen gewesen sein. Ich habe
viel darüber nachgefragt, aber nichts erfahren können,
als dass diese Gegend schon sehr früh bewohnt gewesen, ja Sumiswald,
noch ehe unser Heiland auf der Welt war, eine Stadt gewesen sein
soll; aber aufgeschrieben steht das nirgends. Doch das weiß
man, dass es schon mehr als sechshundert Jahre her ist, dass das
Schloss steht, wo jetzt der Spital ist, und wahrscheinlich um dieselbe
Zeit stund auch hier schon ein Haus und gehörte samt einem
großen Teil der Umgegend zu dem Schlosse, musste dorthin Zehnten
und Bodenzinse geben, Frondienste leisten, ja, die Menschen waren
leibeigen und nicht eigenen Rechtens, wie jetzt jeder ist, sobald
er zu Jahren kömmt. Gar ungleich hatten es damals die Menschen,
und nahe beieinander wohnten Leibeigene, welche die besten Händel
hatten, und solche, die schwer, fast unerträglich gedrückt
wurden, ihres Lebens nicht sicher waren. Ihr Zustand hing jeweilen
von ihren Herren ab; die waren gar ungleich und doch fast unumschränkt
Meister über ihre Leute, und diese fanden keinen, dem sie so
leichtlich und wirksam klagen konnten. Die, welche zu diesem Schlosse
gehörten, sollen es schlimmer gehabt haben zuzeiten als die
meisten, welche zu andern Schlössern gehörten. Die meisten
andern Schlösser gehörten einer Familie, kamen von dem
Vater auf den Sohn, da kannten der Herr und seine Leute sich von
Jugend auf, und gar mancher war seinen Leuten wie ein Vater. Dieses
Schloss kam nämlich frühe in die Hände von Rittern,
die man die Teutschen nannte, und der, welcher hier zu befehlen
hatte, den nannte man den Komtur. Diese Obern wechselten nun, und
bald war einer da aus dem Sachsenland und bald einer aus dem Schwabenland;
da kam keine Anhänglichkeit auf, und ein jeder brachte Brauch
und Art mit aus seinem Lande.
Nun sollten sie eigentlich in Polen und im Preußenlande mit
den Heiden streiten, und dort, obgleich sie eigentlich geistliche
Ritter waren, gewöhnten sie sich fast an ein heidnisch Leben
und gingen mit andern Menschen um, als ob kein Gott im Himmel wäre,
und wenn sie dann heimkamen, so meinten sie noch immer, sie seien
im Heidenland, und trieben das gleiche Leben fort. Denn die, welche
lieber im Schatten lustig lebten als im wüsten Lande blutig
stritten, oder die, welche ihre Wunden heilen, ihren Leib stärken
mussten, kamen auf die Güter, welche der Orden, so soll man
die Gesellschaft der Ritter genannt haben, in Deutschland und in
der Schweiz besaß, und taten jeder nach seiner Art, und was
ihm wohlgefiel. Einer der wüstesten soll der Hans von Stoffeln
gewesen sein aus dem Schwabenlande, und unter ihm soll es sich zugetragen
haben, was ihr von mir wissen wollt und was sich bei uns von Vater
auf den Sohn vererbet hat.
Diesem Hans von Stoffeln fiel es bei, dort hinten auf dem Bärhegenhubel
ein großes Schloss zu bauen; dort, wo man noch jetzt, wenn
es wild Wetter geben will, die Schlossgeister ihre Schätze
sonnen sieht, stand das Schloss. Sonst bauten die Ritter ihre Schlösser
über den Straßen, wie man jetzt die Wirtshäuser
an die Straßen baut, beides, um die Leute besser plündern
zu können, auf verschiedene Weise freilich. Warum aber der
Ritter dort auf dem wilden, wüsten Hubel in der Einöde
ein Schloss haben wollte, wissen wir nicht, genug, er wollte es,
und die Bauern, welche zum Schlosse gehörten, mussten es bauen.
Der Ritter fragte nach keinem von der Jahreszeit gebotenen Werk,
nicht nach dem Heuet, nicht nach der Ernte, nicht nach dem Säet.
Soundso viel Züge mussten fahren, soundso viel Hände mussten
arbeiten, zu der und der Zeit sollte der letzte Ziegel gedeckt,
der letzte Nagel geschlagen sein. Dazu schenkte er keine Zehntgarbe,
kein Mäß Bodenzins, kein Fasnachthuhn, ja nicht einmal
ein Fasnachtei; Barmherzigkeit kannte er keine, die Bedürfnisse
armer Leute kannte er nicht. Er ermunterte sie auf heidnische Weise
mit Schlägen und Schimpfen, und wenn einer müde wurde,
langsamer sich rührte oder gar ruhen wollte, so war der Vogt
hinter ihm mit der Peitsche, und weder Alter noch Schwachheit ward
verschont. Wenn die wilden Ritter oben waren, so hatten sie ihre
Freude dran, wenn die Peitsche recht knallte, und sonst trieben
sie noch manchen Schabernack mit den Arbeitern; wenn sie ihre Arbeit
mutwillig verdoppeln konnten, so sparten sie es nicht und hatten
dann große Freude an ihrer Angst, an ihrem Schweiß.
Endlich war das Schloss fertig, fünf Ellen dick die Mauren,
niemand wusste, warum es da oben stand, aber die Bauren waren froh,
dass es einmal stand, wenn es doch stehen musste, der letzte Nagel
geschlagen, der letzte Ziegel oben war.
Sie wischten sich den Schweiß von den Stirnen, sahen mit
betrübtem Herzen sich um in ihrem Besitztum, sahen seufzend,
wie weit der unselige Bau sie zurückgebracht. Aber war doch
ein langer Sommer vor ihnen und Gott über ihnen, darum fassten
sie Mut und kräftig den Pflug und trösteten Weib und Kind,
die schweren Hunger gelitten, und denen Arbeit eine neue Pein schien.
Aber kaum hatten sie den Pflug ins Feld geführt, so kam Botschaft,
dass alle Hofbauern eines Abends zur bestimmten Stunde im Schlosse
zu Sumiswald sich einfinden sollten. Sie bangten und hofften. Freilich
hatten sie von den gegenwärtigen Bewohnern des Schlosses noch
nichts Gutes genossen, sondern lauter Mutwillen und Härte,
aber es dünkte sie billig, dass die Herren ihnen etwas täten
für den unerhörten Frondienst, und weil es sie so dünkte,
so meinten viele, es dünke die Herren auch so und sie werden
an selbem Abend ihnen ein Geschenk machen oder einen Nachlass verkünden
wollen.
Sie fanden sich am bestimmten Abend zeitig und mit klopfendem Herzen
ein, mussten aber lange warten im Schlosshofe, den Knechten zum
Gespött. Die Knechte waren auch im Heidenlande gewesen. Zudem
wird es gewesen sein wie jetzt, wo jedes halbbatzige Herrenknechtlein
das Recht zu haben meint, gesessene Bauern verachten zu können
und verhöhnen zu dürfen.
Endlich wurden sie in den Rittersaal entboten; vor ihnen öffnete
sich die schwere Türe; drinnen saßen um den schweren
Eichentisch die schwarzbraunen Ritter, wilde Hunde zu ihren Füßen,
und obenan der von Stoffeln, ein wilder, mächtiger Mann, der
einen Kopf hatte wie ein doppelt Bernmäß, Augen machte
wie Pflugsräder und einen Bart hatte wie eine alte Löwenmähne.
Keiner ging gerne zuerst hinein, einer stieß den andern vor.
Da lachten die Ritter, dass der Wein über die Humpen spritzte,
und wütend stürzten die Hunde vor; denn wenn diese zitternde,
zagende Glieder sehen, so meinen sie, dieselben gehören einem
zu jagenden Wilde. Den Bauern aber ward nicht gut zumute, es dünkte
sie, wenn sie nur wieder daheim wären, und einer drückte
sich hinter den andern. Als endlich Hunde und Ritter schwiegen,
erhob der von Stoffeln seine Stimme, und sie tönte wie aus
einer hundertjährigen Eiche:
"Mein Schloss ist fertig, doch noch eines fehlt, der Sommer
kömmt, und droben ist kein Schattengang. In Zeit eines Monates
sollt ihr mir einen pflanzen, sollt hundert ausgewachsene Buchen
nehmen aus dem Münneberg mit Ästen und Wurzeln und sollt
sie mir pflanzen auf Bärhegen, und wenn eine einzige Buche
fehlt, so büßt ihr mir es mit Gut und Blut. Drunten steht
Trunk und Imbiss, aber morgen soll die erste Buche auf Bärhegen
stehn."
Als von Trunk und Imbiss einer hörte, meinte er, der Ritter
sei gnädig und gut gelaunt und begann zu reden von ihrer notwendigen
Arbeit und dem Hunger von Weib und Kind und vom Winter, wo die Sache
besser zu machen wäre. Da begann der Zorn des Ritters Kopf
größer und größer zu schwellen, und seine
Stimme brach los wie der Donner aus einer Fluh, und er sagte ihnen:
wenn er gnädig sei, so seien sie übermütig. Wenn
im Polenlande einer das nackte Leben habe, so küsse er einem
die Füße, hier hätten sie Kind und Rind, Dach und
Fach und doch nicht satt. "Aber gehorsamer und genügsamer
mache ich euch, so wahr ich Hans von Stoffeln bin, und wenn in Monatsfrist
die hundert Buchen nicht oben stehen, so lasse ich euch peitschen,
bis kein Fingerlang mehr ganz an euch ist, und Weiber und Kinder
werfe ich den Hunden vor."
Da wagte keiner mehr eine Einrede, aber auch keiner begehrte von
dem Trunk und Imbiss; sie drängten sich, als der zornige Befehl
gegeben war, zur Türe hinaus, und jeder wäre gerne der
erste gewesen, und weithin folgte ihnen des Ritters donnernde Stimme
nach, der andern Ritter Gelächter, der Knechte Spott, der Rüden
Geheul.
Als der Weg sich beugte, vom Schlosse sie nicht mehr konnten gesehen
werden, setzten sie sich an des Weges Rand und weinten bitterlich,
keiner hatte einen Trost für den andern, und keiner hatte den
Mut zu rechtem Zorn, denn Not und Plage hatten den Mut ihnen ausgelöscht,
so dass sie keine Kraft mehr zum Zorne hatten, sondern nur noch
zum Jammer. Über drei Stunden weit sollten sie durch wilde
Wege die Buchen führen mit Ästen und Wurzeln den steilen
Berg hinauf, und neben diesem Berge wuchsen viele und schöne
Buchen, und die mussten sie stehen lassen! In Monatsfrist sollte
das Werk geschehen sein, zwei Tage drei, den dritten vier Bäume
sollten sie schleppen durchs lange Tal, den steilen Berg auf mit
ihrem ermatteten Vieh. Und über alles dieses war es der Maimond,
wo der Bauer sich rühren muss auf seinem Acker, fast Tag und
Nacht ihn nicht verlassen darf, wenn er Brot will und Speise für
den Winter.
Wie sie da so ratlos weinten, keiner den andern ansehen, in den
Jammer des andern sehen durfte, weil der seinige schon über
ihm zusammenschlug, und keiner heimdurfte mit der Botschaft, keiner
den Jammer heimtragen mochte zu Weib und Kind, stund plötzlich
vor ihnen, sie wussten nicht, woher, lang und dürre ein grüner
Jägersmann. Auf dem kecken Barett schwankte eine rote Feder,
im schwarzen Gesichte flammte ein rotes Bärtchen, und zwischen
der gebogenen Nase und dem zugespitzten Kinn, fast unsichtbar wie
eine Höhle unter überhangendem Gestein, öffnete sich
ein Mund und frug: "Was gibt es, ihr guten Leute, dass ihr
da sitzet und heulet, dass es Steine aus dem Boden sprengt und Äste
ab den Bäumen?" Zweimal frug er also, und zweimal erhielt
er keine Antwort.
Da ward noch schwärzer des Grünen schwarz Gesicht, noch
röter das rote Bärtchen, es schien darin zu knistern und
zu spretzeln wie Feuer im Tannenholz; wie ein Pfeil spitzte sich
der Mund, dann tat er sich auseinander und frug ganz holdselig und
mild: "Aber, ihr guten Leute, was hilft es euch, dass ihr dasitzet
und heulet? Ihr könnet da heulen, bis es eine neue Sündflut
gibt oder euer Geschrei die Sterne aus dem Himmel sprengt; aber
damit wird euch wahrscheinlich wenig geholfen sein. Wenn euch aber
Leute fragen, was ihr hättet, Leute, die es gut mit euch meinen,
euch vielleicht helfen könnten, so solltet ihr, statt zu heulen,
antworten und ein vernünftig Wort reden, das hülfe euch
viel mehr. Da schüttelte ein alter Mann das weiße
Haupt und sprach: "Haltet es nicht für ungut, aber das,
worüber wir weinen, nimmt kein Jägersmann uns ab, und
wenn das Herz einmal im Jammer verschwollen ist, so kommen keine
Worte mehr daraus."
Da schüttelte sein spitziges Haupt der Grüne und sprach:
"Vater, Ihr redet nicht dumm, aber so ist es doch nicht. Man
mag schlagen, was man will, Stein oder Baum, so gibt es einen Ton
von sich, es klaget. So soll auch der Mensch klagen, soll alles
klagen, soll dem ersten besten klagen, vielleicht hilft ihm der
erste beste. Ich bin nur ein Jägersmann, wer weiß, ob
ich nicht daheim ein tüchtiges Gespann habe, Holz und Steine
oder Buchen und Tannen zu führen?"
Als die armen Bauten das Wort Gespann hörten, fiel es ihnen
allen ins Herz, ward da zu einem Hoffnungsfunken, und alle Augen
sahen auf ihn, und dem Alten ging der Mund noch weiter auf, er sprach:
es sei nicht immer richtig, dem ersten dem besten zu sagen, was
man auf dem Herzen hätte; da man ihm es aber anhöre, dass
er es gut meine, dass er vielleicht helfen könne, so wolle
man kein Hehl vor ihm haben. Mehr als zwei Jahre hätten sie
schwer gelitten unter dem neuen Schlossbau, kein Hauswesen sei in
der ganzen Herrschaft, welches nicht bitterlich im Mangel sei. Jetzt
hätten sie frisch aufgeatmet in der Meinung, endlich freie
Hände zu haben zur eigenen Arbeit, hätten mit neuem Mut
den Pflug ins Feld geführt, und soeben hätte der Komtur
ihnen befohlen, aus im Münneberg gewachsenen Buchen in Monatsfrist
beim neuen Schloss einen neuen Schattengang zu pflanzen. Sie wüssten
nicht, wie das vollbringen in dieser Frist mit ihrem abgekarrten
Vieh, und wenn sie es vollbrächten, was hülfe es ihnen?
Anpflanzen könnten sie nicht und müssten nachher Hungers
sterben, im Fall die harte Arbeit sie nicht schon tötete. Diese
Botschaft dürften sie nicht heimtragen, möchten nicht
zum alten Elend noch den neuen Jammer schütten.
Da machte der Grüne ein gar mitleidiges Gesicht, hob drohend
die lange, magere, schwarze Hand gegen das Schloss empor und vermaß
sich zu schwerer Rache gegen solche Tyrannei. Ihnen aber wolle er
helfen. Sein Gespann, wie keines sei im Lande, solle vom Kilchstalden
weg, diesseits Sumiswald, ihnen alle Buchen, so viele sie dorthin
zu bringen vermöchten, auf Bärhegen führen, ihnen
zulieb, den Rittern zum Trotz und um geringen Lohn.
Da horchten hoch auf die armen Männer bei diesem unerwarteten
Anerbieten. Konnten sie um den Lohn einig werden, so waren sie gerettet,
denn bis an den Kilchstalden konnten sie die Buchen führen,
ohne dass ihre Landarbeit darüber versäumt und sie zugrunde
gingen. Darum sagte der Alte: "So sag an, was du verlangst,
auf dass wir mit dir des Handels einig werden mögen!"
Da machte der Grüne ein pfiffig Gesicht; es knisterte in seinem
Bärtchen, und wie Schlangenaugen funkelten sie seine Augen
an, und ein greulich Lachen stand in beiden Mundwinkeln, als er
ihn voneinandertat und sagte: "Wie ich gesagt, ich begehre
nicht viel, nicht mehr als ein ungetauftes Kind."
Das Wort zuckte durch die Männer wie ein Blitz, eine Decke
fiel es von ihren Augen, und wie Spreu im Wirbelwinde stoben sie
auseinander.
Da lachte hellauf der Grüne, dass die Fische im Bache sich
bargen, die Vögel das Dickicht suchten, und grausig schwankte
die Feder am Hute, und auf- und niederging das Bärtchen. "Besinnet
euch oder suchet bei euren Weibern Rat, in der dritten Nacht findet
ihr hier mich wieder!", so rief er den Fliehenden mit scharf
tönender Stimme nach, dass die Worte in ihren Ohren hängenblieben,
wie Pfeile mit Widerhaken hängenbleiben im Fleische.
Blass und zitternd an der Seele und an allen Gliedern stäubten
die Männer nach Hause; keiner sah nach dem andern sich um,
keiner hätte den Hals gedreht, nicht um alle Güter der
Welt. Als so verstört die Männer dahergestoben kamen wie
Tauben, vom Vogel gejagt, zum Taubenschlag, da drang mit ihnen der
Schrecken in alle Häuser, und alle bebten vor der Kunde, welche
den Männern die Glieder also durcheinanderwarf.
Ölgemälde: Van Gogh
In zitternder Neugierde schlichen die Weiber den Männern nach,
bis sie dieselben an den Orten hatten, wo man im stillen ein vertraut
Wort reden konnte. Da musste jeder Mann seinem Weibe erzählen,
was sie im Schloss vernommen, das hörten sie mit Wut und Fluch;
sie mussten erzählen, wer ihnen begegnet, was er ihnen angetragen.
Da ergriff namenlose Angst die Weiber, ein Wehgeschrei ertönte
über Berg und Tal, einer jeden ward, als hätte ihr eigen
Kind der Ruchlose begehrt. Ein einziges Weib schrie nicht den andern
gleich. Das war ein grausam handlich Weib, eine Lindauerin soll
es gewesen sein, und hier auf dem Hofe hat es gewohnt. Es hatte
wilde, schwarze Augen und fürchtete sich nicht viel vor Gott
und Menschen. Böse war es schon geworden, dass die Männer
dem Ritter nicht rundweg das Begehren abgeschlagen; wenn es dabeigewesen,
es hätte ihm es sagen wollen, sagte es. Als sie vom Grünen
hörte und seinem Antrage und wie die Männer davongestoben,
da ward sie erst recht böse und schalt die Männer über
ihre Feigheit und dass sie dem Grünen nicht kecker ins Gesicht
gesehen, vielleicht hätte er mit einem andern Lohne sich auch
begnügt, und da die Arbeit für das Schloss sei, würde
es ihren Seelen nichts schaden, wenn der Teufel sie mache. Sie ergrimmte
in der Seele, dass sie nicht dabeigewesen, und wäre es nur,
damit sie einmal den Teufel gesehen und auch wüsste, was er
für ein Aussehen hätte. Darum weinte dieses Weib nicht,
sondern redete in seinem Grimme harte Worte gegen den eigenen Mann
und gegen alle andern Männer.
Des folgenden Tages, als in stilles Gewimmer das Wehgeschrei verglommen
war, saßen die Männer zusammen, suchten Rat und fanden
keinen. Anfangs war die Rede von neuem Bitten bei dem Ritter, aber
niemand wollte bitten gehen, keinem schien Leib und Leben feil.
Einer wollte Weiber und Kinder schicken mit Geheul und Jammer, der
aber verstummte schnell, als die Weiber zu reden begannen; denn
schon damals waren die Weiber in der Nähe, wenn die Männer
im Rate saßen. Sie wussten keinen Rat, als in Gottes Namen
Gehorsam zu versuchen, sie wollten Messen lesen lassen, um Gottes
Beistand zu gewinnen, wollten Nachbaren um nächtliche geheime
Hülfe ansprechen, denn eine offenbare hätten ihnen ihre
Herren nicht erlaubt, wollten sich teilen, die Hälfte sollte
bei den Buchen schaffen, die andere Hälfte Haber säen
und des Viehes warten. Sie hofften, auf diese Weise und mit Gottes
Hülfe täglich wenigstens drei Buchen auf Bärhegen
hinauf zu schaffen; vom Grünen redete niemand; ob niemand an
ihn dachte, ist nicht verzeichnet worden.
Gemälde: Max Slevogt
Sie teilten sich ein, rüsteten die Werkzeuge, und als der
erste Maitag über seine Schwelle kam, sammelten die Männer
sich am Münneberg und begannen mit gefasstem Mute die Arbeit.
In weitem Ringe mußten die Buchen umgraben, sorgfältig
die Wurzeln geschont, sorgfältig die Bäume, damit sie
sich nicht verletzten, zur Erde gelassen werden. Noch war der Morgen
nicht hoch am Himmel, als drei zur Abfahrt bereitlagen, denn immer
drei sollten zusammen geführt werden, damit man auf dem schweren
Weg mit Hand und Vieh sich gegenseitig helfen könne. Aber schon
stund die Sonne im Mittag, und noch waren sie mit den drei Buchen
nicht zum Walde hinaus, schon stand sie hinter den Bergen, und noch
waren die Züge nicht über Sumiswald hinaus; erst der neue
Morgen fand sie am Fuße des Berges, auf dem das Schloss stand,
und die Buchen sollten gepflanzet werden. Es war, als ob ein eigener
Unstern Macht hätte über sie. Ein Missgeschick nach dem
andern traf sie: die Geschirre zerrissen, die Wagen brachen, Pferde
und Ochsen fielen oder weigerten den Gehorsam. Noch ärger ging
es am zweiten Tage. Neue Not brachte immerfort neue Mühe, unter
rastloser Arbeit keuchten die Armen, und keine Buche war noch oben,
keine vierte Buche über Sumiswald hinausgeschafft.
Der von Stoffeln schalt und fluchte; je mehr er schalt und fluchte,
um so größer ward der Unstern, um so stättiger das
Vieh. Die andern Ritter lachten und höhnten und freuten sich
gar sehr über das Zappeln der Bauren, den Zorn des von Stoffeln.
Sie hatten gelacht über des von Stoffeln neues Schloss auf
dem nackten Gipfel. Da hatte der geschworen: in Monatsfrist müsste
ein schöner Laubgang droben sein. Darum fluchte er, darum lachten
die Ritter, und weinen taten die Bauren.
Eine fürchterliche Mutlosigkeit erfasste diese, keinen Wagen
hatten sie mehr ganz, keinen Zug unbeschädigt, in zwei Tagen
nicht drei Buchen zur Stelle gebracht, und alle Kraft war erschöpft.
Nacht war es geworden, schwarze Wolken stiegen auf, es blitzte
zum ersten Male in diesem Jahre. An den Weg hatten sich die Männer
gesetzt, es war die gleiche Beugung des Weges, in welcher sie vor
drei Tagen gesessen waren, sie wussten es aber nicht. Da saß
der Hornbachbauer, der Lindauerin Mann, mit zwei Knechten, und andere
mehr saßen auch bei ihnen. Sie wollten da auf Buchen warten,
die von Sumiswald kommen sollten, wollten ungestört sinnen
über ihr Elend, wollten ruhen lassen ihre zerschlagenen Glieder.
Da kam rasch, dass es fast pfiff, wie der Wind pfeift, wenn er
aus den Kammern entronnen ist, ein Weib daher, einen großen
Korb auf dem Kopfe. Es war Christine, die Lindauerin, des Hornbachbauren
Eheweib, zu dem derselbe gekommen war, als er einmal mit seinem
Herrn zu Felde gezogen war. Sie war nicht von den Weibern, die froh
sind, daheim zu sein, in der Stille ihre Geschäfte zu beschicken,
und die sich um nichts kümmern als um Haus und Kind. Christine
wollte wissen, was ging, und wo sie ihren Rat nicht dazu geben konnte,
da ginge es schlecht, so meinte sie.
Mit der Speise hatte sie daher keine Magd gesandt, sondern den
schweren Korb auf den eigenen Kopf genommen und die Männer
lange gesucht umsonst; bittere Worte ließ sie fallen darüber,
sobald sie dieselben gefunden. Unterdessen war sie aber nicht müßig,
die konnte noch reden und schaffen zu gleicher Zeit. Sie stellte
den Korb ab, deckte den Kübel ab, in welchem das Hafermus war,
legte das Brot und den Käse zurecht und steckte jedem gegenüber
für Mann und Knecht die Löffel ins Mus und hieß
auch die andern zugreifen, die noch speislos waren. Dann frug sie
nach der Männer Tagewerk und wieviel geschaffet worden in den
zwei Tagen. Aber Hunger und Worte waren den Männern ausgegangen,
und keiner griff zum Löffel, und keiner hatte eine Antwort.
Nur ein leichtfertig Knechtlein, dem es gleichgültig war, regne
oder sonnenscheine es in der Ernte, wenn nur das Jahr umging und
der Lohn kam und zu jeder Essenszeit das Essen auf den Tisch, griff
zum Löffel und berichtete Christine, dass noch keine Buche
gepflanzet sei und alles gehe, als ob sie verhext wären.
Da schalt die Lindauerin, dass das eitel Einbildung wäre und
die Männer nichts als Kindbetterinnen; mit Schaffen und Weinen,
mit Hocken und Heulen werde man keine Buchen auf Bärhegen bringen.
Ihnen würde nur ihr Recht widerfahren, wenn der Ritter seinen
Mutwillen an ihnen ausließe; aber um Weib und Kinder willen
müsse die Sache anders zur Hand genommen werden. Da kam plötzlich
über die Achsel des Weibes eine lange schwarze Hand, und eine
gellende Stimme rief: "Ja, die hat recht!"
Und mitten unter ihnen stand mit grinsendem Gesicht der Grüne,
und lustig schwankte die rote Feder auf seinem Hute. Da hob der
Schreck die Männer von dannen, sie stoben die Halde auf wie
Spreu im Wirbelwinde.
Nur Christine, die Lindauerin, konnte nicht fliehen, sie erfuhr
es, wie man den Teufel leibhaftig kriegt, wenn man ihn an die Wand
male. Sie blieb stehen wie gebannt, musste schauen die rote Feder
am Barett und wie das rote Bärtchen lustig auf- und niederging
im schwarzen Gesichte. Gellend lachte der Grüne den Männern
nach, aber gegen Christine machte er ein zärtlich Gesicht und
fasste mit höflicher Gebärde ihre Hand. Christine wollte
sie wegziehen, aber sie entrann dem Grünen nicht mehr, es war
ihr, als zische Fleisch zwischen glühenden Zangen. Und schöne
Worte begann er zu reden, und zu den Worten zwinkerte lüstern
sein rot Bärtchen auf und ab. So ein schön Weibchen habe
er lange nicht gesehen, sagte er, das Herz lache ihm im Leibe; zudem
habe er sie gerne mutig, und gerade die seien ihm die liebsten,
welche stehenbleiben dürften, wenn die Männer davonliefen.
Wie er so redete, kam Christinen der Grüne immer weniger schreckhaft
vor. Mit dem sei doch noch zu reden, dachte sie, und sie wüsste
nicht, warum davon laufen, sie hätte schon viel Wüstere
gesehen. Der Gedanke kam ihr immer mehr: mit dem ließe sich
etwas machen, und wenn man recht mit ihm zu reden wüsste, so
täte er einem wohl einen Gefallen, oder am Ende könnte
man ihn übertölpeln wie die andern Männer auch. Er
wüsste gar nicht, fuhr der Grüne fort, warum man sich
so vor ihm scheue, er meine es doch so gut mit allen Menschen, und
wenn man so grob gegen ihn sei, so müsse man sich nicht wundern,
wenn er den Leuten nicht immer täte, was ihnen am liebsten
wäre. Da fasste Christine ein Herz und antwortete: er erschrecke
aber die Leute auch, dass es schrecklich wäre. Warum habe er
ein ungetauft Kind verlangt, er hätte doch von einem andern
Lohn reden können, das komme den Leuten gar verdächtig
vor, ein Kind sei immer ein Mensch, und ungetauft eins aus den Händen
geben, das werde kein Christ tun. "Das ist mein Lohn, an den
ich gewohnt bin, und um anderen fahre ich nicht, und was frägt
man doch so einem Kinde nach, das noch niemand kennt? So jung gibt
man sie am liebsten weg, hat man doch noch keine Freude an ihnen
gehabt und keine Mühe mit ihnen. Ich aber habe sie je jünger
je lieber, je früher ich ein Kind erziehen kann auf meine Manier,
um so weiter bringe ich es, dazu habe ich aber das Taufen gar nicht
nötig und will es nicht."
Da sah Christine wohl, dass er mit keinem andern Lohn sich werde
begnügen wollen; aber es wuchs in ihr immer mehr der Gedanke:
das wäre doch der einzige, der nicht zu betrügen wäre!
Darum sagte sie: wenn aber einer etwas verdienen wolle, so müsste
er sich mit dem Lohne begnügen, den man ihm geben könne,
sie aber hätten gegenwärtig in keinem Hause ein ungetauft
Kind, und in Monatsfrist gebe es keins, und in dieser Zeit müssten
die Buchen geliefert sein. Da schwänzelte gar höflich
der Grüne und sagte: "Ich begehre das Kind ja nicht zum
voraus. Sobald man mir verspricht, das erste zu liefern ungetauft,
welches geboren wird, so bin ich schon zufrieden."
Das gefiel Christine gar wohl. Sie wusste, dass es in geraumer Zeit
kein Kind geben werde in ihrer Herren Gebiet. Wenn nun einmal der
Grüne sein Versprechen gehalten und die Buchen gepflanzt seien,
so brauche man ihm gar nichts mehr zu geben, weder ein Kind noch
was anderes; man lasse Messen lesen zu Schutz und Trutz und lache
tapfer den Grünen aus, so dachte Christine. Sie dankte daher
schon ganz herzhaft für das gute Anerbieten und sagte: es sei
zu bedenken und sie wolle mit den Männern darüber reden.
"Ja", sagte der Grüne, "da ist gar nichts mehr
weder zu denken noch zu reden. Für heute habe ich euch bestellt,
und jetzt will ich den Bescheid; ich habe noch an gar vielen Orten
zu tun und bin nicht bloß wegen euch da. Du musst mir zu-
oder absagen, nachher will ich von dem ganzen Handel nichts mehr
wissen."
Christine wollte die Sache verdrehen, denn sie nahm sie nicht gerne
auf sich, sie wäre sogar gerne zärtlich geworden, um Stündigung
zu erhalten, allein der Grüne war nicht aufgelegt, wankte nicht;
"jetzt oder nie!" sagte er.
Sobald aber der Handel geschlossen sei um ein einzig Kind, so wolle
er in jeder Nacht soviel Buchen auf Bärhegen führen, als
man ihm vor Mitternacht unten an den Kirchstalden liefere, dort
wollte er sie in Empfang nehmen. "Nun, schöne Frau, bedenke
dich nicht!" sagte der Grüne und klopfte Christine holdselig
auf die Wange.
Da klopfte doch ihr Herz, sie hätte lieber die Männer
hineingestoßen, um hintendrein sie schuld geben zu können.
Aber die Zeit drängte, kein Mann war da als Sündenbock,
und der Glaube verließ sie nicht, dass sie listiger als der
Grüne sei und wohl ein Einfall kommen werde, ihn mit langer
Nase abzuspeisen. Darum sagte Christine: sie für ihre Person
wolle zugesagt haben; wenn aber dann später die Männer
nicht wollten, so vermochte sie sich dessen nicht und er solle es
sie nicht entgelten lassen. Mit dem Versprechen, zu tun, was sie
könne, sei er hinlänglich zufrieden, sagte der Grüne.
Jetzt schauderte es Christine doch an Leib und Seele, jetzt, meinte
sie, komme der schreckliche Augenblick, wo sie mit Blut von ihrem
Blute dem Grünen den Akkord unterschreiben müsse. Aber
der Grüne machte es viel leichtlicher und sagte: von hübschen
Weibern begehre er nie eine Unterschrift, mit einem Kuss sei er
zufrieden. Somit spitzte er seinen Mund gegen Christines Gesicht,
und Christine konnte nicht fliehen, war wiederum wie gebannt, steif
und starr. Da berührte der spitzige Mund Christines Gesicht,
und ihr war, als ob von spitzigem Eisen aus Feuer durch Mark und
Bein fahre, durch Leib und Seele; und ein gelber Blitz fuhr zwischen
ihnen durch und zeigte Christine freudig verzerrt des Grünen
teuflisch Gesicht, und ein Donner fuhr über sie, als ob der
Himmel zersprungen wäre.
Verschwunden war der Grüne, und Christine stund wie versteinert,
als ob tief in den Boden hinunter ihre Füße Wurzeln getrieben
hätten in jenem schrecklichen Augenblick. Endlich war sie ihrer
Glieder wieder mächtig, aber im Gemüte brauste und sauste
es ihr, als ob ein mächtiges Wasser seine Fluten wälze
über turmhohen Felsen hinunter in schwarzen Schlund. Wie man
im Donner der Wasser die eigene Stimme nicht hört, so ward
Christine der eigenen Gedanken sich nicht bewusst im Tosen, das
donnerte in ihrem Gemüte. Unwillkürlich floh sie den Berg
hinan, und immer glühender fühlte sie ein Brennen an ihrer
Wange, da wo des Grünen Mund sie berührt; sie rieb, sie
wusch, aber der Brand nahm nicht ab.
Es war eine wilde Nacht. In Lüften und Klüften heulte
und toste es, als ob die Geister der Nacht Hochzeit hielten in den
schwarzen Wolken, die Winde die wilden Reigen spielten zu ihrem
grausen Tanze, die Blitze die Hochzeitfackeln wären und der
Donner der Hochzeitsegen. In dieser Jahreszeit hatte man eine solche
Nacht noch nie erlebt.
In finsterem Bergestale regte es sich um ein großes Haus,
und viele drängten sich um sein schirmend Obdach. Sonst treibt
im Gewittersturm die Angst um den eigenen Herd den Landmann unter
das eigene Dach, und sorgsam wachend, solange das Gewitter am Himmel
steht, wahret und hütet er das eigene Haus. Aber jetzt war
die gemeinsame Not größer als die Angst vor dem Gewitter.
Diese trieb sie in diesem Hause zusammen, an welchem vorbeigehen
mussten die, welche der Sturm aus dem Münneberg trieb, und
die, welche von Bärhegen sich geflüchtet. Den Graus der
Nacht ob dem eigenen Elend vergessend, hörte man sie klagen
und grollen über ihr Missgeschick. Zu allem Unglück war
noch das Toben der Natur gekommen. Pferde und Ochsen waren scheu
geworden, betäubt, hatten Wagen zertrümmert, sich über
Felsen gestürzt, und schwer verwundet stöhnte mancher
in tiefem Schmerze, laut auf schrie mancher, dem man zerrissene
Glieder einzog und zusammenband.
In das Elend hinein flüchteten sich auch in schauerlicher
Angst die, welche den Grünen gesehen, und erzählten bebend
die wiederholte Erscheinung. Bebend hörte die Menge, was die
Männer erzählten, drängte sich aus dem weiten, dunkeln
Raume dem Feuer zu, um welches die Männer saßen, und
wenn der Wind durch die Sparren fuhr oder Donner über dem Hause
rollte, so schrie laut auf die Menge und meinte, es breche durchs
Dach der Grüne, sich zu zeigen in ihrer Mitte. Als er aber
nicht kam, als der Schreck vor ihm verging, als das alte Elend blieb
und der Jammer der Leidenden lauter wurde, da stiegen allmählich
die Gedanken auf, die den Menschen, der in der Not ist, so gerne
um seine Seele bringen. Sie begannen zu rechnen, wieviel mehr wert
sie alle seien als ein einzig ungetauft Kind, sie vergaßen
immer mehr, dass die Schuld an einer Seele tausendmal schwerer wiege
als die Rettung von tausend und abermal tausend Menschenleben.
Diese Gedanken wurden allmählich laut und begannen sich zu
mischen als verständliche Worte in das Schmerzensgestöhn
der Leidenden. Man fragte näher nach dem Grünen, grollte,
dass man ihm nicht besser Rede gestanden; genommen hätte er
niemand, und je weniger man ihn fürchte, um so weniger tue
er den Menschen. Dem ganzen Tale hätten sie vielleicht helfen
können, wenn sie das Herz am rechten Orte gehabt hätten.
Da begannen die Männer sich zu entschuldigen. Sie sagten nicht,
dass es sich mit dem Teufel nicht spaßen lasse, dass, wer
ihm ein Ohr leihe, bald den ganzen Kopf ihm geben müsse, sondern
sie redeten von des Grünen schrecklicher Gestalt, seinem Flammenbarte,
der feurigen Feder auf seinem Hute, einem Schloßturme gleich,
und dem schrecklichen Schwefelgeruch, den sie nicht hätten
ertragen mögen. Christines Mann aber, der gewöhnt worden
war, dass sein Wort erst durch die Zustimmung seiner Frau Kraft
erhielt, sagte, sie sollten nur seine Frau fragen, die könne
ihnen sagen, ob es jemand hätte aushalten mögen; und dass
die ein kuraschiertes Weib sei, wüssten alle. Da sahen alle
nach Christine sich um, aber keiner sah sie. Es hatte jeder nur
an seine Rettung gedacht und an andere nicht, und wie jetzt jeder
am trocknen saß, so meinte er, die andern säßen
ebenso. Jetzt erst fiel allen bei, dass sie Christine seit jenem
schrecklichen Augenblick nicht mehr gesehen, und ins Haus war sie
nicht gekommen. Da begann der Mann zu jammern und alle andern mit
ihm, denn es ward ihnen allen, als ob Christine allein zu helfen
wüsste.
Ölgemälde: Van Gogh
Plötzlich ging die Türe auf, und Christine stand mitten
unter ihnen, ihre Haare trieften, rot waren ihre Wangen, und ihre
Augen brannten noch dunkler als sonst in unheimlichem Feuer. Eine
Teilnahme, deren Christine sonst nicht gewohnt war, empfing sie,
und jeder wollte ihr erzählen, was man gedacht und gesagt und
wie man Kummer um sie gehabt. Christine sah bald, was alles zu bedeuten
hatte, und verbarg ihre innere Glut hinter spöttische Worte,
warf den Männern ihre übereilte Flucht vor und wie keiner
um ein arm Weib sich bekümmert und keiner sich umgesehen, was
der Grüne mit ihr beginne. Da brach der Sturm der Neugierde
aus, und jeder wollte zuerst wissen, was nun der Grüne mit
ihr angefangen, und die Hintersten hoben sich hochauf, um besser
zu hören und die Frau näher zu sehen, die dem Grünen
so nahe gestanden. Sie sollte nichts sagen, meinte Christine zuerst,
man hätte es nicht um sie verdient, als Fremde sie übel
geplaget im Tale, die Weiber ihr einen übeln Namen angehängt,
die Männer sie allenthalben im Stiche gelassen, und wenn sie
nicht besser gesinnet wäre als alle und wenn sie nicht mehr
Mut als alle hätte, so wäre noch jetzt weder Trost noch
Ausweg da. So redete Christine noch lange, warf harte Worte gegen
die Weiber, die ihr nie hätten glauben wollen, dass der Bodensee
größer sei als der Schlossteich, und je mehr man ihr
anhielt, um so härter schien sie zu werden und stützte
sich besonders darauf, dass, was sie zu sagen hätte, man ihr
übel auslegen und, wenn die Sache gut käme, ihr keinen
Dank haben werde; käme sie aber übel, so lüde man
ihr alle Schuld auf und die ganze Verantwortung.
Als endlich die ganze Versammlung vor Christine wie auf den Knien
lag mit Bitten und Flehen und die Verwundeten laut aufschrien und
anhielten, da schien Christine zu erweichen und begann zu erzählen,
wie sie standgehalten und mit dem Grünen Abrede getroffen;
aber von dem Kusse sagte sie nichts, nichts davon, wie er sie auf
der Wange gebrannt und wie es ihr getoset im Gemüte. Aber sie
erzählte, was sie seither gesinnet im verschlagenen Gemüte.
Das Wichtigste sei, dass die Buchen nach Bärhegen geschafft
würden; seien die einmal oben, so könne man immer noch
sehen, was man machen wolle, die Hauptsache sei, dass bis dahin,
soviel ihr bekannt, unter ihnen kein Kind werde geboren werden.
Vielen lief es kalt den Rücken auf bei der Erzählung,
aber dass man dann noch immer sehen könne, was man machen wolle,
das gefiel allen wohl.
Nur ein junges Weibchen weinte gar bitterlich, dass man unter seinen
Augen die Hände hätte waschen können, aber sagen
tat es nichts. Ein alt, ehrwürdig Weib dagegen, hochgestaltet
und mit einem Gesichte, vor dem man sonst sich beugen oder vor ihm
fliehen musste, trat in die Mitte und sprach: gottvergessen wäre
es gehandelt, auf das Ungewisse das Gewisse stellen und spielen
mit dem ewigen Leben. Wer mit dem Bösen sich einlasse, komme
vom Bösen nimmer los, und wer ihm den Finger gebe, den behalte
er mit Leib und Seele. Aus diesem Elend könne niemand helfen
als Gott; wer ihn aber verlasse in der Not, der versinke in der
Not. Aber diesmal verachtete man der Alten Rede, und schweigen hieß
man das junge Weibchen, mit Weinen und Heulen sei einem diesmal
nicht geholfen, da bedürfe man Hülfe anderer Art, hieß
es.
Rätig wurde man bald, die Sache zu versuchen. Bös könne
das kaum gehen im bösesten Fall; aber nicht das erstemal sei
es, dass Menschen die schlimmsten Geister betrogen, und wenn sie
selbst nichts wüssten, so fände wohl ein Priester Rat
und Ausweg. Aber in finsterm Gemüte soll mancher gedacht haben,
wie er später bekannte: gar viel Geld und Umtriebe wage er
nicht eines ungetauften Kindes wegen.
Als der Rat nach Christines Sinn gefasst wurde, da war es, als
ob alle Wirbelwinde über dem Hause zusammenstießen, die
Heere der wilden Jäger vorübersausten; die Posten des
Hauses wankten, die Balken bogen sich, Bäume splitterten am
Hause wie Speere auf einer Ritterbrust. Blass wurden drinnen die
Menschen, Grauen überfiel sie, aber den Rat lösten sie
nicht; bei grauendem Morgen begannen sie seine Ausführung.
Schön und hell war der Morgen, Gewitter und Hexenwerke verschwunden,
die Äxte hieben noch einmal so scharf als sonst, der Boden
war locker, und jede Buche fiel gerade, wie man sie haben wollte,
kein Wagen brach mehr, das Vieh war willig und stark und die Menschen
geschützt vor jedem Unfall wie durch unsichtbare Hand.
Nur eines war sonderbar. Unterhalb Sumiswald führte damals
noch kein Weg ins hintere Tal; dort war noch Sumpf, den die zügellose
Grüne bewässerte, man musste den Stalden auf durchs Dorf
fahren an der Kirche vorbei. Sie fuhren wie an den frühern
Tagen immer drei Züge auf einmal, um einander helfen zu können
mit Rat, Kraft und Vieh, und hatten nun nur durch Sumiswald zu fahren,
außerhalb des Dorfes den Kirchstalden ab, an dem eine kleine
Kapelle stand; unterhalb desselben auf ebenem Wege hatten sie die
Buchen abzulegen. Sobald sie den Stalden auf waren und auf ebenem
Wege gegen die Kirche kamen, so ward das Gewicht der Wagen nicht
leichter, sondern schwerer und schwerer, sie mussten Tiere vorspannen,
so viele sie deren hatten, mussten unmenschlich auf sie schlagen,
mussten selbst Hand an die Speichen legen, dazu scheuten die sanftesten
Rosse, als ob etwas Unsichtbares vom Kirchhofe her ihnen im Wege
stehe, und ein dumpfer Glockenton, fast wie der verirrte Schall
einer fernen Totenglocke, kam von der Kirche her, dass ein eigentümlich
Grauen die stärksten Männer ergriff und jedesmal Menschen
und Tiere bebten, wenn man gegen die Kirche kam. War man einmal
vorbei, so konnte man ruhig fahren, ruhig abladen, ruhig zu frischer
Ladung wieder gehen.
Sechs Buchen lud man selbigen Tags nebeneinander ab an die abgeredete
Stelle, sechs Buchen waren am folgenden Morgen zu Bärhegen
oben gepflanzet, und durchs ganze Tal hin hatte niemand eine Achse
gehört, die sich umgedreht um ihre Spule, niemand der Fuhrleute
üblich Geschrei, der Pferde Wiehern, der Ochsen einförmig
Gebrüll. Aber sechs Buchen standen oben, die konnte sehen,
wer wollte, und es waren die sechs Buchen, die man unten an dem
Stalden hingelegt hatte, und nicht andere.
Da war das Staunen groß im ganzen Tale, und die Neugierde
regte sich bei männiglich. Absonderlich die Ritter nahm es
wunder, welche Pacht die Bauren geschlossen und auf welche Weise
die Buchen zur Stelle geschafft würden. Sie hätten gerne
auf heidnische Weise den Bauren das Geheimnis ausgepresst. Allein
sie sahen bald, dass die Bauren auch nicht alles wüssten, da
sie selbst halb erschrocken waren. Zudem wehrte der von Stoffeln.
Dem war es nicht nur gleichgültig, wie die Buchen nach Bärhegen
kamen, im Gegenteil, wenn nur die Buchen heraufkamen, so sah er
gerne, dass die Bauren dabei geschont wurden. Er hatte wohl gesehen,
dass der Spott der Ritter ihn zu einer Unbesonnenheit verleitet
hatte, denn wenn die Bauren zugrunde gingen, die Felder unbestellt
blieben, so hatte die Herrschaft den größten Schaden
dabei; allein, was der von Stoffeln einmal gesagt hatte, dabei blieb
es. Die Erleichterung, welche die Bauren sich verschafft, war ihm
daher ganz recht und ganz gleichgültig, ob sie dafür ihre
Seelen verschrieben; denn was gingen ihn der Bauren Seelen an, wenn
einmal der Tod ihre Leiber genommen! Er lachte jetzt über seine
Ritter und schützte die Bauren vor ihrem Mutwillen. Diese wollten
den Handel doch ergründen und sandten Knappen zur Wache; die
fand man des Morgens halb tot in Gräben, wohin eine unsichtbare
Hand sie geschleudert.
Da zogen zwei Ritter hin auf Bärhegen. Es waren kühne
Degen, und wo ein Wagnis zu bestehen gewesen im Heidenland, da hatten
sie es bestanden. Am Morgen fand man sie erstarrt am Boden, und
als sie der Rede wieder mächtig waren, sagten sie, ein roter
Ritter mit feuriger Lanze hätte sie niedergerannt. Hie und
da konnte eine neugierige Weibsseele sich nicht enthalten, wenn
es Mitternacht war, durch eine Spalte oder Luke nach dem Wege im
Tale zu sehen. Alsbald wehete ein giftiger Wind sie an; das Gesicht
schwoll auf, wochenlang konnte man weder Nase noch Augen sehen,
den Mund mit Mühe finden. Da verging den Leuten das Spähen,
und kein Auge sah mehr zu Tale, wenn Mitternacht über demselben
lag.
Einmal aber kam plötzlich einen Mann das Sterben an; er bedurfte
des letzten Trostes, aber niemand durfte den Priester holen, denn
Mitternacht war nahe, und der Weg führte am Kilchstalden vorbei.
Da lief ein unschuldig Bübchen, Gott und Menschen lieb, aus
Angst um den Vater ungeheißen Sumiswald zu. Als er gegen den
Kilchstalden kam, sah er von dort die Buchen auffahren vom Boden,
jede von zwei feurigen Eichhörnchen gezogen, und nebenbei sah
er reiten auf schwarzem Bocke einen grünen Mann, eine feurige
Geißel hatte er in der Hand, einen feurigen Bart im Gesichte,
und auf dem Hute schwankte glutrot eine Feder. So sei der Zug gefahren
hoch durch die Lüfte über alle Egg weg und schnell wie
ein Augenblick. Solches sah der Knabe, und niemand tat ihm was.
Noch waren nicht drei Wochen vergangen, so stunden neunzig Buchen
auf Bärhegen, machten einen schönen Schattengang, denn
alle schlugen üppig aus, keine einzige verdorrte. Aber die
Ritter und auch der von Stoffeln ergingen sich nicht oft darin,
es wehte sie allemal ein heimlich Grauen an; sie hätten von
der Sache lieber nichts mehr gewusst, aber keiner machte ihr ein
Ende, es tröstete ein jeder sich: fehle es, so trage der andere
die Schuld.
Den Bauren aber wohlete es mit jeder Buche, welche oben war, denn
mit jeder Buche wuchs die Hoffnung, dem Herrn zu genügen, den
Grünen zu betrügen; er hatte ja kein Unterpfand, und war
die hundertste einmal oben, was frugen sie dann dem Grünen
nach? Indessen waren sie der Sache noch nicht sicher; alle Tage
fürchteten sie, er spiele ihnen einen Schabernack und lasse
sie im Stiche. Am Urbanustage brachten sie ihm die letzten Buchen
an den Kilchstalden, und alt und jung schlief wenig in selber Nacht;
man konnte fast nicht glauben, dass er ohne Umstände und ohne
Kind oder Pfand die Arbeit vollende.
Am folgenden Morgen lange vor der Sonne waren alt und jung auf
den Beinen, in allen regte sich die gleiche neugierige Angst; aber
lange wagte sich keiner auf den Platz, wo die Buchen lagen; man
wusste nicht, lag dort eine Beize für die, welche den Grünen
betrügen wollten.
Ein wilder Küherbub, der Zieger von der Alp gebracht, wagte
es endlich, sprang voran und fand keine Buchen mehr, und keine Hinterlist
tat auf dem Platze sich kund. Noch trauten sie dem Spiele nicht;
ihnen vorauf musste der Küherbub nach Bärhegen. Dort war
alles in der Ordnung, hundert Buchen standen in Reih und Glied,
keine war verdorret, keinem aus ihnen lief das Gesicht auf, keinem
tat ein Glied weh. Da stieg der Jubel hoch in ihren Herzen, und
viel Spott gegen den Grünen und gegen die Ritter floss. Zum
drittenmal sandten sie aus den wilden Küherbub und ließen
dem von Stoffeln sagen, es sei auf Bärhegen nun alles in der
Ordnung, er möchte kommen und die Buchen zählen. Dem aber
ward es graulicht, und er ließ ihnen sagen, sie sollten machen,
dass sie heimkämen. Gerne hätte er ihnen sagen lassen,
sie sollten den ganzen Schattengang wieder wegschaffen, aber er
tat es nicht seiner Ritter wegen, es sollte nicht heißen,
er fürchte sich; aber er wusste nicht um der Bauren Pacht und
wer sich in den Handel mischen könnte.
Als der Kühersbub den Bescheid brachte, da schwollen die Herzen
noch trotziger auf; die wilde Jugend tanzte im Schattengange, wildes
Jodeln hallte von Kluft zu Kluft, von Berg zu Berg, hallte an den
Mauren des Schlosses Sumiswald wider. Bedächtige Alte warnten
und baten, aber trotzige Herzen achten bedächtiger Alten Warnung
nicht; wenn dann das Unglück da ist, so sollen es die Alten
mit ihrem Zagen und Warnen herbeigezogen haben. Die Zeit ist noch
nicht da, wo man es erkennt, dass der Trotz das Unglück aus
dem Boden stampft. Der Jubel zog sich über Berg und Tal in
alle Häuser, und wo noch eines Fingers lang Fleisch im Rauche
hing, da ward es gekocht, und wo noch eine Handgroß Butter
im Hafen war, da wurde geküchelt.
Das Fleisch ward gegessen, die Küchli schwanden, der Tag war
verronnen, und ein anderer Tag stieg am Himmel auf. Immer näher
kam der Tag, an welchem ein Weib ein Kind gebären sollte; und,
je näher der Tag kam, um so dringlicher kam die Angst wieder:
der Grüne werde sich wieder künden, fordern, was ihm gehöre,
oder ihnen eine Beize legen.
Den Jammer jenes jungen Weibes, welches das Kind gebären sollte,
wer will ihn ermessen? Im ganzen Hause tönte er wider, ergriff
nach und nach alle Glieder des Hauses, und Rat wusste niemand, wohl
aber, dass dem, mit dem man sich eingelassen, nicht zu trauen sei.
Je näher die verhängnisvolle Stunde kam, um so näher
drängte das arme Weibchen sich zu Gott, umklammerte nicht mit
den Armen allein, sondern mit dem Leibe und der Seele und aus ganzem
Gemüte die heilige Mutter, bittend um Schutz um ihres gebenedeiten
Sohnes willen. Und ihr ward immer klarer, dass im Leben und Sterben
in jeder Not der größte Trost bei Gott sei, denn, wo
der sei, da dürfe der Böse nicht sein und hätte keine
Macht.
Immer deutlicher trat der Glaube vor dessen Seele, dass, wenn ein
Priester des Herren mit dem Allerheiligsten, dem heiligen Leibe
des Erlösers, bei der Geburt zugegen wäre und bewaffnet
mit kräftigen Bannsprüchen, so dürfte kein böser
Geist sich nahen, und alsobald könnte der Priester das neugeborne
Kind mit dem Sakramente der Taufe versehen, was die damalige Sitte
erlaubte; dann wäre das arme Kind der Gefahr für immer
entrissen, welche die Vermessenheit der Väter über ihns
gebracht. Dieser Glaube stieg auch bei den andern auf, und der Jammer
des jungen Weibes ging ihnen zu Herzen, aber sie scheuten sich,
dem Priester ihre Pacht mit dem Satan zu bekennen, und niemand war
seither zur Beichte gegangen, und niemand hatte ihm Rede gestanden.
Es war ein gar frommer Mann, selbst die Ritter des Schlosses trieben
keinen Kurzweil mit ihm, er aber sagte ihnen die Wahrheit. Wenn
einmal die Sache getan sei, so könne er sie nicht mehr hindern,
hatten die Bauren gedacht; aber jetzt war doch niemand gerne der
erste, der es ihm sagte, das Gewissen sagte ihnen wohl, warum.
Endlich drang einem Weibe der Jammer zu Herzen; es lief hin und
offenbarte dem Priester den Handel und des armen Weibes Wunsch.
Gewaltig entsetzte sich der fromme Mann, aber mit leeren Worten
verlor er die Zeit nicht; kühn trat er für eine arme Seele
in den Kampf mit dem gewaltigen Widersacher. Er war einer von denen,
die den härtesten Kampf nicht scheuen, weil sie gekrönt
werden wollen mit der Krone des ewigen Lebens und weil sie wohl
wissen, es werde keiner gekrönet, er kämpfe dann recht.
Ums Haus, in welchem das Weib ihrer Stunde harrte, zog er den heiligen
Bann mit geweihtem Wasser, den böse Geister nicht überschreiten
dürfen, segnete die Schwelle ein, die ganze Stube, und ruhig
gebar das Weib, und ungestört taufte der Priester das Kind.
Ruhig blieb es auch draußen, am klaren Himmel flimmerten die
hellen Sterne, leise Lüfte spielten in den Bäumen. Ein
wiehernd Gelächter wollten die einen gehört haben von
ferne her; die andern aber meinten, es seien nur die Käuzlein
gewesen an des Waldes Saum.
Alle, die da waren, aber freuten sich höchlich, und alle Angst
war verschwunden, auf immer, wie sie meinten; hatten sie den Grünen
einmal angeführt, so konnten sie es immer tun mit dem gleichen
Mittel.
Ein großes Mahl ward zugerichtet, weither wurden die Gäste
entboten. Umsonst mahnte der Priester des Herrn von Schmaus und
Jubel ab, mahnte, zu zagen und zu beten, denn noch sei der Feind
nicht besiegt, Gott nicht gesühnt. Es sei ihm im Geiste, als
dürfe er ihnen keine Buße zur Sühnung auferlegen,
als nahe sich eine Buße gewaltig und schwer aus Gottes selbsteigener
Hand. Aber sie hörten ihn nicht, wollten ihn befriedigen mit
Speise und Trank. Er aber ging betrübt weg, bat für die,
welche nicht wüssten, was sie täten, und rüstete
sich, mit Beten und Fasten zu kämpfen als ein getreuer Hirt
für die anvertraute Herde.
Mitten unter den Jubilierenden ist auch Christine gesessen, aber
sonderbar stille mit glühenden Wangen, düstern Augen,
seltsam sah man es zucken in ihrem Gesichte. Christine war bei der
Geburt zugegen gewesen als erfahrne Wehmutter, war bei der plötzlichen
Taufe zu Gevatter gestanden mit frechem Herzen ohne Furcht, aber
wie der Priester das Wasser sprengte über das Kind und es taufte
in den drei höchsten Namen, da war es ihr, als drücke
man ihr plötzlich ein feurig Eisen auf die Stelle, wo sie des
Grünen Kuss empfangen. In jähem Schrecken war sie zusammengezuckt,
das Kind fast zur Erde gefallen, und seither hatte der Schmerz nicht
abgenommen, sondern ward glühender von Stunde zu Stunde. Anfangs
war sie stille gesessen, hatte den Schmerz erdrückt und heimlich
die schweren Gedanken gewälzet in ihrer erwachten Seele, aber
immer häufiger fuhr sie mit der Hand nach dem brennenden Fleck,
auf dem ihr eine giftige Wespe zu sitzen schien, die ihr einen glühenden
Stachel bohre bis ins Mark hinein. Als keine Wespe zu verjagen war,
die Stiche immer heißer wurden, die Gedanken immer schrecklicher,
da begann Christine ihre Wange zu zeigen, zu fragen, was darauf
zu sehen sei, und immer von neuem frug Christine, aber niemand sah
etwas, und bald mochte niemand mehr mit dem Spähen auf den
Wangen die Lust sich verkürzen. Endlich konnte sie noch ein
alt Weib erbitten; eben krähte der Hahn, der Morgen graute,
da sah die Alte auf Christines Wange einen fast unsichtbaren Fleck.
Es sei nichts, sagte die, das werde schon vergehn, und ging weiter.
Und Christine wollte sich trösten, es sei nichts und werde
bald vergehn; aber die Pein nahm nicht ab, und unmerklich wuchs
der kleine Punkt, und alle sahen ihn und frugen sie, was es da Schwarzes
gebe in ihrem Gesichte? Sie dachten nichts Besonders, aber die Reden
fuhren ihr wie Stiche ins Herz, weckten die schweren Gedanken wieder
auf, und immer und immer musste sie denken, dass auf den gleichen
Fleck der Grüne sie geküsst und dass die gleiche Glut,
die damals wie ein Blitz durch ihr Gebein gefahren, jetzt bleibend
in demselben brenne und zehre. So wich der Schlaf von ihr, das Essen
schmeckte ihr wie Feuerbrand, unstet lief sie hiehin, dorthin, suchte
Trost und fand keinen, denn der Schmerz wuchs immer noch, und der
schwarze Punkt ward größer und schwärzer, einzelne
dunkle Streifen liefen von ihm aus, und nach dem Munde hin schien
sich auf dem runden Flecke ein Höcker zu pflanzen.
So litt und lief Christine manchen langen Tag und manche lange
Nacht und hatte keinem Menschen die Angst ihres Herzens geoffenbaret
und was sie vom Grünen auf diese Stelle erhalten; aber wenn
sie gewusst hätte, auf welche Weise sie dieser Pein loswerden
könnte, sie hätte alles im Himmel und auf Erden geopfert.
Sie war von Natur ein vermessen Weib, jetzt aber erwildet in wütendem
Schmerze.
Da geschah es, dass wiederum ein Weib ein Kind erwartete. Diesmal
war die Angst nicht groß, die Leute wohlgemut; sobald sie
zu rechter Zeit für den Priester sorgten, meinten sie, des
Grünen spotten zu können. Nur Christine war es nicht so.
Je näher der Tag der Geburt kam, desto schrecklicher ward der
Brand auf ihrer Wange, desto mächtiger dehnte der schwarze
Punkt sich aus, deutliche Beine streckte er von sich aus, kurze
Haare trieb er empor, glänzende Punkte und Streifen erschienen
auf seinem Rücken, und zum Kopfe ward der Höcker, und
glänzend und giftig blitzte es aus demselben wie aus zwei Augen
hervor. Laut auf schrien alle, wenn sie die giftige Kreuzspinne
sahen auf Christines Gesicht, und voll Angst und Grauen flohen sie,
wenn sie sahen, wie sie fest saß im Gesichte und aus demselben
herausgewachsen. Allerlei redeten die Leute, der eine riet dies,
der andere ein anderes, aber alle mochten Christine gönnen,
was es auch sein mochte, und alle wichen ihr aus und flohen sie,
wo es nur möglich war. Je mehr die Leute flohen, desto mehr
trieb es Christine ihnen nach, sie fuhr von Haus zu Haus; sie fühlte
wohl, der Teufel mahne sie an das verheißene Kind; und um
das Opfer den Leuten einzureden mit unumwundenen Worten, fuhr sie
ihnen nach in Höllenängst. Aber das kümmerte die
andern wenig; was Christine peinigte, tat ihnen nicht weh, was sie
litt, hatte nach ihrer Meinung sie verschuldet, und wenn sie ihr
nicht mehr entrinnen konnten, so sagten sie zu ihr: "Da siehe
du zu! Keiner hat ein Kind verheißen, darum gibt auch keiner
eins." Mit wütender Rede setzte sie dem eigenen Manne
zu. Dieser floh wie die andern, und wenn er nicht mehr fliehen konnte,
so sprach er Christine kaltblütig zu, das werde schon bessern,
das sei ein Malzeichen, wie gar viele Menschen deren hätten;
wenn es einmal ausgewachsen sei, so höre der Schmerz auf und
leicht sei es dann abzubinden.
Unterdessen aber hörte der Schmerz nicht auf, jedes Bein war
ein Höllenbrand, der Spinne Leib die Hölle selbst, und
als des Weibes erwartete Stunde kam, da war es Christine, als umwalle
sie ein Feuermeer, als wühlten feurige Messer in ihrem Mark,
als führen feurige Wirbelwinde durch ihr Gehirn. Die Spinne
aber schwoll an, bäumte sich auf, und zwischen den kurzen Borsten
hervor quollen giftig ihre Augen. Als Christine in ihrer glühenden
Pein nirgends Teilnahme, die Kreißende wohl bewacht fand,
da stürzte sie einer Wirbelsinnigen gleich den Weg entlang,
den der Priester kommen musste.
Raschen Schrittes kam derselbe der Halde entlang, begleitet vom
handfesten Sigrist; die heiße Sonne und der steile Weg hemmten
die Schritte nicht, denn es galt, eine Seele zu retten, ein unendlich
Unglück zu wenden, und von entferntem Kranken kommend, bangte
dem Priester vor schrecklicher Säumnis. Verzweifelnd warf Christine
sich ihm in den Weg, umfasste seine Knie, bat um Lösung aus
ihrer Hölle, um das Opfer des Kindes, das noch kein Leben kenne,
und die Spinne schwoll noch höher auf, funkelte schrecklich
schwarz in Christines rot angelaufenem Gesichte, und mit grässlichen
Blicken glotzte sie nach des Priesters heiligen Geräten und
Zeichen. Dieser aber schob Christine rasch zur Seite und schlug
das heilige Zeichen; er sah da den Feind wohl, aber er ließ
den Kampf, um eine Seele zu retten. Christine aber fuhr auf, stürmte
ihm nach und versuchte das Äußerste; doch des Sigristen
starke Hand hielt das wütend Weib vom Priester ab, und zur
Zeit noch konnte er das Haus schützen, in geweihte Hände
das Kind empfangen und in die Hände dessen legen, den die Hölle
nie überwältigt.
Draußen hatte unterdessen Christine einen schrecklichen Kampf
gekämpfet. Sie wollte das Kind ungetauft in ihre Hände,
wollte hinein ins Haus, aber starke Männer wehrten es. Windstöße
stießen an das Haus, der fahle Blitz umzingelte es, aber die
Hand des Herrn war über ihm; es wurde das Kind getauft, und
Christine umkreiste vergeblich und machtlos das Haus. Von immer
wilderer Höllenqual ergriffen, stieß sie Töne aus,
die nicht Tönen glichen aus einer Menschenbrust; das Vieh schlotterte
in den Ställen und riss von den Stricken, die Eichen im Walde
rauschten auf, sich entsetzend.
Im Hause begann der Jubel über den neuen Sieg, des Grünen
Ohnmacht, seiner Helfershelferin vergeblich Ringen; draußen
aber lag Christine, von entsetzlicher Pein zu Boden geworfen, und
in ihrem Gesichte begannen Wehen zu kreißen, wie sie noch
keine Wöchnerin erfahren auf Erden, und die Spinne im Gesichte
schwoll immer höher auf und brannte immer glühender durch
ihr Gebein.
Da war es Christine, als ob plötzlich das Gesicht ihr platze,
als ob glühende Kohlen geboren würden in demselben, lebendig
würden, ihr gramselten über das Gesicht weg, über
alle Glieder weg, als ob alles an ihm lebendig würde und glühend
gramsle über den ganzen Leib weg. Da sah sie in des Blitzes
fahlem Scheine langbeinig, giftig, unzählbar schwarze Spinnchen
laufen über ihre Glieder, hinaus in die Nacht, und den Entschwundenen
liefen langbeinig, giftig, unzählbar andere nach. Endlich sah
sie keine mehr den frühern folgen, der Brand im Gesichte legte
sich, die Spinne ließ sich nieder, ward zum fast unsichtbaren
Punkte wieder, schaute mit erlöschenden Augen ihrer Höllenbrut
nach, die sie geboren hatte und ausgesandt zum Zeichen, wie der
Grüne mit sich spaßen lasse.
Matt, einer Wöchnerin gleich, schlich Christine nach Hause;
wenn schon die Glut so heiß nicht mehr brannte auf dem Gesicht,
die Glut im Herzen hatte nicht abgenommen, wenn schon die matten
Glieder nach Ruhe sich sehnten, der Grüne ließ ihr keine
Ruhe mehr; wen er einmal hat, dem macht er es so.
Drinnen im Hause aber, da jubelten sie und freuten sich und hörten
lange nicht, wie das Vieh brüllte und tobte im Stalle. Endlich
fuhren sie doch auf, man ging, nachzusehen, schreckensblass kamen
die wieder, die gegangen waren, und brachten die Kunde, die schönste
Kuh liege tot, die übrigen tobten und wüteten, wie sie
es nie gesehen. Da sei es nicht richtig, etwas Absonderliches walte
da. Da verstummte der Jubel, alles lief nach dem Vieh, dessen Gebrüll
erscholl über Berg und Tal, aber keiner hatte Rat. Gegen den
Zauber versuchte man weltliche und geistliche Künste, aber
alle umsonst; ehe noch der Tag graute, hatte der Tod das sämtliche
Vieh im Stalle gestreckt. Wie es aber hier stumm wurde, so begann
es hier zu brüllen und dort zu brüllen; die da waren,
hörten, wie in ihre Ställe die Not gebrochen, wehlich
das Vieh seine Meister zu Hülfe rief in seiner grausen Angst.
Als ob die Flamme aus ihrem Dache schlüge, eilten sie heim,
aber Hülfe brachten sie keine; hier wie dort streckte der Tod
das Vieh, Wehgeschrei von Menschen und Tieren erfüllte Berge
und Täler, und die Sonne, welche das Tal so fröhlich verlassen,
sah in entsetzlichen Jammer hinein. Als die Sonne schien, sahen
endlich die Menschen, wie es in den Ställen, in denen das Vieh
gefallen war, wimmle von zahllosen schwarzen Spinnen. Diese krochen
über das Vieh, das Futter, und was sie berührten, war
vergiftet, und was lebendig war, begann zu toben, ward bald vom
Tode gestreckt. Von diesen Spinnen konnte man keinen Stall, in dem
sie waren, säubern, es war, als wüchsen sie aus dem Boden
herauf, konnte keinen Stall, in dem sie noch nicht waren, vor ihnen
behüten, unversehens krochen sie aus allen Wänden, fielen
haufenweise von der Diele. Man trieb das Vieh auf die Weiden, man
trieb es nur dem Tode in den Rachen. Denn, wie eine Kuh auf eine
Weide den Fuß setzte, so begann es lebendig zu werden am Boden,
schwarze, langbeinige Spinnen sproßten auf, schreckliche Alpenblumen,
krochen auf am Vieh, und ein fürchterlich wehlich Geschrei
erscholl von den Bergen nieder zu Tale. Und alle diese Spinnen sahen
der Spinne auf Christines Gesicht ähnlich wie Kinder der Mutter,
und solche hatte man noch keine gesehen.
Das Geschrei der armen Tiere war auch zum Schlosse gedrungen, und
bald kamen ihm auch Hirten nach, verkündend, dass ihr Vieh
gefallen von den giftigen Tieren, und in immer höherem Zorne
vernahm der von Stoffeln, wie Herde um Herde verlorengegangen, vernahm,
welchen Pacht man mit dem Grünen gehabt, wie man ihn zum zweiten
Male betrogen und wie die Spinnen ähnlich seien, wie Kinder
der Mutter, der Spinne in der Lindauerin Gesicht, die mit dem Grünen
den Bund gemacht alleine und nie rechten Bericht darüber gegeben.
Da ritt der von Stoffeln in grimmem Zorn den Berg hinauf und donnerte
die Armen an, dass er nicht um ihretwillen Herde und Herde verlieren
wolle; was er geschädigt worden, müssten sie ersetzen,
und was sie versprochen, das müssten sie halten, was sie freiwillig
getan, das müssten sie tragen. Schaden leiden ihretwegen wolle
er nicht, oder leide er, so müssten sie ihn büßen
tausendfältig. Sie könnten sich vorsehen. So redete er
zu ihnen, unbekümmert um das, was er ihnen zumutete; und dass
er sie dazu getrieben, fiel ihm nicht bei, nur was sie getan, rechnete
er ihnen zu.
Den meisten schon war es aufgedämmert, dass die Spinnen eine
Plage des Bösen seien, eine Mahnung, den Pacht zu halten, und
dass Christine Näheres darum wissen müsste, ihnen nicht
alles gesagt hätte, was sie mit dem Grünen verhandelt.
Nun zitterten sie wieder vor dem Grünen, lachten seiner nicht
mehr, zitterten vor ihrem weltlichen Herrn; wenn sie diese befriedigten,
was sagte der geistliche Herr dazu, erlaubte er es, und hätte
dann der keine Buße für sie? So in der Angst versammelten
sich die Angesehensten in einsamer Scheuer, und Christine musste
kommen und klaren Bescheid geben, was sie eigentlich verhandelt.
Christine kam, verwildert, rachedurstig, aufs neue von der wachsenden
Spinne gefoltert.
Als sie das Zagen der Männer sah und keine Weiber, da erzählte
sie punktum, was ihr begegnet: wie der Grüne sie schnell beim
Worte genommen und ihr zum Pfande einen Kuss gegeben, den sie nicht
mehr geachtet als andere; wie ihr jetzt auf selbigem Fleck die Spinne
gewachsen sei unter Höllenpein vom Augenblick an, als man das
erste Kind getauft; wie die Spinne, eben als man das zweite Kind
getauft und den Grünen genarrt, unter Höllenwehen die
Spinnen geboren in ungemessner Zahl; denn narren lasse er sich nicht
ungestraft, wie sie es fühle in tausendfachen Todesschmerzen.
Jetzt wachse die Spinne wieder, die Pein mehre sich, und wenn das
nächste Kind nicht des Grünen werde, so wisse niemand,
wie grässlich die einbrechende Plage sei, wie grässlich
des Ritters Rache.
So erzählte Christine, und die Herzen der Männer bebten,
und lange wollte keiner reden. Nach und nach kamen aus den angstgepressten
Kehlen abgebrochene Laute hervor, und wenn man sie zusammensetzte,
so meinten sie gerade, was Christine meinte, aber kein einzelner
hatte seine Einwilligung gegeben in ihren Rat. Nur einer stund auf
und redete kurz und deutlich: das Beste schiene ihm, Christine totzuschlagen,
sei einmal die tot, so könnte der Grüne an der Toten sich
halten, hätte keine Handhabe mehr an den Lebendigen. Da lachte
Christine wild auf, trat ihm unter das Gesicht und sagte: er solle
zuschlagen, ihr sei es recht, aber der Grüne wolle nicht sie,
sondern ein ungetauft Kind, und wie er sie gezeichnet, ebensogut
könne er die Hand zeichnen, die an ihr sich vergreife. Da zuckte
es in des Mannes Hand, der allein geredet, er setzte sich und hörte
schweigend dem Rate der andern. Und abgebrochen, wo keiner alles
sagte, sondern jeder nur etwas, das wenig bedeuten sollte, kam man
überein, das nächste Kind zu opfern, aber keiner wollte
seine Hand bieten dazu, niemand das Kind an den Kilchstalden tragen,
wo man die Buchen hingelegt hatte. Zum allgemeinen Besten, wie sie
meinten, den Teufel zu brauchen, hatte keiner sich gescheut, aber
persönliche Bekanntschaft mit ihm zu machen, begehrte keiner.
Da erbot sich Christine willig dazu, denn hatte man einmal mit dem
Teufel zu tun gehabt, so konnte es das zweitemal wenig mehr schaden.
Man wusste wohl, wer das nächste Kind gebären sollte,
aber man redete nichts davon, und der Vater desselben war nicht
zugegen. Verständigt mit und ohne Worte, ging man auseinander.
Das junge Weib, welches in jener grauenvollen Nacht, wo Christine
Bericht vom Grünen brachte, gezaget und geweinet hatte, es
wusste damals nicht, warum, erwartete nun das nächste Kind.
Die frühern Vorgänge machten es nicht getrost und zuversichtlich,
eine unnennbare Angst lag auf seinem Herzen, es konnte sie weder
mit Beten noch Beichten wegbringen. Ein verdächtiges Schweigen
schien ihm ihns zu umringen, niemand sprach von der Spinne mehr,
verdächtig schienen ihm alle Augen, die auf ihm ruhten, schienen
ihm zu berechnen die Stunde, in welcher sie seines Kindes habhaft
werden, den Teufel versöhnen könnten.
So einsam und verlassen fühlte es sich gegen die unheimliche
Macht um sich; keinen Beistand hatte es als seine Schwiegermutter,
eine fromme Frau, die zu ihm stund, aber was vermag eine alte Frau
gegen eine wilde Menge? Es hatte seinen Mann, der hatte alles Gute
wohl versprochen; aber wie jammerte der um sein Vieh und gedachte
so wenig des armen Weibes Angst! Es hatte der Priester verheißen
zu kommen, so schnell und so früh zu kommen, als man ihn verlange,
aber was konnte begegnen vom Augenblicke an, da man gesandt, bis
dass er kam; und das arme Weib hatte keinen zuverlässigen Boten
als den eigenen Mann, der ihm Schutz und Wache sein sollte, und
das arme Weibchen wohnte dazu noch mit Christine in einem Hause,
und ihre Männer waren Brüder, und keine eigenen Verwandte
hatte es, als Waise war es ins Haus gekommen! Man kann sich des
armen Weibes Herzensangst denken, nur im Beten mit der frommen Mutter
fand es einiges Vertrauen, das alsobald wieder schwand, sobald es
in die bösen Augen sah.
Unterdessen war die Krankheit noch immer da, sie unterhielt den
Schrecken. Freilich, nur hie und da fiel ein Stück, zeigten
die Spinnen sich. Aber sobald bei jemand der Schreck nachließ,
sobald irgendeiner dachte oder sagte: das Übel lasse von selbsten
nach, und man sollte sich wohl bedenken, ehe man an einem Kinde
sich versündige, so flammte auf Christines Höllenpein,
die Spinne blähte sich hochauf, und dem, der so gedacht oder
geredet, kehrte mit neuer Wut der Tod in seine Herde ein. Ja, je
näher die erwartete Stunde kam, um so mehr schien die Not wieder
zuzunehmen, und sie erkannten, dass sie bestimmte Abrede treffen
müssten, wie sie des Kindes sicher und sonder Fehl sich bemächtigen
könnten. Den Mann fürchteten sie am meisten, und Gewalt
gegen ihn zu brauchen war ihnen zuwider. Da übernahm Christine,
ihn zu gewinnen, und sie gewann ihn. Er wollte um die Sache nicht
wissen, wollte seinem Weibe zu Willen sein, den Priester holen,
aber nicht eilen, und was in seiner Abwesenheit vorgehe, darnach
wolle er nicht fragen; so fand er sich mit seinem Gewissen ab, mit
Gott wollte er sich durch Messen abfinden, und für des armen
Kindes Seele sei vielleicht auch noch etwas zu tun, dachte er, vielleicht
gewinne der fromme Priester es dem Teufel wieder ab, dann seien
sie aus dem Handel, hätten das Ihre getan und den Bösen
doch geprellt. So dachte der Mann, und jedenfalls, es möge
nun gehen, wie es wolle, so hätte er an der ganzen Sache keine
Schuld, sobald er nicht mit selbsteigenen Händen dabei tätig
sei.
So war das arme Weibchen verkauft und wusste es nicht, hoffte mit
Bangen nach Rettung; und beschlossen im Rate der Menschen war der
Stoß in sein Herz; aber was der droben beschlossen hatte,
das deckten noch die Wolken, die vor der Zukunft liegen.
Es war ein gewitterhaftes Jahr und die Ernte gekommen; alle Kräfte
wurden angespannt, um in den heitern Stunden das Korn unter das
sichere Dach zu bringen. Es war ein heißer Nachmittag gekommen,
schwarze Häupter streckten die Wolken über die dunklen
Berge empor, ängstlich ums Dach flatterten die Schwalben, und
dem armen Weibchen ward so eng und bang allein im Hause, denn selbst
die Großmutter war draußen auf dem Acker, zu helfen
mit dem Willen mehr als mit der Tat. Da zuckte zweischneidend der
Schmerz ihm durch Mark und Bein, es dunkelte vor seinen Augen, es
fühlte das Nahen seiner Stunde und war allein. Die Angst trieb
es aus dem Hause, schwerfällig schritt es dem Acker zu, aber
bald musste es sich niedersetzen; es wollte in die Ferne die Stimme
schicken, aber diese wollte nicht aus der beklemmten Brust. Bei
ihm war ein klein Bübchen, das erst seine Beinchen brauchen
lernte, das nie noch auf eigenen Beinen auf dem Acker gewesen war,
sondern nur auf der Mutter Arm. Dieses Bübchen musste das arme
Weib als seinen Boten brauchen, wusste nicht, ob es den Acker finden,
ob seine Beinchen dahin ihns tragen würden. Aber das treue
Bübchen sah, in welcher Angst die Mutter war, und lief und
fiel und stand wieder auf, und die Katze jagte sein Kaninchen, Tauben
und Hühner liefen ihm um die Füße, stoßend
und spielend sprang sein Lamm ihm nach, aber das Bübchen sah
alles nicht, ließ sich nicht säumen und richtete treulich
seine Botschaft aus.
Atemlos erschien die Großmutter, aber der Mann säumte;
nur das Fuder solle er noch ausladen, hieß es. Eine Ewigkeit
verstrich, endlich kam er, und wiederum verstrich eine Ewigkeit,
endlich ging er langsam auf den langen Weg, und in Todesangst fühlte
das arme Weib, wie seine Stunde schneller und schneller nahte.
Frohlockend hatte Christine draußen auf dem Acker allem zugesehen.
Heiß brannte wohl die Sonne zu der schweren Arbeit, aber die
Spinne brannte fast gar nicht mehr, und leicht schien ihr der Gang
in den nächsten Stunden. Sie trieb fröhlich die Arbeit
und eilte mit dem Heimgehn nicht, wusste sie doch, wie langsam der
Bote war. Erst als die letzte Garbe geladen war und Windstöße
das nahende Gewitter verkündeten, eilte Christine ihrer Beute
zu, die ihr gesichert war; so meinte sie. Und als sie heimging,
da winkte sie bedeutungsvoll manchem Begegnenden, sie nickten ihr
zu, trugen rasch die Botschaft heim; da schlotterte manches Knie,
und manche Seele wollte beten in unwillkürlicher Angst, aber
sie konnte nicht.
Drinnen im Stübchen wimmerte das arme Weib, und zu Ewigkeiten
wurden die Minuten, und die Großmutter vermochte den Jammer
nicht zu stillen mit Beten und Trösten. Sie hatte das Stübchen
wohl verschlossen und schweres Geräte vor die Türe gestellt.
Solange sie alleine im Hause waren, war es noch dabeizusein, aber
als sie Christine heimkommen sahen, als sie ihren schleichenden
Tritt an der Türe hörten, als sie draußen noch manch
andern Tritt hörten und heimliches Flüstern, kein Priester
sich zeigte, kein anderer treuer Mensch und näher und näher
der sonst so ersehnte Augenblick trat, da kann man sich denken,
in welcher Angst die armen Weiber schwammen wie in siedendem Öle,
ohne Hülfe und ohne Hoffnung. Sie hörten, wie Christine
nicht von der Türe wich; es fühlte das arme Weib seiner
wilden Schwägerin feurige Augen durch die Türe hindurch,
und sie brannten es durch Leib und Seele. Da wimmerte das erste
Lebenszeichen eines Kindes durch die Türe, unterdrückt
so schnell als möglich, aber zu spät. Die Türe flog
auf von wütendem, vorbereiteten Stoße, und wie auf seinen
Raub der Tiger stürzt, stürzt Christine auf die arme Wöcherin.
Die alte Frau, die dem Sturm sich entgegenwirft, fällt nieder,
in heiliger Mutterangst rafft die Wöcherin sich auf, aber der
schwache Leib bricht zusammen, in Christines Händen ist das
Kind; ein gräßlicher Schrei bricht aus dem Herzen der
Mutter, dann hüllt sie in schwarzen Schatten die Ohnmacht.
Zagen und Grauen ergriff die Männer, als Christine mit dem
geraubten Kinde herauskam. Das Ahnen einer grausen Zukunft ging
ihnen auf, aber keiner hatte Mut, die Tat zu hemmen, und die Furcht
vor des Teufels Plagen war stärker als die Furcht vor Gott.
Nur Christine zagte nicht, glühend leuchtete ihr Gesicht, wie
es dem Sieger leuchtet nach überstandenem Kampfe, es war ihr,
als ob die Spinne in sanftem Jucken ihr liebkose; die Blitze, die
auf ihrem Wege zum Kilchstalden sie umzüngelten, schienen ihr
fröhliche Lichter, der Donner ein zärtlich Grollen, ein
lieblich Säuseln der racheschnaubende Sturm.
Hans, des armen Weibes Mann, hatte sein Versprechen nur zu gut
gehalten. Langsam war er seines Weges gegangen, hatte bedächtig
jeden Acker beschauet, jedem Vogel nachgesehen, den Fischen im Bache
abgewartet, wie sie sprangen und Mücken fingen vor dem einbrechenden
Gewitter. Dann juckte er vorwärts, rasche Schritte tat er,
einen Ansatz zum Springen nahm er; es war etwas in ihm, das ihn
trieb, das ihm die Haare auf dem Kopfe emportrieb: es war das Gewissen,
das ihm sagte, was ein Vater verdiene, der Weib und Kind verrate,
es war die Liebe, die er doch noch hatte zu seinem Weibe und seiner
Leibesfrucht. Aber dann hielt ihn wieder ein anderes, und das war
stärker als das erste, es war die Furcht vor den Menschen,
die Furcht vor dem Teufel und die Liebe zu dem, was dieser ihm nehmen
konnte. Dann ging er wieder langsamer, langsam wie ein Mensch, der
seinen letzten Gang tut, der zu seiner Richtstätte geht. Vielleicht
war es auch so, weiß doch gar mancher Mensch nicht, dass er
den letzten Gang tut; wenn er es wüsste, er täte ihn nicht
oder anders.
So war es spät geworden, ehe er auf Sumiswald kam. Schwarze
Wolken jagten über den Münneberg her, schwere Tropfen
fielen, vermengten im Staube, und dumpf begann das Glöcklein
im Turme die Menschen zu mahnen, dass sie denken möchten an
Gott und ihn bitten, dass er sein Gewitter nicht zum Gerichte werden
lasse über sie. Vor seinem Hause stand der Priester, zu jeglichem
Gange gerüstet, damit er bereit sei, wenn sein Herr, der über
seinem Haupte daherfuhr, zu einem Sterbenden oder einem brennenden
Hause oder sonstwohin ihn rufe. Als er Hans kommen sah, erkannte
er den Ruf zum schweren Gange, schürzte sein Gewand und sandte
Botschaft seinem läutenden Sigrist, dass er sich ablösen
lasse am Glockenstrang und sich einfinde zu seinem Begleit. Unterdessen
stellte er Hans einen Labetrunk vor, so wohltätig nach raschem
Laufe in schwüler Luft, dessen Hans nicht bedürftig war,
aber der Priester ahnte die Tücke des Menschen nicht. Bedächtig
labte sich Hans. Zögernd fand der Sigrist sich ein und nahm
gerne teil an dem Tranke, den Hans ihm bot. Gerüstet stand
vor ihnen der Priester, verschmähend jeden Trank, den er zu
solchem Gang und Kampf nicht bedurfte. Er hieß ungerne von
der Kanne weggehen, die er aufgestellt, ungerne verletzte er die
Rechte des Gastes, aber er kannte ein Recht, das höher war
als das Gastrecht, das säumige Trinken fuhr ihm zornig durch
die Glieder.
Er sei fertig, sagte er endlich, ein bekümmert Weib harre,
und über ihm sei eine grauenvolle Untat, und zwischen das Weib
und die Untat müsste er stehn mit heiligen Waffen, darum sollten
sie nicht säumen, sondern kommen, droben werde wohl noch etwas
sein für den, der den Durst hier unten nicht gelöscht.
Da sprach Hans, des harrenden Weibes Mann, es eile nicht so sehr,
bei seinem Weibe gehe jede Sache schwer. Und alsobald flammte ein
Blitz in die Stube, dass alle geblendet waren, und ein Donner brach
los überm Hause, dass jeder Posten am Haus, jedes Glied im
Hause bebte. Da sprach der Sigrist, als er seinen Segenspruch vollendet.
"Hört, wie es macht draußen, und der Himmel hat
selbst bestätigt, was Hans gesagt, dass wir warten sollen,
und was nützte es, wenn wir gingen, lebendig kämen wir
doch nimmer hinauf, und er selbst hat ja gesagt, dass es bei seinem
Weibe nicht solche Eile habe."
Und allerdings stürmte ein Gewitter daher, wie man in Menschengedenken
nicht oft erlebt. Aus allen Schlünden und Gründen stürmte
es heran, stürmte von allen Seiten, von allen Winden getrieben
über Sumiswald zusammen, und jede Wolke ward zum Kriegesheer,
und eine Wolke stürmte an die andere, eine Wolke wollte der
andern Leben, und eine Wolkenschlacht begann, und das Gewitter stund,
und Blitz auf Blitz ward entbunden, und Blitz auf Blitz schlug zur
Erde nieder, als ob sie sich einen Durchgang bahnen wollten durch
der Erde Mitte auf der Erde andere Seite. Ohne Unterlass brüllte
der Donner, zornesvoll heulte der Sturm, geborsten war der Wolken
Schoß, Fluten stürzten nieder. Als so plötzlich
und gewaltig die Wolkenschlacht losbrach, da hatte der Priester
dem Sigristen nicht geantwortet, aber sich nicht niedergesetzt,
und ein immer steigendes Bangen ergriff ihn, ein Drang kam ihn an,
sich hinauszustürzen in der Elemente Toben, aber seiner Gefährten
wegen zauderte er. Da ward ihm, als höre er durch des Donners
schreckliche Stimme eines Weibes markdurchschneidenden Weheruf.
Da ward ihm plötzlich der Donner zu Gottes schrecklichem Scheltwort
seiner Säumnis, er machte sich auf, was auch die beiden andern
sagen mochten. Er schritt, gefasst auf alles, hinaus in die feurigen
Wetter, in des Sturmes Wut, der Wolken Fluten; langsam, unwillig
kamen die beiden ihm nach.
Es sauste und brauste und tosete, als sollten diese Töne zusammenschmelzen
zur letzten Posaune, die der Welten Untergang verkündet, und
feurige Garben fielen über das Dorf, als sollte jede Hütte
aufflammen; aber der Diener dessen, der dem Donner seine Stimme
gibt und den Blitz zu seinem Knechte hat, hat sich vor diesem Mitknecht
des gleichen Herren nicht zu fürchten, und wer auf Gottes Wegen
geht, kann getrost Gottes Wettern das Seine überlassen. Darum
schritt der Priester unerschrocken durch die Wetter dem Kilchstalden
zu, die geweihten heiligen Waffen trug er bei sich, und bei Gott
war sein Herz. Aber nicht in gleichem Mute folgten ihm die andern,
denn nicht am gleichen Orte war ihr Herz; sie wollten nicht den
Kilchstalden ab, nicht in solchem Wetter, nicht in später Nacht,
und Hans hatte noch einen besondern Grund, warum er nicht wollte.
Sie baten den Priester, umzukehren, auf andern Wegen zu gehen, Hans
wusste nähere, der Sigrist bessere, beide warnten vor den Wassern
im Tale, der aufgeschwollenen Grüne. Aber der Priester hörte
nicht, achtete ihre Rede nicht; von einem wunderbaren Drange getrieben,
eilte er auf den Flügeln des Gebetes dem Kilchstalden zu, sein
Fuß stieß an keinen Stein, sein Auge ward durch keinen
Blitz geblendet; bebend und weit hinter ihm, gedeckt, wie sie meinten,
durch das Heiligste, das der Priester selbsten trug, folgten Hans
und der Sigrist ihm nach.
Als sie aber hinauskamen vor das Dorf, wo ins Tal hinunter der
Stalden sich senkt, da steht der Priester plötzlich still und
schirmt mit der Hand die Augen. Unterhalb der Kapelle schimmert
in des Blitzes Schein eine rote Feder, und des Priesters scharfes
Auge sieht aus grünem Hage hervorragen ein schwarzes Haupt,
und auf diesem schwankt die rote Feder. Und wie er noch länger
schaut, sieht er am jenseitigen Abhange in schnellstem Laufe, wie
gejagt von des Windes wildestem Stoße, daherfliegen eine wilde
Gestalt dem dunkeln Haupte zu, auf dem einer Fahne gleich die rote
Feder schwankte.
Da loderte im Priester auf der heilige Kampfesdrang, der, sobald
sie den Bösen ahnen, über die kömmt, die gottgeweihten
Herzens sind, wie der Trieb über das Samenkorn kömmt,
wenn das Leben in ihns dringt, wie er in die Blume dringt, wenn
sie sich entfalten soll, wie er über den Helden kömmt,
wenn sein Feind das Schwert erhebt. Und wie der Lechzende in des
Stromes kühle Flut, wie der Held zur Schlacht stürzte
der Priester den Stalden nieder, stürzte zum kühnsten
Kampf, drang zwischen den Grünen und Christine, die eben das
Kindlein in des andern Arme legen wollte, mitten hinein, schmetterte
zwischen sie die drei höchsten heiligen Namen, hält das
Heiligste dem Grünen ans Gesicht, sprengt heiliges Wasser über
das Kind und trifft Christine zugleich. Da fährt mit fürchterlichem
Wehegeheul der Grüne von dannen, wie ein glutroter Streifen
zuckt er dahin, bis die Erde ihn verschlingt; vom geweihten Wasser
berührt, schrumpft mit entsetzlichem Zischen Christine zusammen
wie Wolle im Feuer, wie Kalch im Wasser, schrumpft zischend, flammensprühend
zusammen bis auf die schwarze, hochaufgeschwollene, grauenvolle
Spinne in ihrem Gesichte, schrumpft mit dieser zusammen, zischt
in diese hinein, und diese sitzt nun giftstrotzend, trotzig mitten
auf dem Kinde und sprüht aus ihren Augen zornige Blitze dem
Priester entgegen. Dieser sprengt ihr Weihwasser entgegen, es zischt
wie auf heißem Steine gewöhnliches Wasser; immer größer
wird die Spinne, streckt immer weiter ihre schwarzen Beine aus über
das Kind, glotzt immer giftiger den Priester an; da fasst dieser
in feurigem Glaubensmut nach ihr mit kühner Hand. Es ist, als
wenn er griffe in glühende Stacheln hinein, aber unerschüttert
greift er fest, schleudert das Ungeziefer weg, fasst das Kind und
eilt mit ihm sonder Weile der Mutter zu.
Und wie sein Kampf zu Ende war, stillte sich auch der Kampf der
Wolken, sie eilten wieder in ihre dunkeln Kammern; bald flimmerte
in stillem Sternenlicht das Tal, in dem kurz zuvor die wildeste
Schlacht getobet, und fast atemlos ereilte der Priester das Haus,
in welchem an Mutter und Kind die Freveltat begangen worden.
Dort war die Mutter noch ohnmächtig, mit dem gellenden Schrei
hatte sie ihr Leben fortgesendet; neben ihr saß betend die
Alte, sie traute noch auf Gott, dass er mächtiger sei als der
Teufel böse. Mit dem Kinde brachte der Priester der Mutter
auch das Leben zurück. Als sie erwachend das Kindlein wieder
sah, durchfloss sie eine Wonne, wie sie nur die Engel im Himmel
kennen, und auf der Mutter Armen taufte der Priester das Kind im
Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes; und
jetzt war es entrissen des Teufels Gewalt auf immer, bis es sich
ihm freiwillig übergeben wollte. Aber vor dem hütete es
Gott, in dessen Gewalt jetzt seine Seele übergeben worden,
während der Leib von der Spinne vergiftet blieb.
Bald schied seine Seele wieder, und wie mit Brandflecken war das
Leibchen gezeichnet. Die arme Mutter weinte wohl, aber, wo jeder
Teil wieder dahin gehet, wo er hingehöret, zu Gott die Seele,
zur Erde der Leib, da findet sich der Trost ein, früher dem,
später jenem.
Sobald der Priester sein heilig Amt verrichtet hatte, begann er
ein seltsam Jucken zu fühlen in Hand und Arm, womit er die
Spinne weggeschleudert. Kleine schwarze Flecken sah er auf der Hand,
sichtbarlich wurden sie größer und schwollen auf, Todesschauer
rieselte ihm durchs Herz. Er segnete die Weiber und eilte heim,
die heiligen Waffen wollte er als getreuer Streiter wieder dahin
bringen, wo sie hingehörten, damit sie einem andern nach ihm
zur Hand seien. Hochauf schwoll der Arm, schwarze Beulen quollen
immer höher auf, er kämpfte mit des Todes Mattigkeit,
aber er erlag ihr nicht.
Als er an den Kilchstalden kam, da sah er Hans, den gottvergessenen
Vater, von dem man nicht wusste, wo er geblieben, mitten im Wege
auf dem Rücken liegen. Hochgeschwollen und brandschwarz war
sein Gesicht, und mitten auf demselben saß groß und
schwarz und grausig die Spinne. Als der Pfarrer kam, blähte
sie sich auf, giftig bäumten sich die Haare auf ihrem Rücken,
giftig und sprühend glotzten ihre Augen ihn an, sie tat wie
die Katze, wenn sie sich rüstet zu einem Sprung in ihres Todfeindes
Gesicht. Da begann der Priester einen guten Spruch und hob die heiligen
Waffen, und die Spinne schrak zusammen, kroch langbeinig vom schwarzen
Gesichte, verlor sich in zischendem Grase. Darauf ging der Pfarrer
vollends heim, stellte das Allerheiligste an seinen Ort, und während
wilde Schmerzen den Leib zum Tode rissen, harrte in süßem
Frieden seine Seele ihres Gottes, für den sie recht gestritten
in kühnem Gotteskampfe, und lange ließ Gott sie nicht
harren.
Aber solch süßer Friede, der still des Herren harrt,
war hinten im Tale, war oben auf den Bergen nicht.
Von dem Augenblicke an, als Christine mit dem geraubten Kinde den
Berg hinuntergefahren war dem Teufel zu, war heilloser Schreck in
alle Herzen gefahren. Während dem fürchterlichen Ungewitter
bebten die Menschen in den Schrecken des Todes, denn ihre Herzen
wussten wohl, wenn Gottes Hand vernichtend über sie komme,
so sei es mehr als wohlverdient. Als das Gewitter vorüber war,
lief die Kunde von Haus zu Haus, wie der Pfarrer das Kindlein zurückgebracht
und getauft, aber kein Hans, keine Christine gesehen worden.
Der grauende Morgen fand lauter bleiche Gesichter, und die schöne
Sonne färbte sie nicht, denn alle wussten wohl, dass nun erst
das Schrecklichste kommen werde. Da hörte man, dass mit schwarzen
Beulen der Pfarrer gestorben, man fand Hans mit schrecklichem Gesichte,
und von der grässlichen Spinne, in die Christine verwandelt
worden, hörte man seltsam verwirrte Worte.
Es war ein schöner Erntetag, aber keine Hand rührte sich
zur Arbeit; die Leute liefen zusammen, wie man es pflegt am Tage
nach dem Tage, an welchem ein großes Unglück begegnet
ist. Sie fühlten erst jetzt in ihren bebenden Seelen so recht,
was es heiße, von irdischer Not und Plage mit einer unsterblichen
Seele sich loskaufen zu wollen, fühlten, dass ein Gott im Himmel
sei, der alles Unrecht, das armen Kindern, die sich nicht wehren
können, angetan wird, fürchterlich räche. So stunden
sie bebend zusammen und jammerten, und wer bei den andern war, der
durfte nicht mehr heim, und doch war Zank und Streit unter ihnen,
und einer gab den andern schuld, und jeder wollte abgemahnet und
gewarnet haben, und jeder hatte nichts darwider, dass Strafe die
Schuldigen treffe, sich und sein Haus wollte aber jeder ohne Strafe.
Und wenn sie in diesem schrecklichen Harren und Streiten ein neu,
unschuldig Opfer gewusst hätten, es wäre keiner gewesen,
der nicht an demselben gefrevelt in der Hoffnung, sich selbst zu
retten.
Da schrie mitten im Haufen einer entsetzlich auf, es war ihm, als
sei er in einen glühenden Dorn getreten, als nagle man mit
glühendem Nagel den Fuß an den Boden, als ströme
Feuer durch das Mark seiner Gebeine. Der Haufe fuhr auseinander,
und alle Augen sahen nach dem Fuße, gegen den die Hand des
Schreienden fuhr. Auf dem Fuße aber saß schwarz und
groß die Spinne und glotzte giftig und schadenfroh in die
Runde. Da starrte allen zuerst das Blut in den Adern, der Atem in
der Brust, der Blick im Auge, und ruhig und schadenfroh glotzte
die Spinne umher, und der Fuß ward schwarz, und im Leibe war's,
als kämpfe zischend und wütend Feuer mit Wasser; die Angst
sprengte die Fesseln des Schreckens, der Haufe stob auseinander.
Aber in wunderbarer Schnelle hatte die Spinne ihren ersten Sitz
verlassen und kroch diesem über den Fuß und jenem an
die Ferse, und Glut fuhr durch ihren Leib, und ihr grässlich
Geschrei jagte die Fliehenden noch heftiger. In Windeseile, in Todesschrecken,
wie das gespenstige Wild vor der wilden Jagd stoben sie ihren Hütten
zu, und jeder meinte hinter sich die Spinne, versammelte die Türe
und hörte doch nicht auf zu beben in unsäglicher Angst.
Und einen Tag war die Spinne verschwunden, kein neues Todesgeschrei
hörte man, die Leute mussten die verrammelten Häuser verlassen,
mussten Speise suchen fürs Vieh und sich, sie taten es mit
Todesangst. Denn wo war jetzt die Spinne, und konnte sie nicht hier
sein und unversehens auf den Fuß sich setzen? Und wer am vorsichtigsten
niedertrat und mit den Augen am schärfsten spähte, der
sah die Spinne plötzlich sitzend auf Hand oder Fuß, sie
lief ihm übers Gesicht, saß schwarz und groß ihm
auf der Nase und glotzte ihm in die Augen, feurige Stacheln wühlten
sich in sein Gebein, der Brand der Hölle schlug über ihm
zusammen, bis der Tod ihn streckte.
So war die Spinne bald nirgends, bald hier, bald dort, bald im
Tale unten, bald auf den Bergen oben; sie zischte durchs Gras, sie
fiel von der Decke, sie tauchte aus dem Boden auf. An hellem Mittage,
wenn die Leute um ihr Habermus saßen, erschien sie glotzend
unten am Tisch, und ehe die Menschen den Schrecken gesprengt, war
sie allen über die Hände gelaufen, saß oben am Tisch
auf des Hausvaters Haupte und glotzte über den Tisch, die schwarz
werdenden Hände weg. Sie fiel des Nachts den Leuten ins Gesicht,
begegnete ihnen im Walde, suchte sie heim im Stalle. Die Menschen
konnten sie nicht meiden, sie war nirgends und allenthalben, konnten
im Wachen vor ihr sich nicht schützen, waren schlafend vor
ihr nicht sicher. Wenn sie am sichersten sich wähnten unterem
freien Himmel, auf eines Baumes Gipfel, so kroch Feuer ihnen den
Rücken auf, der Spinne feurige Füße fühlten
sie im Nacken, sie glotzte ihnen über die Achsel. Das Kind
in der Wiege, den Greis auf dem Sterbebette schonte sie nicht; es
war ein Sterbet, wie man noch von keinem wusste, und das Sterben
daran war schrecklicher, als man es je erfahren, und schrecklicher
noch als das Sterben war die namenlose Angst vor der Spinne, die
allenthalben war und nirgends, die, wenn man am sichersten sich
wähnte, einem todbringend plötzlich in die Augen glotzte.
Die Kunde von diesem Schrecken war natürlich alsobald ins
Schloss gedrungen und hatte auch dorthin Schreck und Streit gebracht,
soweit er bei den Regeln des Ordens stattfinden konnte. Dem von
Stoffeln machte es bange, dass auch sie ebenso heimgesucht werden
möchten wie früher ihr Vieh, und der verstorbene Priester
hatte manches geäußert, welches ihm jetzt die Seele aufrührte.
Er hatte ihm manchmal gesagt, dass alles Leid, welches er den Bauren
antue, auf ihn zurückfahre, aber er hatte es nie geglaubt,
weil er meinte, Gott werde einen Unterschied zu machen wissen zwischen
einem Ritter und einem Bauer, hätte er sie doch sonst nicht
so verschieden erschaffen. Aber jetzt ward ihm doch angst, es gehe
nach des Priesters Wort, gab harte Worte seinen Rittern und meinte,
es käme jetzt schwere Strafe ihrer leichtfertigen Worte wegen.
Die Ritter aber wollten auch nicht schuld sein, und einer schob
es dem andern zu, und wenn's auch keiner sagte, so meinten's doch
alle, das gehe eigentlich nur den von Stoffeln an, denn wenn man
es recht nehme, so sei der an allem schuld. Und neben diesem sahen
sie einen jungen Polenritter an, der hatte eigentlich die meisten
leichtfertigen Worte über das Schloss gesprochen und den von
Stoffeln am meisten gereizt zum neuen Bau und vermessenen Schattengange.
Der war noch sehr jung, aber der wildeste von allen, und wenn's
eine vermessene Tat galt, so war er voran, er war wie ein Heide
und fürchtete weder Gott noch Teufel.
Der merkte wohl, was die andern meinten, aber ihm nicht sagen durften,
merkte auch ihre heimliche Angst. Darum höhnte er sie und sagte,
wenn sie vor einer Spinne sich fürchteten, was sie dann gegen
Drachen machen wollten? Dann wappnete er sich gut und ritt ins Tal
hinauf, sich vermessend, nicht zurückkehren zu wollen, bis
sein Ross die Spinne zertreten, seine Faust sie zerdrückt.
Wilde Hunde sprangen um ihn her, der Falke saß ihm auf der
Faust, am Sattel hing die Lanze, lustig bäumte sich das Pferd;
halb schadenfroh, halb ängstlich sah man ihn aus dem Schlosse
reiten und gedachte der nächtlichen Wache auf Bärhegen,
wo die Kraft der weltlichen Waffen gegen diesen Feind so schlecht
sich bewährt hatte.
Er ritt am Saume eines Tannenwaldes dem nächsten Gehöfe
zu, scharfen Auges spähend um und über sich. Als er das
Haus erblickte, Leute darum, rief er den Hunden, machte das Haupt
des Falken frei, lose klirrte in der Scheide der Dolch. Wie der
Falke die geblendeten Augen zum Ritter kehrte, seines Winkes gewärtig,
prallte er ab der Faust und schoss in die Luft, die hergesprungenen
Hunde heulten auf und suchten mit dem Schweife zwischen den Beinen
das Weite. Vergebens ritt und rief der Ritter, seine Tiere sah er
nicht wieder. Da ritt er den Menschen zu, wollte Kunde einziehen,
sie stunden ihm, bis er nahekam. Da schrien sie grässlich auf
und flohen in Wald und Schlucht, denn auf des Ritters Helm saß
schwarz, in übernatürlicher Größe die Spinne
und glotzte giftig und schadenfroh ins Land. Was er suchte, das
trug der Ritter und wusste es nicht; in glühendem Zorne rief
und ritt er den Menschen nach, rief immer wütender, ritt immer
toller, brüllte immer entsetzlicher, bis er und sein Ross über
eine Fluh hinab zu Tale stürzten. Dort fand man Helm und Leib,
und durch den Helm hindurch hatten die Füße der Spinne
sich gebrannt dem Ritter bis ins Gehirn hinein, den schrecklichsten
Brand ihm dort entzündet, bis er den Tod gefunden.
Da kehrte der Schreck erst recht ein ins Schloss; sie schlossen
sich ein und fühlten sich doch nicht sicher, sie suchten nach
geistigen Waffen, fanden aber lange niemand, der sie zu führen
wusste und zu führen wagte. Endlich ließ sich ein ferner
Pfaffe locken mit Geld und Wort; er kam und wollte ausziehen mit
heiligem Wasser und heiligen Sprüchen gegen den bösen
Feind. Dazu aber stärkte er sich nicht mit Gebet und Fasten,
sondern er tafelte des Morgens früh mit den Rittern und zählte
die Becher nicht und lebte wohl an Hirsch und Bär. Dazwischen
redete er viel von seinen geistigen Heldentaten und die Ritter von
ihren weltlichen, und die Becher zählte man sich nicht nach,
und die Spinne vergaß man. Da löschte auf einmal alles
Leben aus, die Hände hielten erstarrt Becher oder Gabel, der
Mund blieb offen, stier waren alle Augen auf einen Punkt gerichtet,
nur der von Stoffeln trank den Becher leer und erzählte an
einer Heldentat im Heidenlande. Aber auf seinem Kopfe saß
groß die Spinne und glotzte um den Rittertisch, aber der Ritter
fühlte sie nicht. Da begann die Glut zu strömen durch
Gehirn und Blut, gräßlich schrie er auf, fuhr mit der
Hand nach dem Kopfe, aber die Spinne war nicht mehr dort, war in
ihrer schrecklichen Schnelle den Rittern allen über ihre Gesichter
gelaufen, keiner konnte es wehren; einer nach dem andern schrie
auf, von Glut verzehrt, und von des Pfaffen Glatze nieder glotzte
sie in den Greuel hinein, und mit dem Becher, der nicht aus seiner
Hand wollte, wollte der Pfaffe den Brand löschen, der loderte
vom Kopfe herab durch Mark und Bein. Aber der Waffe trotzte die
Spinne und glotzte von ihrem Throne herab in den Greuel, bis der
letzte Ritter den letzten Schrei ausgestoßen, am letzten Atemzuge
geendet.
Im Schlosse blieben nur wenige Diener verschont, die nie Hohn mit
den Bauren getrieben; sie erzählten, wie schrecklich es gegangen.
Das Gefühl, dass den Rittern ihr Recht geschehen, tröstete
aber die Bauren nicht, der Schreck ward immer größer,
grässlicher. Mancher suchte zu fliehen. Die einen wollten das
Tal verlassen, aber gerade die fielen der Spinne zu. Auf dem Wege
fand man ihre Leichname. Andere flohen auf die hohen Berge, aber
droben vor ihnen war die Spinne, und wenn sie sich gerettet glaubten,
so saß ihnen die Spinne im Nacken oder im Gesicht. Das Untier
ward immer boshafter, immer teuflischer. Es überraschte nicht
mehr unerwartet, brannte nicht mehr unversehens den Tod ein, es
saß vor dem Menschen im Grase, hing über ihm am Baume,
glotzte giftig ihn an. Dann floh der Mensch, so weit seine Füße
ihn trugen, und stund er atemlos stille, so saß die Spinne
vor ihm und glotzte giftig ihn an. Floh er abermal, und musste er
abermals die Schritte hemmen, so saß sie wieder vor ihm, und
konnte er nicht mehr fliehen, dann erst kroch sie langsam an ihn
heran und gab ihm den Tod.
Da versuchte wohl mancher in der Verzweiflung Widerstand, und ob
die Spinne nicht zu töten sei, warf zentnerige Steine auf sie,
wenn sie vor ihnen im Grase saß, schlug mit Keulen, mit Beilen
nach ihr, aber alles umsonst, der schwerste Stein erdrückte
sie nicht, das schärfste Beil verletzte sie nicht, unversehens
saß sie dem Menschen im Gesicht, unversehrt kroch sie an ihn
heran. Flucht, Widerstand, alles war eitel. Da ging alles Hoffen
aus, und Verzweiflung füllte das Tal, saß auf den Bergen.
Ein einziges Haus hatte das Untier bis dahin verschont und war
nie in demselben erschienen; es war das Haus, in welchem Christine
gewohnt, aus welchem sie das Kindlein geraubet. Ihren eigenen Mann
hatte sie auf einsamer Weide angefallen, dort fand man seinen Leichnam
gräßlich zugerichtet wie keinen andern, seine Züge
zerrissen in unaussprechlichem Schmerze; an ihm hatte sie ihren
gräßlichsten Zorn ausgelassen, das gräßlichste
Wiedersehn dem Ehemanne bereitet. Aber wie es zuging, hat niemand
gesehen.
Zum Hause war sie noch nicht gekommen; ob sie es bis zuletzt sparen
wollte oder ob sie sich scheute davor, das erriet man nicht. Aber
nicht weniger als an andern Orten war die Angst eingekehrt.
Das fromme Weibchen war genesen, und es zagte nicht für sich,
aber fast sehr um sein treues Bübchen und dessen Schwesterchen
und wachte über sie Tag und Nacht, und die treue Großmutter
teilte seine Sorgen und Wachen. Und gemeinsam beteten sie zu Gott,
dass er ihnen ihre Augen offenhalten möchte zur Wache, dass
er sie erleuchten und stärken möchte zur Rettung der unschuldigen
Kindlein.
Oft war es ihnen, wenn sie so wachten lange Nächte durch,
als sehen sie die Spinne glimmen und glitzern in dunkelm Winkel,
als glotze sie zum Fenster herein; dann ward ihre Angst groß,
denn sie wussten keinen Rat, wie vor der Spinne die Kindlein schützen,
und um so brünstiger baten sie Gott um seinen Rat und Beistand.
Sie hatten allerlei Waffen zur Hand gelegt, aber wie sie hörten,
dass der Stein seine Schwere, das Beil seine Schärfe verliere,
sie wieder beiseite gelegt. Da kam es der Mutter immer deutlicher
vor, immer lebendiger in den Sinn: wenn jemand es wagen würde,
die Spinne mit der Hand zu fassen, so vermochte man sie zu überwältigen.
Sie hörte auch von Leuten, die, als der Stein nichts half,
mit der Hand sie zu erdrücken versuchten, allein vergeblich.
Ein gräßlicher Glutstrom, der durch Hand und Arm zuckte,
tilgte jede Kraft und brachte den Tod ins Herz. Es kam ihr auch
vor, zu erdrücken vermochte sie die Spinne nicht, aber sie
erfassen dürfte sie wohl, und so viel Kraft würde ihr
Gott verleihen, dieselbe irgendwohin zu tun, sie unschädlich
zu machen. Sie hatte schon oft gehört, wie kundige Männer
Geister eingesperrt hätten in ein Loch in Felsen oder Holz,
welches sie mit einem Nagel zugeschlagen, und solange den Nagel
niemand ausziehe, müsse der Geist gebannt im Loche sein.
Gleiches zu versuchen, drängte der Geist sie immer mehr. Sie
bohrte ein Loch in das Bystal, das ihr am nächsten lag zur
rechten Hand, wenn sie bei der Wiege saß, rüstete einen
Zapfen, der scharf ins Loch passte, weihte ihn mit geheiligtem Wasser,
legte einen Hammer zurecht und betete nun Tag und Nacht zu Gott
um Kraft zur Tat. Aber manchmal war das Fleisch stärker als
der Geist, und schwerer Schlaf drückte ihr die Augen zu, dann
sah sie im Traume die Spinne, glotzend auf ihres Bübchens goldenen
Locken, dann fuhr sie aus dem Traume, fuhr nach des Bübchen
Locken. Dort war aber keine Spinne, ein Lächeln saß auf
seinem Gesichtchen, wie Kindlein lächeln, wenn sie ihren Engel
im Traume sehen; der Mutter aber glitzerten in allen Ecken der Spinne
giftige Augen, und auf lange wich der Schlaf von ihr.
So hatte sie auch einmal nach strengem Wachen der Schlaf überwältigt,
und dicht umnachtete er sie. Da war es ihr, als stürze der
fromme Priester, der in der Rettung ihres Kindleins gestorben, herbei
aus weiten Räumen und rufe aus der Ferne her: "Weib, wache
auf, der Feind ist da!"
Dreimal rief er so, und erst beim drittenmal rang sie sich los aus
des Schlafes engen Banden; aber wie sie die schweren Augenlider
mühsam erhob, sah sie langsam, giftgeschwollen die Spinne schreiten
übers Bettlein hinauf dem Gesichte ihres Bübchens zu.
Da dachte sie an Gott und griff mit rascher Hand die Spinne. Da
fuhren Feuerströme von derselben aus, der treuen Mutter durch
Hand und Arm bis ins Herz hinein, aber Muttertreue und Mutterliebe
drückten die Hand ihr zu, und zum Aushalten gab Gott die Kraft.
Unter tausendfachen Todesschmerzen drückte sie mit der einen
Hand die Spinne ins bereitete Loch, mit der andern den Zapfen davor
und schlug mit dem Hammer ihn fest.
Drinnen sauste und brauste es, wie wenn mit dem Meere die Wirbelwinde
streiten, das Haus wankte in seinen Grundfesten, aber fest saß
der Zapfen, gefangen blieb die Spinne. Die treue Mutter aber freute
sich noch, dass sie ihre Kindlein gerettet, dankte Gott für
seine Gnade, dann starb sie auch den gleichen Tod wie alle, aber
ihre Muttertreue löschte die Schmerzen aus, und die Engel geleiteten
ihre Seele zu Gottes Thron, wo alle Helden sind, die ihr Leben eingesetzt
für andere, die für Gott und die Ihren alles gewagt.
Nun war der schwarze Tod zu Ende. Ruhe und Leben kehrte ins Tal
zurück. Die schwarze Spinne ward nicht mehr gesehen zur selben
Zeit, denn sie saß in jenem Loche gefangen, wo sie jetzt noch
sitzt."
"Was, dort im schwarzen Holz?", schrie die Gotte und
fuhr eines Satzes vom Boden auf, als ob sie in einem Ameisenhaufen
gesessen wäre. An jenem Holze war sie gesessen in der Stube.
Und jetzt brannte sie ihr Rücken, sie drehte sich, sie schaute
hinter sich, fuhr mit der Hand auf und ab und kam nicht aus der
Angst, die schwarze Spinne sitze ihr im Nacken.
Auch den andern waren die Herzen zugeklemmt, als der Großvater
schwieg. Es war ein großes Schweigen über sie gekommen.
Spott mochte niemand wagen, der Sache beistimmen auch nicht gerne;
es hörte jeder lieber auf das erste Wort des andern, um darnach
die eigene Rede richten zu können, so verfehlt man sich am
wenigsten. Da kam die Hebamme, die schon mehrere Male gerufen hatte,
ohne Antwort zu bekommen, hergelaufen, ihr Gesicht brannte hochrot,
es war, als ob die Spinne auf demselben herumgekrochen wäre.
Sie begann zu schmälen, dass niemand kommen wolle, wie laut
sie auch rufe. Das sei ihr doch auch eine wunderliche Sache; wenn
man gekochet habe, so wolle niemand zum Tisch, und wenn dann alles
nicht mehr gut sei, so solle sie schuld sein an allem, sie wisse
wohl, wie es gehe. So fettes Fleisch, wie drinnen stehe, könne
niemand mehr essen, wenn es kalt geworden; dazu sei es noch gar
ungesund.
Nun kamen die Leute wohl, aber gar langsam, und keines wollte das
erste bei der Türe sein, der Großvater musste der erste
sein. Es war diesmal nicht sowohl die übliche Sitte, nicht
den Schein haben zu wollen, als möge man nicht warten, bis
man zum Essen komme; es war das Zögern, das alle befällt,
wenn sie am Eingang stehen eines schauerlichen Ortes, und doch war
drinnen nichts Schauerliches. Hell glänzten auf dem Tische,
frisch gefüllt, die schönen Weinflaschen, zwei glänzende
Schinken prangten, gewaltige Kalbs- und Schafbraten dampften, frische
Züpfen lagen dazwischen, Teller mit Tateren (Torten), Teller
mit dreierlei Küchlene waren dazwischengezwängt, und auch
die Kännchen mit dem süßen Tee fehlten nicht. So
war's ein schönes Schauen, und doch achteten sich alle desselben
wenig, aber alle sahen sich um mit ängstlichen Augen, ob nicht
die Spinne aus irgendeiner Ecke glitzere oder gar vom prangenden
Schinken herab sie anglotze mit ihren giftigen Augen. Man sah sie
nirgends, und doch machte niemand die üblichen Komplimente:
was man doch sinne, noch so viel aufzustellen, wer das doch essen
solle, man habe bereits mehr als zuviel, sondern alle drängten
sich an die untern Ecken des Tisches, niemand wollte hinauf.
Umsonst mahnte man die Gäste nach oben und zeigte auf die
leeren Plätze, sie stunden unten wie angenagelt; vergebens
schenkte der Kindbettimann ein und rief, sie sollten doch kommen
und Gesundheit machen, es sei eingeschenkt. Da nahm derselbe die
Gotte beim Arme und sagte: "Sei du das Witzigeste und gib das
Exempel!"
Aber mit aller Kraft, und die war nicht klein, sperrte sich die
Gotte und rief: "Nicht um tausend Pfund sitze ich mehr da oben!
Es gramselt mir den Rücken auf und nieder, als führe man
mir mit Nesseln daran herum. Und säße ich dort vor dem
Bystal, so fühlte ich die schreckliche Spinne sonder Unterlaß
im Nacken."
" Daran bist du schuld, Großvater", sagte die Großmutter,
"warum bringst du solche Dinge aufs Tapet! So etwas trägt
heutzutag nichts mehr ab und kann dem ganzen Hause schaden. Und
wenn einst die Kinder aus der Schule kommen und weinen und klagen,
die andern Kinder hielten ihnen vor, ihre Großmutter sei eine
Hexe gewesen und ins Bystal gebannt, so hast du es dann."
"Sei ruhig, Großmutter!" sagte der Großvater,
"man hat heutzutag alles bald wieder vergessen und behält
nichts mehr lange im Gedächtnis wie ehedem. Man hat die Sache
von mir haben wollen, und es ist besser, die Leute vernehmen punktum
die Wahrheit, als dass sie selbst etwas ersinnen; die Wahrheit bringt
unserm Hause keine Unehre. Aber kommt und sitzet! Seht, vor den
Zapfen will ich selbsten sitzen. Bin ich doch schon viel tausend
Tage da gesessen ohne Furcht und ohne Zagen und darum auch ohne
Gefährde. Nur wenn böse Gedanken in mir aufstiegen, die
dem Teufel zur Handhabe werden konnten, so war es mir, als schnurre
es hinter mir, wie eine Katze schnurret, wenn man sich mit ihr anlässt,
ihr den Balg streicht, ihr behaglich wird, und mir fuhr es den Rücken
auf seltsam und absonderlich. Sonst aber hält sie sich mäusestill
da innen, und solange man hier außen Gott nicht vergisst,
muss sie warten da innen.«
Da fassten die Gäste Mut und setzten sich, aber ganz nahe
zum Großvater rückte niemand. Jetzt endlich konnte der
Kindbettimann vorlegen, legte ein mächtiges Stück Braten
seiner Nachbarin auf den Teller, diese schnitt ein Stückchen
ab und legte den Rest auf des Nachbars Teller, ihn mit dem Daumen
von der Gabel streifend. So ging das Stück um, bis einer sagte,
er denke, er behalte es, es sei noch mehr, wo das gewesen sei; ein
neues Stück begann die Runde. Während der Kindbettimann
einschenkte und vorlegte und die Gäste ihm sagten, er hätte
heute einen strengen Tag, ging die Hebamme herum mit dem süßen
Tee, stark gewürzt mit Safran und Zimmet, bot allen an und
fragte: wer ihn liebe, solle es nur sagen, er sei für alle
da. Und wer sagte, er sei Liebhaber, dem schenkte sie Tee in den
Wein und sagte: sie liebe ihn auch, man möge den Wein viel
besser ertragen, er mache einem nicht Kopfweh. Man aß und
trank. Aber kaum war der Lärm vorbei, der allemal entsteht,
wenn man hinter neue Gerichte geht, so ward man wieder stille, und
ernst wurden die Gesichter, man merkte wohl, alle Gedanken waren
bei der Spinne. Scheu und verstohlen blickten die Augen nach dem
Zapfen hinter des Großvaters Rücken, und doch scheute
jeder sich, wieder davon anzufangen.
Da schrie laut auf die Gotte und wäre fast vom Stuhle gefallen.
Eine Fliege war über den Zapfen gelaufen, sie hatte geglaubt,
der Spinne schwarze Beine gramselten zum Loche heraus, und zitterte
vor Schreck am ganzen Leibe. Kaum ward sie ausgelacht; ihr Schreck
war willkommener Anlass, von neuem von der Spinne anzufangen, denn
wenn einmal eine Sache unsere Seele recht berührt hat, so kommt
dieselbe nicht so schnell davon los.
