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Rossipottis Leibspeise
und andere Lieblingsbücher

 

Rossipottis Leibspeise

Lieblingsbücher

vorgestellt von Helma Hörath

* * *

Das 1. Buch L.

"Geschichte ist eine Fiktion", sagt Rossipotti und reißt mich damit aus meinem angenehmen Dämmerschlaf, in dem ich mich gerade als unbesiegbaren Helden geträumt habe.

"Was denn für eine Geschichte?" frage ich und recke meine Gräten.

"Die Geschichte der Menschheit natürlich", sagt Rossipotti ungeduldig. "Die Vergangenheit, die Zeit der Ahnen oder auch die Historie, wie die Menschen früher dazu gesagt haben."

"Und warum soll die Vergangenheit fiktiv oder erdacht sein?" frage ich. "Bezweifelst du etwa, dass sie statt gefunden hat?"

"Quatsch", sagt Rossipotti. "Aber sie war sicher nicht so, wie wir sie uns vorstellen."

"Was die Steinzeit, das Altertum oder vielleicht auch noch das Mittelalter angeht, magst du Recht haben", sage ich. "Für diese Zeiten wurden bisher viel zu wenig Gegenstände, Bilder oder schriftliche Quellen gefunden. Aber über die letzten drei, vier Jahrhunderte können wir uns doch einen ziemlich guten Überblick verschaffen!"

"Von wegen", grunzt Rossipotti. "Selbst wenn wir wie bei der Neuzeit viele Quellen aus einer Zeit zur Verfügung haben, können wir nie wissen, wie die Menschen wirklich gelebt haben. Und zwar deshalb nicht, weil wir es sind, die die alten Zeiten interpretieren."

"Natürlich wir", sage ich. "Unsere toten Vorfahren werden uns ihre Welt sicher nicht mehr erklären."

"Der Fisch stinkt vom Kopf her", sagt Rossipotti. "Und der Druide vom Fuß!"

"Welcher Fisch? Und welcher Druide?" frage ich verwirrt. "Wovon redest du überhaupt?"

"Davon, dass du mich nie verstehst!" sagt Rossipotti. "Und davon, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass wir die Toten besser verstehen können als die Lebendigen!"

"Unsere Vorfahren haben sich wenigstens nicht so rätselhaft ausgedrückt wie du", versuche ich mich zu verteidigen. "Außerdem haben wir einen Verstand, mit dem wir die Quellen interpretieren können und ein Gefühl, mit dem wir uns in die Alten hinein versetzen können."

"Pah", macht Rossipotti. "Was nutzen dir Verstand und Gefühl, wenn du die Dinge ganz anders verstehst und fühlst als deine Vorfahren?"

"Je mehr ich von ihnen weiß, umso mehr kann ich sie auch verstehen", beharre ich. "Und je besser ich sie verstehe, um so mehr weiß ich von ihnen. Und je mehr ich weiß, umso besser verstehe ich sie und ..."

"Ich weiß, ich weiß", grunzt Rossipotti. "Du redest vom hermeneutischen Zirkel und davon, wie Verstehen funktioniert. Aber der Zirkel beschreibt eine Kreisbahn!"

"Na und?" frage ich und stelle mir im Kopf eine runde Graphik mit zwei gebogenen Pfeilen vor, die sich gegenseitig in den Schwanz beißen. Eine der Pfeilspitzen zeigt dabei auf "subjektives Vorwissen", die andere auf "objektives Ereignis".

"Die Kreisbahn zwischen allgemeinem Wissen und persönlichem Nichtwissen ist unendlich!" erklärt Rossipotti. "Das heißt, dass wir uns dem ganzen Wissen über unsere Vorfahren zwar annähern, es aber nie wirklich erreichen können!"

"Selbst wenn es so wäre", sage ich. "würde ich nicht daran glauben wollen. Denn was fängt man mit einem Wissen an, das behauptet, nicht vollständig zu sein? Dann kann man es doch gleich über Bord werfen und sich selbst für den Größten halten! Oder man wird umgekehrt so verunsichert, dass man sich für ein geschichstloses Nichts hält!"

"Ach was", sagt Rossipotti. "Weder noch. Man entspannt sich einfach und hält die Schöpfungsgeschichte der Bibel für genauso wirklich wie die Evolutionstheorie von Charles Darwin!"

Rossipotti reicht mir ein Buch mit dem Titel Das 1. Buch L., ein kompaktes Bilderbuch, auf dessen Cover zwei Legomännchen, ein Mann und eine Frau, zu sehen sind. Die Frau hält einen Apfel in der Hand. Über ihr sieht man eine giftig grüne Schlange.

"Sollen das etwa Adam und Eva sein?" frage ich ein wenig befremdet. Ich bin mir nicht sicher, wie ich eine aus Legosteinen nachgebaute Bibelgeschichte finden soll. Großartig? Nichtig? Oder einfach nur witzig?

"Hm", grunzt Rossipotti. "Wenn du dir diese Geschichte einmal angeschaut hast, kannst du dir danach nicht mehr vorstellen, dass Adam und Eva nicht wirklich aus Lego waren! Übrigens hat der Macher Brendan Powell Smith nicht nur die Schöpfungsgeschichte, sondern auch viele andere Bibelgeschichten nachgebaut. Zum Beispiel die Geschichte mit Kain und Abel, die Arche Noah, Abrahams Versuchung oder der Turmbau zu Babel.

"Heißt das Buch deshalb 1. Buch L.?" frage ich. "L für Lego?"

"Wahrscheinlich", vermutet Rossipotti, "Im englischen Original heißt das Buch übrigens The Brick Testament. Stories from the Book of Genesis. Auf der Internetseite the brick testament findet man auch viele Geschichten aus dem Neuen Testament."

Ich blättere durch das Buch, lese mich fest, bin gegen meinen Willen fasziniert von der schlichten, nur auf das Wesentliche konzentrierten Darstellung der Bibelgeschichten!
Wie kann es sein, dass die Lego-Szenen tatsächlich viel lebendiger und wirklicher, ja wahrer erscheinen, als viele der herkömmlichen Bibel-Illustrationen?
Liegt es an den originalen Bibeltexten unter den einzelnen Bildern? Liegt es an den plastischen Inszenierungen des Künstlers? Oder liegt es womöglich daran, dass unserer Wahrnehmung heute Legosteine für echter hält als Bilder in Öl und Acryl?
Verstehen wir die alte Zeit nur in neuen Bildern? Und falls ja: Heißt das dann nicht, dass wir ihr, wie sie damals wirklich war, nie wirklich nahe kommen und sie begreifen können?
Plötzlich glaube ich doch, was Rossipotti mir vorhin vermitteln wollte: Geschichte ist eine Fiktion!

Brendan Powell Smith: Das 1. Buch L. Biblische Geschichten aus dem Baukasten von Brendan Powell Smith. Sanssouci im Carl Hanser Verlag. München - Wien 2004.

* * *

Eine kurze Geschichte von allen Dingen

"Wenn Geschichte tatsächlich Fiktion ist, brauchen wir uns eigentlich nicht weiter darüber zu unterhalten", sage ich. "Haken wir sie lieber gleich als unendliches Märchen der Menschheit ab!"

"Seit wann hast du etwas gegen Märchen?" fragt Rossipotti.

Ich grummle vor mich hin, unfähig, Rossipotti ein schlagfertiges Argument zu erwidern.

"Auch wenn wir nie wirklich wissen, wie die Vergangenheit war, müssen wir uns trotzdem über sie austauschen", meint Rossipotti. "Das Bild, das wir uns von der Geschichte machen, bestimmt schließlich unser Handeln in der Gegenwart!"

"Warum das denn?" frage ich und versuche Rossipotti zu provozieren: "Bevor ich mir Wurst oder Käse aufs Brot lege, überlege ich mir doch nicht, wie die Alten gelebt haben!"

"Unbewusst schon!" sagt Rossipotti. "Denn du kannst dich nur deshalb für Käse oder Wurst entscheiden, weil wir heute die freie Wahl der Konsumgüter als Errungenschaft der Geschichte ansehen!"

"Glaube ich nicht", sage ich betont lässig. Wenn Rossipotti jetzt den Lehrer spielen will, werde ich noch lange nicht den doofen Schüler abgeben! "Selbst die Steinzeitmenschen haben schon zwischen Wurst und Käse entscheiden können!"

"Vielleicht", sagt Rossipotti. "Aber stell dir trotzdem einmal vor, wir würden in einer Zeit leben, in der nur einer bestimmen darf, was gemacht wird und was nicht, ..."

"Du meinst einen Diktator in einer Diktatur", unterbreche ich Rossipotti und stelle klar, dass nicht nur Rossipotti klug zu reden weiß.

"Genau", sagt Rossipotti erfreut. "Und in dieser Diktatur steht nun in allen Geschichtsbüchern, dass es dem großen Diktator nach jahrzehntelangem Kampf gelungen ist, die schlimmen Fleischesser zu entmachten, die Tiere zu schützen und die Gesellschaft in eine ruhmreiche Pflanzenessergesellschaft zu führen. - Würdest du dich dann immer noch für Wurst oder Käse entscheiden können?"

"Wohl nicht", überlege ich. "Sondern eher für Marmelade oder Honig! Halt, nicht mal das. Der Honig ist ja von den Bienen. Also hätte ich nur die Wahl zwischen Marmelade und Marmelade."

"Wahrscheinlich!" sagt Rossipotti. "Auf jeden Fall aber würde man es in dieser Gesellschaft schätzen, nur die Hälfte der möglichen, essbaren Lebensmittel, nämlich Pflanzen, zu essen. Wir dagegen leben in einer Gesellschaft, in der es als Fortschritt angesehen wird, dass jeder möglichst viele verschiedene Lebensmittel kaufen kann. Vom Fischei über afrikanische Stachelbeeren bis hin zur chemisch hergestellten Vitamintablette. Und das betrifft bei uns ja nicht nur die Lebensmittel, sondern alle Güter."

"Du meinst damit, dass wir in einer Konsumgesellschaft leben", versuche ich mich wieder auf Aughöhe von Rossipotti zu begeben. Er soll nur nicht denken, dass er mir die Welt erklären muss!
Das Wort Konsumgesellschaft habe ich übrigens neulich irgendwo aufgeschnappt und im Internet nachgelesen, was es bedeutet: Konsum bedeutet Verbrauch. Wir leben also in einer Gesellschaft, die gerne Güter verbraucht, kauft und verkauft.

"Ja, die Menschen beten heute den Konsum an!" doziert Rossipotti weiter. "Manche sogar so sehr, dass sie nicht mehr wissen, wie sie ihren Tag verbringen sollen, wenn sie nicht einkaufen gehen können!"

"Ja, ja, die bösen Shopper, die nur Mehr im Kopf haben", sage ich unwillig. "Aber du hast immer noch nicht gesagt, warum wir heute den Konsum als Errungenschaft ansehen!"

"Weil wir von unseren Vorfahren, die im Zeitalter der Industrialisierung gelebt haben, vor allem das Bild von armen, kranken Menschen, die in dunklen, nassen Kammern zusammen gedrängt gelebt haben, im Kopf haben", behauptet Rossipotti. "Insofern sind wir stolz, dass wir heute viel besser leben und uns viele Dinge kaufen können! Was glaubst du aber, wie wir leben würden, wenn wir unsere Ururur-Großeltern dagegen als kämpferische Menschen voller Visionen und revolutionärem Tatendrang vorstellen würden?"

"Keine Ahnung", sage ich, "vielleicht müssten wir dann jeden Tag eine gute Tat vollbringen, um uns gut zu fühlen? Oder wir würden uns viel mehr in die Politik einmischen? