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Salon Albert
"Was ist denn da los?" fragt Palmina, als sie Alberts
literarischen Salon betritt.
Eine Gruppe von etwa zehn Kindern drängt sich um Alberts Tisch.
Die Kinder scheinen etwas relativ Kleines zu betrachten, ihre Oberkörper
sind leicht nach vorne gebeugt.
"Hat die Qualle Albert etwas Spannendes mitgebracht?"
fragt Palmina ein Mädchen, das hinter den anderen steht.
Das Mädchen zuckt mit den Schultern.
Palmina versucht, heraus zu finden, wen oder was es da zu sehen
gibt. Aber die Kinder stehen zu dicht und sie ist zu klein, um über
die anderen blicken zu können.
"Hä?" hört Palmina jetzt einen Jungen ganz
vorne fragen. "Warum schreibt der so
geschwollen?"
"Wer schreibt denn was?"
fragt Palmina laut, aber niemand achtet auf sie.
"Das ist nicht geschwollen", antwortet
ein Mädchen neben dem Jungen. Palmina sieht von ihr nur den
Hinterkopf mit vielen roten Locken. "Das hört sich eher
wie ein alter Text an. Früher haben die Leute so geschrieben."
"Und wieso schreibt der heute so einen
altmodischen Text?" fragt der Junge irritiert.
"Was bedeutet das überhaupt?"
fragt ein Junge, dessen Stimme Palmina kennt, und die sie deshalb
Johann zuordnen kann.
Johann liest eine Stelle aus dem altmodischen Text vor:
"So
wollte ich, weil unsere Sinne uns bisweilen täuschen, annehmen,
dass kein Ding so wäre, wie die Sinne es uns vorstellen lassen
... Das versteht doch kein Mensch!"
"Doch", meint das rothaarige Mädchen. "Ich
schon. Das heißt, dass wir unseren Sinnen nicht trauen dürfen."
"Und warum nicht?" fragt ein Mädchen mit fiepsiger
Stimme. "Meine Sinne lügen ganz sicher nicht! Wenn ich
einen Baum sehe, gibt es ihn auch! Oder wenn ich Musik höre,
wird sie auch wirklich gespielt!"
"Es gibt aber auch Leute, die hören Geräusche, ohne
dass es sie wirklich gibt!" wirft ein Junge mit Stimmbruch
ein. "Wenn sie zum Beispiel die Ohrenkrankheit Tinnitus haben."
Ein paar Kinder lachen.
"Heißt das, dass kranke Leute ihren Sinnen nicht trauen
dürfen?" fragt das Mädchen mit Fiepsstimme weiter.
"Quatsch", schaltet sich ein großes Mädchen
ein, das direkt vor Palmina steht. "Das bedeutet einfach, dass
uns unsere Sinne täuschen können, und wir deshalb
nicht sicher sein können, dass die Dinge, wie wir sie wahrnehmen,
auch wirklich so sind. Stellt euch zum Beispiel die Leute vor, die
angeblich Ufos gesehen haben: Die haben nicht wirklich Ufos gesehen,
sondern eine Luftspiegelung oder eine verschwommene Wolke nur für
ein Ufo gehalten!"
"Ich glaube nicht an Ufos!", sagt Johann. "Also
täuschen mich meine Sinne auch nicht!"
"Das war doch nur ein Beispiel!" sagt das große
Mädchen. "Der Satz meint, dass wir uns generell nicht
auf unsere Sinne verlassen können, weil sie uns manchmal täuschen.
Man kann sich bei den Sinnen also nie sicher sein, ob es stimmt,
was sie einem mitteilen."
"Das ist doch Blödsinn!" meint der Junge ganz vorne.
"Wenn wir uns nicht auf unsere Sinne verlassen könnten,
würden wir uns in der Umwelt gar nicht zurecht finden. Wir
würden zum Beispiel ständig irgendwo anstoßen!"
"Man kann den Satz auch anders erklären", schaltet
sich Max ein, den Palmina schon in einem früheren literarischen
Salon kennen gelernt hat. "Bienen können beispielsweise
ganz andere Farben sehen als wir. Wenn das aber so ist, stellt sich
doch die Frage: wer sieht die Welt richtiger: Wir oder die Bienen?"
"Wir natürlich", sagt Lea, ein Mädchen, das
Palmina aus der Schule kennt. "Wir sind viel klüger als
Bienen!"
"Das hat damit doch erst mal gar nichts zu tun!" sagt
Max. "Unser Verstand ist wahrscheinlich schon besser als der
von Bienen. Aber vielleicht sind dafür die Sinne der Bienen
besser als unsere?"
"Das glaube ich nicht!" sagt Lea. "Gott hat uns
nach seinem Bilde geschaffen! Da hat er uns sicher besser ausgerüstet
als eine Biene!"
"Ach ja?!" sagt Max spöttisch. "Woher weißt
du denn, dass es Gott gibt? Hast du ihn schon einmal gesehen, gehört
oder gerochen?"
Palmina schwirrt der Kopf. Worum geht es in dieser Diskussion eigentlich?
"Natürlich habe ich Gott nicht gesehen", sagt Lea
wütend. "Aber mit dem Verstand können wir Gott erkennen!"
"Eben!" sagt Max. "Mit dem Verstand und nicht mit
den Sinnen!"
"Fragt sich nur, wie der Mensch mit seinem Verstand zu Erkenntnissen
kommen kann, wenn er seinen Sinnen nicht trauen kann!" gibt
das große Mädchen zu Bedenken. "Oder anders gefragt:
Was kann der Verstand überhaupt über die Umwelt aussagen,
falls er sie über seine täuschenden Sinne gar nicht wirklich
erkennen kann?"
"Wahrscheinlich nichts!" sagt Max. "Oder eben nur
das, was er sich selbst dazu ausdenkt!"
"Dann gäbe es die Welt ja gar nicht wirklich, sondern
nur in unserem Geist!" sagt Lea.
"Ich kapier das nicht", sagt der Junge mit Stimmbruch.
"Menschen sind doch nicht nur Verstandeswesen, sondern auch
Sinnenwesen! Wenn das nicht so wäre, hätten wir doch gleich
blind und taub und stumpf wie eine Amöbe auf die Welt kommen
können."
"Wer sagt überhaupt, dass sich der Verstand nicht auch
täuschen kann?" fragt das rothaarige Mädchen. "Im
Laufe der Geschichte hat der menschliche Verstand schon viele Dinge
'erkannt', die sich danach als falsch heraus gestellt haben. Zum
Beispiel, dass die Sonne um die Erde kreist und nicht umgekehrt
..."
"Aber genau das ist auch ein gutes Beispiel, dass sich die
Menschen zu sehr auf ihre Augen verlassen haben und nicht auf ihren
Verstand!" wirft Max ein. "Weil die Menschen gesehen
haben, dass die Sonne innerhalb eine Tages um die Erde läuft,
sind sie davon ausgegangen, dass die Sonne sich um die Erde dreht
und nicht umgekehrt."
"Trotzdem kann sich auch der Verstand täuschen!"
meint das rothaarige Mädchen. "Ich verstehe nicht, warum
Albert glaubt, dass er sich seines Verstandes gewiss sein kann?!"
'Albert?' denkt Palmina: 'Wieso denn Albert?' Hat Albert
da vorne etwa eine Botschaft hinterlassen? Warum ist er selbst nicht
hier? Hat er das Treffen abgesagt? Ist er krank?
Palmina drängt sich entschlossen durch eine kleine Lücke
und sieht endlich, worum sich die Kinder drängen: Nicht um
eine geschriebene Zettelbotschaft von Albert, sondern um einen Computer!
Genauer gesagt, um ein angeschaltetes Laptop, auf dessen Bildschirm
man das Protokoll eines Chats lesen kann.
Und mit "Albert" haben die Kinder nicht die Qualle gemeint,
sondern den Nickname des Gesprächspartners der Kinder. Offensichtlich
haben sich die Kinder schon eine ganze Zeit lang mit "Albert"
unterhalten und sich selbst unterschiedliche Nicknames wie "booky",
"Asks09", "Clarice Bohne" oder "Checker"
gegeben. Den Nicknames sind kleine, gemalte Porträts, sogenannte
Avatare, zugeordnet.
"Albert" hat sich einen Avatar mit langen Haaren und Schnauzbart
ausgesucht.
Wer aber steckt hinter dem Nickname "Albert"? Vielleicht
doch die Qualle oder jemand ganz anderes?
Palmina liest "Alberts" letzten Chat-Eintrag:
Albert: So
wollte ich, weil unsere Sinne uns bisweilen täuschen, annehmen,
dass kein Ding so wäre, wie die Sinne es uns vorstellen lassen
...
Sie will gerade das
ganze Chat-Protokoll durchlesen, als sich das rothaarige Mädchen
vor den Bildschirm schiebt und etwas eintippt. Als sie fertig ist,
geht sie einen Schritt zur Seite und Palmina kann lesen, was sie
geschrieben hat:
booky: Kann uns der Verstand nicht genau so täuschen
wie die Sinne?
Kurze Zeit später erscheint "Alberts" Antwort:
Albert: Weil sich manche Leute in ihren Urteilen
selbst bei den einfachsten Materien der Geometrie täuschen
und Fehlschlüsse machten, so verwarf ich, weil ich meinte,
dem Irrtum so gut wie jeder andere unterworfen zu sein, alle Gründe
als falsch, die ich vorher zum meinem Beweisen genommen hatte.
[...]
booky:
Also täuscht der Verstand einen eben doch genauso wie
die Sinne?
Albert: So glaubte
ich, statt einer großen Anzahl von Regeln, aus denen die Logik
besteht, an den folgenden vier genug zu haben: Die erste war: niemals
eine Sache als wahr anzunehmen, die ich nicht als solche sicher
und einleuchtend erkennen würde, das heißt sorgfältig
die Übereilung und das Vorurteil zu vermeiden und in meinen
Urteilen nur soviel zu begreifen, wie sich meinem Geist so klar
und deutlich darstellen würde, dass ich gar keine Möglichkeit
hätte zu zweifeln.
"Das ist doch keine Antwort auf meine Frage!" sagt das
rothaarige Mädchen alias booky.
"In gewisser Weise schon", sagt Max. "So wie ich
es verstehe, kann der Verstand uns wie die Sinne täuschen.
Aber wenn man gewisse Regeln der Logik einhält, kann der Verstand
trotzdem Erkenntnisse erhalten."
"Wie denn?" fragt Johann. "Was sind das denn für
Regeln?"
"Albert hat ja nur eine genannt", sagt Max. "Die
erste Regel ist auf jeden Fall, immer zuerst einmal alles zu hinterfragen
oder zu bezweifeln, bevor man es als sicheres Wissen ansehen kann."
"Cool!" sagt der Junge mit Stimmbruch. "Wenn meine
Eltern oder Lehrer mir das nächste Mal etwas vorschreiben,
sage ich einfach, dass Albert mir gesagt hat, dass ich erst einmal
alles bezweifeln soll! Und dass ihre Vorschriften sicher keine zweifelsfreie
Erkenntnis sind!"
"Und was bringt dir das?" sagt das Mädchen mit der
Fiepsstimme. "Nur Ärger!"
"Mag sein" sagt der Junge mit Stimmbruch. "Dafür
aber auch zweifelsfreie Erkenntnisse! Ich habe schon lange keine
Lust mehr, immer nur nach den großartigen Regeln oder Vorstellungen
der Erwachsenen zu leben: Was Hänschen nicht lernt, lernt
Hans nimmermehr; Geld regiert die Welt; Das Leben
ist kein Ponyhof; Der Zweck heiligt die Mittel ... Bla,
bla, bla."
"Aber deine Eltern müssen dir doch irgendwelche Regeln
mit auf den Weg geben", sagt das Mädchen mit der Fiepsstimme.
"Ohne Regeln könnten wir überhaupt nicht zusammen
leben."
"Wer sagt denn, dass ich ganz ohne Regeln auskommen will?"
sagt der Junge im Stimmbruch. "Aber ich will selber mitdenken,
welche Regel ich gut finde und welche nicht. Alberts erste Regel
gefällt mir auf jeden Fall viel besser als die von meinen Eltern!
Und deshalb will ich auch die anderen drei Regeln von Albert wissen!"
