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Rossipottis Leibspeise
und andere Lieblingsbücher
Rossipottis Leibspeise
Lieblingsbücher
vorgestellt von Helma Hörath
* * *
Das 1. Buch L.
"Geschichte ist eine Fiktion", sagt Rossipotti und reißt
mich damit aus meinem angenehmen Dämmerschlaf, in dem ich mich
gerade als unbesiegbaren Helden geträumt habe.
"Was denn für eine Geschichte?" frage ich und recke
meine Gräten.
"Die Geschichte der Menschheit natürlich", sagt
Rossipotti ungeduldig. "Die Vergangenheit, die Zeit
der Ahnen oder auch die Historie, wie die Menschen früher
dazu gesagt haben."
"Und warum soll die Vergangenheit fiktiv oder erdacht
sein?" frage ich. "Bezweifelst du etwa, dass sie statt
gefunden hat?"
"Quatsch", sagt Rossipotti. "Aber sie war sicher
nicht so, wie wir sie uns vorstellen."
"Was die Steinzeit, das Altertum oder vielleicht auch noch
das Mittelalter angeht, magst du Recht haben", sage ich. "Für
diese Zeiten wurden bisher viel zu wenig Gegenstände, Bilder
oder schriftliche Quellen gefunden. Aber über die letzten drei,
vier Jahrhunderte können wir uns doch einen ziemlich guten
Überblick verschaffen!"
"Von wegen", grunzt Rossipotti. "Selbst wenn wir
wie bei der Neuzeit viele Quellen aus einer Zeit zur Verfügung
haben, können wir nie wissen, wie die Menschen wirklich gelebt
haben. Und zwar deshalb nicht, weil wir es sind, die die
alten Zeiten interpretieren."
"Natürlich wir", sage ich. "Unsere toten
Vorfahren werden uns ihre Welt sicher nicht mehr erklären."
"Der Fisch stinkt vom Kopf her", sagt Rossipotti. "Und
der Druide vom Fuß!"
"Welcher Fisch? Und welcher Druide?" frage ich verwirrt.
"Wovon redest du überhaupt?"
"Davon, dass du mich nie verstehst!" sagt Rossipotti.
"Und davon, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass wir die
Toten besser verstehen können als die Lebendigen!"
"Unsere Vorfahren haben sich wenigstens nicht so rätselhaft
ausgedrückt wie du", versuche ich mich zu verteidigen.
"Außerdem haben wir einen Verstand, mit dem wir die Quellen
interpretieren können und ein Gefühl, mit dem wir uns
in die Alten hinein versetzen können."
"Pah", macht Rossipotti. "Was nutzen dir Verstand
und Gefühl, wenn du die Dinge ganz anders verstehst und fühlst
als deine Vorfahren?"
"Je mehr ich von ihnen weiß, umso mehr kann ich sie
auch verstehen", beharre ich. "Und je besser ich sie verstehe,
um so mehr weiß ich von ihnen. Und je mehr ich weiß,
umso besser verstehe ich sie und ..."
"Ich weiß, ich weiß", grunzt Rossipotti.
"Du redest vom hermeneutischen Zirkel und davon, wie Verstehen
funktioniert. Aber der Zirkel beschreibt eine Kreisbahn!"
"Na und?" frage ich und stelle mir im Kopf eine runde
Graphik mit zwei gebogenen Pfeilen vor, die sich gegenseitig in
den Schwanz beißen. Eine der Pfeilspitzen zeigt dabei auf
"subjektives Vorwissen", die andere auf "objektives
Ereignis".
"Die Kreisbahn zwischen allgemeinem Wissen und persönlichem
Nichtwissen ist unendlich!" erklärt Rossipotti. "Das
heißt, dass wir uns dem ganzen Wissen über unsere Vorfahren
zwar annähern, es aber nie wirklich erreichen können!"
"Selbst wenn es so wäre", sage ich. "würde
ich nicht daran glauben wollen. Denn was fängt man mit einem
Wissen an, das behauptet, nicht vollständig zu sein? Dann kann
man es doch gleich über Bord werfen und sich selbst für
den Größten halten! Oder man wird umgekehrt so verunsichert,
dass man sich für ein geschichstloses Nichts hält!"
"Ach was", sagt Rossipotti. "Weder noch. Man entspannt
sich einfach und hält die Schöpfungsgeschichte der Bibel
für genauso wirklich wie die Evolutionstheorie von Charles
Darwin!"
Rossipotti reicht mir ein Buch mit dem Titel Das 1. Buch L.,
ein kompaktes Bilderbuch, auf dessen Cover zwei Legomännchen,
ein Mann und eine Frau, zu sehen sind. Die Frau hält einen
Apfel in der Hand. Über ihr sieht man eine giftig grüne
Schlange.
"Sollen das etwa Adam und Eva sein?" frage ich ein wenig
befremdet. Ich bin mir nicht sicher, wie ich eine aus Legosteinen
nachgebaute Bibelgeschichte finden soll. Großartig? Nichtig?
Oder einfach nur witzig?
"Hm", grunzt Rossipotti. "Wenn du dir diese Geschichte
einmal angeschaut hast, kannst du dir danach nicht mehr vorstellen,
dass Adam und Eva nicht wirklich aus Lego waren! Übrigens hat
der Macher Brendan Powell Smith nicht nur die Schöpfungsgeschichte,
sondern auch viele andere Bibelgeschichten nachgebaut. Zum Beispiel
die Geschichte mit Kain und Abel, die Arche Noah,
Abrahams Versuchung oder der Turmbau zu Babel.
"Heißt das Buch deshalb 1. Buch L.?" frage
ich. "L für Lego?"
"Wahrscheinlich", vermutet Rossipotti, "Im englischen
Original heißt das Buch übrigens The Brick Testament.
Stories from the Book of Genesis. Auf der Internetseite the
brick testament findet man auch viele Geschichten aus dem Neuen
Testament."
Ich blättere durch das Buch, lese mich fest, bin gegen meinen
Willen fasziniert von der schlichten, nur auf das Wesentliche konzentrierten
Darstellung der Bibelgeschichten!
Wie kann es sein, dass die Lego-Szenen tatsächlich viel lebendiger
und wirklicher, ja wahrer erscheinen, als viele der herkömmlichen
Bibel-Illustrationen?
Liegt es an den originalen Bibeltexten unter den einzelnen Bildern?
Liegt es an den plastischen Inszenierungen des Künstlers? Oder
liegt es womöglich daran, dass unserer Wahrnehmung heute Legosteine
für echter hält als Bilder in Öl und Acryl?
Verstehen wir die alte Zeit nur in neuen Bildern? Und falls ja:
Heißt das dann nicht, dass wir ihr, wie sie damals wirklich
war, nie wirklich nahe kommen und sie begreifen können?
Plötzlich glaube ich doch, was Rossipotti mir vorhin vermitteln
wollte: Geschichte ist eine Fiktion!
Brendan Powell Smith: Das 1. Buch L. Biblische
Geschichten aus dem Baukasten von Brendan Powell Smith. Sanssouci
im Carl Hanser Verlag. München - Wien 2004.
* * *
Eine kurze Geschichte von allen Dingen
"Wenn Geschichte tatsächlich Fiktion ist, brauchen wir
uns eigentlich nicht weiter darüber zu unterhalten", sage
ich. "Haken wir sie lieber gleich als unendliches Märchen
der Menschheit ab!"
"Seit wann hast du etwas gegen Märchen?" fragt Rossipotti.
Ich grummle vor mich hin, unfähig, Rossipotti ein schlagfertiges
Argument zu erwidern.
"Auch wenn wir nie wirklich wissen, wie die Vergangenheit
war, müssen wir uns trotzdem über sie austauschen",
meint Rossipotti. "Das Bild, das wir uns von der Geschichte
machen, bestimmt schließlich unser Handeln in der Gegenwart!"
"Warum das denn?" frage ich und versuche Rossipotti zu
provozieren: "Bevor ich mir Wurst oder Käse aufs Brot
lege, überlege ich mir doch nicht, wie die Alten gelebt haben!"
"Unbewusst schon!" sagt Rossipotti. "Denn du kannst
dich nur deshalb für Käse oder Wurst entscheiden, weil
wir heute die freie Wahl der Konsumgüter als Errungenschaft
der Geschichte ansehen!"
"Glaube ich nicht", sage ich betont lässig. Wenn
Rossipotti jetzt den Lehrer spielen will, werde ich noch lange nicht
den doofen Schüler abgeben! "Selbst die Steinzeitmenschen
haben schon zwischen Wurst und Käse entscheiden können!"