"Aber hör mal, Vetter", sagte der ältere Götti,
"ist die Spinne seither nie aus dem Loche gekommen, sondern
immer darin geblieben seit so vielen hundert Jahren?"
"Eh", sagte die Großmutter, "es wäre besser,
man schwiege von der ganzen Sache, man hätte ja den ganzen
Nachmittag davon geredet."
"Eh, Mutter", sagte der Vetter, "lass deinen Alten
reden, er hat uns recht kurze Zeit gemacht, und vorhalten wird euch
das Ding niemand, stammet ihr ja nicht von Christine ab. Und du
bringst unsere Gedanken doch nicht von der Sache ab; und wenn wir
nicht von ihr reden dürfen, so reden wir auch von nichts anderem,
dann gibt's keine kurze Zeit mehr. Nun, Großvater, rede, deine
Alte wird es uns nicht vergönnen!"
"He, wenn ihr es zwingen wollet, so zwinget es meinethalben,
aber gescheuter wäre es gewesen, man hätte jetzt von etwas
anderm angefangen und besonders jetzt auf die Nacht hin", sagte
die Großmutter.
Da begann der Großvater, und alle Gesichter spannten sich
wieder: "Was ich weiß, ist nicht mehr viel, aber was
ich weiß, will ich sagen; es kann sich vielleicht in der heutigen
Zeit jemand ein Exempel daran nehmen, schaden würde es wahrhaftig
vielen nichts.
Als die Leute die Spinne eingesperrt wussten, sie ihres Lebens
wieder sicher, da soll es ihnen gewesen sein, als seien sie im Himmel
und der liebe Gott mit seiner Seligkeit mitten unter ihnen, und
lange ging es gut. Sie hielten sich zu Gott und flohen den Teufel,
und auch die Ritter, die frisch eingezogen waren ins Schloss, hatten
Respekt vor Gottes Hand und hielten milde die Menschen und halfen
ihnen auf.
Dieses Haus aber betrachteten alle mit Ehrfurcht, fast wie eine
Kirche. Anfangs schauderte es sie freilich, wenn sie es ansahen,
den Kerker der schrecklichen Spinne sahen und dachten, wie leicht
sie da losbrechen und das Elend von vornen anfangen könnte
mit des Teufels Gewalt. Aber sie sahen bald, dass da Gottes Gewalt
stärker sei als die des Teufels, und aus Dank gegen die Mutter,
die für alle gestorben, halfen sie den Kindern und bauten ihnen
unentgeltlich den Hof, bis sie ihn selbsten arbeiten konnten. Die
Ritter wollten ihnen bewilligen, ein neues Haus zu bauen, damit
sie vor der Spinne sich nicht zu fürchten hätten oder
diese durch Zufall im bewohnten Hause loskomme, und viele Nachbaren
wollten ihnen helfen, die der Scheu vor dem Untier, vor dem sie
so schrecklich gezittert, nicht loswerden konnten. Aber die alte
Großmutter wollte es nicht tun. Sie lehrte ihre Enkel: hier
sei die Spinne gebannt durch Gott Vater, Sohn und Heiligen Geist;
solange diese drei heiligen Namen gelten in diesem Hause, solange
in diesen drei heiligen Namen an diesem Tische gegessen und getrunken
werde, so lange seien sie vor der Spinne sicher und diese fest im
Loche, und kein Zufall mache etwas an der Sache. Hier an diesem
Tische, hinter ihnen die Spinne, werden sie nie vergessen, wie nötig
ihnen Gott und wie mächtig er sei; so mahne sie die Spinne
an Gott und müsse dem Teufel zum Trotz ihnen zum Heil werden.
Ließen sie aber von Gott, und wäre es hundert Stunden
von da, so könnte die Spinne sie finden oder der Teufel selbst.
Das fassten die Kinder, blieben im Hause, wuchsen gottesfürchtig
auf, und über dem Hause war der Segen Gottes.
Das Bübchen, welches so treu an der Mutter gewesen, so treu
die Mutter an ihm, wuchs auf zu einem stattlichen Manne, der lieb
war Gott und Menschen und Gnade bei den Rittern fand. Darum ward
er auch gesegnet mit zeitlichem Gut und vergaß Gott nie darob,
ward nie geizig damit; er half andern in ihren Nöten, wie er
wünschte, dass ihm geholfen werde in der letzten Not; und wo
er zu schwach zu eigener Hülfe war, da ward er ein um so kräftigerer
Fürsprecher bei Gott und Menschen. Er ward gesegnet mit einem
weisen Weibe, und zwischen ihnen war ein unergründlicher Friede,
darum blühten fromm ihre Kinder auf, und beide fanden spät
einen sanften Tod. Seine Familie blühte fort in Gottesfurcht
und Rechttun.
Ja, über dem ganzen Tale lag der Segen Gottes, und Glück
war in Feld und Stall und Friede unter den Menschen. Die schreckliche
Lehre war den Menschen zu Herzen gegangen, sie hielten fest an Gott;
was sie taten, taten sie in seinem Namen, und wo einer dem andern
helfen konnte, da säumte er nicht. Vom Schlosse her ward ihnen
kein Übel, aber viel Gutes. Immer weniger Ritter wohnten dort,
denn immer härter ward der Streit im Heidenlande und immer
nöter jede Hand, die fechten konnte; die aber, welche im Schlosse
waren, mahnte täglich die große Totenhalle, in der die
Spinne an Rittern wie an den Bauren ihre Macht geübt, dass
Gott mit gleicher Kraft über jedem sei, der von ihm abfalle,
sei er Bauer oder Ritter.
So schwanden viele Jahre in Glück und Segen, und das Tal ward
berühmt vor allen andern. Stattlich waren ihre Häuser,
groß ihre Vorräte, manch Geldstück ruhte im Kasten,
ihr Vieh war das schönste zu Berg und Tal, und ihre Töchter
waren berühmt landauf, landab und ihre Söhne gerne gesehen
überall. Und dieser Ruhm welkte nicht über Nacht wie dem
Jonas seine Schattenstaude, sondern er dauerte von Geschlecht zu
Geschlecht; denn in der gleichen Gottesfurcht und Ehrbarkeit wie
die Väter lebten auch die Söhne von Geschlecht zu Geschlecht.
Aber wie gerade in den Birnbaum, der am flüssigsten genähret
wird, am stärksten treibt, der Wurm sich bohrt, ihn umfrisst,
welken lässt und tötet, so geschieht es, dass, wo Gottes
Segenstrom am reichsten über die Menschen fließt, der
Wurm in den Segen kömmt, die Menschen bläht und blind
macht, dass sie ob dem Segen Gott vergessen, ob dem Reichtum den,
der ihn gegeben hat, dass sie werden wie die Israeliten, die, wenn
Gott ihnen geholfen, ob goldenen Kälbern ihn vergaßen.
So wurden, nachdem viele Geschlechter dahingegangen, Hochmut und
Hoffart heimisch im Tale, fremde Weiber brachten und mehrten beides.
Die Kleider wurden hoffärtiger, Kleinode sah man glänzen,
ja, selbst an die heiligen Zeichen wagte die Hoffart sich, und statt
dass ihre Herzen während dem Beten inbrünstig bei Gott
gewesen wären, hingen ihre Augen hoffärtig an den goldenen
Kugeln ihres Rosenkranzes. So ward ihr Gottesdienst Pracht und Hoffart,
ihre Herzen aber hart gegen Gott und Menschen. Um Gottes Gebote
bekümmerte man sich nicht, seines Dienstes, seiner Diener spottete
man; denn, wo viel Hoffart ist oder viel Geld, da kömmt gerne
der Wahn, dass man seine Gelüsten für Weisheit hält
und diese Weisheit höher als Gottes Weisheit. Wie sie früher
von den Rittern geplagt worden waren, so wurden sie jetzt hart gegen
das Gesinde und plagten dieses, und je weniger sie selbst arbeiteten,
um so mehr muteten sie diesen zu, und je mehr sie Arbeit von Knechten
und Mägden forderten, um so mehr behandelten sie dieselben
wie unvernünftiges Vieh, und dass diese auch Seelen hätten,
die zu wahren seien, dachten sie nicht. Wo viel Geld oder viel Hoffart
ist, da fängt das Bauen an, einer schöner als der andere,
und wie früher die Ritter bauten, so bauten jetzt sie, und
wie früher die Ritter sie plagten, so schonten sie jetzt weder
Gesinde noch Vieh, wenn der Bauteufel über sie kam. Dieser
Wandel war auch über dieses Haus gekommen, während der
alte Reichtum geblieben war.
Fast zweihundert Jahre waren verflossen, seit die Spinne im Loche
gefangensaß, da war ein schlau und kräftig Weib hier
Meister, sie war keine Lindauerin, aber doch glich sie Christine
in vielen Stücken. Sie war auch aus der Fremde, der Hoffart,
dem Hochmute ergeben, und hatte einen einzigen Sohn; der Mann war
unter ihrer Meisterschaft gestorben. Dieser Sohn war ein schöner
Bube, hatte ein gutes Gemüt und war freundlich mit Mensch und
Vieh; sie hatte ihn auch gar lieb, aber sie ließ es ihn nicht
merken. Sie meisterte ihn jeden Schritt und Tritt, und keiner war
ihr recht, den sie ihm nicht erlaubt, und längst war er erwachsen
und durfte nicht zur Kameradschaft und an keine Kilbi ohne der Mutter
Begleit. Als sie ihn endlich alt genug glaubte, gab sie ihm ein
Weib aus ihrer Verwandtschaft, eins nach ihrem Sinn. Jetzt hatte
er zwei Meister statt nur einen, und beide waren gleich hoffärtig
und hochmütig, und weil sie es waren, so sollte auch Christen
es sein, und wenn er freundlich war und demütig, wie es ihm
so wohl anstund, so erfuhr er, wer Meister war.
Schon lange war das alte Haus ihnen ein Dorn im Auge, und sie schämten
sich seiner, da die Nachbaren neue Häuser hatten und doch kaum
so reich als sie waren. Die Sage von der Spinne und was die Großmutter
gesagt, war damals noch in jedermanns Gedächtnis, sonst wäre
das alte Haus längst schon eingerissen worden, aber alle wehrten
es ihnen. Sie nahmen aber dieses Wehren immer mehr für Neid,
der ihnen kein neues Haus gönne. Zudem ward es ihnen immer
unheimeliger im alten Hause. Wenn sie hier am Tische saßen,
so war es ihnen, entweder als schnurre hinter ihnen behaglich die
Katze, oder als ginge leise das Loch auf, und die Spinne ziele nach
ihrem Nacken. Ihnen fehlte der Sinn, der das Loch vermachte, darum
fürchteten sie sich immer mehr, das Loch möchte sich öffnen.
Darum fanden sie einen guten Grund, ein neues Haus zu bauen, in
dem sie die Spinne nicht zu fürchten hätten, wie sie meinten.
Das alte wollten sie dem Gesinde überlassen, das ihrer Hoffart
oft im Wege war, so wurden sie rätig.
Christen tat es sehr ungerne, er wusste, was die alte Großmutter
gesagt, und glaubte, dass der Familiensegen an das Familienhaus
geknüpfet sei, und vor der Spinne fürchtete er sich nicht,
und wenn er hier oben am Tische saß, so schien es ihm, er
könne am andächtigsten beten. Er sagte, wie er es meinte,
aber seine Weiber hießen ihn schweigen, und weil er ihr Knecht
war, so schwieg er auch, weinte aber oft bitterlich, wenn sie es
nicht sahen.
Dort, oberhalb des Baumes, unter welchem wir gesessen, sollte ein
Haus gebaut werden, wie keiner eins hätte in der ganzen Gegend.
In hoffärtiger Ungeduld, weil sie keinen Verstand vom Bauen
hatten und nicht warten mochten, bis sie mit dem neuen Hause hochmütig
tun konnten, plagten sie beim Bauen Gesinde und Vieh übel,
schonten selbst die heiligen Feiertage nicht und gönnten ihnen
auch des Nachts nicht Ruhe, und kein Nachbar war, der ihnen helfen
konnte, dass sie zufrieden waren, dem sie nicht Böses nachgewünscht,
wenn er nach unentgeltlicher Hülfe, wie man sie schon damals
einander leistete, wieder heimging, um auch zu seiner Sache zu sehen.
Als man aufrichtete und den ersten Zapfen in die Schwelle schlug,
so rauchte es aus dem Loche herauf wie nasses Stroh, wenn man es
anbrennen will; da schüttelten die Werkleute bedenklich die
Köpfe und sagten es heimlich und laut, dass der neue Bau nicht
alt werden werde, aber die Weiber lachten darüber und achteten
des Zeichens sich nicht. Als endlich das Haus erbauet war, zogen
sie hinüber, richteten sich ein mit unerhörter Pracht
und gaben als sogenannte Hausräuki eine Kilbi, die drei Tage
lang dauerte und Kind und Kindeskinder noch davon erzählten
im ganzen Emmental.
Aber während allen dreien Tagen soll man im ganzen Hause ein
seltsam Surren gehört haben wie das einer Katze, welcher es
behaglich wird, weil man ihr den Balg streicht. Doch die Katze,
von welcher es kam, konnte man trotz alles Suchens nicht finden;
da ward manchem unheimlich, und trotz aller Herrlichkeit lief er
mitten aus dem Feste. Nur die Weiber hörten nichts oder achteten
sich dessen nicht, mit dem neuen Hause meinten sie alles gewonnen.
Ja, wer blind ist, sieht auch die Sonne nicht, und wer taub ist,
hört auch den Donner nicht. Darum freuten die Weiber des neuen
Hauses sich, wurden alle Tage hoffärtiger, dachten an die Spinne
nicht, sondern führten im neuen Hause ein üppiges, arbeitsloses
Leben mit Putzen und Essen, kein Mensch konnte es ihnen treffen,
und an Gott dachten sie nicht.
Im alten Hause blieb das Gesinde alleine, lebte, wie es wollte,
und wenn Christen dasselbe auch unter seiner Aufsicht haben wollte,
so duldeten die Weiber es nicht und schalten ihn, die Mutter aus
Hochmut hauptsächlich, das Weib aus Eifersucht zumeist. Daher
war drunten keine Ordnung und bald auch keine Gottesfurcht, und
wo kein Meister ist, geht es so durchweg. Wenn kein Meister oben
am Tische sitzt, kein Meister im Hause die Ohren spitzt, kein Meister
draußen und drinnen die Zügel hält, so meint sich
bald der der Größte, welcher am wüstesten tut, und
der der Beste, welcher die ruchlosesten Reden führt.
So ging es zu im Hause drunten, und das sämtliche Gesinde
glich bald einer Rudel Katzen, wenn sie am wüstesten tun. Von
Beten wusste man nichts mehr, hatte darum weder vor Gottes Willen
noch vor seinen Gaben Respekt. Wie die Hoffart der Meisterweiber
keine Grenzen mehr kannte, so hatte der tierische Übermut des
Gesindes keine Schranken mehr. Man schändete ungescheut das
Brot, trieb das Habermus über den Tisch weg mit den Löffeln
sich an die Köpfe, ja, verunreinigte viehisch die Speise, um
boshaft den andern die Lust am Essen zu vertreiben. Sie neckten
die Nachbaren, quälten das Vieh, höhnten jeden Gottesdienst,
leugneten alle höhere Gewalt und plagten auf alle Weise den
Priester, der strafend zu ihnen geredet hatte; kurz, sie hatten
keine Furcht mehr vor Gott und Menschen und taten alle Tage wüster.
Das wüsteste Leben führten Knechte und Mägde, und
doch plagten sie einander wie nur möglich, und als die Knechte
nicht mehr wussten, wie sie auf neue Art die Mägde quälen
konnten, da fiel es einem ein, mit der Spinne im Loche die Mägde
zu schrecken oder zahm zu machen. Er schmiss Löffel voll Habermus
oder Milch an den Zapfen und schrie, die drinnen werde wohl hungrig
sein, weil sie so viel hundert Jahre nichts gehabt. Da schrien die
Mägde grässlich auf und versprachen alles, was sie konnten,
und selbst den andern Knechten graute es.
Da das Spiel sich ungestraft wiederholte, so wirkte es nicht mehr,
die Mägde schrien nicht mehr, versprachen nichts mehr, und
die andern Knechte begannen es auch zu treiben. Nun fing der an,
mit dem Messer gegen das Loch zu fahren, mit den grässlichsten
Flüchen sich zu vermessen, er mache den Zapfen los und wolle
sehen, was drinnen sei, und sie müssten einmal auch was Neues
sehn. Das weckte neues Entsetzen, und der Bursche, der das tat,
ward allen Meister und konnte zwingen, was er wollte, besonders
bei den Mägden.
Das soll aber auch ein seltsamer Mensch gewesen sein, man wusste
nicht, woher er kam. Er konnte sanft tun wie ein Lamm und reißend
wie ein Wolf; war er alleine bei einem Weibsbilde, so war er ein
sanftes Lamm, vor der Gesellschaft aber war er wie ein reißender
Wolf und tat, als ob er alle hasste, als ob er über alles auswolle
mit wüsten Taten und Worten; solche sollen den Weibsbildern
aber gerade die liebsten sein. Darum entsetzten sich die Mägde
öffentlich vor ihm, sollen ihn aber doch, wenn sie alleine
waren, am liebsten von allen gehabt haben. Er hatte ungleiche Augen,
aber man wusste nicht, von welcher Farbe, und beide hassten einander,
sahen nie den gleichen Weg, aber unter langem Augenhaar und demütigem
Niedersehn wusste er es zu verbergen. Sein Haar war schön gelockt,
aber man wusste nicht, war es rot oder falb, im Schatten war es
das schönste Flachshaar, schien aber die Sonne darauf, so hatte
kein Eichhörnchen einen rötern Pelz. Er quälte wie
keiner das Vieh. Dasselbe hasste ihn auch darnach. Von den Knechten
meinte ein jeder, er sei sein Freund, und gegen jeden wies er die
andern auf. Den Meisterweibern war er unter allen alleine recht,
er alleine war oft im obern Hause, dann taten unten die Mägde
wüst; sobald er es merkte, steckte er sein Messer an den Zapfen
und begann sein Drohen, bis die Mägde zum Kreuze krochen.
Doch behielt dieses Spiel auch nicht lange seine Wirkung. Die Mägde
wurden dessen gewohnt und sagten endlich: "Tue es doch, wenn
du darfst, aber du darfst nicht!"
Es nahte Weihnacht, die heilige Nacht. An das, was dieselbe uns
weihet, dachten sie nicht, ein lustiges Leben hatten sie abgeraten
in derselben. Im Schlosse drunten hauste ein alter Ritter nur, und
der bekümmerte sich wenig mehr ums Zeitliche; ein schelmischer
Vogt verwaltete alles zu seinem Vorteil. Um ein Schelmenstück
hatten sie diesem edlen Ungarwein abgehandelt, neben welchem Lande
die Ritter in großem Streite lagen; des edlen Weines Kraft
und Feuer kannten sie nicht. Ein fürchterliches Unwetter kam
herauf mit Blitz und Sturm wie selten sonst um diese Zeit, keinen
Hund hätte man unter dem Ofen hervorgejagt. Zur Kirche zu gehen,
hielt es sie nicht ab, sie wären bei schönem Wetter auch
nicht gegangen, hätten den Meister alleine gehen lassen, aber
es hielt andere ab, sie zu besuchen; sie blieben allein im alten
Hause beim edlen Weine.
Sie begannen den heiligen Abend mit Fluchen und Tanzen, mit wüstern
und ärgern Dingen; dann setzten sie sich zum Mahle, wozu die
Mägde Fleisch gekocht hatten, weißen Brei und was sie
sonst Gutes stehlen konnten. Da ward die Roheit immer grässlicher,
sie schändeten alle Speisen, lästerten alles Heilige;
der genannte Knecht spottete des Priesters, teilte Brot aus und
trank seinen Wein, als ob er die Messe verwaltete, taufte den Hund
unterem Ofen, trieb es, bis es angst und bange den andern wurde,
wie ruchlos sie sonst auch waren. Da stach er mit dem Messer ins
Loch und fluchte, er wolle ihnen noch ganz andere Dinge zeigen.
Als sie darob nicht erschrecken wollten, weil er das gleiche schon
manchmal getrieben und mit dem Messer gegen den Zapfen kaum viel
abzubringen war, so griff er in halber Raserei nach einem Bohrer,
vermaß sich aufs Schrecklichste, sie sollten es erfahren,
was er könne, büßen ihr Lachen, dass ihnen die Haare
zu Berge ständen, und drehte mit wildem Stoße den Bohrer
in den Zapfen hinein. Laut aufschreiend stürzten alle auf ihn
zu, aber ehe jemand es hindern konnte, lachte er wie der Teufel
selbst, tat einen kräftigen Ruck am Bohrer.
Da bebte von ungeheurem Donnerschlag das ganze Haus, der Missetäter
stürzte rücklings nieder, ein roter Glutstrom brach aus
dem Loche hervor, und mittendrin saß groß und schwarz,
aufgeschwollen im Gifte von Jahrhunderten, die Spinne und glotzte
in giftiger Lust über die Frevler hin, die versteinert in tödlicher
Angst kein Glied bewegen konnten, dem schrecklichen Untiere zu entrinnen,
das langsam und schadenfroh ihnen über die Gesichter kroch,
ihnen einimpfte den feurigen Tod.
Da erbebte das Haus von schrecklichem Wehgeheul, wie hundert Wölfe
es nicht auszustoßen vermögen, wenn der Hunger sie peinigt.
Und bald erscholl ein ähnliches Wehgeschrei aus dem neuen Hause,
und Christen, der eben den Berg aufkam von der heiligen Messe, meinte,
es seien Räuber eingebrochen, und seinem starken Arme trauend,
stürzte er den Seinen zu Hilfe. Er fand keine Räuber,
aber den Tod; mit diesem rangen Weib und Mutter und hatten schon
keine Stimme mehr in den hochaufgelaufenen, schwarzen Gesichtern;
ruhig schlummerten seine Kinder, und gesund und rot waren ihre munteren
Gesichter. Es stieg in Christen die schreckliche Ahnung dessen auf,
was geschehen war; er stürzte ins untere Haus, dort sah er
die Diensten alle verendet, die Stube zur Totenkammer geworden,
geöffnet das schauerliche Loch im Bystal, in des scheußlich
entstellten Knechtes Hand den Bohrer und auf des Bohrers Spitze
den schrecklichen Zapfen. Jetzt wusste er, was da geschehen war,
schlug die Hände über dem Kopfe zusammen, und wenn die
Erde ihn verschlungen hätte, so wäre es ihm recht gewesen.
Da kroch etwas hinterem Ofen hervor, schmiegte sich ihm an; entsetzt
fuhr er zusammen, aber es war nicht die Spinne, es war ein armes
Bübchen, das er um Gottes willen ins Haus genommen und unter
dem ruchlosen Gesinde gelassen hatte, wie es ja auch jetzt viel
geschieht, dass man Kinder um Gottes willen nimmt und sie dem Teufel
in die Hände spielt. Das hatte keinen Teil genommen an den
Greueln des Gesindes, war erschreckt hinter den Ofen geflohn; ihns
allein hatte die Spinne verschont, es konnte nun den Hergang erzählen.
Aber noch während das Bübchen erzählte, scholl durch
Wind und Wetter Angstgeschrei von andern Häusern her. Wie in
hundertjähriger, aufgeschwellter Lust flog die Spinne durch
die Talschaft, las zuerst die üppigsten Häuser sich aus,
wo man am wenigsten an Gott dachte, aber am meisten an die Welt,
daher von dem Tod am wenigsten wissen mochte.
Noch war es nicht Tag geworden, so war die Kunde in jeglichem Hause:
die alte Spinne sei losgebrochen, gehe aufs neue todbringend um
in der Gemeinde; schon lägen viele tot, und hinten im Tale
fahre Schrei um Schrei zum Himmel auf von den Gezeichneten, die
sterben müssten. Da kann man sich denken, welch Jammer im Lande
war, welche Angst in allen Herzen, was das für eine Weihnacht
war in Sumiswald! An die Freude, die sie sonst bringt, konnte keine
Seele denken, und solcher Jammer kam vom Frevel der Menschen. Der
Jammer aber ward alle Tage größer, denn schneller, giftiger
als das frühere Mal war die Spinne jetzt. Bald war sie zuvörderst,
bald zuhinterst in der Gemeinde; auf den Bergen, im Tale erschien
sie zu gleicher Zeit. Wie sie früher meist hier einen, dort
einen gezeichnet hatte zum Tode, so verließ sie jetzt selten
ein Haus, ehe sie alle vergiftet; erst wenn alle im Tode sich wanden,
setzte sie sich auf die Schwelle und glotzte schadenfroh in die
Vergiftung, als ob sie sagen wollte: sie sei es und sei doch wieder
da, wie lange man sie auch eingesperrt.
Es schien, als ob sie wüsste, ihr sei wenig Zeit vergönnt,
oder als ob sie sich viele Mühe sparen wollte, sie tat, wo
sie konnte, viele auf einmal ab. Darum lauerte sie am liebsten auf
die Züge, welche die Toten zur Kirche geleiten wollten. Bald
hier, bald dort, am liebsten unten am Kilchstalden tauchte sie mitten
in den Haufen auf oder glotzte plötzlich vom Sarge herab auf
die Begleitenden. Da fuhr dann ein schreckliches Wehgeschrei aus
dem begleitenden Zuge zum Himmel auf, Mann um Mann fiel nieder,
bis der ganze Zug der Begleitenden am Wege lag, und rang mit dem
Tode, bis kein Leben mehr unter ihnen war, und um den Sarg ein Haufen
Tote lag, wie tapfere Krieger um ihre Fahne liegen, von der Übermacht
erfasst. Da wurden keine Toten mehr zur Kirche gebracht, niemand
wollte sie tragen, niemand geleiten; wo der Tod sie streckte, da
ließ man sie liegen.
Verzweiflung lag überem ganzen Tale. Wut kochte in allen Herzen,
strömte in schrecklichen Verwünschungen gegen den armen
Christen aus; an allem sollte jetzt er schuld sein. Jetzt auf einmal
wussten alle, dass Christen das alte Haus nicht hätte verlassen,
das Gesinde nicht sich selbst überlassen sollen. Auf einmal
wussten alle, dass der Meister für sein Gesinde mehr oder minder
verantwortlich sei, dass er wachen solle über Beten und Essen,
wehren solle gottlosem Leben, gottlosen Reden und gottlosem Schänden
der Gaben Gottes. Jetzt war allen auf einmal Hoffart und Hochmut
vergangen, sie taten diese Laster in die unterste Hölle hinunter
und hätten es kaum Gott geglaubt, dass sie dieselben noch vor
wenig Tagen so schmählich an sich getragen; sie waren alle
wieder fromm, hatten die schlechtesten Kleider an und die alten
verachteten Rosenkränze wieder in den Händen und überredeten
sich selbst, sie seien immer gleich fromm gewesen, und an ihnen
fehlte es nicht, dass sie Gott nicht das gleiche überredeten.
Christen allein unter ihnen allen sollte gottlos sein, und Flüche
wie Berge kamen von allen Seiten auf ihn her. Und war er doch vielleicht
unter allen der Beste, aber sein Wille lag gebunden in seiner Weiber
Willen, und dieses Gebundensein ist allerdings eine schwere Schuld
für jeden Mann, und schwerer Verantwortung entrinnt er nicht,
weil er anders ist, als Gott ihn will. Das sah Christen auch ein,
darum war er nicht trotzig, pochte nicht, gab sich schuldiger dar,
als er war; aber damit versöhnte er die Leute nicht, erst jetzt
schrien sie einander zu, wie groß seine Schuld sein müsse,
da er so viel auf sich nehme, so weit sich unterziehe, es ja selbst
bekenne, er sei nichts wert.
Er aber betete Tag und Nacht zu Gott, dass er das Übel wende,
aber es ward schrecklicher von Tag zu Tag. Er ward es inne, dass
er gutmachen müsse, was er gefehlt, dass er sich selbst zum
Opfer geben müsse, dass an ihm liege die Tat, die seine Ahnfrau
getan. Er betete zu Gott, bis ihm so recht feurig im Herzen der
Entschluss emporwuchs, die Talschaft zu retten, das Übel zu
sühnen, und zum Entschluss kam der standhafte Mut, der nicht
wankt, immer bereit ist zur gleichen Tat, am Morgen wie am Abend.
Da zog er herab mit seinen Kindern aus dem neuen Haus ins alte
Haus, schnitt zum Loch einen neuen Zapfen, ließ ihn weihen
mit heiligem Wasser und heiligen Sprüchen, legte zum Zapfen
den Hammer, setzte zu den Betten der Kinder sich und harrte der
Spinne.
Da saß er, betete und wachte und rang mit dem schweren Schlaf
festen Mutes und wankte nicht; aber die Spinne kam nicht, ob sie
sonst allenthalben war; denn immer größer war der Sterbet,
immer wilder die Wut der Überlebenden.
Mitten in diesen Schrecken sollte ein wildes Weib ein Kind gebären.
Da kam den Leuten die alte Angst, ungetauft möchte die Spinne
das Kindlein holen, das Pfand ihrer alten Pacht. Das Weib gebärdete
sich wie unsinnig, hatte kein Gottvertrauen, desto mehr Hass und
Rache im Herzen.
Man wusste, wie die Alten gegen den Grünen sich geschützt
vor Zeiten, wenn ein Kind geboren werden sollte, wie der Priester
der Schild war, den sie zwischen sich und den ewigen Feind gestellt.
Man wollte auch nach dem Priester senden, aber wer sollte der Bote
sein? Die unbegrabenen Toten, welche die Spinne bei den Leichenzügen
erfasst, sperrten die Wege, und würde wohl ein Bote über
die wilden Höhen der Spinne, die alles zu wissen schien, entgehen
können, wenn er den Priester holen wollte? Es zagten alle.
Da dachte endlich der Mann des Weibes: wenn die Spinne ihn haben
wolle, so könne sie ihn daheim fassen wie auf dem Wege; wenn
ihm der Tod bestimmt sei, so entrinne er ihm hier nicht und dort
nicht.
Er machte sich auf den Weg, aber Stunde um Stunde rann vorüber,
kein Bote kam wieder. Wut und Jammer wurde immer entsetzlicher,
die Geburt rückte immer näher. Da riss das Weib in der
Wut der Verzweiflung vom Lager sich auf, stürzte hin nach Christes
Haus, dem tausendfach Verwünschten, der betend bei seinen Kindern
saß, des Kampfes mit der Spinne gewärtig. Weither schon
tönte ihr Geschrei, ihre Verwünschungen donnerten an Christes
Türe, lange ehe sie dieselbe aufriss und den Donner in die
Stube ihm brachte. Als sie hereinstürzte so schrecklichen Angesichtes,
da fuhr er auf, er wusste erst nicht, war es Christine in ihrer
ursprünglichen Gestalt. Aber unter der Türe hemmte der
Schmerz ihren Lauf, an den Türpfosten wand sie sich, die Flut
ihrer Verwünschungen ausgießend über den armen Christen.
Er sollte der Bote sein, wenn er nicht verflucht sein wolle mit
Kind und Kindeskindern in Zeit und Ewigkeit. Da überwallete
der Schmerz ihr Fluchen, und ein Söhnlein war geboren vom wilden
Weibe auf Christes Schwelle, und alle, die ihr gefolget waren, stoben
ins Weite, des Schrecklichsten gewärtig. Das unschuldige Kindlein
hielt Christen in den Armen; stechend und wild, giftig starrten
aus des Weibes verzerrten Zügen dessen Augen ihn an, und es
ward ihm immer mehr, als trete die Spinne aus ihnen heraus, als
sei sie es selbst. Da kam eine Kraft Gottes in ihn, und ein übermenschlicher
Wille ward in ihm mächtig; einen innigen Blick warf er auf
seine Kinder, hüllte das neugeborne Kind in sein warm Gewand,
sprang über das glotzende Weib den Berg hinunter das Tal entlang,
Sumiswald zu. Zur heiligen Weihe wollte er das Kindlein selbsten
tragen zur Sühne der Schuld, die auf ihm lag, dem Haupte seines
Hauses, das übrige überließ er Gott. Tote hemmten
seinen Lauf, vorsichtig musste er seine Tritte setzen. Da ereilte
ihn ein leichter Fuß, es war das arme Bübchen, dem es
graute bei dem wilden Weibe, das ein kindlicher Trieb dem Meister
nachgetrieben. Wie Stacheln fuhr es durch Christes Herz, dass seine
Kinder alleine bei dem wütenden Weibe seien. Aber sein Fuß
stund nicht stille, strebte dem heiligen Ziele zu.
Schon war er unten am Kilchstalden, hatte die Kapelle im Auge,
da glühte es plötzlich vor ihm mitten im Wege, es regte
sich im Busche, im Wege saß die Spinne, im Busche wankte rot
ein Federbusch, und hoch hob sich die Spinne alswie zum Sprunge.
Da rief Christen mit lauter Stimme zum dreieinigen Gott, und aus
dem Busche tönte ein wilder Schrei, es schwand die rote Feder,
in des Bübchens Arme legte er das Kind und griff, dem Herren
seinen Geist empfehlend, mit starker Hand die Spinne, die, wie gebannt
durch die heiligen Worte, am gleichen Flecke sitzenblieb. Glut strömte
durch sein Gebein, aber er hielt fest; der Weg war frei, und das
Bübchen, verständigen Sinnes, eilte dem Priester zu mit
dem Kinde, Christen aber, Feuer in der starken Hand, eilte geflügelten
Laufes seinem Hause zu. Schrecklich war der Brand in seiner Hand,
der Spinne Gift drang durch alle Glieder. Zu Glut ward sein Blut.
Die Kraft wollte erstarren, der Atem stocken, aber er betete fort
und fort, hielt Gott fest vor Augen, hielt aus in der Hölle
Glut. Schon sah er sein Haus, mit dem Schmerz wuchs sein Hoffen,
unter der Türe war das Weib. Als dasselbe ihn kommen sah ohne
Kind, stürzte es sich ihm entgegen einer Tigerin gleich, der
man die Jungen geraubt, es glaubte an den schändlichsten Verrat.
Es achtete sich seines Winkens nicht, hörte nicht die Worte
aus seiner keuchenden Brust, stürzte in seine vorgestreckten
Hände, klammerte an sie sich an, in Todesangst musste er die
Wütende schleppen zum Hause herein, muss frei die Arme kämpfen,
ehe es ihm gelingt, ins alte Loch die Spinne zu drängen, mit
sterbenden Händen den Zapfen vorzuschlagen. Er vermag's mit
Gottes Hülfe. Den sterbenden Blick wirft er auf die Kinder,
hold lächeln sie im Schlafe. Da wird es ihm leicht, eine höhere
Hand schien seine Glut zu löschen, und laut betend schließt
er zum Tode seine Augen, und Frieden und Freude fanden die auf seinem
Gesichte, die vorsichtig und angstvoll kamen, zu schauen, wo das
Weib geblieben. Erstaunt sahen sie das Loch verschlagen, aber das
Weib fanden sie versengt und verzerrt im Tode liegen; an Christes
Hand hatte sie den feurigen Tod geholt. Noch standen sie und wussten
nicht, was geschehen war, als mit dem Kinde das Bübchen wiederkehrte,
vom Priester begleitet, der das Kind schnell getauft nach damaliger
Sitte und wohlgerüstet und mutvoll dem gleichen Kampfe entgegengehen
wollte, in dem sein Vorgänger siegreich das Leben gelassen.
Aber ein solch Opfer forderte Gott nicht von ihm, den Kampf hatte
schon ein anderer bestanden.
Lange fassten die Leute nicht, welch große Tat Christen vollbracht.
Als ihnen endlich Glaube und Erkenntnis kam, da beteten sie freudig
mit dem Priester, dankten Gott für das neu geschenkte Leben
und für die Kraft, die er Christen gegeben. Diesem aber baten
sie im Tode noch ihr Unrecht ab und beschlossen, mit hohen Ehren
ihn zu begraben, und sein Andenken stellte sich glorreich wie das
eines Heiligen in aller Seelen.
Sie wussten nicht, wie ihnen war, als der so schreckliche Schreck,
der fort und fort durch ihre Glieder zitterte, auf einmal geschwunden
war und sie mit Freuden wieder in den blauen Himmel hinaufsehen
konnten ohne Angst, die Spinne krieche unterdessen auf ihre Füße.
Sie beschlossen viele Messen und einen allgemeinen Kilchgang; vor
allem wollten sie die beiden Leichen bestatten, Christen und seine
Drängerin, dann sollten auch die andern eine Stätte finden,
soweit es möglich war.
Es war ein feierlicher Tag, als das ganze Tal zur Kirche wanderte,
und auch in manchem Herzen war es feierlich, manche Sünde ward
erkannt, manch Gelübde ward getan, und von dem Tage an wurde
viel übertriebenes Wesen auf den Gesichtern und in den Kleidern
nicht mehr gesehen.
Als in der Kirche und auf dem Kirchhofe viele Tränen geflossen,
viele Gebete geschehen waren, gingen alle aus der ganzen Talschaft,
welche zur Begräbnis gekommen war und gekommen waren
alle, die ihrer Glieder mächtig waren -, zum üblichen
Imbiss ins Wirtshaus. Da geschah es nun, dass wie üblich Weiber
und Kinder an einem eigenen Tische saßen, die sämtliche
erwachsene Mannschaft aber Platz hatte an dem berühmten Scheibentische,
der jetzt noch im Bären zu Sumiswald zu sehen ist. Er
ward aufbewahret zum Andenken, dass einst nur noch zwei Dutzend
Männer waren, wo jetzt an zwei Tausende wohnen, zum Andenken,
dass auch das Leben der Zweitausende in der Hand dessen stehe, der
die zwei Dutzend gerettet. Damals säumte man sich nicht lange
an der Gräbt; es waren die Herzen zu voll, als dass viel Speise
und Trank Platz gehabt hätte. Als sie aus dem Dorfe hervor
auf die freie Höhe kamen, sahen sie eine Röte am Himmel,
und als sie heimkamen, fanden sie das neue Haus niedergebrannt bis
auf den Boden; wie es zugegangen, erfuhr man nie.
Aber was Christen an ihnen getan, vergaßen die Leute nicht,
an seinen Kindern vergalten sie es. Fromm und wacker erzogen sie
dieselben in den frömmsten Häusern; an ihrem Gute vergriff
sich keine Hand, obgleich keine Rechnung zu sehen war. Es wurde
gemehret und wohl besorgt, und als die Kinder auferwachsen waren,
so waren sie nicht nur nicht um ihr Gut betrogen, sondern noch viel
weniger um ihre Seelen. Es wurden rechtschaffene, gottesfürchtige
Menschen, die Gnade bei Gott hatten und Wohlgefallen bei den Menschen,
die Segen im Leben fanden und im Himmel noch mehr. Und so blieb
es in der Familie, und man fürchtete die Spinne nicht, denn
man fürchtete Gott, und wie es gewesen war, so soll es, so
Gott will, auch bleiben, solange hier ein Haus steht, solange Kinder
den Eltern folgen in Wegen und Gedanken.«
Hier schwieg der Großvater, und lange schwiegen alle, und
die einen sannen dem Gehörten nach, und die andern meinten,
er schöpfe Atem und fahre dann weiters fort.
Endlich sagte der ältere Götti: "An dem Scheibentisch
bin ich manchmal gesessen und habe von dem Sterbet gehört und
dass nach demselben sämtliche Mannschaft in der Gemeinde daran
Platz gehabt. Aber wie punktum alles zugegangen, das konnte mir
niemand sagen. Die einen stürmten dies und andere anders. Aber
sage mir, wo hast du denn alles das vernommen?"
"He", sagte der Großvater, "das erbte sich
bei uns vom Vater auf den Sohn, und als das Andenken davon bei den
andern Leuten im Tale sich verlor, hielt man es in der Familie sehr
heimlich und scheuete sich, etwas davon unter die Menschen zu lassen.
Nur in der Familie redete man davon, damit kein Glied derselben
vergesse, was ein Haus bauet und ein Haus zerstört, was Segen
bringt und Segen vertreibt. Du hörst es meiner Alten wohl noch
an, wie ungern sie es hat, wenn man so öffentlich davon redet.
Aber mich dünkt, es täte je länger je nöter,
davon zu reden, wie weit man es mit Hochmut und Hoffart bringen
kann. Darum tue ich auch nicht mehr so geheim mit der Sache, und
es ist nicht das erstemal, dass ich unter guten Freunden sie erzählet.
Ich denke immer, was unsere Familie so viele Jahre im Glücke
erhalten, das werde andern auch nicht schaden, und recht sei es
nicht, ein Geheimnis mit dem zu machen, was Glück und Gottes
Segen bringt."
"Du hast recht, Vettermann", antwortete der Götti,
"aber fragen muss ich dich doch noch: War denn das Haus, welches
du vor sieben Jahren einrissest, das uralte? Ich kann das fast nicht
glauben."
" Nein", sagte der Großvater. "Das uralte Haus
war gar baufällig geworden schon vor fast dreihundert Jahren,
und der Segen Gottes in Feldern und Matten hatte schon lange nicht
mehr Platz darin. Und doch wollte es die Familie nicht verlassen,
und ein neues bauen durfte sie nicht, sie hatte nicht vergessen,
wie es dem früheren ergangen. So kam sie in große Verlegenheit
und fragte endlich einen weisen Mann, der zu Haslebach gewohnt haben
soll, um Rat. Der soll geantwortet haben: ein neues Haus könnten
sie wohl bauen an die Stelle des alten und nicht anderswo, aber
zwei Dinge müssten sie wohl bewahren, das alte Holz, worin
die Spinne sei, den alten Sinn, der ins alte Holz die Spinne geschlossen,
dann werde der alte Segen auch im neuen Hause sein.
Sie bauten das neue Haus und fügten ihm ein mit Gebet und Sorgfalt
das alte Holz, und die Spinne rührte sich nicht, Sinn und Segen
änderten sich nicht.
Aber auch das neue Haus ward wiederum alt und klein, wurmstichig
und faul sein Holz, nur der Posten hier blieb fest und eisenhart.
Mein Vater hätte schon bauen sollen, er konnte es erwehren,
es kam an mich. Nach langem Zögern wagte ich es. Ich tat wie
die Frühern, fügte das alte Holz dem neuen Hause bei,
und die Spinne regte sich nicht. Aber gestehen will ich es: mein
Lebtag betete ich nie so inbrünstig wie damals, als ich das
verhängnisvolle Holz in Händen hatte; die Hand, der ganze
Leib brannte mich, unwillkürlich musste ich sehen, ob mir nicht
schwarze Flecken wüchsen an Hand und Leib, und ein Berg fiel
mir von der Seele, als endlich alles an seinem Orte stund. Da ward
meine Überzeugung noch fester, dass weder ich noch meine Kinder
und Kindeskinder etwas von der Spinne zu fürchten hätten,
solange wir uns fürchten vor Gott."
Da schwieg der Großvater, und noch war der Schauer nicht verflogen,
der ihnen den Rücken heraufgekrochen, als sie hörten,
der Großvater hätte das Holz in Händen gehabt, und
sie dachten, wie es ihnen wäre, wenn sie es auch darein nehmen
müssten.
Endlich sagte der Vetter: "Es ist nur schade, dass man nicht
weiß, was an solchen Dingen wahr ist. Alles kann man kaum
glauben, und etwas muss doch an der Sache sein, sonst wäre
das alte Holz nicht da."
Sei jetzt daran wahr, was da wolle, so könne man viel daraus
lernen, sagte der jüngere Götti, und dazu hätten
sie noch kurze Zeit gehabt, es dünke ihn, er sei erst aus der
Kirche gekommen.
Sie sollten nicht zuviel sagen, sagte die Großmutter, sonst
fange ihr Alter ihnen eine neue Geschichte an, sie sollten jetzt
auch einmal essen und trinken, es sei ja eine Schande, wie niemand
esse und trinke. Es solle doch nicht alles schlecht sein, sie hätten
angewendet, so gut sie es verstanden.
Nun ward viel gegessen, viel getrunken und zwischendurch gewechselt
manche verständige Rede, bis groß und golden am Himmel
der Mond stund, die Sterne aus ihren Kammern traten, zu mahnen die
Menschen, dass es Zeit sei, schlafen zu gehn in ihre Kämmerlein.
Die Menschen sahen die geheimnisvollen Mahner wohl, aber sie saßen
da so heimelig, und jedem klopfte es unheimlich unterem Brusttuch,
wenn er ans Heimgehn dachte; und wenn es schon keiner sagte, so
wollte doch keiner der erste sein.
Endlich stund die Gotte auf und schickte mit zitterndem Herzen
zum Weggehn sich an, doch es fehlte ihr an sicheren Begleitern nicht,
und miteinander verließ die ganze Gesellschaft das gastliche
Haus mit vielem Dank und guten Wünschen, allen Bitten an einzelne,
an die Gesamtheit, doch noch länger zu bleiben, es werde ja
nicht finster, zum Trotz.
Bald war es still ums Haus, bald auch still in demselben. Friedlich
lag es da, rein und schön glänzte es in des Mondes Schein
das Tal entlang, sorglich und freundlich barg es brave Leute in
süßem Schlummer, wie die schlummern, welche Gottesfurcht
und gute Gewissen im Busen tragen, welche nie die schwarze Spinne,
sondern nur die freundliche Sonne aus dem Schlummer wecken wird.
Denn wo solcher Sinn wohnet, darf sich die Spinne nicht regen, weder
bei Tage noch bei Nacht. Was ihr aber für eine Macht wird,
wenn der Sinn ändert, das weiß der, der alles weiß
und jedem seine Kräfte zuteilt, den Spinnen wie den Menschen.
Jeremias Gotthelf: Die Schwarze Spinne. Aus: Sämtliche
Werke in 24 Bänden. Herausgegeben von Rudolf Hunziker und Hans
Bloesch. Eugen Rentsch Verlag. Erlenbach-Zürich 1936.
* * *
In der Strafkolonie
von Franz Kafka
"Es ist ein eigentümlicher Apparat", sagte der Offizier
zu dem Forschungsreisenden und überblickte mit einem gewissermaßen
bewundernden Blick den ihm doch wohlbekannten Apparat. Der Reisende
schien nur aus Höflichkeit der Einladung des Kommandanten gefolgt
zu sein, der ihn aufgefordert hatte, der Exekution eines Soldaten
beizuwohnen, der wegen Ungehorsam und Beleidigung des Vorgesetzten
verurteilt worden war. Das Interesse für diese Exekution war
wohl auch in der Strafkolonie nicht sehr groß. Wenigstens
war hier in dem tiefen, sandigen, von kahlen Abhängen ringsum
abgeschlossenen kleinen Tal außer dem Offizier und dem Reisenden
nur der Verurteilte, ein stumpfsinniger breitmäuliger Mensch
mit verwahrlostem Haar und Gesicht, und ein Soldat zugegen, der
die schwere Kette hielt, in welche die kleinen Ketten ausliefen,
mit denen der Verurteilte an den Fuß- und Handknöcheln
sowie am Hals gefesselt war und die auch untereinander durch Verbindungsketten
zusammenhingen. Übrigens sah der Verurteilte so hündisch
ergeben aus, dass es den Anschein hatte, als könnte man ihn
frei auf den Abhängen herumlaufen lassen und müsse bei
Beginn der Exekution nur pfeifen, damit er käme.
Zeichnung: Franz Kafka
Der Reisende hatte wenig Sinn für den Apparat und ging hinter
dem Verurteilten fast sichtbar unbeteiligt auf und ab, während
der Offizier die letzten Vorbereitungen besorgte, bald unter den
tief in die Erde eingebauten Apparat kroch, bald auf eine Leiter
stieg, um die oberen Teile zu untersuchen. Das waren Arbeiten, die
man eigentlich einem Maschinisten hätte überlassen können,
aber der Offizier führte sie mit einem großen Eifer aus,
sei es, dass er ein besonderer Anhänger dieses Apparates war,
sei es, dass man aus anderen Gründen die Arbeit sonst niemandem
anvertrauen konnte. "Jetzt ist alles fertig!" rief er
endlich und stieg von der Leiter hinunter. Er war ungemein ermattet,
atmete mit weit offenem Mund und hatte zwei zarte Damentaschentücher
hinter den Uniformkragen gezwängt. "Diese Uniformen sind
doch für die Tropen zu schwer", sagte der Reisende, statt
sich, wie es der Offizier erwartet hatte, nach dem Apparat zu erkundigen.
"Gewiss", sagte der Offizier und wusch sich die von Öl
und Fett beschmutzten Hände in einem bereit stehenden Wasserkübel,
"aber sie bedeuten die Heimat; wir wollen nicht die Heimat
verlieren. Nun sehen Sie aber diesen Apparat", fügte
er gleich hinzu, trocknete die Hände mit einem Tuch und zeigte
gleichzeitig auf den Apparat. "Bis jetzt war noch Händearbeit
nötig, von jetzt aber arbeitet der Apparat ganz allein."
Der Reisende nickte und folgte dem Offizier. Dieser suchte sich
für alle Zwischenfälle zu sichern und sagte dann: "Es
kommen natürlich Störungen vor; ich hoffe zwar, es wird
heute keine eintreten, immerhin muss man mit ihnen rechnen. Der
Apparat soll ja zwölf Stunden ununterbrochen im Gang sein.
Wenn aber auch Störungen vorkommen, so sind sie doch nur ganz
kleine, und sie werden sofort behoben sein."
"Wollen Sie sich nicht setzen?" fragte er schließlich,
zog aus einem Haufen von Rohrstühlen einen hervor und bot ihn
dem Reisenden an; dieser konnte nicht ablehnen. Er saß nun
am Rande einer Grube, in die er einen flüchtigen Blick warf.
Sie war nicht sehr tief. Zur einen Seite der Grube war die ausgegrabene
Erde zu einem Wall aufgehäuft, zur anderen Seite stand der
Apparat. "Ich weiß nicht", sagte der Offizier, "ob
Ihnen der Kommandant den Apparat schon erklärt hat." Der
Reisende machte eine ungewisse Handbewegung; der Offizier verlangte
nichts Besseres, denn nun konnte er selbst den Apparat erklären.
"Dieser Apparat", sagte er und fasste eine Kurbelstange,
auf die er sich stützte, "ist eine Erfindung unseres früheren
Kommandanten. Ich habe gleich bei den allerersten Versuchen mitgearbeitet
und war auch bei allen Arbeiten bis zur Vollendung beteiligt. Das
Verdienst der Erfindung allerdings gebührt ihm ganz allein.
Haben Sie von unserem früheren Kommandanten gehört? Nicht?
Nun, ich behaupte nicht zu viel, wenn ich sage, dass die Einrichtung
der ganzen Strafkolonie sein Werk ist. Wir, seine Freunde, wussten
schon bei seinem Tod, dass die Einrichtung der Kolonie so in sich
geschlossen ist, dass sein Nachfolger, und habe er tausend neue
Pläne im Kopf, wenigstens während vieler Jahre nichts
von dem Alten wird abändern können. Unsere Voraussage
ist auch eingetroffen; der neue Kommandant hat es erkennen müssen.
Schade, dass Sie den früheren Kommandanten nicht gekannt haben!
Aber", unterbrach sich der Offizier, "ich schwätze,
und sein Apparat steht hier vor uns. Er besteht, wie Sie sehen,
aus drei Teilen. Es haben sich im Laufe der Zeit für jeden
dieser Teile gewissermaßen volkstümliche Bezeichnungen
ausgebildet. Der untere heißt das Bett, der obere heißt
der Zeichner, und hier der mittlere, schwebende Teil heißt
die Egge." "Die Egge?" fragte der Reisende. Er hatte
nicht ganz aufmerksam zugehört, die Sonne verfing sich allzu
stark in dem schattenlosen Tal, man konnte schwer seine Gedanken
sammeln. Um so bewundernswerter erschien ihm der Offizier, der im
engen, parademäßigen, mit Epauletten beschwerten, mit
Schnüren behängten Waffenrock so eifrig seine Sache erklärte
und außerdem, während er sprach, mit einem Schraubendreher
noch hier und da an einer Schraube sich zu schaffen machte. In ähnlicher
Verfassung wie der Reisende schien der Soldat zu sein. Er hatte
um beide Handgelenke die Kette des Verurteilten gewickelt, stützte
sich mit der Hand auf sein Gewehr, ließ den Kopf im Genick
hinunterhängen und kümmerte sich um nichts. Der Reisende
wunderte sich nicht darüber, denn der Offizier sprach französisch,
und Französisch verstand gewiss weder der Soldat noch der Verurteilte.
Um so auffallender war es allerdings, dass der Verurteilte sich
dennoch bemühte, den Erklärungen des Offiziers zu folgen.
Mit einer Art schläfriger Beharrlichkeit richtete er die Blicke
immer dorthin, wohin der Offizier gerade zeigte, und als dieser
jetzt vom Reisenden mit einer Frage unterbrochen wurde, sah auch
er, ebenso wie der Offizier, den Reisenden an.
"Ja, die Egge", sagte der Offizier, "der Name passt.
Die Nadeln sind eggenartig angeordnet, auch wird das Ganze wie eine
Egge geführt, wenn auch bloß auf einem Platz und viel
kunstgemäßer. Sie werden es übrigens gleich verstehen.
Hier auf das Bett wird der Verurteilte gelegt. Ich will nämlich
den Apparat zuerst beschreiben und dann erst die Prozedur selbst
ausführen lassen. Sie werden ihr dann besser folgen können.
Auch ist ein Zahnrad im Zeichner zu stark abgeschliffen; es kreischt
sehr, wenn es im Gang ist; man kann sich dann kaum verständigen;
Ersatzteile sind hier leider nur schwer zu beschaffen. Also
hier ist das Bett, wie ich sagte. Es ist ganz und gar mit einer
Watteschicht bedeckt; den Zweck dessen werden Sie noch erfahren.
Auf diese Watte wird der Verurteilte bäuchlings gelegt, natürlich
nackt; hier sind für die Hände, hier für die Füße,
hier für den Hals Riemen, um ihn festzuschnallen. Hier am Kopfende
des Bettes, wo der Mann, wie ich gesagt habe, zuerst mit dem Gesicht
aufliegt, ist dieser kleine Filzstumpf, der leicht so reguliert
werden kann, dass er dem Mann gerade in den Mund dringt. Er hat
den Zweck, am Schreien und am Zerbeißen der Zunge zu hindern.
Natürlich muss der Mann den Filz aufnehmen, da ihm sonst durch
den Halsriemen das Genick gebrochen wird." "Das ist Watte?"
fragte der Reisende und beugte sich vor. "Ja, gewiss«,
sagte der Offizier lächelnd, "befühlen Sie es selbst."
Er fasste die Hand des Reisenden und führte sie über das
Bett hin. "Es ist eine besonders präparierte Watte, darum
sieht sie so unkenntlich aus; ich werde auf ihren Zweck noch zu
sprechen kommen." Der Reisende war schon ein wenig für
den Apparat gewonnen; die Hand zum Schutz gegen die Sonne über
den Augen, sah er an dem Apparat in die Höhe. Es war ein großer
Aufbau. Das Bett und der Zeichner hatten gleichen Umfang und sahen
wie zwei dunkle Truhen aus. Der Zeichner war etwa zwei Meter über
dem Bett angebracht; beide waren in den Ecken durch vier Messingstangen
verbunden, die in der Sonne fast Strahlen warfen. Zwischen den Truhen
schwebte an einem Stahlband die Egge.
Der Offizier hatte die frühere Gleichgültigkeit des Reisenden
kaum bemerkt, wohl aber hatte er für sein jetzt beginnendes
Interesse Sinn; er setzte deshalb in seinen Erklärungen aus,
um dem Reisenden zur ungestörten Betrachtung Zeit zu lassen.
Der Verurteilte ahmte den Reisenden nach; da er die Hand nicht über
die Augen legen konnte, blinzelte er mit freien Augen zur Höhe.
"Nun liegt also der Mann", sagte der Reisende, lehnte
sich im Sessel zurück und kreuzte die Beine.
"Ja", sagte der Offizier, schob ein wenig die Mütze
zurück und fuhr sich mit der Hand über das heiße
Gesicht, "nun hören Sie! Sowohl das Bett als auch der
Zeichner haben ihre eigene elektrische Batterie; das Bett braucht
sie für sich selbst, der Zeichner für die Egge. Sobald
der Mann festgeschnallt ist, wird das Bett in Bewegung gesetzt.
Es zittert in winzigen, sehr schnellen Zuckungen gleichzeitig seitlich
wie auch auf und ab. Sie werden ähnliche Apparate in Heilanstalten
gesehen haben; nur sind bei unserem Bett alle Bewegungen genau berechnet;
sie müssen nämlich peinlich auf die Bewegungen der Egge
abgestimmt sein. Dieser Egge aber ist die eigentliche Ausführung
des Urteils überlassen."
"Wie lautet denn das Urteil?" fragte der Reisende. "Sie
wissen auch das nicht?" sagte der Offizier erstaunt und biss
sich auf die Lippen: "Verzeihen Sie, wenn vielleicht meine
Erklärungen ungeordnet sind; ich bitte Sie sehr um Entschuldigung.
Die Erklärungen pflegte früher nämlich der Kommandant
zu geben; der neue Kommandant aber hat sich dieser Ehrenpflicht
entzogen; dass er jedoch einen so hohen Besuch" der
Reisende suchte die Ehrung mit beiden Händen abzuwehren, aber
der Offizier bestand auf dem Ausdruck "einen so hohen
Besuch nicht einmal von der Form unseres Urteils in Kenntnis setzt,
ist wieder eine Neuerung, die ", er hatte einen Fluch
auf den Lippen, fasste sich aber und sagte nur: "Ich wurde
nicht davon verständigt, mich trifft nicht die Schuld. übrigens
bin ich allerdings am besten befähigt, unsere Urteilsarten
zu erklären, denn ich trage hier" er schlug auf
seine Brusttasche "die betreffenden Handzeichnungen
des früheren Kommandanten."
"Handzeichnungen des Kommandanten selbst?" fragte der
Reisende: "Hat er denn alles in sich vereinigt? War er Soldat,
Richter, Konstrukteur, Chemiker, Zeichner?"
"Jawohl", sagte der Offizier kopfnickend, mit starrem,
nachdenklichem Blick. Dann sah er prüfend seine Hände
an; sie schienen ihm nicht rein genug, um die Zeichnungen anzufassen;
er ging daher zum Kübel und wusch sie nochmals. Dann zog er
eine kleine Ledermappe hervor und sagte: "Unser Urteil klingt
nicht streng. Dem Verurteilten wird das Gebot, das er übertreten
hat, mit der Egge auf den Leib geschrieben. Diesem Verurteilten
zum Beispiel" der Offizier zeigte auf den Mann
"wird auf den Leib geschrieben werden: Ehre deinen Vorgesetzten!"
Der Reisende sah flüchtig auf den Mann hin; er hielt, als
der Offizier auf ihn gezeigt hatte, den Kopf gesenkt und schien
alle Kraft des Gehörs anzuspannen, um etwas zu erfahren. Aber
die Bewegungen seiner wulstig aneinander gedrückten Lippen
zeigten offenbar, dass er nichts verstehen konnte. Der Reisende
hatte Verschiedenes fragen wollen, fragte aber im Anblick des Mannes
nur: "Kennt er sein Urteil?" "Nein", sagte der
Offizier und wollte gleich in seinen Erklärungen fortfahren,
aber der Reisende unterbrach ihn: "Er kennt sein eigenes Urteil
nicht?" "Nein", sagte der Offizier wieder, stockte
dann einen Augenblick, als verlange er vom Reisenden eine nähere
Begründung seiner Frage, und sagte dann: "Es wäre
nutzlos, es ihm zu verkünden. Er erfährt es ja auf seinem
Leib." Der Reisende wollte schon verstummen, da fühlte
er, wie der Verurteilte seinen Blick auf ihn richtete; er schien
zu fragen, ob er den geschilderten Vorgang billigen könne.
Darum beugte sich der Reisende, der sich bereits zurückgelehnt
hatte, wieder vor und fragte noch: "Aber dass er überhaupt
verurteilt wurde, das weiß er doch?" "Auch nicht",
sagte der Offizier und lächelte den Reisenden an, als erwarte
er nun von ihm noch einige sonderbare Eröffnungen. "Nein",
sagte der Reisende und strich sich über die Stirn hin, "dann
weiß also der Mann auch jetzt noch nicht, wie seine Verteidigung
aufgenommen wurde?" "Er hat keine Gelegenheit gehabt,
sich zu verteidigen", sagte der Offizier und sah abseits, als
rede er zu sich selbst und wolle den Reisenden durch Erzählung
dieser ihm selbstverständlichen Dinge nicht beschämen.
"Er muss doch Gelegenheit gehabt haben, sich zu verteidigen",
sagte der Reisende und stand vom Sessel auf.
Der Offizier erkannte, dass er in Gefahr war, in der Erklärung
des Apparates für lange Zeit aufgehalten zu werden; er ging
daher zum Reisenden, hing sich in seinen Arm, zeigte mit der Hand
auf den Verurteilten, der sich jetzt, da die Aufmerksamkeit so offenbar
auf ihn gerichtet war, stramm aufstellte auch zog der Soldat
die Kette an -, und sagte: "Die Sache verhält sich folgendermaßen.