Er geht zur Tastatur, tippt den Nickname "Veto" ein und
schreibt:
Veto: Wie lauten deine drei anderen Regeln?
Albert: Die zweite: jede der Schwierigkeiten,
die ich untersuchen würde, in so viele Teile zu zerlegen als
möglich und zur besseren Lösung wünschenswert wäre.
Die dritte: meine Gedanken zu ordnen; zu beginnen mit den
einfachsten und fasslichsten Objekten und aufzusteigen allmählich
und gleichsam stufenweise bis zur Erkenntnis der komplizierteren,
und selbst solche Dinge irgendwie für geordnet zu halten, von
denen natürlicherweise nicht die einen den anderen vorausgehen.
Und die letzte: überall so vollständige Aufzählungen
und so umfassende Übersichten zu machen, dass ich sicher wäre,
nichts auszulassen.
"Au Mann, schon wieder so ein altmodischer Text!" sagt
der Junge, der sich schon am Anfang über die komplizierte Sprache
"Alberts" geärgert hatte. Da Palmina jetzt weiter
vorne steht, sieht sie, dass der Junge Gordon aus ihrer Parallelklasse
ist.
"Die zweite und dritte Regel verstehe ich ja noch", sagt
"Veto". "Mit der zweiten Regel ist einfach die wissenschaftliche
Methode der Analyse gemeint. Also erst mal den Untersuchungsgegenstand
in seine unbezweifelbaren Bestandteile zu zerlegen und zu gucken,
worum es überhaupt geht. Und die dritte Regel bedeutet, dass
man diese zerlegten Bestandteile logisch wieder zusammen fügt.
Aber was meint die vierte Regel?"
"Ich glaube die dritte und die vierte Regel gehören zusammen",
sagt das große Mädchen. "Die vierte Regel sagt,
dass man die Einzelteile wieder zu einem Ganzen zusammen
stellen soll und die dritte Regel sagt, wie man die Einzelteile
zusammen stellen soll: nämlich streng logisch vom Allgemeinen
oder Generellen auf das Besondere schließend und nicht umgekehrt."
"Ich verstehe überhaupt nichts!" sagt Gordon. "Das
hört sich für mich wie Matheunterricht an. Und ich hasse
Mathe!"
"Ich verstehe auch nur Bahnhof", sagt das Mädchen
mit der Fiepsstimme. "Ich habe gedacht, Albert liest uns hier
eine schöne Geschichte vor! Statt dessen muss ich mir irgendwelche
komische Regeln über sichere Erkenntnis anhören. Mir ist
es ganz egal, ob Albert wirklich riechen oder sehen kann, oder ob
er nur glaubt zu sehen und zu riechen! Wenn ich mir auch noch über
so etwas Gedanken machen soll, werde ich ja verrückt!"
"Nicht, wenn du Alberts Regeln einhältst!" sagt
"Veto" mit einem Grinsen. "Denn mit deren Hilfe kann
der Verstand ja doch sichere Erkenntnisse bekommen! Und ob das möglich
ist, haben wir uns vorhin doch genau gefragt! Also: das ist die
Antwort darauf!"
"Die Regeln sind zwar schön und gut", schaltet sich
das große Mädchen ein. "Aber sie sagen trotzdem
nichts darüber aus, was wirklich unbezweifelbar ist!
Sie setzen also etwas Unbezweifelbares voraus. Was aber, wenn es
gar nichts Unbezweifelbares gibt? Dann kommen Alberts Regeln nie
zur Anwendung! Und wir sind tatsächlich so unwissend wie eine
Amöbe!"
"Du hast Recht!" überlegt Max. "Frag Albert
doch genau das mal!"
Das große Mädchen schiebt sich durch die Gruppe der
Kinder zum Laptop vor und tippt ihre Frage ein:
checker: Deine Regeln machen nur Sinn, wenn es überhaupt
unbezweifelbare Erkenntnisse gibt. Deshalb: Gibt es überhaupt
sicheres Wissen? Oder: Was kann man wirklich wissen? Gespannt warten die Kinder vor dem Bildschirm. Nach ein paar Minuten
antwortet Albert: Alsbald aber
machte ich die Beobachtung, dass während ich so denken wollte,
alles sei falsch, doch notwendig ich, der das dachte, irgend
etwas sein müsse, und da ich bemerkte, dass diese Wahrheit
"ich denke, also bin ich" (je pense, donc je
suis; Ego cogito, ergo sum, sive existo) so fest und
sicher wäre, dass auch die überspanntesten Annahmen der
Skeptiker sie nicht zu erschüttern vermöchten, so konnte
ich sie meinem Dafürhalten nach als das erste Prinzip der Philosophie,
die ich suchte, annehmen.