"Vielleicht", sagt Rossipotti. "Aber stell dir trotzdem
einmal vor, wir würden in einer Zeit leben, in der nur einer
bestimmen darf, was gemacht wird und was nicht, ..."
"Du meinst einen Diktator in einer Diktatur", unterbreche
ich Rossipotti und stelle klar, dass nicht nur Rossipotti klug zu
reden weiß.
"Genau", sagt Rossipotti erfreut. "Und in dieser
Diktatur steht nun in allen Geschichtsbüchern, dass es dem
großen Diktator nach jahrzehntelangem Kampf gelungen ist,
die schlimmen Fleischesser zu entmachten, die Tiere zu schützen
und die Gesellschaft in eine ruhmreiche Pflanzenessergesellschaft
zu führen. - Würdest du dich dann immer noch für
Wurst oder Käse entscheiden können?"
"Wohl nicht", überlege ich. "Sondern eher für
Marmelade oder Honig! Halt, nicht mal das. Der Honig ist ja von
den Bienen. Also hätte ich nur die Wahl zwischen Marmelade
und Marmelade."
"Wahrscheinlich!" sagt Rossipotti. "Auf jeden Fall
aber würde man es in dieser Gesellschaft schätzen, nur
die Hälfte der möglichen, essbaren Lebensmittel, nämlich
Pflanzen, zu essen. Wir dagegen leben in einer Gesellschaft, in
der es als Fortschritt angesehen wird, dass jeder möglichst
viele verschiedene Lebensmittel kaufen kann. Vom Fischei über
afrikanische Stachelbeeren bis hin zur chemisch hergestellten Vitamintablette.
Und das betrifft bei uns ja nicht nur die Lebensmittel, sondern
alle Güter."
"Du meinst damit, dass wir in einer Konsumgesellschaft
leben", versuche ich mich wieder auf Aughöhe von Rossipotti
zu begeben. Er soll nur nicht denken, dass er mir die Welt erklären
muss!
Das Wort Konsumgesellschaft habe ich übrigens neulich
irgendwo aufgeschnappt und im Internet nachgelesen, was es bedeutet:
Konsum bedeutet Verbrauch. Wir leben also in einer
Gesellschaft, die gerne Güter verbraucht, kauft und verkauft.
"Ja, die Menschen beten heute den Konsum an!" doziert
Rossipotti weiter. "Manche sogar so sehr, dass sie nicht mehr
wissen, wie sie ihren Tag verbringen sollen, wenn sie nicht einkaufen
gehen können!"
"Ja, ja, die bösen Shopper, die nur Mehr im Kopf
haben", sage ich unwillig. "Aber du hast immer noch nicht
gesagt, warum wir heute den Konsum als Errungenschaft ansehen!"
"Weil wir von unseren Vorfahren, die im Zeitalter der Industrialisierung
gelebt haben, vor allem das Bild von armen, kranken Menschen, die
in dunklen, nassen Kammern zusammen gedrängt gelebt haben,
im Kopf haben", behauptet Rossipotti. "Insofern sind wir
stolz, dass wir heute viel besser leben und uns viele Dinge kaufen
können! Was glaubst du aber, wie wir leben würden, wenn
wir unsere Ururur-Großeltern dagegen als kämpferische
Menschen voller Visionen und revolutionärem Tatendrang vorstellen
würden?"
"Keine Ahnung", sage ich, "vielleicht müssten
wir dann jeden Tag eine gute Tat vollbringen, um uns gut zu fühlen?
Oder wir würden uns viel mehr in die Politik einmischen? Oder
wir müssten jeden Morgen zum Fahnenappel, um unseren revolutionären
Führern zu danken?"
"Vielleicht", sagt Rossipotti. "Sicher aber würden
wir unsere heutige Zeit anders beurteilen und davon ausgehend auch
anders handeln."
"Bin ich froh, dass wir unsere Vorfahren als arme Kirchenmäuse
vorstellen", sage ich und denke an meinen coolen Flossenverstärker,
den ich mir neulich gekauft habe. "Ich hätte nämlich
keine Lust, mir jeden Tag meinen Kopf über Ideale zerbrechen
zu müssen!"
"Wenn du dich so für unsere käuflichen Güter
interessierst", sagt Rossipotti und sieht mich dabei scheel
an, "kann ich dir die Kurze Geschichte von allen Dingen
empfehlen! Das Buch erzählt die Menschheitsgeschichte von den
Anfängen bis zur Gegenwart allein über ihre Erfindungen
und unterschiedlich entwickelten Gegenstände."
"Hört sich gut an", sage ich. "Steht in dem
Buch wirklich nichts über ruhmreiche Taten oder politische
Ereignisse, sondern nur etwas über Gegenstände?"
"Ja", versichert Rossipotti. "Es ist ein tolles
Pop-Up-Bilderbuch, dessen zehn Doppel-Seiten gespickt voll mit witzigen,
comicartigen Bildern und kurzen frechen Texten sind."
"Ein Pop-Up-Bilderbuch?" frage ich erstaunt. "Aber
dann erfährt man ja überhaupt nichts Genaues über
die einzelnen Gegenstände?"
"Nichts Genaues, aber trotzdem genug", sagt Rossipotti.
"Gerade so viel, dass man weiß, worum es sich
bei der Abbildung handelt. Und gerade so wenig, dass man
es nicht gleich wieder vergisst. Auf jeden Fall ist es aber ein
tolles, buntes Konsumprodukt, das sich zwischen deinem Computer
und dem neuen Flossenverstärker sicher gut ausmachen wird!"
Neal Lyton: Eine kurze Geschichte von allen Dingen.
Von der Steinzeit bis zur Gegenwart in 10 Pop-Up-Bildern. Boje Verlag.
Köln 2009.
Leonardo da Vinci, der Zeichner der Zukunft
"Ich liebe kurzweilige Bücher", sage ich, als ich
die Kurze Geschichte von allen Dingen wieder zuklappe. "Man
kann sie ohne Anstrengung lesen und erfährt trotzdem etwas
dabei."
"Etwas schon, aber nicht viel", sagt Rossipotti. "Je
vielschichtiger ein Buch, umso anstrengender ist es zwar zu lesen.
Aber umso anstrengender es ist, umso mehr erfährt man auch."
"Finde ich nicht", sage ich. "Es gibt anstrengende
Bücher, bei denen man sich durch jede Seite quält und
trotzdem am Ende kaum mehr weiß als davor."
"Welches denn zum Beispiel?" fragt Rossipotti neugierig.
"Das Foucaultsche Pendel von Umberto Eco", sage
ich, ohne lange überlegen zu müssen. "Das Buch tut
sehr intelligent und gibt vor, einem unheimlich viel Wissen über
Tempelritter und uralte, verborgene Zusammenhänge zu vermitteln.
In Wirklichkeit ist es ein unaufgeklärter Schwulst und wird
meiner Meinung nach völlig überbewertet."
"1:0 für dich!" meint Rossipotti, ohne mit der Wimper
zu zucken. Offensichtlich kann er das Buch auch nicht leiden. "Fällt
dir im Gegensatz dazu aber auch ein Buch ein, das zwar kurzweilig
ist, von dem man aber trotzdem viel erfahren kann?"
"Ja", sage ich und denke an ein Buch, das ich erst kürzlich
gelesen habe: "Leonardo da Vinci, der Zeichner der Zukunft."
"Eine Biographie?" fragt Rossipotti skeptisch. "Seit
wann ist es kurzweilig, dem Lebenslauf irgendeiner Persönlichkeit
zu folgen?"
"Leonardo da Vinci ist nicht irgendeine Persönlichkeit",
sage ich, "sondern ein großer Maler und Erfinder im Zeitalter
der Renaissance! Außerdem ist die Biographie ziemlich spannend
geschrieben. Der Autor erzählt die Geschichte aus der Ich-Perspektive
da Vincis. Dadurch wirkt alles sehr direkt und lebendig."
"Eine fiktive Autobiographie also?" fragt Rossipotti.
"Und das nimmt man dem Autor ab?"
"Finde ich schon", sage ich. "Manchmal weiß
man zwar nicht, ob dies oder jenes wirklich so gewesen oder gesagt
worden ist oder ob der Autor es Leonardo da Vinci nur in den Mund
legt. Aber insgesamt hatte ich schon den Eindruck, dass der Autor
nur das wieder gibt, was er über da Vinci recherchiert hat.
Außerdem wird der Ich-Erzählung immer wieder ein Sach-Text
gegenüber gestellt, in dem Leonardo in der Außenperspektive
dargestellt wird. Das gibt dem Ganzen noch mehr Glaubhaftigkeit."