Ich bin hier in der Strafkolonie zum Richter bestellt. Trotz meiner
Jugend. Denn ich stand auch dem früheren Kommandanten in allen
Strafsachen zur Seite und kenne auch den Apparat am besten. Der
Grundsatz, nach dem ich entscheide, ist: Die Schuld ist immer zweifellos.
Andere Gerichte können diesen Grundsatz nicht befolgen, denn
sie sind vielköpfig und haben auch noch höhere Gerichte
über sich. Das ist hier nicht der Fall, oder war es wenigstens
nicht beim früheren Kommandanten. Der neue hat allerdings schon
Lust gezeigt, in mein Gericht sich einzumischen, es ist mir aber
bisher gelungen, ihn abzuwehren, und wird mir auch weiter gelingen.
Sie wollten diesen Fall erklärt haben; er ist so einfach
wie alle. Ein Hauptmann hat heute morgens die Anzeige erstattet,
dass dieser Mann, der ihm als Diener zugeteilt ist und vor seiner
Türe schläft, den Dienst verschlafen hat. Er hat nämlich
die Pflicht, bei jedem Stundenschlag aufzustehen und vor der Tür
des Hauptmanns zu salutieren. Gewiss keine schwere Pflicht und eine
notwendige, denn er soll sowohl zur Bewachung als auch zur Bedienung
frisch bleiben. Der Hauptmann wollte in der gestrigen Nacht nachsehen,
ob der Diener seine Pflicht erfülle. Er öffnete Schlag
zwei Uhr die Tür und fand ihn zusammengekrümmt schlafen.
Er holte die Reitpeitsche und schlug ihm über das Gesicht.
Statt nun aufzustehen und um Verzeihung zu bitten, fasste der Mann
seinen Herrn bei den Beinen, schüttelte ihn und rief: 'Wirf
die Peitsche weg, oder ich fresse dich.' Das ist der Sachverhalt.
Der Hauptmann kam vor einer Stunde zu mir, ich schrieb seine Angaben
auf und anschließend gleich das Urteil. Dann ließ ich
dem Mann die Ketten anlegen. Das alles war sehr einfach. Hätte
ich den Mann zuerst vorgerufen und ausgefragt, so wäre nur
Verwirrung entstanden. Er hätte gelogen, hätte, wenn es
mir gelungen wäre, die Lügen zu widerlegen, diese durch
neue Lügen ersetzt und so fort. Jetzt aber halte ich ihn und
lasse ihn nicht mehr. Ist nun alles erklärt? Aber die
Zeit vergeht, die Exekution sollte schon beginnen, und ich bin mit
der Erklärung des Apparates noch nicht fertig." Er nötigte
den Reisenden auf den Sessel nieder, trat wieder zu dem Apparat
und begann: "Wie Sie sehen, entspricht die Egge der Form des
Menschen; hier ist die Egge für den Oberkörper, hier sind
die Eggen für die Beine. Für den Kopf ist nur dieser kleine
Stichel bestimmt. Ist Ihnen das klar?" Er beugte sich freundlich
zu dem Reisenden vor, bereit zu den umfassendsten Erklärungen.
Der Reisende sah mit gerunzelter Stirn die Egge an. Die Mitteilungen
über das Gerichtsverfahren hatten ihn nicht befriedigt. Immerhin
musste er sich sagen, dass es sich hier um eine Strafkolonie handelte,
dass hier besondere Maßregeln notwendig waren und dass man
bis zum letzten militärisch vorgehen musste. Außerdem
aber setzte er einige Hoffnungen auf den neuen Kommandanten, der
offenbar, allerdings langsam, ein neues Verfahren einzuführen
beabsichtigte, das dem beschränkten Kopf dieses Offiziers nicht
eingehen konnte. Aus diesem Gedankengang heraus fragte der Reisende:
"Wird der Kommandant der Exekution beiwohnen?" "Es
ist nicht gewiss", sagte der Offizier, durch die unvermittelte
Frage peinlich berührt, und seine freundliche Miene verzerrte
sich: "Gerade deshalb müssen wir uns beeilen. Ich werde
sogar, so leid es mir tut, meine Erklärungen abkürzen
müssen. Aber ich könnte ja morgen, wenn der Apparat wieder
gereinigt ist dass er so sehr beschmutzt wird, ist sein einziger
Fehler -, die näheren Erklärungen nachtragen. Jetzt also
nur das Notwendigste. Wenn der Mann auf dem Bett liegt und
dieses ins Zittern gebracht ist, wird die Egge auf den Körper
gesenkt. Sie stellt sich von selbst so ein, dass sie nur knapp mit
den Spitzen den Körper berührt; ist diese Einstellung
vollzogen, strafft sich sofort dieses Stahlseil zu einer Stange.
Und nun beginnt das Spiel. Ein Nichteingeweihter merkt äußerlich
keinen Unterschied in den Strafen. Die Egge scheint gleichförmig
zu arbeiten. Zitternd sticht sie ihre Spitzen in den Körper
ein, der überdies vom Bett aus zittert. Um es nun jedem zu
ermöglichen, die Ausführung des Urteils zu überprüfen,
wurde die Egge aus Glas gemacht. Es hat einige technische Schwierigkeiten
verursacht, die Nadeln darin zu befestigen, es ist aber nach vielen
Versuchen gelungen. Wir haben eben keine Mühe gescheut. Und
nun kann jeder durch das Glas sehen, wie sich die Inschrift im Körper
vollzieht. Wollen Sie nicht näherkommen und sich die Nadeln
ansehen?"
Der Reisende erhob sich langsam, ging hin und beugte sich über
die Egge. "Sie sehen", sagte der Offizier, "zweierlei
Nadeln in vielfacher Anordnung. Jede lange hat eine kurze neben
sich. Die lange schreibt nämlich, und die kurze spritzt Wasser
aus, um das Blut abzuwaschen und die Schrift immer klar zu erhalten.
Das Blutwasser wird dann hier in kleine Rinnen geleitet und fließt
endlich in diese Hauptrinne, deren Abflussrohr in die Grube führt."
Der Offizier zeigte mit dem Finger genau den Weg, den das Blutwasser
nehmen musste. Als er es, um es möglichst anschaulich zu machen,
an der Mündung des Abflussrohres mit beiden Händen förmlich
auffing, erhob der Reisende den Kopf und wollte, mit der Hand rückwärts
tastend, zu seinem Sessel zurückgehen. Da sah er zu seinem
Schrecken, dass auch der Verurteilte gleich ihm der Einladung des
Offiziers, sich die Einrichtung der Egge aus der Nähe anzusehen,
gefolgt war. Er hatte den verschlafenen Soldaten an der Kette ein
wenig vorgezerrt und sich auch über das Glas gebeugt. Man sah,
wie er mit unsicheren Augen auch das suchte, was die zwei Herren
eben beobachtet hatten, wie es ihm aber, da ihm die Erklärung
fehlte, nicht gelingen wollte. Er beugte sich hierhin und dorthin.
Immer wieder lief er mit den Augen das Glas ab. Der Reisende wollte
ihn zurücktreiben, denn, was er tat, war wahrscheinlich strafbar.
Aber der Offizier hielt den Reisenden mit einer Hand fest, nahm
mit der anderen eine Erdscholle vom Wall und warf sie nach dem Soldaten.
Dieser hob mit einem Ruck die Augen, sah, was der Verurteilte gewagt
hatte, ließ das Gewehr fallen, stemmte die Füße
mit den Absätzen in den Boden, riss den Verurteilten zurück,
dass er gleich niederfiel, und sah dann auf ihn hinunter, wie er
sich wand und mit seinen Ketten klirrte. "Stell ihn auf!"
schrie der Offizier, denn er merkte, dass der Reisende durch den
Verurteilten allzusehr abgelenkt wurde. Der Reisende beugte sich
sogar über die Egge hinweg, ohne sich um sie zu kümmern,
und wollte nur feststellen, was mit dem Verurteilten geschehe. "Behandle
ihn sorgfältig!" schrie der Offizier wieder. Er umlief
den Apparat, fasste selbst den Verurteilten unter den Achseln und
stellte ihn, der öfters mit den Füßen ausglitt,
mit Hilfe des Soldaten auf.
"Nun weiß ich schon alles«, sagte der Reisende,
als der Offizier wieder zu ihm zurückkehrte. "Bis auf
das Wichtigste", sagte dieser, ergriff den Reisenden am Arm
und zeigte in die Höhe: "Dort im Zeichner ist das Räderwerk,
welches die Bewegung der Egge bestimmt, und dieses Räderwerk
wird nach der Zeichnung, auf welche das Urteil lautet, angeordnet.
Ich verwende noch die Zeichnungen des früheren Kommandanten.
Hier sind sie" er zog einige Blätter aus der Ledermappe
-, "ich kann sie Ihnen aber leider nicht in die Hand geben,
sie sind das Teuerste, was ich habe. Setzen Sie sich, ich zeige
sie Ihnen aus dieser Entfernung, dann werden Sie alles gut sehen
können." Er zeigte das erste Blatt. Der Reisende hätte
gerne etwas Anerkennendes gesagt, aber er sah nur labyrinthartige,
einander vielfach kreuzende Linien, die so dicht das Papier bedeckten,
daß man nur mit Mühe die weißen Zwischenräume
erkannte. "Lesen Sie", sagte der Offizier. "Ich kann
nicht", sagte der Reisende. "Es ist doch deutlich",
sagte der Offizier."Es ist sehr kunstvoll", sagte der
Reisende ausweichend, "aber ich kann es nicht entziffern."
"Ja", sagte der Offizier, lachte und steckte die Mappe
wieder ein, "es ist keine Schönschrift für Schulkinder.
Man muss lange darin lesen. Auch Sie würden es schließlich
gewiss erkennen. Es darf natürlich keine einfache Schrift sein;
sie soll ja nicht sofort töten, sondern durchschnittlich erst
in einem Zeitraum von zwölf Stunden; für die sechste Stunde
ist der Wendepunkt berechnet. Es müssen also viele, viele Zieraten
die eigentliche Schrift umgeben; die wirkliche Schrift umzieht den
Leib nur in einem schmalen Gürtel; der übrige Körper
ist für Verzierungen bestimmt. Können Sie jetzt die Arbeit
der Egge und des ganzen Apparates würdigen? Sehen Sie
doch!" Er sprang auf die Leiter, drehte ein Rad, rief hinunter:
"Achtung, treten Sie zur Seite!", und alles kam in Gang.
Hätte das Rad nicht gekreischt, es wäre herrlich gewesen.
Als sei der Offizier von diesem störenden Rad überrascht,
drohte er ihm mit der Faust, breitete dann, sich entschuldigend,
zum Reisenden hin die Arme aus und kletterte eilig hinunter, um
den Gang des Apparates von unten zu beobachten. Noch war etwas nicht
in Ordnung, das nur er merkte; er kletterte wieder hinauf, griff
mit beiden Händen in das Innere des Zeichners, glitt dann,
um rascher hinunterzukommen, statt die Leiter zu benutzen, an der
einen Stange hinunter und schrie nun, um sich im Lärm verständlich
zu machen, mit äußerster Anspannung dem Reisenden ins
Ohr: "Begreifen Sie den Vorgang? Die Egge fängt zu schreiben
an; ist sie mit der ersten Anlage der Schrift auf dem Rücken
des Mannes fertig, rollt die Watteschicht und wälzt den Körper
langsam auf die Seite, um der Egge neuen Raum zu bieten. Inzwischen
legen sich die wundbeschriebenen Stellen auf die Watte, welche infolge
der besonderen Präparierung sofort die Blutung stillt und zu
neuer Vertiefung der Schrift vorbereitet. Hier die Zacken am Rande
der Egge reißen dann beim weiteren Umwälzen des Körpers
die Watte von den Wunden, schleudern sie in die Grube, und die Egge
hat wieder Arbeit. So schreibt sie immer tiefer die zwölf Stunden
lang. Die ersten sechs Stunden lebt der Verurteilte fast wie früher,
er leidet nur Schmerzen. Nach zwei Stunden wird der Filz entfernt,
denn der Mann hat keine Kraft zum Schreien mehr. Hier in diesen
elektrisch geheizten Napf am Kopfende wird warmer Reisbrei gelegt,
aus dem der Mann, wenn er Lust hat, nehmen kann, was er mit der
Zunge erhascht. Keiner versäumt die Gelegenheit. Ich weiß
keinen, und meine Erfahrung ist groß. Erst um die sechste
Stunde verliert er das Vergnügen am Essen. Ich knie dann gewöhnlich
hier nieder und beobachte diese Erscheinung. Der Mann schluckt den
letzten Bissen selten, er dreht ihn nur im Mund und speit ihn in
die Grube. Ich muss mich dann bücken, sonst fährt er mir
ins Gesicht. Wie still wird dann aber der Mann um die sechste Stunde!
Verstand geht dem Blödesten auf. Um die Augen beginnt es. Von
hier aus verbreitet es sich. Ein Anblick, der einen verführen
könnte, sich mit unter die Egge zu legen. Es geschieht ja weiter
nichts, der Mann fängt bloß an, die Schrift zu entziffern,
er spitzt den Mund, als horche er. Sie haben gesehen, es ist nicht
leicht, die Schrift mit den Augen zu entziffern; unser Mann entziffert
sie aber mit seinen Wunden. Es ist allerdings viel Arbeit; er braucht
sechs Stunden zu ihrer Vollendung. Dann aber spießt ihn die
Egge vollständig auf und wirft ihn in die Grube, wo er auf
das Blutwasser und die Watte niederklatscht. Dann ist das Gericht
zu Ende, und wir, ich und der Soldat, scharren ihn ein."
Der Reisende hatte das Ohr zum Offizier geneigt und sah, die Hände
in den Rocktaschen, der Arbeit der Maschine zu. Auch der Verurteilte
sah ihr zu, aber ohne Verständnis. Er bückte sich ein
wenig und verfolgte die schwankenden Nadeln, als ihm der Soldat,
auf ein Zeichen des Offiziers, mit einem Messer hinten Hemd und
Hose durchschnitt, so dass sie von dem Verurteilten abfielen; er
wollte nach dem fallenden Zeug greifen, um seine Blöße
zu bedecken, aber der Soldat hob ihn in die Höhe und schüttelte
die letzten Fetzen von ihm ab. Der Offizier stellte die Maschine
ein, und in der jetzt eintretenden Stille wurde der Verurteilte
unter die Egge gelegt. Die Ketten wurden gelöst und statt dessen
die Riemen befestigt; es schien für den Verurteilten im ersten
Augenblick fast wie eine Erleichterung zu bedeuten. Und nun senkte
sich die Egge noch ein Stück tiefer, denn es war ein magerer
Mann. Als ihn die Spitzen berührten, ging ein Schauer über
seine Haut; er streckte, während der Soldat mit seiner rechten
Hand beschäftigt war, die linke aus, ohne zu wissen wohin;
es war aber die Richtung, wo der Reisende stand. Der Offizier sah
ununterbrochen den Reisenden von der Seite an, als suche er von
seinem Gesicht den Eindruck abzulesen, den die Exekution, die er
ihm nun wenigstens oberflächlich erklärt hatte, auf ihn
mache.
Der Riemen, der für das Handgelenk bestimmt war, riss; wahrscheinlich
hatte ihn der Soldat zu stark angezogen. Der Offizier sollte helfen,
der Soldat zeigte ihm das abgerissene Riemenstück. Der Offizier
ging auch zu ihm hinüber und sagte, das Gesicht dem Reisenden
zugewendet: "Die Maschine ist sehr zusammengesetzt, es muss
hie und da etwas reißen oder brechen; dadurch darf man sich
aber im Gesamturteil nicht beirren lassen. Für den Riemen ist
übrigens sofort Ersatz geschafft; ich werde eine Kette verwenden;
die Zartheit der Schwingung wird dadurch für den rechten Arm
allerdings beeinträchtigt." Und während er die Ketten
anlegte, sagte er noch: "Die Mittel zur Erhaltung der Maschine
sind jetzt sehr eingeschränkt. Unter dem früheren Kommandanten
war eine mir frei zugängliche Kassa nur für diesen Zweck
bestimmt. Es gab hier ein Magazin, in dem alle möglichen Ersatzstücke
aufbewahrt wurden. Ich gestehe, ich trieb damit fast Verschwendung,
ich meine früher, nicht jetzt, wie der neue Kommandant behauptet,
dem alles nur zum Vorwand dient, alte Einrichtungen zu bekämpfen.
Jetzt hat er die Maschinenkassa in eigener Verwaltung, und schicke
ich um einen neuen Riemen, wird der zerrissene als Beweisstück
verlangt, der neue kommt erst in zehn Tagen, ist dann aber von schlechterer
Sorte und taugt nicht viel. Wie ich aber in der Zwischenzeit ohne
Riemen die Maschine betreiben soll, darum kümmert sich niemand."
Der Reisende überlegte: Es ist immer bedenklich, in fremde
Verhältnisse entscheidend einzugreifen. Er war weder Bürger
der Strafkolonie, noch Bürger des Staates, dem sie angehörte.
Wenn er die Exekution verurteilen oder gar hintertreiben wollte,
konnte man ihm sagen: Du bist ein Fremder, sei still. Darauf hätte
er nichts erwidern, sondern nur hinzufügen können, dass
er sich in diesem Falle selbst nicht begreife, denn er reise nur
mit der Absicht, zu sehen, und keineswegs etwa, um fremde Gerichtsverfassungen
zu ändern. Nun lagen aber hier die Dinge allerdings sehr verführerisch.
Die Ungerechtigkeit des Verfahrens und die Unmenschlichkeit der
Exekution war zweifellos. Niemand konnte irgendeine Eigennützigkeit
des Reisenden annehmen, denn der Verurteilte war ihm fremd, kein
Landsmann und ein zum Mitleid gar nicht auffordernder Mensch. Der
Reisende selbst hatte Empfehlungen hoher Ämter, war hier mit
großer Höflichkeit empfangen worden, und dass er zu dieser
Exekution eingeladen worden war, schien sogar darauf hinzudeuten,
dass man sein Urteil über dieses Gericht verlangte. Dies war
aber um so wahrscheinlicher, als der Kommandant, wie er jetzt überdeutlich
gehört hatte, kein Anhänger dieses Verfahrens war und
sich gegenüber dem Offizier fast feindselig verhielt.
Da hörte der Reisende einen Wutschrei des Offiziers. Er hatte
gerade, nicht ohne Mühe, dem Verurteilten den Filzstumpf in
den Mund geschoben, als der Verurteilte in einem unwiderstehlichen
Brechreiz die Augen schloss und sich erbrach. Eilig riss ihn der
Offizier vom Stumpf in die Höhe und wollte den Kopf zur Grube
hindrehen; aber es war zu spät, der Unrat floss schon an der
Maschine hinab. "Alles Schuld des Kommandanten!" schrie
der Offizier und rüttelte besinnungslos vorn an den Messingstangen,
"die Maschine wird mir verunreinigt wie ein Stall." Er
zeigte mit zitternden Händen dem Reisenden, was geschehen war.
"Habe ich nicht stundenlang dem Kommandanten begreiflich zu
machen gesucht, dass einen Tag vor der Exekution kein Essen mehr
verabfolgt werden soll. Aber die neue milde Richtung ist anderer
Meinung. Die Damen des Kommandanten stopfen dem Mann, ehe er abgeführt
wird, den Hals mit Zuckersachen voll. Sein ganzes Leben hat er sich
von stinkenden Fischen genährt und muss jetzt Zuckersachen
essen! Aber es wäre ja möglich, ich würde nichts
einwenden, aber warum schafft man nicht einen neuen Filz an, wie
ich ihn seit einem Vierteljahr erbitte. Wie kann man ohne Ekel diesen
Filz in den Mund nehmen, an dem mehr als hundert Männer im
Sterben gesaugt und gebissen haben?"
Der Verurteilte hatte den Kopf niedergelegt und sah friedlich aus,
der Soldat war damit beschäftigt, mit dem Hemd des Verurteilten
die Maschine zu putzen. Der Offizier ging zum Reisenden, der in
irgendeiner Ahnung einen Schritt zurücktrat, aber der Offizier
fasste ihn bei der Hand und zog ihn zur Seite. "Ich will einige
Worte im Vertrauen mit Ihnen sprechen", sagte er, "ich
darf das doch?" "Gewiss", sagte der Reisende und
hörte mit gesenkten Augen zu.
"Dieses Verfahren und diese Hinrichtung, die Sie jetzt zu
bewundern Gelegenheit haben, hat gegenwärtig in unserer Kolonie
keinen offenen Anhänger mehr. Ich bin ihr einziger Vertreter,
gleichzeitig der einzige Vertreter des Erbes des alten Kommandanten.
An einen weiteren Ausbau des Verfahrens kann ich nicht mehr denken,
ich verbrauche alle meine Kräfte, um zu erhalten, was vorhanden
ist. Als der alte Kommandant lebte, war die Kolonie von seinen Anhängern
voll; die Überzeugungskraft des alten Kommandanten habe ich
zum Teil, aber seine Macht fehlt mir ganz; infolgedessen haben sich
die Anhänger verkrochen, es gibt noch viele, aber keiner gesteht
es ein. Wenn Sie heute, also an einem Hinrichtungstag, ins Teehaus
gehen und herumhorchen, werden Sie vielleicht nur zweideutige Äußerungen
hören. Das sind lauter Anhänger, aber unter dem gegenwärtigen
Kommandanten und bei seinen gegenwärtigen Anschauungen für
mich ganz unbrauchbar. Und nun frage ich Sie: Soll wegen dieses
Kommandanten und seiner Frauen, die ihn beeinflussen, ein solches
Lebenswerk" er zeigte auf die Maschine "zugrunde
gehen? Darf man das zulassen? Selbst wenn man nur als Fremder ein
paar Tage auf unserer Insel ist? Es ist aber keine Zeit zu verlieren,
man bereitet schon etwas gegen meine Gerichtsbarkeit vor; es finden
schon Beratungen in der Kommandantur statt, zu denen ich nicht zugezogen
werde; sogar Ihr heutiger Besuch scheint mir für die ganze
Lage bezeichnend; man ist feig und schickt Sie, einen Fremden, vor.
Wie war die Exekution anders in früherer Zeit! Schon
einen Tag vor der Hinrichtung war das ganze Tal von Menschen überfüllt;
alle kamen nur um zu sehen; früh am Morgen erschien der Kommandant
mit seinen Damen; Fanfaren weckten den ganzen Lagerplatz; ich erstattete
die Meldung, dass alles vorbereitet sei; die Gesellschaft
kein hoher Beamte durfte fehlen ordnete sich um die Maschine;
dieser Haufen Rohrsessel ist ein armseliges Überbleibsel aus
jener Zeit. Die Maschine glänzte frisch geputzt, fast zu jeder
Exekution nahm ich neue Ersatzstücke. Vor Hunderten Augen
alle Zuschauer standen auf den Fußspitzen bis dort zu den
Anhöhen wurde der Verurteilte vom Kommandanten selbst
unter die Egge gelegt. Was heute ein gemeiner Soldat tun darf, war
damals meine, des Gerichtspräsidenten, Arbeit und ehrte mich.
Und nun begann die Exekution! Kein Misston störte die Arbeit
der Maschine. Manche sahen nun gar nicht mehr zu, sondern lagen
mit geschlossenen Augen im Sand; alle wussten: jetzt geschieht Gerechtigkeit.
In der Stille hörte man nur das Seufzen des Verurteilten, gedämpft
durch den Filz. Heute gelingt es der Maschine nicht mehr, dem Verurteilten
ein stärkeres Seufzen auszupressen, als der Filz noch ersticken
kann; damals aber tropften die schreibenden Nadeln eine beizende
Flüssigkeit aus, die heute nicht mehr verwendet werden darf.
Nun, und dann kam die sechste Stunde! Es war unmöglich, allen
die Bitte, aus der Nähe zuschauen zu dürfen, zu gewähren.
Der Kommandant in seiner Einsicht ordnete an, dass vor allem die
Kinder berücksichtigt werden sollten; ich allerdings durfte
kraft meines Berufes immer dabeistehen; oft hockte ich dort, zwei
kleine Kinder rechts und links in meinen Armen. Wie nahmen wir alle
den Ausdruck der Verklärung von dem gemarterten Gesicht, wie
hielten wir unsere Wangen in den Schein dieser endlich erreichten
und schon vergehenden Gerechtigkeit! Was für Zeiten, mein Kamerad!"
Der Offizier hatte offenbar vergessen, wer vor ihm stand; er hatte
den Reisenden umarmt und den Kopf auf seine Schulter gelegt. Der
Reisende war in großer Verlegenheit, ungeduldig sah er über
den Offizier hinweg. Der Soldat hatte die Reinigungsarbeit beendet
und jetzt noch aus einer Büchse Reisbrei in den Napf geschüttet.
Kaum merkte dies der Verurteilte, der sich schon vollständig
erholt zu haben schien, als er mit der Zunge nach dem Brei zu schnappen
begann. Der Soldat stieß ihn immer wieder weg, denn der Brei
war wohl für eine spätere Zeit bestimmt, aber ungehörig
war es jedenfalls auch, dass der Soldat mit seinen schmutzigen Händen
hineingriff und vor dem gierigen Verurteilten davon aß.
Der Offizier fasste sich schnell. "Ich wollte Sie nicht etwa
rühren", sagte er, "ich weiß, es ist unmöglich,
jene Zeiten heute begreiflich zu machen. Im übrigen arbeitet
die Maschine noch und wirkt für sich. Sie wirkt für sich,
auch wenn sie allein in diesem Tal steht. Und die Leiche fällt
zum Schluss noch immer in dem unbegreiflich sanften Flug in die
Grube, auch wenn nicht, wie damals, Hunderte wie Fliegen um die
Grube sich versammeln. Damals mussten wir ein starkes Geländer
um die Grube anbringen, es ist längst weggerissen."
Der Reisende wollte sein Gesicht dem Offizier entziehen und blickte
ziellos herum. Der Offizier glaubte, er betrachte die Öde des
Tales; er ergriff deshalb seine Hände, drehte sich um ihn,
um seine Blicke zu erfassen, und fragte: "Merken Sie die Schande?"
Aber der Reisende schwieg. Der Offizier ließ für ein
Weilchen von ihm ab; mit auseinandergestellten Beinen, die Hände
in den Hüften, stand er still und blickte zu Boden. Dann lächelte
er dem Reisenden aufmunternd zu und sagte: "Ich war gestern
in Ihrer Nähe, als der Kommandant Sie einlud. Ich hörte
die Einladung. Ich kenne den Kommandanten. Ich verstand sofort,
was er mit der Einladung bezweckte. Trotzdem seine Macht groß
genug wäre, um gegen mich einzuschreiten, wagt er es noch nicht,
wohl aber will er mich Ihrem, dem Urteil eines angesehenen Fremden
aussetzen. Seine Berechnung ist sorgfältig; Sie sind den zweiten
Tag auf der Insel, Sie kannten den alten Kommandanten und seinen
Gedankenkreis nicht, Sie sind in europäischen Anschauungen
befangen, vielleicht sind Sie ein grundsätzlicher Gegner der
Todesstrafe im allgemeinen und einer derartigen maschinellen Hinrichtungsart
im besonderen, Sie sehen überdies, wie die Hinrichtung ohne
öffentliche Anteilnahme, traurig, auf einer bereits etwas beschädigten
Maschine vor sich geht wäre es nun, alles dieses zusammengenommen
(so denkt der Kommandant), nicht sehr leicht möglich, dass
Sie mein Verfahren nicht für richtig halten? Und wenn Sie es
nicht für richtig halten, werden Sie dies (ich rede noch immer
im Sinne des Kommandanten) nicht verschweigen, denn Sie vertrauen
doch gewiß Ihren vielerprobten Überzeugungen. Sie haben
allerdings viele Eigentümlichkeiten vieler Völker gesehen
und achten gelernt, Sie werden daher wahrscheinlich sich nicht mit
ganzer Kraft, wie Sie es vielleicht in Ihrer Heimat tun würden,
gegen das Verfahren aussprechen. Aber dessen bedarf der Kommandant
gar nicht. Ein flüchtiges, ein bloß unvorsichtiges Wort
genügt. Es muss gar nicht Ihrer Überzeugung entsprechen,
wenn es nur scheinbar seinem Wunsche entgegenkommt. Dass er Sie
mit aller Schlauheit ausfragen wird, dessen bin ich gewiss. Und
seine Damen werden im Kreis herumsitzen und die Ohren spitzen; Sie
werden etwa sagen: 'Bei uns ist das Gerichtsverfahren ein anderes',
oder 'Bei uns wird der Angeklagte vor dem Urteil verhört',
oder 'Bei uns gab es Folterungen nur im Mittelalter'. Das alles
sind Bemerkungen, die ebenso richtig sind, als sie Ihnen selbstverständlich
erscheinen, unschuldige Bemerkungen, die mein Verfahren nicht antasten.
Aber wie wird sie der Kommandant aufnehmen? Ich sehe ihn, den guten
Kommandanten, wie er sofort den Stuhl beiseite schiebt und auf den
Balkon eilt, ich sehe seine Damen, wie sie ihm nachströmen,
ich höre seine Stimme die Damen nennen sie eine Donnerstimme
-, nun, und er spricht: 'Ein großer Forscher des Abendlandes,
dazu bestimmt, das Gerichtsverfahren in allen Ländern zu überprüfen,
hat eben gesagt, dass unser Verfahren nach altem Brauch ein unmenschliches
ist. Nach diesem Urteil einer solchen Persönlichkeit ist es
mir natürlich nicht mehr möglich, dieses Verfahren zu
dulden. Mit dem heutigen Tage also ordne ich an und so weiter.'
Sie wollen eingreifen, Sie haben nicht das gesagt, was er verkündet,
Sie haben mein Verfahren nicht unmenschlich genannt, im Gegenteil,
Ihrer tiefen Einsicht entsprechend, halten Sie es für das menschlichste
und menschenwürdigste, Sie bewundern auch diese Maschinerie
aber es ist zu spät; Sie kommen gar nicht auf den Balkon,
der schon voll Damen ist; Sie wollen sich bemerkbar machen; Sie
wollen schreien; aber eine Damenhand hält Ihnen den Mund zu
und ich und das Werk des alten Kommandanten sind verloren."
Der Reisende musste ein Lächeln unterdrücken; so leicht
war also die Aufgabe, die er für so schwer gehalten hatte.