"Das nervt langsam wirklich!" sagt Gordon und schiebt
"checker" zur Seite. Als Avatar "Asks09" tippt
jetzt Gordon einen Text in den Computer:
Asks09: Kannst du dich nicht wenigstens einmal klarer
ausdrücken?
Nach ein paar Sekunden baut sich die Antwort vor ihnen auf:
Albert: Ich denke, also bin ich.
Das große Mädchen überlegt kurz und schreibt:
checker:
Dein Satz besagt eigentlich gar nichts. Denn woher weißt du,
dass du denkst? Vielleicht bist du nur ein Computerprogramm, das
sich mit uns unterhält?! Wenn du aber nicht beweisen kannst,
dass du denkst, kannst du auch nicht behaupten, dass du bist! Und
wenn du nicht bist, gibt es für dich auch keine Unbzweifelbare
Erkenntnis! Albert: Um zu tippen, muss man denken. Um zu denken, muss
man sein.
Carla ruft dem großen Mädchen zu: "Frag ihn mal,
was ist, wenn ihn ein anderer tippt?!"
Das große Mädchen gibt Carlas Nickname ein und schreibt:
Clarice Bohne: Was ist, wenn du nicht selbst tippst, sondern
getippt wirst? Vielleicht gibt es dich gar nicht, sondern nur den,
der dich tippt?! Albert: Endlich, wie ich bedachte,
dass alle Gedanken, die wir im Wachen haben, uns auch im Schlaf
kommen können, ohne dass dann einer davon wahr sei, so machte
ich mir absichtlich die erdichtete Vorstellung, dass alle Dinge,
die jemals in meinen Geist gekommen, nicht wahrer seien als Trugbilder
meiner Träume. Alsbald aber machte
ich die Beobachtung, dass während ich so denken wollte, alles
sei falsch, doch notwendig ich, der das dachte, irgend etwas
sein müsse, und da ich bemerkte, dass diese Wahrheit "ich
denke, also bin ich" (je pense, donc je suis; Ego cogito,
ergo sum, sive existo) so fest und sicher wäre, dass auch die
überspanntesten Annahmen der Skeptiker sie nicht zu erschüttern
vermöchten, so konnte ich sie meinem Dafürhalten nach
als das erste Prinzip der Philosophie, die ich suchte, annehmen.
"Das meiste davon hat er doch vorhin schon mal geschrieben?"
sagt das große Mädchen alias checker. "Das ist doch
keine Antwort! Er kann doch auch im Traum denken, dass er wirklich
ist!"
"Oder er kann von jemandem getippt werden, ohne es zu bemerken",
sagt Carla.
"Wie soll das denn gehen?" schaltet sich zum ersten Mal
Palmina in die Diskussion ein. "Man weiß doch, ob man
selber tippt oder nicht?"
"Selbst wenn man wenigstens denken kann, dass man existiert",
sagt Johann. "Woher weiß man, dass man es selbst ist,
der sich denkt und nicht ein anderer?"
"Wir drehen uns ständig im Kreis!" sagt Max. "So
kommen wir nicht weiter."
Das große Mädchen tippt in die Tastatur:
checker: Warum bist du, wenn du denkst?
Albert: Denn die Vernunft sagt nicht,
dass alles, was wir sehen oder uns einbilden, wahr sei, wohl aber
sagt sie, dass alle unsere Ideen oder Begriffe ihren Grund in etwas
Wahrem haben müssen; denn sonst hätte Gott, der absolut
vollkommen und wahr ist, sie unmöglich in uns gesetzt.
"Genau wie ich vorhin gesagt habe!" sagt Lea stolz. "Gott
hat den Menschen als sein Ebenbild erschaffen, der Erkenntnisse
haben kann!"