"Also auf jeden Fall sehr kurzweilig und gut recherchiert",
schnappt Rossipotti mit dem Maul. "Aber hast du auch viel über
da Vinci erfahren?"
"Ja, sehr viel sogar!" sage ich überzeugt. "Zum
Beispiel, dass da Vinci als uneheliches Kind geboren wurde und die
ersten Jahre bei seinen Großeltern aufgewachsen ist. Und dass
ihn sein Vater später doch noch zu sich geholt und ihn in die
Malschule von Meister Verrochio gesteckt hat. Dort hat er mit Sandro
Botticelli und Pietro Vannucci zusammen gerabeitet habt, die später
auch weltberühmt wurden. Auch Leonardo da Vincis Talent wurde
bald erkannt und er wurde schnell zu einem der anerkanntesten Maler
seiner Zeit, der neue Mal-Techniken erfand. Eine davon ist das Sfumato,
bei der die Ränder der Gegenstände wie vernebelt oder
verwischt aussehen."
"Und das ist alles, was du erfahren hast?" fragt Rossipotti.
"Dafür muss man kein ganzes Buch lesen!"
"Ich habe auch noch viel mehr erfahren!" sage ich. "Wusstest
du zum Beispiel, dass da Vinci ein unheimlich langsamer Maler war
und viele Bilder nicht fertig gemalt hat? Und dass der Papst ihm
damals den großen Michel Angelo vorgezogen hat, was ihn wütend
gemacht hat? Und wusstest du, dass er diese berühmte Proportionsstudie
eines Menschen, die heute sogar jede italienische 1-Euromünze
prägt, gar nicht selbst erfunden hat, sondern die Zeichnung
auf den Architekten Vitruv aus dem 1. Jahrhundert nach Christus
zurück geht? Oder wusstest du, dass der Maler da Vinci auch
ein großer Erfinder von technischen Geräten und Apparaturen
war? Zum Beispiel hat er mehrere Fluggeräte, einen Aufzug,
einen Füller und einen automatischen Bratspieß erfunden!
Als Erfinder war er auch ein beliebter Party-Planer von Adligen.
Für eine Party hat er sogar einen Vulkan konstruiert, der Feuer
und Steine ausspucken konnte!"
"Das ist ja alles schön und gut", sagt Rossipotti.
"Aber was war Leonardo da Vinci für ein Mensch? In welcher
Zeit lebte der Maler damals? Waren es friedliche oder kriegerische
Zeiten?"
"Steht alles drin!" sage ich. "Leonardo wurde 1492
in der Nähe von Florenz geboren. Das Mittelalter geht gerade
in die Renaissance über und Florenz ist deren kulturelles Zentrum.
Politisch betrachtet gab es damals in Italien viele Kleinstaaten,
die sich zwar oft bekämpften, aber zumindest in Florenz damals
ruhig waren. Später zog da Vinci nach Mailand, wo er sich vom
Herzog als Hofingenieur und Erfinder von Palästen, Festungen
und von technischen Apparturen und Kriegsgeräten anstellen
ließ ..."
"Heißt dass, dass da Vinci sich für Kriege begeistert
hat?" fragt Rossipotti. "Oder hat er den Auftrag nur notgedrungen
angenommen?"
"Keine Ahnung", sage ich. "Ich glaube, er hatte
einfach Spaß, am Konstruieren von Geräten. Er hat sich
auch überlegt, wie man eine Unterwasserarmee ausrüsten
muss, damit sie feindliche Schiffe anbohren kann oder wie man den
Fluss so umleiten muss, damit Pisa auf dem Trockenen sitzt."
"Ein unangenehmer Geselle, dieser da Vinci", stellt Rossipotti
fest. "Oder war er nur gnadelos unpolitisch?"
"Das glaube ich nicht!" sage ich. "Denn er war mit
einem der wichtigsten Politiker seiner Zeit, Machiavelli befreundet."
"Mit Machiavelli?" fragt Rossipotti entsetzt. "Aber
das ist doch dieser berühmte Staatsphilosoph, der es gut hieß,
wenn ein Fürst Gewalt gegen sein Volk ausübt?!"
"Darüber stand in dem Buch nichts", versuche ich
mich rauszureden. "Aber das würde dazu passen, dass Machiavelli
da Vinci zu Cesare Borgia schickt, um ihm Kriegsgeräte zu bauen.
Und dieser Borgia wird im Buch als hinterhältiger, völlig
skrupelloser Mörder beschrieben. "
"Und wieso hat da Vinci das mitgemacht?" fragt Rossipotti.
"Aus Geldgier? Oder hatte er keinen anderen Unterstützer?"
"Woher soll ich das wissen?" sage ich. "Davon steht
in dem Buch doch auch nichts! Auf jeden Fall hat da Vinci viele
tolle Bilder gemalt hat und lauter neue Dinge entwickelt! Wegen
dieser Gegenstände und seiner Kunst ist er für uns auch
heute immer noch einer der wichtigsten Menschen seiner Zeit. Da
ist doch seine Einstellung seiner Zeit und ihrer Politik gegenüber
ganz egal! Sein Können aber kommt in dem Buch sehr gut rüber!"
"Also ist die fiktive Autobiographie wieder nur eine Art Konsumgeschichte",
überlegt Rossipotti. "In der zwar erklärt wird, was
da Vinci alles Tolles erfunden hat, man aber eigentlich nichts wirklich
über den Künstler selbst und den politischen Hintergrund
erfährt. Kurzweilig schon, aber eben nicht besonders tiefgründig."
"Wenn man es so betrachtet, hast du eigentlich Recht",
sage ich und gebe ich mich geschlagen: "1:1 für uns beide."
Luca Novelli: Leonardo da Vinci, der Zeichner
der Zukunft. Arena Verlag. Würzburg 2007.
* * *
1848. Die Geschichte von Jette und Frieder
"Wir brauchen ein Buch mit mehr Substanz und geschichtlicher
Tiefe", sagt Rossipotti. "Wir brauchen ein Buch, das die
alten Zeiten nicht nur oberflächenhaft als Ansammlung bunter
Güter und Szenen darstellt, sondern vor allem versucht, ihren
vielschichtigen politischen Hintergrund und ihre gesellschaftlichen
Auseinandersetzungen zu vermitteln."
"Ein Buch wie Walter Gombrichts Weltgeschichte für
junge Leser?" frage ich. "Gombricht stellt die Geschichte
noch als Abfolge von Eroberungskriegen, Konkurrenz zwischen Kirche
und Krone, Stadt und Dorf und Arm und Reich vor."
"Gombrichts Weltgeschichte ist immer noch ein gutes
Buch", sagt Rossipotti. "Auch wenn es fast hundert Jahre
alt und damit selbst Geschichte geworden ist! Aber liest man so
einen Ritt durch die Jahrhunderte gerne?"
"Dann könnten wir einen historischen Roman vorstellen",
schlage ich vor. "Die meisten historische Romane sind unterhaltsam
und versuchen immerhin, die Zeit damals vielschichtig aufzuzeigen
und uns heute zu vermitteln. Wie wäre es zum Beispiel mit Hinterhof
Nord von Waldtraut Lewin?"
"Hinterhof Nord?!" schnappt Rossipotti. "Das ist
eine triviale Liebesgeschichte, die mit Berliner Bildern aus dem
vorletzten Jahrhundert aufgepeppt werden soll. Von Tiefe keine Spur!"
"Dann gefällt dir vielleicht der Roman Das Geheimnis
der Weißen Mönche von Rainer M. Schröder?"
wage ich einen neuen Versuch. "Der Autor hat sich ziemlich
gut über das Mittelalter informiert und er setzt sich in dem
Buch seitenlang mit der christlichen Glaubenslehre auseinander.
Außerdem ist die Geschichte sehr spannend geschrieben!"
"Für meine Geschmack zu spannend", sagt Rossipotti.
"In dem Buch geht es vor allem darum, einen Krimi vor alter
Kulisse zu erzählen. Und eben nicht darum, sich wirklich mit
der mittelalterlichen Geschichte auseinander zu setzen. Außerdem
stolpert der Protagonist mit den Ansichten eines neuzeitlichen Junge
durch den Roman. Völlig unzeitgemäß."
"Hast du vorhin nicht selbst gesagt, dass wir Geschichte immer
nur aus unserem Blickwinkel betrachten können?!" erinnere
ich Rossipotti. "Dann wirst du keinen einzigen Roman finden,
der nicht immer auch die Wahrnehmung des Autors mit einfließen
lässt."
"Sicher", sagt Rossipotti. "Aber es gibt auch Autoren,
denen es vorrangig nicht darum geht, einen reißerischen Titel
zu schreiben, sondern die sich ernsthaft mit der Geschichte auseinandersetzen
und die ..."