Er sagte ausweichend: "Sie überschätzen meinen Einfluss;
der Kommandant hat mein Empfehlungsschreiben gelesen, er weiß,
dass ich kein Kenner der gerichtlichen Verfahren bin. Wenn ich eine
Meinung aussprechen würde, so wäre es die Meinung eines
Privatmannes, um nichts bedeutender als die Meinung eines beliebigen
anderen, und jedenfalls viel bedeutungsloser als die Meinung des
Kommandanten, der in dieser Strafkolonie, wie ich zu wissen glaube,
sehr ausgedehnte Rechte hat. Ist seine Meinung über dieses
Verfahren eine so bestimmte, wie Sie glauben, dann, fürchte
ich, ist allerdings das Ende dieses Verfahrens gekommen, ohne dass
es meiner bescheidenen Mithilfe bedürfte."
Begriff es schon der Offizier? Nein, er begriff noch nicht. Er
schüttelte lebhaft den Kopf, sah kurz nach dem Verurteilten
und dem Soldaten zurück, die zusammenzuckten und vom Reis abließen,
ging ganz nahe an den Reisenden heran, blickte ihm nicht ins Gesicht,
sondern irgendwohin auf seinen Rock und sagte leiser als früher:
"Sie kennen den Kommandanten nicht; Sie stehen ihm und uns
allen verzeihen Sie den Ausdruck gewissermaßen
harmlos gegenüber; Ihr Einfluss, glauben Sie mir, kann nicht
hoch genug eingeschätzt werden. Ich war ja glückselig,
als ich hörte, dass Sie allein der Exekution beiwohnen sollten.
Diese Anordnung des Kommandanten sollte mich treffen, nun aber wende
ich sie zu meinen Gunsten. Unabgelenkt von falschen Einflüsterungen
und verächtlichen Blicken wie sie bei größerer
Teilnahme an der Exekution nicht hätten vermieden werden können
haben Sie meine Erklärungen angehört, die Maschine
gesehen und sind nun im Begriffe, die Exekution zu besichtigen.
Ihr Urteil steht gewiss schon fest; sollten noch kleine Unsicherheiten
bestehen, so wird sie der Anblick der Exekution beseitigen. Und
nun stelle ich an Sie die Bitte: helfen Sie mir gegenüber dem
Kommandanten!"
Der Reisende ließ ihn nicht weiterreden. "Wie könnte
ich denn das", rief er aus, "das ist ganz unmöglich.
Ich kann Ihnen ebensowenig nützen, als ich Ihnen schaden kann."
"Sie können es", sagte der Offizier. Mit einiger
Befürchtung sah der Reisende, dass der Offizier die Fäuste
ballte. "Sie können es", wiederholte der Offizier
noch dringender. "Ich habe einen Plan, der gelingen muss. Sie
glauben, Ihr Einfluss genüge nicht. Ich weiß, dass er
genügt. Aber zugestanden, dass Sie Recht haben, ist es dann
nicht notwendig, zur Erhaltung dieses Verfahrens alles, selbst das
möglicherweise Unzureichende zu versuchen? Hören Sie also
meinen Plan. Zu seiner Ausführung ist es vor allem nötig,
dass Sie heute in der Kolonie mit Ihrem Urteil über das Verfahren
möglichst zurückhalten. Wenn man Sie nicht geradezu fragt,
dürfen Sie sich keinesfalls äußern; Ihre Äußerungen
aber müssen kurz und unbestimmt sein; man soll merken, dass
es Ihnen schwer wird, darüber zu sprechen, dass Sie verbittert
sind, dass Sie, falls Sie offen reden sollten, geradezu in Verwünschungen
ausbrechen müssten. Ich verlange nicht, dass Sie lügen
sollen; keineswegs; Sie sollen nur kurz antworten, etwa: 'Ja, ich
habe die Exekution gesehen', oder 'Ja, ich habe alle Erklärungen
gehört'. Nur das, nichts weiter. Für die Verbitterung,
die man Ihnen anmerken soll, ist ja genügend Anlass, wenn auch
nicht im Sinne des Kommandanten. Er natürlich wird es vollständig
missverstehen und in seinem Sinne deuten. Darauf gründet sich
mein Plan. Morgen findet in der Kommandantur unter dem Vorsitz des
Kommandanten eine große Sitzung aller höheren Verwaltungsbeamten
statt. Der Kommandant hat es natürlich verstanden, aus solchen
Sitzungen eine Schaustellung zu machen. Es wurde eine Galerie gebaut,
die mit Zuschauern immer besetzt ist. Ich bin gezwungen, an den
Beratungen teilzunehmen, aber der Widerwille schüttelt mich.
Nun werden Sie gewiss auf jeden Fall zu der Sitzung eingeladen werden;
wenn Sie sich heute meinem Plane gemäß verhalten, wird
die Einladung zu einer dringenden Bitte werden. Sollten Sie aber
aus irgendeinem unerfindlichen Grunde doch nicht eingeladen werden,
so müssten Sie allerdings die Einladung verlangen; dass Sie
sie dann erhalten, ist zweifellos. Nun sitzen Sie also morgen mit
den Damen in der Loge des Kommandanten. Er versichert sich öfters
durch Blicke nach oben, dass Sie da sind. Nach verschiedenen gleichgültigen,
lächerlichen, nur für die Zuhörer berechneten Verhandlungsgegenständen
meistens sind es Hafenbauten, immer wieder Hafenbauten!
kommt auch das Gerichtsverfahren zur Sprache. Sollte es von seiten
des Kommandanten nicht oder nicht bald genug geschehen, so werde
ich dafür sorgen, dass es geschieht. Ich werde aufstehen und
die Meldung von der heutigen Exekution erstatten. Ganz kurz, nur
diese Meldung. Eine solche Meldung ist zwar dort nicht üblich,
aber ich tue es doch. Der Kommandant dankt mir, wie immer, mit freundlichem
Lächeln, und nun, er kann sich nicht zurückhalten, erfasst
er die gute Gelegenheit. 'Es wurde eben', so oder ähnlich wird
er sprechen, 'die Meldung von der Exekution erstattet. Ich möchte
dieser Meldung nur hinzufügen, dass gerade dieser Exekution
der große Forscher beigewohnt hat, von dessen unsere Kolonie
so außerordentlich ehrendem Besuch Sie alle wissen. Auch unsere
heutige Sitzung ist durch seine Anwesenheit in ihrer Bedeutung erhöht.
Wollen wir nun nicht an diesen großen Forscher die Frage richten,
wie er die Exekution nach altem Brauch und das Verfahren, das ihr
vorausgeht, beurteilt?' Natürlich überall Beifallklatschen,
allgemeine Zustimmung, ich bin der Lauteste. Der Kommandant verbeugt
sich vor Ihnen und sagt: 'Dann stelle ich im Namen aller die Frage.'
Und nun treten Sie an die Brüstung. Legen Sie die Hände
für alle sichtbar hin, sonst fassen sie die Damen und spielen
mit den Fingern. Und jetzt kommt endlich Ihr Wort. Ich weiß
nicht, wie ich die Spannung der Stunden bis dahin ertragen werde.
In Ihrer Rede müssen Sie sich keine Schranken setzen, machen
Sie mit der Wahrheit Lärm, beugen Sie sich über die Brüstung,
brüllen Sie, aber ja, brüllen Sie dem Kommandanten Ihre
Meinung, Ihre unerschütterliche Meinung zu. Aber vielleicht
wollen Sie das nicht, es entspricht nicht Ihrem Charakter, in Ihrer
Heimat verhält man sich vielleicht in solchen Lagen anders,
auch das ist richtig, auch das genügt vollkommen, stehen Sie
gar nicht auf, sagen Sie nur ein paar Worte, flüstern Sie sie,
dass sie gerade noch die Beamten unter Ihnen hören, es genügt,
Sie müssen gar nicht selbst von der mangelnden Teilnahme an
der Exekution, von dem kreischenden Rad, dem zerrissenen Riemen,
dem widerlichen Filz reden, nein, alles Weitere übernehme ich,
und, glauben Sie, wenn meine Rede ihn nicht aus dem Saale jagt,
so wird sie ihn auf die Knie zwingen, dass er bekennen muss: Alter
Kommandant, vor dir beuge ich mich. Das ist mein Plan; wollen
Sie mir zu seiner Ausführung helfen? Aber natürlich wollen
Sie, mehr als das, Sie müssen." Und der Offizier fasste
den Reisenden an beiden Armen und sah ihm schwer atmend ins Gesicht.
Die letzten Sätze hatte er so geschrien, dass selbst der Soldat
und der Verurteilte aufmerksam geworden waren; trotzdem sie nichts
verstehen konnten, hielten sie doch im Essen inne und sahen kauend
zum Reisenden hinüber.
Die Antwort, die er zu geben hatte, war für den Reisenden
von allem Anfang an zweifellos; er hatte in seinem Leben zu viel
erfahren, als dass er hier hätte schwanken können; er
war im Grunde ehrlich und hatte keine Furcht. Trotzdem zögerte
er jetzt im Anblick des Soldaten und des Verurteilten einen Atemzug
lang. Schließlich aber sagte er, wie er musste: "Nein."
Der Offizier blinzelte mehrmals mit den Augen, ließ aber keinen
Blick von ihm. "Wollen Sie eine Erklärung?" fragte
der Reisende. Der Offizier nickte stumm. "Ich bin ein Gegner
dieses Verfahrens", sagte nun der Reisende, "noch ehe
Sie mich ins Vertrauen zogen dieses Vertrauen werde ich natürlich
unter keinen Umständen missbrauchen -, habe ich schon überlegt,
ob ich berechtigt wäre, gegen dieses Verfahren einzuschreiten,
und ob mein Einschreiten auch nur eine kleine Aussicht auf Erfolg
haben könnte. An wen ich mich dabei zuerst wenden müsste,
war mir klar: an den Kommandanten natürlich. Sie haben es mir
noch klarer gemacht, ohne aber etwa meinen Entschluss erst befestigt
zu haben, im Gegenteil, Ihre ehrliche Überzeugung geht mir
nahe, wenn sie mich auch nicht beirren kann."
Zeichnung: Franz Kafka
Der Offizier blieb stumm, wendete sich der Maschine zu, fasste
eine der Messingstangen und sah dann, ein wenig zurückgebeugt,
zum Zeichner hinauf, als prüfe er, ob alles in Ordnung sei.
Der Soldat und der Verurteilte schienen sich miteinander befreundet
zu haben; der Verurteilte machte, so schwierig dies bei der festen
Einschnallung durchzuführen war, dem Soldaten Zeichen; der
Soldat beugte sich zu ihm; der Verurteilte flüsterte ihm etwas
zu, und der Soldat nickte. Der Reisende ging dem Offizier nach und
sagte: "Sie wissen noch nicht, was ich tun will. Ich werde
meine Ansicht über das Verfahren dem Kommandanten zwar sagen,
aber nicht in einer Sitzung, sondern unter vier Augen; ich werde
auch nicht so lange hier bleiben, dass ich irgendeiner Sitzung beigezogen
werden könnte; ich fahre schon morgen früh weg oder schiffe
mich wenigstens ein."
Es sah nicht aus, als ob der Offizier zugehört hätte.
"Das Verfahren hat Sie also nicht überzeugt", sagte
er für sich und lächelte, wie ein Alter über den
Unsinn eines Kindes lächelt und hinter dem Lächeln sein
eigenes wirkliches Nachdenken behält.
"Dann ist es also Zeit", sagte er schließlich und
blickte plötzlich mit hellen Augen, die irgendeine Aufforderung,
irgendeinen Aufruf zur Beteiligung enthielten, den Reisenden an.
"Wozu ist es Zeit?" fragte der Reisende unruhig, bekam
aber keine Antwort.
"Du bist frei", sagte der Offizier zum Verurteilten in
dessen Sprache. Dieser glaubte es zuerst nicht. "Nun, frei
bist du", sagte der Offizier. Zum erstenmal bekam das Gesicht
des Verurteilten wirkliches Leben. War es Wahrheit? War es nur eine
Laune des Offiziers, die vorübergehen konnte? Hatte der fremde
Reisende ihm Gnade erwirkt? Was war es? So schien sein Gesicht zu
fragen. Aber nicht lange. Was immer es sein mochte, er wollte, wenn
er durfte, wirklich frei sein und er begann sich zu rütteln,
soweit es die Egge erlaubte.
"Du zerreißt mir die Riemen", schrie der Offizier,
"sei ruhig! Wir öffnen sie schon." Und er machte
sich mit dem Soldaten, dem er ein Zeichen gab, an die Arbeit. Der
Verurteilte lachte ohne Worte leise vor sich hin, bald wendete er
das Gesicht links zum Offizier, bald rechts zum Soldaten, auch den
Reisenden vergaß er nicht.
"Zieh ihn heraus", befahl der Offizier dem Soldaten.
Es musste hierbei wegen der Egge einige Vorsicht angewendet werden.
Der Verurteilte hatte schon infolge seiner Ungeduld einige kleine
Risswunden auf dem Rücken.
Von jetzt ab kümmerte sich aber der Offizier kaum mehr um
ihn. Er ging auf den Reisenden zu, zog wieder die kleine Ledermappe
hervor, blätterte in ihr, fand schließlich das Blatt,
das er suchte, und zeigte es dem Reisenden. "Lesen Sie",
sagte er. "Ich kann nicht", sagte der Reisende, "ich
sagte schon, ich kann diese Blätter nicht lesen." "Sehen
Sie das Blatt doch genau an", sagte der Offizier und trat neben
den Reisenden, um mit ihm zu lesen. Als auch das nichts half, fuhr
er mit dem kleinen Finger in großer Höhe, als dürfe
das Blatt auf keinen Fall berührt werden, über das Papier
hin, um auf diese Weise dem Reisenden das Lesen zu erleichtern.
Der Reisende gab sich auch Mühe, um wenigstens darin dem Offizier
gefällig sein zu können, aber es war ihm unmöglich.
Nun begann der Offizier die Aufschrift zu buchstabieren und dann
las er sie noch einmal im Zusammenhang. "'Sei gerecht!'
heißt es", sagte er, "jetzt können Sie es doch
lesen." Der Reisende beugte sich so tief über das Papier,
dass der Offizier aus Angst vor einer Berührung es weiter entfernte;
nun sagte der Reisende zwar nichts mehr, aber es war klar, dass
er es noch immer nicht hatte lesen können. "'Sei gerecht!'
heißt es", sagte der Offizier nochmals. "Mag
sein", sagte der Reisende, "ich glaube es, dass es dort
steht." "Nun gut", sagte der Offizier, wenigstens
teilweise befriedigt, und stieg mit dem Blatt auf die Leiter; er
bettete das Blatt mit großer Vorsicht im Zeichner und ordnete
das Räderwerk scheinbar gänzlich um; es war eine sehr
mühselige Arbeit, es musste sich auch um ganz kleine Räder
handeln, manchmal verschwand der Kopf des Offiziers völlig
im Zeichner, so genau musste er das Räderwerk untersuchen.
Der Reisende verfolgte von unten diese Arbeit ununterbrochen, der
Hals wurde ihm steif, und die Augen schmerzten ihn von dem mit Sonnenlicht
überschütteten Himmel. Der Soldat und der Verurteilte
waren nur miteinander beschäftigt. Das Hemd und die Hose des
Verurteilten, die schon in der Grube lagen, wurden vom Soldaten
mit der Bajonettspitze herausgezogen. Das Hemd war entsetzlich schmutzig,
und der Verurteilte wusch es in dem Wasserkübel. Als er dann
Hemd und Hose anzog, musste der Soldat wie der Verurteilte laut
lachen, denn die Kleidungsstücke waren doch hinten entzweigeschnitten.
Vielleicht glaubte der Verurteilte, verpflichtet zu sein, den Soldaten
zu unterhalten, er drehte sich in der zerschnittenen Kleidung im
Kreise vor dem Soldaten, der auf dem Boden hockte und lachend auf
seine Knie schlug. Immerhin bezwangen sie sich noch mit Rücksicht
auf die Anwesenheit der Herren.
Als der Offizier oben endlich fertiggeworden war, überblickte
er noch einmal lächelnd das Ganze in allen seinen Teilen, schlug
diesmal den Deckel des Zeichners zu, der bisher offen gewesen war,
stieg hinunter, sah in die Grube und dann auf den Verurteilten,
merkte befriedigt, dass dieser seine Kleidung herausgenommen hatte,
ging dann zu dem Wasserkübel, um die Hände zu waschen,
erkannte zu spät den widerlichen Schmutz, war traurig darüber,
dass er nun die Hände nicht waschen konnte, tauchte sie schließlich
dieser Ersatz genügte ihm nicht, aber er musste sich
fügen in den Sand, stand dann auf und begann seinen
Uniformrock aufzuknöpfen. Hierbei fielen ihm zunächst
die zwei Damentaschentücher, die er hinter den Kragen gezwängt
hatte, in die Hände. "Hier hast du deine Taschentücher",
sagte er und warf sie dem Verurteilten zu. Und zum Reisenden sagte
er erklärend: "Geschenke der Damen."
Trotz der offenbaren Eile, mit der er den Uniformrock auszog und
sich dann vollständig entkleidete, behandelte er doch jedes
Kleidungsstück sehr sorgfältig, über die Silberschnüre
an seinem Waffenrock strich er sogar eigens mit den Fingern hin
und schüttelte eine Troddel zurecht. Wenig passte es allerdings
zu dieser Sorgfalt, dass er, sobald er mit der Behandlung eines
Stückes fertig war, es dann sofort mit einem unwilligen Ruck
in die Grube warf. Das letzte, was ihm übrigblieb, war sein
kurzer Degen mit dem Tragriemen. Er zog den Degen aus der Scheide,
zerbrach ihn, fasste dann alles zusammen, die Degenstücke,
die Scheide und den Riemen, und warf es so heftig weg, dass es unten
in der Grube aneinanderklang.
Nun stand er nackt da. Der Reisende biss sich auf die Lippen und
sagte nichts. Er wusste zwar, was geschehen würde, aber er
hatte kein Recht, den Offizier an irgend etwas zu hindern. War das
Gerichtsverfahren, an dem der Offizier hing, wirklich so nahe daran,
behoben zu werden möglicherweise infolge des Einschreitens
des Reisenden, zu dem sich dieser seinerseits verpflichtet fühlte
-, dann handelte jetzt der Offizier vollständig richtig; der
Reisende hätte an seiner Stelle nicht anders gehandelt.
Der Soldat und der Verurteilte verstanden zuerst nichts, sie sahen
anfangs nicht einmal zu. Der Verurteilte war sehr erfreut darüber,
die Taschentücher zurückerhalten zu haben, aber er durfte
sich nicht lange an ihnen freuen, denn der Soldat nahm sie ihm mit
einem raschen, nicht vorherzusehenden Griff. Nun versuchte wieder
der Verurteilte, dem Soldaten die Tücher hinter dem Gürtel,
hinter dem er sie verwahrt hatte, hervorzuziehen, aber der Soldat
war wachsam. So stritten sie in halbem Scherz. Erst als der Offizier
vollständig nackt war, wurden sie aufmerksam. Besonders der
Verurteilte schien von der Ahnung irgendeines großen Umschwungs
getroffen zu sein. Was ihm geschehen war, geschah nun dem Offizier.
Vielleicht würde es so bis zum Äußersten gehen.
Wahrscheinlich hatte der fremde Reisende den Befehl dazu gegeben.
Das war also Rache. Ohne selbst bis zum Ende gelitten zu haben,
wurde er doch bis zum Ende gerächt. Ein breites lautloses Lachen
erschien nun auf seinem Gesicht und verschwand nicht mehr.
Der Offizier aber hatte sich der Maschine zugewendet. Wenn es schon
früher deutlich gewesen war, dass er die Maschine gut verstand,
so konnte es jetzt einen fast bestürzt machen, wie er mit ihr
umging und wie sie gehorchte. Er hatte die Hand der Egge nur genähert,
und sie hob und senkte sich mehrmals, bis sie die richtige Lage
erreicht hatte, um ihn zu empfangen; er fasste das Bett nur am Rande,
und es fing schon zu zittern an; der Filzstumpf kam seinem Mund
entgegen, man sah, wie der Offizier ihn eigentlich nicht haben wollte,
aber das Zögern dauerte nur einen Augenblick, gleich fügte
er sich und nahm ihn auf. Alles war bereit, nur die Riemen hingen
noch an den Seiten herunter, aber sie waren offenbar unnötig,
der Offizier musste nicht angeschnallt sein. Da bemerkte der Verurteilte
die losen Riemen, seiner Meinung nach war die Exekution nicht vollkommen,
wenn die Riemen nicht festgeschnallt waren, er winkte eifrig dem
Soldaten, und sie liefen hin, den Offizier anzuschnallen. Dieser
hatte schon den einen Fuß ausgestreckt, um in die Kurbel zu
stoßen, die den Zeichner in Gang bringen sollte; da sah er,
dass die zwei gekommen waren; er zog daher den Fuß zurück
und ließ sich anschnallen. Nun konnte er allerdings die Kurbel
nicht mehr erreichen; weder der Soldat noch der Verurteilte würden
sie auffinden, und der Reisende war entschlossen, sich nicht zu
rühren. Es war nicht nötig; kaum waren die Riemen angebracht,
fing auch schon die Maschine zu arbeiten an; das Bett zitterte,
die Nadeln tanzten auf der Haut, die Egge schwebte auf und ab. Der
Reisende hatte schon eine Weile hingestarrt, ehe er sich erinnerte,
dass ein Rad im Zeichner hätte kreischen sollen; aber alles
war still, nicht das geringste Surren war zu hören.
Durch diese stille Arbeit entschwand die Maschine förmlich
der Aufmerksamkeit. Der Reisende sah zu dem Soldaten und dem Verurteilten
hinüber. Der Verurteilte war der Lebhaftere, alles an der Maschine
interessierte ihn, bald beugte er sich nieder, bald streckte er
sich, immerfort hatte er den Zeigefinger ausgestreckt, um dem Soldaten
etwas zu zeigen. Dem Reisenden war es peinlich. Er war entschlossen,
hier bis zum Ende zu bleiben, aber den Anblick der zwei hätte
er nicht lange ertragen. "Geht nach Hause", sagte er.
Der Soldat wäre dazu vielleicht bereit gewesen, aber der Verurteilte
empfand den Befehl geradezu als Strafe. Er bat flehentlich mit gefalteten
Händen, ihn hier zu lassen, und als der Reisende kopfschüttelnd
nicht nachgeben wollte, kniete er sogar nieder. Der Reisende sah,
dass Befehle hier nichts halfen, er wollte hinüber und die
zwei vertreiben. Da hörte er oben im Zeichner ein Geräusch.
Er sah hinauf. Störte also das Zahnrad doch? Aber es war etwas
anderes. Langsam hob sich der Deckel des Zeichners und klappte dann
vollständig auf. Die Zacken eines Zahnrades zeigten und hoben
sich, bald erschien das ganze Rad, es war, als presse irgendeine
große Macht den Zeichner zusammen, so dass für dieses
Rad kein Platz mehr übrigblieb, das Rad drehte sich bis zum
Rand des Zeichners, fiel hinunter, kollerte aufrecht ein Stück
im Sand und blieb dann liegen. Aber schon stieg oben ein anderes
auf, ihm folgten viele, große, kleine und kaum zu unterscheidende,
mit allen geschah dasselbe, immer glaubte man, nun müsse der
Zeichner jedenfalls schon entleert sein, da erschien eine neue,
besonders zahlreiche Gruppe, stieg auf, fiel hinunter, kollerte
im Sand und legte sich. Über diesem Vorgang vergaß der
Verurteilte ganz den Befehl des Reisenden, die Zahnräder entzückten
ihn völlig, er wollte immer eines fassen, trieb gleichzeitig
den Soldaten an, ihm zu helfen, zog aber erschreckt die Hand zurück,
denn es folgte gleich ein anderes Rad, das ihn, wenigstens im ersten
Anrollen, erschreckte.
Der Reisende dagegen war sehr beunruhigt; die Maschine ging offenbar
in Trümmer; ihr ruhiger Gang war eine Täuschung; er hatte
das Gefühl, als müsse er sich jetzt des Offiziers annehmen,
da dieser nicht mehr für sich selbst sorgen konnte. Aber während
der Fall der Zahnräder seine ganze Aufmerksamkeit beanspruchte,
hatte er versäumt, die übrige Maschine zu beaufsichtigen;
als er jedoch jetzt, nachdem das letzte Zahnrad den Zeichner verlassen
hatte, sich über die Egge beugte, hatte er eine neue, noch
ärgere Überraschung. Die Egge schrieb nicht, sie stach
nur, und das Bett wälzte den Körper nicht, sondern hob
ihn nur zitternd in die Nadeln hinein. Der Reisende wollte eingreifen,
möglicherweise das Ganze zum Stehen bringen, das war ja keine
Folter, wie sie der Offizier erreichen wollte, das war unmittelbarer
Mord. Er streckte die Hände aus. Da hob sich aber schon die
Egge mit dem aufgespießten Körper zur Seite, wie sie
es sonst erst in der zwölften Stunde tat. Das Blut floß
in hundert Strömen, nicht mit Wasser vermischt, auch die Wasserröhrchen
hatten diesmal versagt. Und nun versagte noch das Letzte, der Körper
löste sich von den Nadeln nicht, strömte sein Blut aus,
hing aber über der Grube, ohne zu fallen. Die Egge wollte schon
in ihre alte Lage zurückkehren, aber als merke sie selbst,
dass sie von ihrer Last noch nicht befreit sei, blieb sie doch über
der Grube. "Helft doch!" schrie der Reisende zum Soldaten
und zum Verurteilten hinüber und fasste selbst die Füße
des Offiziers. Er wollte sich hier gegen die Füße drücken,
die zwei sollten auf der anderen Seite den Kopf des Offiziers fassen,
und so sollte er langsam von den Nadeln gehoben werden. Aber nun
konnten sich die zwei nicht entschließen zu kommen; der Verurteilte
drehte sich geradezu um; der Reisende musste zu ihnen hinübergehen
und sie mit Gewalt zu dem Kopf des Offiziers drängen. Hierbei
sah er fast gegen Willen das Gesicht der Leiche. Es war, wie es
im Leben gewesen war; kein Zeichen der versprochenen Erlösung
war zu entdecken; was alle anderen in der Maschine gefunden hatten,
der Offizier fand es nicht; die Lippen waren fest zusammengedrückt,
die Augen waren offen, hatten den Ausdruck des Lebens, der Blick
war ruhig und überzeugt, durch die Stirn ging die Spitze des
großen eisernen Stachels.
Als der Reisende, mit dem Soldaten und dem Verurteilten hinter
sich, zu den ersten Häusern der Kolonie kam, zeigte der Soldat
auf eins und sagte: "Hier ist das Teehaus."
Im Erdgeschoss eines Hauses war ein tiefer, niedriger, höhlenartiger,
an den Wänden und an der Decke verräucherter Raum. Gegen
die Straße zu war er in seiner ganzen Breite offen. Trotzdem
sich das Teehaus von den übrigen Häusern der Kolonie,
die bis auf die Palastbauten der Kommandantur alle sehr verkommen
waren, wenig unterschied, übte es auf den Reisenden doch den
Eindruck einer historischen Erinnerung aus, und er fühlte die
Macht der früheren Zeiten. Er trat näher heran, ging,
gefolgt von seinen Begleitern, zwischen den unbesetzten Tischen
hindurch, die vor dem Teehaus auf der Straße standen, und
atmete die kühle, dumpfige Luft ein, die aus dem Innern kam.
"Der Alte ist hier begraben", sagte der Soldat, "ein
Platz auf dem Friedhof ist ihm vom Geistlichen verweigert worden.
Man war eine Zeitlang unentschlossen, wo man ihn begraben sollte,
schließlich hat man ihn hier begraben. Davon hat Ihnen der
Offizier gewiss nichts erzählt, denn dessen hat er sich natürlich
am meisten geschämt. Er hat sogar einigemal in der Nacht versucht,
den Alten auszugraben, er ist aber immer verjagt worden." "Wo
ist das Grab?" fragte der Reisende, der dem Soldaten nicht
glauben konnte. Gleich liefen beide, der Soldat wie der Verurteilte,
vor ihm her und zeigten mit ausgestreckten Händen dorthin,
wo sich das Grab befinden sollte. Sie führten den Reisenden
bis zur Rückwand, wo an einigen Tischen Gäste saßen.
Es waren wahrscheinlich Hafenarbeiter, starke Männer mit kurzen,
glänzend schwarzen Vollbärten. Alle waren ohne Rock, ihre
Hemden waren zerrissen, es war armes, gedemütigtes Volk. Als
sich der Reisende näherte, erhoben sich einige, drückten
sich an die Wand und sahen ihm entgegen. "Es ist ein Fremder",
flüsterte es um den Reisenden herum, "er will das Grab
ansehen." Sie schoben einen der Tische beiseite, unter dem
sich wirklich ein Grabstein befand. Es war ein einfacher Stein,
niedrig genug, um unter einem Tisch verborgen werden zu können.
Er trug eine Aufschrift mit sehr kleinen Buchstaben, der Reisende
musste, um sie zu lesen, niederknien. Sie lautete: "Hier ruht
der alte Kommandant. Seine Anhänger, die jetzt keinen Namen
tragen dürfen, haben ihm das Grab gegraben und den Stein gesetzt.
Es besteht eine Prophezeiung, dass der Kommandant nach einer bestimmten
Anzahl von Jahren auferstehen und aus diesem Hause seine Anhänger
zur Wiedereroberung der Kolonie führen wird. Glaubet und wartet!"
Als der Reisende das gelesen hatte und sich erhob, sah er rings
um sich die Männer stehen und lächeln, als hätten
sie mit ihm die Aufschrift gelesen, sie lächerlich gefunden
und forderten ihn auf, sich ihrer Meinung anzuschließen. Der
Reisende tat, als merke er das nicht, verteilte einige Münzen
unter sie, wartete noch, bis der Tisch über das Grab geschoben
war, verließ das Teehaus und ging zum Hafen.
Der Soldat und der Verurteilte hatten im Teehaus Bekannte gefunden,
die sie zurückhielten. Sie mussten sich aber bald von ihnen
losgerissen haben, denn der Reisende befand sich erst in der Mitte
der langen Treppe, die zu den Booten führte, als sie ihm schon
nachliefen. Sie wollten wahrscheinlich den Reisenden im letzten
Augenblick zwingen, sie mitzunehmen. Während der Reisende unten
mit einem Schiffer wegen der Überfahrt zum Dampfer unterhandelte,
rasten die zwei die Treppe hinab, schweigend, denn zu schreien wagten
sie nicht. Aber als sie unten ankamen, war der Reisende schon im
Boot, und der Schiffer löste es gerade vom Ufer. Sie hätten
noch ins Boot springen können, aber der Reisende hob ein schweres,
geknotetes Tau vom Boden, drohte ihnen damit und hielt sie dadurch
von dem Sprunge ab.
Franz Kafka. In der Strafkolonie. Kurt Wolff
Verlag. Leipzig 1919.
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