"Von Ebenbild sagt Albert erst mal gar nichts!" sagt
Max, "Und wenn du mich fragst, drückt er sich um eine
echte Antwort! Er schiebt alles auf Gott und sagt nicht einmal,
warum er davon ausgeht, dass Gott wirklich existiert!"
checker: Warum bist du dir sicher, dass es Gott gibt?
Albert: Was jene Gedanken betrifft, die ich
von einer Menge außer mir befindlicher Wesen hatte, wie vom
Himmel, der Erde, dem Licht der Wärme und tausend anderen Dingen,
so war ich über deren Ursprung nicht so sehr in Verlegenheit;
denn da ich in ihnen nichts bemerkte, was mir überlegen war,
so konnte ich glauben, wenn sie wahr wären, dass sie einen
Zubehör meiner Natur bildeten, sofern diese eine gewisse Vollkommenheit
hätte, und wenn sie nicht wahr wären, dass sie für
Ausgeburten des Nichts zu halten, das heißt, dass sie in mir
wären wegen der Mangelhaftigkeit meines Wesen. Aber das konnte
sich nicht ebenso verhalten mit der Idee eines vollkommeneren Wesens
als das meinige, denn offenbar war es ummöglich, diese Idee
aus dem Nichts zu ziehen.
"Gott muss es geben, weil es nicht Nichts geben kann und weil
es Gott gibt, muss es auch jeden einzelnen von uns geben",
interpretiert Max Alberts Ausführungen.
"Das ist uncool!" sagt "Veto". "Ich habe
mir wirklich mehr von Albert erwartet! Ausgerechnet Gott ist absolut
bezweifelbar!"
"Zumindest aus heutiger Sicht", wirft Palmina ein.
"Natürlich aus heutiger Sicht!" sagt Veto. "Was
soll ich mit Wahrheiten von gestern anfangen?!"
"Dich vielleicht fragen, was an Alberts Aussage gestern neu
gewesen sein könnte?" fragt Palmina. "Die Idee, alle
Wahrheit auf Gott zurück zu führen, war damals sicher
nicht neu, sondern üblich. Neu war dagegen aber vielleicht,
alles erst einmal zu bezweifeln?"
"Und weiter?" sagt Veto. "Was war sonst noch neu?"
Palmina zuckt mit den Schultern. "Vielleicht die Idee, dass
der Verstand mehr erkennen kann als die Sinne, wenn wir die Regeln
einhalten?"
"Nicht schon wieder!" sagt Carla. "Das hatten wir
doch vorhin schon alles mal."
"Wisst ihr was?" sagt "booky". "Wir probieren
jetzt mal Alberts Regeln aus, um heraus zu finden, was an Alberts
Philosophie früher neu war!"
"Hört sich gut an, aber wie soll das gehen?" fragt
Palmina.
"Nachdem wir seine Aussagen schon bezweifelt haben, können
wir gleich mit der zweiten Regel weiter machen", erklärt
booky. "Dafür zerlegen wir Alberts Aussage in sein kleinste,
sicher erkennbare Bestandteile ... "
"Ein Bestandteil ist sicher Alberts Satz "ich denke,
also bin ich", ist!" sagt Max.
"Genau", meint auch booky. "Aber uns fehlt mindestens
noch ein weiterer Bestandteil, damit wir in der dritten und vierten
Regel beide Erkenntnisse miteinander verbinden können. Was
könnte das sein?"
"Ich finde, wir müssen immer noch bezweifeln, dass "Albert"
wirklich Albert ist!" sagt Palmina. "Die Qualle würde
nie so einen Text schreiben! Wer aber steckt dann hinter dem Nickname?"
"Gute Idee!" sagt booky. "Wenn wir die Antwort darauf
haben, haben wir gleich einen zweiten, sicheren Baustein, mit dem
wir den ersten logisch verknüpfen können und sicheres
Wissen über die Person und ihre Philosophie heraus bekommen
können!"
Booky schließt den Chat und öffnet eine Suchmaschine.
Dann gibt sie in den Suchschlitz: Ich denke also bin ich
ein. Kurz darauf klickt sie auf den ersten Treffer und liest laut
vor:
Cogito ergo sum (eigentl. lat. ego
cogito, ergo sum, „Ich denke, also bin ich“) ist der erste Grundsatz
des Philosophen René Descartes (1596-1650) [...]
"René Descartes!" ruft das große Mädchen
erstaunt aus. "Über den haben wir sogar neulich im Deutschunterricht
gesprochen. Aber nicht über diesen Satz, sondern darüber
dass Descartes behauptet hat, dass der menschliche Körper wie
eine Maschine funktioniert! Der Unterschied zwischen einem lebendigen
und einem toten Körper gleicht seiner Meinung nach dem einer
kaputten oder einer funktionierenden Uhr."
"Und was ist mit der Seele?" fragt Lea. "Ein Mensch
hat doch auch eine Seele!"
"Die zählt Descartes, glaube ich, zum Bewusstsein",
sagt das große Mädchen. "Aber Bewusstsein und Körper
sind bei Descartes zwei voneinander getrennte Bereiche. Zumindest
habe ich es so verstanden."
"Wie soll das denn gehen?" fragt Lea. "Irgendwo
muss doch eine Verbindung sein?"
"Auf jeden Fall haben wir jetzt mit dem Namen neben dem Cogito-Argument
eine zweite unbezweifelbare Einheit gefunden!" wiegelt booky
die Unterhaltung ab. "Hinter dem Nickname Albert steckt
der Philosoph René Descartes!"
"Sicher nicht!" sagt Palmina. "Descartes ist offenbar
schon lange tot! Derjenige, der sich mit uns unterhält, lebt
aber. - Wer steckt also wirklich hinter dem Nickname? Wer hat im
Chat den Text von Descartes eingetippt?"
"Das werden wir nie heraus bekommen!" sagt Veto. "Genauso
wenig wie "Albert" alias Descartes damals heraus bekommen
hat, wer wirklich hinter seiner Existenz steckt."
"Ist das eigentlich nicht auch egal?!" sagt booky leichthin.
"Hauptsache, der Text stammt wirklich von Descartes. Denn unsere
Frage war vorhin ja nicht, wer den Text tippt, sondern viel mehr,
warum der Text heute noch aktuell ist? Also geben wir jetzt einfach
diese beiden gesicherten Erkenntnisse in den Suchschlitz ein und
bekommen dadurch hoffentlich ein sinnvolles Ganzes!"
Booky gibt "ich denke, also bin ich" und "René
Descartes" in das Suchfenster ein und landet nach mehreren
langen Ausführungen über Descartes schließlich bei
einer Seite, die den Kindern tatsächlich kurz und knapp klare
und deutliche Erkenntnisse übermittelt:
Descartes, René (geb. 31.3.1596 in
Tourraine (Frankreich) gest. 11.2.1650 in Stockholm (Schweden).
Philosoph, Mathematiker, Astronom. "Vater der neueren Philosophie"
genannt, weil er den von der Vorherrschaft der Vernunft (Ratio)
überzeugten Rationalismus begründete. Indem Descartes
die Erkenntnistheorie ("Was kann ich wissen?") zur philosophischen
Grundlagendisziplin erhob, brach er mit einer langen Tradition.
Frühere Philosophen versuchten, die Wirklichkeit aus dem Blickwinkel
Gottes zu erklären. Descartes stellte dagegen die Frage: "Was
kann ich wissen?"
Bevor also Aussagen über die Wirklichkeit getroffen werden
können, muss nach Descartes erst geklärt werden, worüber
überhaupt etwas ausgesagt werden kann und mit welcher Gültigkeit.
Viele spätere Philosophen folgten Descartes in diesem Ansatz.
Die Auswirkungen seiner Philosophie reichen bis in unsere Gegenwart
hinein. Zum Beispiel konnte die ganze moderne Technik unter anderem
nur dadurch entstehen, dass Descartes die Menschen als Vernunft-
oder Bewusstseinswesen in eine Position gegenüber die Natur
brachte, von wo aus eine Naturbeherrschung erst möglich wurde
...
* * *
Die grün markierten Textstellen sind Auszüge
aus:
René Descartes:Abhandlung über die
Methode des richtigen Vernunftgebrauchs. Reclam. Stuttgart 1995.
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