"... total langweilig sind", setzte ich Rossipottis Satz
in meiner Version fort. "In solchen Büchern quält
man sich doch mehr durch die historischen Betrachtungen, als dass
man sich in die Geschichte hinein fallen lassen kann!"
"Kommt auf den Autor an", sagt Rossipotti. "Es gibt
Autoren, die haben selbst so viele geschichtliche Brüche und
Umwälzungen erfahren, dass sie unsere Vergangenheit sehr lebendig
beschreiben können."
"Die müssen aber schon lange tot sein!" sage ich.
"Die letzte, große politische Veränderung ist mit
dem Fall der Mauer doch schon über zwanzig Jahre her!"
"Menschen leben länger als Fische", erinnert mich
Rossipotti lästigerweise an meine kurze Lebensdauer. "Die
meisten von ihnen haben nicht nur die letzten zwanzig Jahre überlebt,
sondern viele von ihnen auch den zweiten Weltkrieg. Wahrscheinlich
gibt es von ihnen sogar noch ein paar, die den ersten Weltkrieg
miterlebt haben!"
"Und die schreiben tiefgründige, spannende Bücher
über vergangene Zeiten?" frage ich spöttisch. "Wahrscheinlich
über Krieg, Zerstörung und Verfall!"
"Aber auch über Hoffnung, Wandel und die Möglichkeit
eines Neuanfangs!", sagt Rossipotti.
"Wandel und Neuanfang! Dass ich nicht lache", sage ich,
"Die Menschen sind doch zu so etwas gar nicht fähig! Es
gibt zwar Phasen, in denen sie so tun, als ob sie die Welt verändern
und bessere Menschen werden wollen, aber sobald die Revolution vorbei
ist, fängt alles wieder beim Alten an: Die Reichen beuten die
Armen aus, die Oberen drücken die Unteren, die Stärkeren
besiegen die Schwächeren, die Vegetarier werden wieder zu Fleischfressern."
"Und wenn schon", meint Rossipotti. "Es lohnt sich
trotzdem für die Zeiten dazwischen zu kämpfen! Wenn sich
die Menschen in den letzten hundert Jahre nicht immer wieder dafür
entschieden hätten, frei und demokratisch leben zu wollen,
würden wir uns hier jetzt nicht über Bücher unterhalten,
sondern geschmort und gebraten auf dem Silberteller eines Königs
oder Fürsten liegen!"
"Du willst also ein Buch vorstellen, in dem die Menschen für
ihre Rechte kämpfen und tatsächlich auch einen Wandel
hervorrufen?" frage ich, um schnell von dem grausamen Bild
des Schmorfisches abzulenken.
"Ja!" sagt Rossipotti. "Und wenn ich es mir recht
bedenke, am liebsten die Geschichte von Jette und Frieder.
Denn sie beschreibt, wie man sich aus seiner miserablen politischen
und wirtschaftlichen Situation befreien kann. Zumindest dann, wenn
man an die Veränderung glaubt und darum kämpft."
"Die Geschichte von Jette und Frieder hört sich
aber sehr privat und überhaupt nicht nach Politik und Revolution
an!"
"Das ist ja genau das Gute daran!" sagt Rossipotti. "Denn
Revolutionen finden ja nicht gleich im Großen statt, sondern
immer zuerst im Privaten. So wie bei Jette und Frieder. Die beiden
sind anfangs nur zwei ganz normale Jugendliche, die mit ihrem Berliner
Alltag Mitte des 19. Jahrhunderts kämpfen. Jette ist eine Waise
und wohnt mit ihrer Schwester Guste und deren Sohn zusammen. Sie
wohnen in ärmlichen Verhältnissen und Guste muss anschaffen
gehen, um die Familie über Wasser zu halten. Im gleichen Haus
wohnt Frieder, weshalb sich beide kennen und lieben lernen. Frieder
ist Handwerker mit einigermaßen guter Zukunftsperspektive.
Aber auch er ist zu arm, um sich und seiner verwitweten Mutter das
verteuerte Gemüse auf dem Markt leisten zu können. In
dieser Situation geraten die beiden mehr oder weniger zufällig
in den revolutionären Umbruch dieser Zeit. Frieder kommt einige
Monate ins Gefängnis und schließt sich danach einer politischen
Gruppe an, die für das Mitspracherecht der Bürger kämpft.
Und da genau dringt das Private nach Außen, oder bricht das
Außen in das Private ein.
Während Jette und Frieder sich allerdings dem politischen Umbruch
stellen und an der Neugestaltung mitwirken möchten, versperrt
sich Guste dagegen. Sie sieht zwar ihre private miserable Situation,
aber sie hält es nicht für möglich, dass sich diese
auch ändern lassen kann. Wahrscheinlich lässt Kordon sie
deshalb am Ende des Romans sterben, frei nach dem Motto: Jemand,
der nicht an den Wandel glaubt, geht unter."
Klaus Kordon: 1848. Die Geschichte von Jette
und Frieder. Beltz & Gelberg. Weinheim/Basel 1997.
* * *
Malka Mai
"Ich frage mich, warum es keine Geschichte des Wandels
gibt", sage ich nachdenklich. "Eine Geschichte also, die
nur die Wendepunkte beschreibt und die zeigt, dass Menschen fähig
sind, sich zu verändern."
"So wie du?" grinst Rossipotti. "Hast du nicht gerade
noch behauptet, dass sich die Menschheits-Geschichte nie wirklich
ändert, sondern in ihrer Grundstruktur immer gleich bleibt?"
"Ich bleibe eben nicht wie Jettes Schwester Guste zurück,
sondern bin fähig meine Meinung zu ändern!" sage
ich. "Und deshalb glaube ich jetzt, dass, wenn es die allgemeine
Überzeugung der Menschen wäre, Dinge verändern zu
können, nie mehr jemand sagen könnte: Das ist eben
so, das kann man nicht ändern!"
"Geschichte ist immer Wandel," stellt Rossipotti fest,
"dafür braucht es keine Geschichte des Wandels.
So lange man jung ist, denkt man zwar, die Welt ist genau so, wie
man sie gerade erlebt. Aber ab einem gewissen Alter merkt man, dass
sich die Welt jeden einzelnen Tag ein Stück weit verändert."
"Die meisten scheinen das aber nie zu bemerken!" sage
ich. "Wie erklärst du dir sonst, dass die Menschen nicht
reagieren, wenn ihre Rechte beschnitten werden? Oder dass sie einfach
nur zusehen, wenn die Welt immer ungerechter wird?"
"Woher soll ich wissen, was in den Köpfen der Menschen
vorgeht?" versucht sich Rossipotti heraus zu reden. "Ich
bin ein Krokodil!"
"Du hast die Menschen über Jahre hinweg studiert",
lasse ich nicht locker. "Du musst wenigstens eine Ahnung haben,
warum sie so wenig handeln!"
"Bei den Menschen ist sich jeder selbst der nächste",
sagt Rossipotti. "So lange es ihnen selber nicht an den Kragen
geht, sehen sie nicht ein, warum sie handeln sollten."
"Sie reagieren ja nicht einmal, wenn es ihnen selbst schlecht
geht!" sage ich empört. "Ich habe neulich zum Beispiel
das Buch Malka Mai von Mirjam Pressler gelesen. Die Autorin
schildert darin sehr eindrücklich, wie eine jüdische Mutter,
die mit ihren beiden Töchtern in Polen lebt, nicht vor den
deutschen Nationalsozialisten flieht. Und das, obwohl Hitler längst
in Polen einmarschiert ist und sie damit rechnen muss, jeden Tag
in eines der Konzentrationslager abgeholt zu werden!"
"Ein gutes Buch!" sagt Rossipotti. "Und ein sehr
gutes Beispiel dafür, dass die Menschen sehr wohl erst dann
etwas unternehmen, wenn sie selbst unmittelbar bedroht sind! Die
Mutter von Malka und deren Schwester Minna hat einfach nicht geglaubt,
dass sie durch die Deutschen bedroht ist. Sie hielt sich als Landärztin
für unentbehrlich, hatte außerdem eine Affäre mit
einem Deutschen und sah im nazifreien Ausland auch keine Perspektive
für sich. Deshalb ist sie erst mit ihren Töchtern geflohen,
als die Deutschen schon in ihrem Dorf standen, um die Juden abzutransportieren."
"Und was ist mit den anderen Juden?" frage ich aufmüpfig.
"Waren die auch alle Ärzte und hatten Affären mit
Deutschen?"
"Auf gewisse Weise schon", sagt Rossipotti. "Die
meisten werden tatsächlich geglaubt haben, dass sie wegen ihrer
besonderen Situation noch einmal ungeschoren davon kommen."
"So eine Haltung ist doch viel zu riskant!" sage ich.
"Und was hat es ihnen gebracht? Nichts! Die meisten von ihnen
wurden in jüdische Ghettos oder in Konzentrationslager verschleppt
und umgebracht! Hätten sie an die Möglichkeit geglaubt,
die Dinge verändern zu können, wäre das nicht passiert!"
"Einige von ihnen haben sehr wohl versucht, sich zu wehren!"
sagt Rossipotti. "Es gab mehrere Aufstände, sowohl in
den Ghettos als auch in den KZs. Aber sie hatten gegen die Übermacht
der Deutschen keine Chance."
"Dann lag es eben an der deutschen Bevölkerung!"
sage ich. "Wenn die an die Möglichkeit einer Veränderung
geglaubt hätte, wäre es nicht zu den Massenmorden gekommen.
Dann hätten sie sich gemeinsam für die Juden eingesetzt
und Hitler vertrieben!"
"Schön wär's" sagt Rossipotti. "Aber viellicht
lag es gar nicht am fehlenden Glaube an einen Wandel, der die meisten
Deutschen nicht helfen ließ, sondern viel mehr daran, dass
sie an einen anderen Wandel glaubten als dir lieb ist?"
Ich stutze: Was meint Rossipotti damit?
Als mir die Antwort langsam ins Bewusstsein dringt, läuft es
mir kalt den Rücken runter.
"Zum Glück hat die kleine Malka Mai in dem Buch mehr
Glück als die meisten Juden damals!" sagt Rossipotti.
"Sie wird zwar von ihrer Mutter bei der Flucht nach Ungarn
getrennt, wird in ein Ghetto gesteckt, wo sie fast verhungert und
an Typhus erkrankt, aber sie wird immer wieder auch auf wundersame
Weise gerettet. Paradoxerweise ist das unwirkliche Ende des Romans
aber trotzdem wahr: Denn obwohl die meisten deutschen Juden ermordet
wurden, waren es am Ende doch sie und nicht Adolf Hitler und die
Nationalsozialisten, die überlebt und ihre Situation verändert
haben."
Mirjam Pressler: Malka Mai. Beltz & Gelberg.
Weinheim/Basel 2001.
* * *
Adile. Ein Mädchen aus Istanbul
"Auch wenn Malka Mai mit der Rettung Malkas am Ende
zeigt, dass sich die Verhältnisse ändern können",
setze ich unsere vorige Unterhaltung fort, "finde ich trotzdem,
dass das Buch nicht wirklich zum aktiven Handeln aufruft. Das ist
in dem Roman Adile. Ein Mädchen aus Istanbul anders.
Das türkische Mädchen wird zwar auch zeitweilig von ihrer
Mutter, die ihrem Mann nach Deutschland folgt, getrennt, aber immerhin
nimmt sie ihr Schicksal am Ende selbst in die Hand und wartet nicht
ab, ob sich die Umstände zu ihren Gunsten ändern oder
nicht."
"Du kannst doch die siebziger Jahre aus der Sicht einer türkischen
Gastarbeiterfamilie nicht mit dem Dritten Reich aus der Sicht von
Juden vergleichen!" sagt Rossipotti. "Die Gastarbeiter
waren auf Einladung der Bundesrepublik hier. Auch wenn man ihnen
nicht wirklich gesonnen war und man sie oft unwürdig behandelte,
mussten sie keine Angst davor haben, verschleppt und ermordert zu
werden!"
"Das wäre ja auch noch schöner!" sage ich.
"Erst lädt man sie ein, und dann bringt man sie um! Trotzdem
ist es doch erstaunlich, dass sich die Juden im Dritten Reich trotz
der Gefahr sehr schwer getan haben, ins Ausland zu fliehen. Während
die Italiener, Türken, Griechen, Jugoslawien und Portugiesen
keine zwanzig Jahre später einfach so ihrer Heimat den Rücken
gekehrt haben und nach Deutschland gekommen sind."
"Komisch finde ich daran vor allem, dass sie Lust hatten,
nach Deutschland zu kommen", sagt Rossipotti. "Aber im
Unterschied zu den Juden, die oft zur reichen Bürgerschicht
gehört haben, waren die Gastarbeiter in ihrer Heimat meistens
arm. Deshalb waren sie froh, in Deutschland mehr Geld für ihre
Arbeit zu bekommen."
"Wenn es stimmt, was in dem Buch über Adile steht",
sage ich, "hatten die Gastarbeiter hier auch kein schönes
Leben. Adiles Eltern haben sich in Deutschland überhaupt nicht
mehr verstanden. Der Vater fängt an, die Mutter und die Kinder
zu schlagen, die Mutter hat keine Freundinnen mehr und die Kinder
dürfen niemand mit nach Hause bringen. Außerdem werden
Adile und ihr Bruder in der Schule gemobbt. Und bald haben sie auch
keine Chance mehr, deutsche Kinder kennen zu lernen, weil die türkischen
Kinder von den deutschen abgesondert in einer eigenen Klasse unterrichtet
werden."
"Auch das kein schönes Kapitel der deutschen Geschichte",
sagt Rossipotti. "Vielleicht haben die Deutschen aus ihrer
Geschichte doch zu wenig gelernt, wie man mit andersgläubigen
Menschen umgeht?"
"Die Gastarbeiter wurden von den West-Deutschen einfach mehr
oder weniger ausgeblendet", sage ich. "Wenn man sich mit
Leuten, die schon in den sechziger und siebziger Jahren gelebt haben,
unterhält, bekommt man ein ganz anderes Bild dieser Jahre als
in dem Buch über Adile. Für die Deutschen boomte damals
einerseits die Wirtschaft, andererseits revoltierten die jungen
Studenten gegen die alten Hierarchien und Vorstellungen. Die Menschen
mischten sich in die Politik ein, besetzten Häuser, gründeten
Zeitschriften und Parteien und glaubten an eine freiere, offenere
Gesellschaft, in der auch Frauen gleichberechtigt behandelt werden.
Keine Spur davon, dass sie sich für die Gastarbeiter interessierten."
"Zu jeder Zeit finden gleichzeitig unterschiedliche Dinge
oder Strömungen statt, die eigentlich nicht zusammen passen,"
sagt Rossipotti. "Im Nachhinein wirkt die Geschichte relativ
homogen oder einheitlich, weil man sich nur noch an das für
die Zeit Typische oder Herausragende erinnert. Aber bei genauer
Betrachtung, treffen zu jedem Zeitpunkt immer Vorstellungen aus
verschiedenen Zeitaltern aufeinander. Heute leben in Deutschland
beispielsweise Menschen, die noch nie einen Computer oder ein Handy
bedient haben und statt dessen lieber Briefe schreiben und klassische
Musik hören, gleichzeitig mit Menschen zusammen, die sich ein
Leben ohne neue Medien und Popstars überhaupt nicht vorstellen
könnnen."
"Trotzdem ist es seltsam, dass sich die Menschen in der Bundesrepublik
in den siebziger Jahren einerseits für eine offene Gesellschaft
eingesetzt haben, aber andererseits die Ausgrenzung von Ausländern
toleriert haben", sage ich. "Das passt für mich nicht
zusammen."
"Ein paar haben sich schon für die Gastarbeiter eingesetzt",
sagt Rossipotti. "Der Reporter Günther Wallraff beispielsweise
hat sich Anfang der achtziger Jahren als Türke verkleidet,
verschiedene Arbeiten angenommen und danach ein Buch geschrieben,
wie menschenverachtend er behandelt wurde. Das Buch Ganz unten
war damals ein riesiger Erfolg und löste auch eine Debatte
über das Verhalten der Deutschen gegenüber Ausländern
aus."
"Stimmt", erinnere ich mich. "Aber zu dem Zeitpunkt
haben die Gastarbeiter ja schon viele Jahre Ausbeutung und Ausgrenzung
hinter sich. Übrigens setzt sich für Adile am Ende auch
noch ein deutsches Mädchen ein. Der Schluss des Buchs bleibt
zwar offen, aber im Nachwort steht, dass es die Mutter schafft,
sich vom brutalen Vater zu trennen, und sich in Deutschland mit
den Kindern besser einzurichten. Heute geht es Adile hier so gut,
dass sie nicht mehr weg will und in Berlin lebt."
Anja Tuckermann: Adile. Ein Mädchen aus
Istanbul. Mit Bildern von Ulrike Barth-Musil. Klett Kinderbuch.
Leipzig 2011.
* * *
Der Ritter
"Wir haben einen großen Fehler begangen", sagt
Rossipotti, während ich die letzte Buchbesprechung in den Computer
fertig tippe. "Wir haben kein Buch aus dem Mittelalter vorgestellt!
Dabei ist gerade das Mittelalter für viele Kinder die spannendste
Zeit unserer Geschichte!"
"An mir kann es nicht liegen", sage ich. "Ich habe
dir vorhin das Geheimnis der weißen Mönche empfohlen."
"Richtig", sagt Rossipotti und funkelt mich wütend
an. "Du bist schuld daran, dass wir das Mittelalter verpasst
haben. Mit diesem oberflächlichen Schinken hast du mich vorhin
von der richtigen Spur abgelenkt! Und jetzt habe ich keine Zeit
mehr! In zehn Minuten treffe ich mich zum 11-Uhr-Termin mit alten
und neuen Autoren!"
"Also Schluss für heute?" frage ich und recke meine
Gräten. Nach sechs Buchbesprechungen habe ich nichts dagegen,
ein Päuschen einzulegen.
"Das könnte dir so passen!" sagt Rossipotti. "Wenn
ich keine Zeit mehr habe, musst du eben das mittelalterliche Buch
alleine vorstellen!"
"Von mir aus", sage ich und denke, dass es auf jeden
Fall weniger anstrengend ist als mit Rossipotti zusammen.
"Am liebsten wäre es mir, wenn du einen Originaltext
vorstellen könntest", sagt Rossipotti. "Aber ich
glaube eigentlich nicht, dass sich Kinder heute für den Versepos
von Parzival, Das Nibelungenlied oder für Boccaccios
deftige Novellensammlung Decamerone interessieren? Und Kinderbücher
gab es damals noch gar nicht. Die gibt es ja erst seit ungefähr
zweihundert Jahren. "
"Was haben die Kinder denn dann im Mittelalter gelesen?"
überlege ich mir komischerweise zum ersten Mal.
"Gar nichts", sagt Rossipotti. "Die konnten doch
weder lesen und schreiben! Wie die meisten Eltern übrigens
auch nicht. Die Geschichten wurden damals noch mündlich erzählt
und die Kinder hörten wahrscheinlich sehr gerne dabei zu. Schon
deshalb, weil sie keine anderen Ablenkungen hatten. - Heute muss
eine Geschichte dagegen ja möglichst kurzweilig und wenig anstrengend
sein, damit ein Kind überhaupt noch ein Buch liest!"
Sollte das ein Seitenhieb auf mich sein, weil ich mich vorhin für
kurzweilige Bücher und gegen anstrengende ausgesprochen habe?!
Ich möchte Rossipotti gerade fragen, als er auf die Uhr sieht,
zur Türe eilt und sagt: "Ich muss jetzt los. Suche du
ein Buch aus dem Mittelalter aus! Am besten ein spannendes, das
auch etwas mitzuteilen hat! Einmal wirst du es sicher auch alleine
hinbekommen."
Einmal! denke ich wütend und knirsche mit den Gräten.
Dass ich nicht lache! Ich habe schon x-mal Bücher alleine vorgestellt
und meiner Meinung nach auch weitaus besser als mit Rossipotti zusammen.
Ich krame in meinem Bücherstapel mit historischen Romanen über
das Mittelalter. Ich finde Bücher über gute und böse
Hexen, über Alchemisten, tapfere Ritter und holde Burgfräuleins,
verschlagene und hilfreiche Mönche und Intrigen am königlichen
Hof von König Artus.
Das ist eine Menge und doch scheinen sie mir nicht geeignet für
die Ansprüche von Rossipotti. Denn Rossipotti wollte vorhin
ja ein Buch, das anstrengend und doch spannend zugleich ist. Eines,
das sich intensiv mit der Geschichte auseinander setzt, ohne zu
viel von der eigenen Betrachtungsweise von heute mit einfließen
zu lassen.
Und damit fallen die meisten Bücher weg. Schon allein deshalb,
weil die meisten historischen Romane wirkliche Begebenheiten mit
Fantasy vermischen.
Ich krame weiter im Bücherstapel und fische schließlich
von ganz unten ein relativ dickes Buch mit dem schlichten, aber
verführerischen Titel Der Ritter hervor.
Ich weiß, dass ich das Buch vor längerer Zeit gelesen
habe, kann mich aber nicht mehr richtig daran erinnern. Szenen von
Pferden und einem blutigen Kreuzzug, Bilder von einem vertriebenen
König und seinem treuen Knappen kommen mir in den Sinn. Gerüche
von arabischen Gewürzen, dunklen Kellerverliesen und dem brennenden
Holz eines Scheiterhaufens. Geräusche von klingenden Waffen
in einem Turnierkampf und die lieblichen Stimmen von zwei verschiedenen
Frauen.
Welche der beiden Frauen bekam der zum Ritter geschlagene Knappe
am Ende noch einmal? Ich überlege, glaube aber komischerweise,
dass der Ritter sowohl die blonde Adlige als auch die schwarze Jüdin
am Ende heiratete.
Wie kann das sein?
Ich krame in meinem Gedächtnis und plötzlich fällt
es mir wieder ein: Max Kruse hat Walter Scotts Ivanhoe zu
seinem Buch Der Ritter umgeschrieben. Beide Geschichten sind
sehr ähnlich. Aber während Scotts Ivanhoe viele
Dinge im Dunkeln lässt oder viel Vorwissen über die Zeit
damals voraussetzt, erklärt Kruse die Motive der Handelnden
und stellt sie in einen Zusammenhang, den man leicht nachvollziehen
kann. Außerdem fügt er Scotts Stoff mehrere Kapitel über
die Kreuzzüge und der Auseinandersetzung zwischen Moslems,
Christen und Juden hinzu. Die ersten Kapitel sind zwar anstrengend
zu lesen, weil Max Kruse sie komischerweise im Plusquamperfekt geschrieben
hat und sie dadurch steif und distanziert wirken, aber danach nimmt
der Roman an Fahrt auf und schafft es, trotz geistiger Tiefe spannend
zu sein.
Fragt sich nur, wie realistisch Max Kruse die die damalige Zeit
beschreibt? Ich weiß es nicht, denke aber, dass Der Ritter
trotzdem Rossipottis Kriterien standhält: Die Vergangenheit
wird nicht zu sehr aus unserer heutigen Sicht beschrieben, und der
Roman ist anstrengend und spannend zugleich.
Max Kruse: Der Ritter. Verlag Carl Ueberreuter.
Wien 1988.
* * *
Lieblingsbuch
vorgestellt von Helma Hörath
Papier? Papier! Und doch noch mehr
"Was ist da fotografiert worden?" "Das da? Na, das sieht doch jeder. Das ist ein Haufen Abfall
und muss in die Papiertonne."
"Ja. Aber konzentriere dich mal! Was könnte man noch
damit machen? Vielleicht fällt dir noch was anderes als die
Tonne ein."
"Eigentlich nicht. Morgen haben wir wieder so einen Haufen
mit Zeitungen, Werbung, Kartons, Versandkatalogen ... Ach doch,
mir fällt was ein. Ich könnte Papierflieger falten."
"Das ist schon eine gute Idee. Wie viele unterschiedliche
Flugzeugtypen kannst du aus Papier falten?"
"Mmh ... Drei oder vier."
"Ich erinnere mich an ein Buch, da waren 16 unterschiedliche
Modelle und 60 Flugzeuge zum Falten abgebildet und erläutert.
Wenn es dich interessiert, dann geh in die Kinderbibliothek und
frag nach dem folgenden Titel:
|
Ken Blackburn, Jeff Lammers: Weltrekorde zum Nachbauen -Papierflugzeuge,Tandem Verlag Königswinter, erschienen 2004. |
"Wenn dieser Titel in deiner Kinderbibliothek nicht vorhanden
ist, dann findest du ganz sicher ein anderes Buch mit Tipps und
Tricks zum Falten von Flugzeugen aus Papier. Frag die Bibliothekarin!
Sie wird dir ganz sicher helfen.
Aber was machst du, wenn du einen Berg von Papierflugzeugen gefaltet
hast?" "Dann schmeiße ich sie in die Papiertonne."
"So bist du wieder am Anfang. Ich zeig dir mal ein anderes
Foto."
Wenn du wissen möchtest, wie man aus altem Papier
neues herstellen kann, klicke auf das Foto.
Zum Wegklappen der Anleitung, klicke noch einmal auf das Foto.
So machst du dein eigenes Papier
Arbeitsort
Der Arbeitsort ist am besten die Terrasse oder der Balkon, weil du mit viel Wasser arbeiten wirst. Wenn beides nicht vorhanden ist, dann fragst du deine Eltern, ob du die Badestube für das Papierschöpfen benutzen darfst.
"Papierschöpfen" ist das Fachwort für die
Papierherstellung. Papier besteht aus Holzteilchen. Eingeweicht,
saugen sie sich voll Wasser. Die Holzfasern haken sich in einander.
Dadurch wird es möglich, mit einem Sieb, durch das das
Wasser durchfließen kann, aus dem Altpapierbrei einen
neuen Papierbogen herauszuschöpfen.
Materialien und Werkzeuge
Folgendes brauchst du:
- Wasser aus der Leitung;
- drei Eimer; sie müssen nicht unbedingt alt sein, denn nach dem Gebrauch werden sie gesäubert (aber trotzdem solltest du mit deiner Mutter über dein Vorhaben sprechen);
- Altpapier;
- Stabmixer (mit deiner Mutter absprechen);
- alte, aber flache Siebe aus der Küche (auch mit deiner Mutter absprechen); solche Siebe sind aus Metall mit einem langen Handgriff und werden zum Beispiel bei Gasherden unter den Kochtopf gelegt; sie können rund oder rechteckig sein; die Form ist egal, sie dürfen nur keine Vertiefung haben, sie müssen also flach sein;
- eine alte Waschschüssel, diese muss größer als dein größtes Sieb;
- alte Handtücher (Such sie nicht alleine aus, sondern lass sie dir von deiner Mutter geben! Reste des Papierbreis lassen sich beim Waschen entfernen, aber da der Papierbrei mit Plakatfarbe eingefärbt werden kann, könnten Farbflecke zurückbleiben); es gehen auch Scheuerlappen;
- Plakatfarbe (zwei oder drei Farben) in Näpfchen;
- ein alter Löffel, der in der Küche nicht mehr benutzt wird;
- ein großes Brett zum Pressen der geschöpften Papierblätter
- Bügeleisen (nur im Beisein deiner Mutter benutzen).
Erster Schritt
Du brauchst viel Altpapier und sammelst dafür über mehrere Tage
- Tageszeitungen
- alte Briefumschläge, die eigentlich weggeworfen werden sollen
- Papierseiten von Werbeschriften
- zerknülltes Geschenkpapier (möglichst nicht glänzend, diese glänzende Schicht löst sich nicht so gut auf)
- Servietten, die schon einmal auf dem Tisch lagen und die deine Mutter, trotzdem sie nicht benutzt wurden, nicht mehr aufbewahren will.
Wenn du einen großen Stapel zusammen hast, dann kannst du weitermachen.
Zweiter Schritt
- Zerreißen des Papiers in kleine Schnipsel (je kleiner desto weniger Mühe hast du später beim Glattrühren des Breies);
- alle Papierschnipsel in den Eimer;
- Wasser auffüllen; die Papierschnipsel müssen ganz im Wasser liegen.
Jetzt heißt es mindestens einen Tag warten und immer mal mit der Hand das eingeweichte Papier umrühren. Sollte das Wasser ganz von den Schnipseln aufgesaugt worden sein, füllst du noch einmal etwas Wasser nach.
Dritter Schritt
- Wenn das zerrissene Papier gut durchgeweicht ist (das kann nach einem oder nach mehreren Tagen sein), dann füllst du etwa ein Drittel der Menge in den zweiten Eimer.
- Mit dem Stabmixer zerkleinerst du die Papierstücke bis ein glatter Brei entstanden ist.
- Diesen Papierbrei in den dritten Eimer füllen.
- Das machst du immer so weiter, bis alles aus dem ersten Eimer "feingemixt" im dritten Eimer gelandet ist.
Vierter Schritt
- Einrichten des Arbeitsplatzes mit einem alten Tisch, den du benutzen darfst. Wenn du im Badezimmer arbeiten wirst, leg dir ein großes Brett (deinen Vater darum bitten) quer über die Badewanne;
- Siebe, Handtücher/Scheuerlappen bereitlegen.
Fünfter Schritt
- Einfüllen einer Menge des Papierbreis in die Schüssel, die gut gefüllt sein muss;
- Ist der Papierbrei sehr dick, verdünnst du ihn mit etwas Wasser.
- Ist er zu dünn (das passiert, wenn du schon viel Papierbrei herausgeschöpft hast - du merkst das, wenn der Brei nicht reicht, um die Fläche des Siebes zu füllen), dann nimmst du dir noch Papierbrei aus dem Eimer und gibst ihn in die Schüssel, rührst alles noch einmal mit der Hand durch.
- Willst du Papier in mehreren Farben herstellen, fängst du mit der hellsten an. Mit einem alten Löffel nimmst du beispielsweise aus dem Näpfchen mit gelber Farbe etwas heraus und rührst es in die Schüssel ein. Wenn du genug gelbe Blätter hast, gibst du rote Farbe dazu usw.
Die Farben mischen sich auch. Aus gelb und blau entsteht also grün.
Zu viel unterschiedliche Farben bringt nur grau und braun hervor. Dann musst du die Schüssel ausschütten und neu beginnen.
Aber Achtung!!! Auf keinen Fall den Papierbrei in die Toilette schütten, diese kann dadurch verstopfen
Sechster Schritt:
- Sieb in den Brei eintauchen, bis es ganz in der Schüssel ist;
- Sieb gerade herausheben;
- über der Wanne das Wasser ablaufen lassen; einen kleinen Moment warten, bis sich die Brei-Schicht auf dem Sieb etwas verfestigt hat.
- Gefällt dir die Papierbrei-Schicht auf dem Sieb nicht (zum Beispiel, wenn große Löcher da sind), dann tauchst du das Sieb wieder in die Schüssel, löst es und schöpfst erneut.
Siebenter Schritt
- Sieb mit Schwung umgedreht auf ein Handtuch klatschen, die Brei-Schicht ist unten, liegt auf dem Tuch, das Sieb ist oben auf dem Brei;
- Sieb fest auf das Handtuch drücken, Wasser läuft heraus;
- Sieb an einer Seite vorsichtig hochziehen und vollständig vom Brei lösen;
- auf den abgeklatschten Papierbrei ein Handtuch legen
- dann immer so weiter, einmal Papierbrei, darauf ein Tuch; aber nur so viele Schichten auf einander, dass der "Turm" nicht seitlich wegrutscht;
Achter Schritt
- der Brei trocknet mehrere Tage in den Tüchern zu Papierblättern;
- zum Pressen ein Brett auf den Turm legen; wenn der Arbeitsplatz im Freien ist, legst du noch einige größere Steine auf das Brett;
- sind die Gegenstände schwer, die du zum Pressen benutzen kannst, hast du später das Muster des Tuches im getrockneten Papier.
Neunter Schritt
- Ablösen der getrockneten Papierseiten von den Tüchern; je dünner das Papier ist, desto vorsichtiger musst du arbeiten;
- nicht das Papier vom Tuch ziehen, sondern nach dem Anfang das Papier festhalten und den Stoff ganz langsam vom Papier abziehen.
Zehnter Schritt
- abgelöstes Papier glätten (unter feuchtem Küchenhandtuch bügeln);
- willst du das Papier fester haben, kannst du es mit Haarlack einsprühen (das muss aber nicht sein).
- Jetzt kannst du deine Collage mit eigenem Papier planen.
- Dafür schaust du dir deine handgeschöpften Papierseiten an und überlegst, was für ein Bild daraus entstehen könnte.
- Vielleicht brauchst du dazu noch mehr: eine Vogelfeder, eine getrocknete Blüte, einen Grashalm ... Das besorgst du dir erst alles! Dann kann es losgehen.
Anleitung wieder zuklappen!
"Was siehst du auf diesem Foto?"
"Das ist ein Bild, zusammengeklebt aus verschiedenen Sachen."
"So etwas nennt man Collage.
Diese Collage entstand aus Abfallpapier. Es zeigt drei Bäume,
die sich aneinander schmiegen. Teilweise habe ich das Papier und
die Pappe so genommen, wie ich sie aus dem Stapel mit Altpapier
herausgezogen habe. Teilweise habe ich vom Spaziergang mitgebrachte
Naturmaterialien eingearbeitet. Du erkennst bestimmt deutlich die
Rindenstückchen, die ich als Stämme benutzt habe. Teilweise
habe ich das Papier aber erst noch vor dem Herstellen der Collage
bearbeitet und dann verwendet. Das siehst du bei den runden Baumkronen."
"Ja, ich erinnere mich daran, dass man aus altem Papier Neues
machen kann. Wir haben das irgendwann mal in der Schule gemacht.
Das ist schon so lange her, dass ich mich nicht mehr erinnern kann,
wie das ging."
"Wenn du es wieder wissen und vielleicht in den Ferien auch
ausprobieren möchtest, dann klicke auf die Collage! Dahinter
findest du die Anleitung zur Herstellung deines eigenen Papiers.
Und was könnte man mit den alten Kartons noch machen - außer
natürlich zerreißen und in die Papiertonne stecken?"
"Im Kindergarten habe ich mal mit anderen Kindern ein Haus
daraus gebaut. Das hat Spaß gemacht."
"Das finde ich auch gut. So hat der alte Karton eure Fantasie
beflügelt und ganz sicher habt ihr mit eurem Papphaus noch
lange gespielt.
Jetzt schau dir mal das nächste Foto an! Was meinst du was
hier aus einem alten Karton entstanden ist? Woran erinnert dich
das Gebilde?"
"An einen Fernsehapparat."
"Eine interessante Deutung. Das ist es aber nicht. Es ist
ein kleines Theater.
An diesem Theater ist alles aus Papier: die Bühne, der Vorhang,
die Kulissen, die Figuren, die an einem Hölzchen auf die Bühne
geführt werden.
Sie "betreten" die Bühne durch die Gassen, das sind
die Lücken, die links und rechts in den Karton geschnitten
wurden. Diese seitlichen Auftrittsflächen werden auch bei den
großen Bühnen als Gassen bezeichnet.
Ich habe das Wort "betreten" in Anführungszeichen
gesetzt. Denn diese Figuren können nicht laufen, sondern werden
auf die Bühne geschoben. Und so verlassen sie die Szene auch
wieder, also, sie werden zurückgezogen.
Das mit den Führungshölzchen auf dem Rücken der Papierfiguren
siehst du auf dem nächsten Foto recht gut:
"Drei Mädchen aus Teltow, einem Ort am Rande Berlins,
haben dieses Papiertheater aus dem Karton gebastelt. Sie haben sich
auch das Theaterstück dazu ausgedacht, die passenden Kulissen
gemalt und die Spielfiguren gezeichnet."
"Aber darauf sind die Mädchen nicht allein gekommen.
Oder?"
"Den Anstoß dazu hat Marie Charlé gegeben. Sie
hatte schon lange davon geträumt, mal so ein Projekt gemeinsam
mit Kindern zu machen."
"Aber die Gesichter der Theaterfiguren auf den Fotos sehen
alle so gleich aus."
"Da hast du etwas sofort erkannt. Die Figuren sind mit einer
Schablone gezeichnet worden.
Da sich die Mädchen so viel Mühe mit dem Schreiben ihres
Stückes gegeben hatten, saßen sie wirklich viele Wochen
an dem Drehbuch des Stückes.
Wie viel Spaß ihnen das gemeinsame Ideenfinden und Schreiben
machte, das erkennst du ganz bestimmt auf dem nächsten
Foto:
Und dann fehlte den Schreiberinnen am Ende die Zeit, eigene Entwürfe
für die Personen zu machen. Die Premiere aber war angekündigt
und konnte nicht verschoben werden. Sie war ein wichtiger Bestandteil
des Programms für den Tag der offenen Tür in der MädchenZukunftsWerkstatt
Teltow.
Abgesehen von den gleichen Gesichtern, haben die Figuren aber keine
schlechte Wirkung. Denn die Mädchen haben versucht, die Individualität
der Personen über die Kleidungsstücke deutlich zu zeigen.
Hier siehst du einige Fotos von der Generalprobe, die einen Tag
vor der Premiere stattfand. Nachdem die Generalprobe - wie es zu
sein hat - etwas quer verrutschte, also nicht so gut lief, ging
aber die Aufführung am 12. März 2011 fast reibungslos
über die Bühne. Entsprechend groß waren der Applaus
des zahlreichen Publikums und die Freude der Papiertheater-Truppe."
"Was hat den Mädchen denn besonders an dem Papiertheater-Projekt
gefallen?"
"Diese Frage können sie am besten selbst beantworten."
Auf dem Foto siehst du links Tuja, in der Mitte Jessica und links
Viktoria:
Tuja: "Eigentlich hat mir alles gefallen. Aber am allermeisten
das Theaterspielen.
Richtig gut fand ich, dass wir in einer Szene - also sozusagen vor
dem Vorhang - Mädchen von heute spielen konnten. So begann
unsere Aufführung in der Gegenwart und so endete auch das ganze
Stück. Die Szenen des Papiertheaters aber spielten in der Vergangenheit
und in der Zukunft. Und dass wir durch das Papiertheater mehrere
Figuren darstellen konnten, das fand ich auch gut.
Jessica: "Mir hat das Schreiben sehr gefallen. Ich schreibe
auch sonst gern Geschichten. Aber am besten fand ich, dass alles
aus Papier war. Man konnte was ausprobieren. Wenn es nicht gelang,
dann zeichnete man eben beispielsweise ein neues Kostüm.
Schwer fand ich, dass wir den Text der Handlung, die vor der Papiertheaterbühne
ablief, frei sprechen mussten. Das war ja klar. Das bedeutete, auswendig
zu lernen. Dafür konnten wir aber die Texte der Papiertheater-Figuren
ablesen. Hinter dem Vorhang waren wir für das Publikum ja unsichtbar.
Viktoria: "Am besten hat mir gefallen, dass wir alles alleine
machen mussten, dass wir uns dann nach dem Stück oder fast
gleichzeitig die Einrichtung der Bühne entsprechend ausdenken
und malen mussten, dass wir bei den Personen und bei dem Schreiben
des Stückes der Fantasie freien Lauf lassen konnten. Schön
fand ich auch, dass wir in der Gruppe darüber geredet haben,
wie das Stück werden soll. Natürlich hat mir auch das
Theaterspielen gefallen.
"Das klingt interessant. Vor allem das Bauen des Theaters.
Da habe ich gleich Ideen im Kopf. Nur das Selbstschreiben ist eigentlich
nichts für mich. Wo finde ich denn solche Theaterstücke
fürs Papiertheater, wenn ich selbst nicht schreiben will?"
"Leider kann ich dir dafür keinen Buchtipp geben. Natürlich
kannst du jede Geschichte, die du gelesen hast und die dir gefällt,
in ein Theaterstück umwandeln. In dem Fall musst du dir keine
Handlung ausdenken, sondern alle erzählten Stelle in gesprochene
Worte, also in Dialoge, umwandeln. Dafür kannst du in aller
Ruhe die Bühne mit den passenden Kulissen planen.
Du kannst natürlich auch die Geschichte deines Lieblingsbuches
weiterdenken und diese Fortsetzung in ein Papiertheaterstück
umwandeln.
Es erscheinen auch immer mal wieder Kinderbücher, bei denen
ein Papiertheater sozusagen eine Zugabe zur Geschichte des Buches
darstellt. Vielleicht besorgst du dir in der Kinderbibliothek solch
ein Buch, um festzustellen, ob das Theaterspielen auf einer Papierbühne
etwas für dich sein könnte oder doch eher nicht. Und wenn
es dir gefallen hat, dann kannst du an die Herstellung deines eigenen
Werkes gehen.
In meinem Bücherregal gibt es zwei Titel, mit denen du neben
dem Lesen auch Theaterspielen kannst. Das eine ist:
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Michael Sowa: Prinz Tamino. Märchen und Papiertheater nach Mozarts Zauberflöte. Aufbau-Verlag Berlin. |
Hier musst du die Bühne zusammenbauen. Aber alles, was du dafür brauchst, ist vorhanden und es geht schnell. Die Figuren sind vorgestanzt.
Und das andere Buch ist:
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Axel Scheffler / Julia Donaldson: Der Grüffelo, Pop-up-Theaterbuch, Beltz&Gelberg. |
Hier ist die Bühne bereits fertig, wenn du das Buch aufgeklappt hast. Im hinteren Buchdeckel ist ein "Schrank" mit Requisiten und Figuren zum Rausdrücken und Zusammenstecken.
Aber der wirkliche Spaß kommt natürlich erst dadurch
zustande, dass man sich wie beim Teltower Papiertheater-Projekt
alles selbst ausdenkt, schreibt, baut, zeichnet, bastelt und spielt.
Aber dabei ist es natürlich viel schöner, wenn noch jemand
da ist, mit dem man alles bereden kann. Du solltest also mindestens
noch jemanden überzeugen, dabei zu sein. Auch das Spielen macht
mit Freunden viel mehr Spaß, als wenn man alles allein machen
muss. Na ja, und wenigstens ein Zuschauer wäre auch nicht gerade
schlecht.
Vielleicht gelingt es dir, deine Freunde und Freundinnen oder deine
Eltern und deine Geschwister zum Mitmachen zu gewinnen. Das wünscht dir Helma
|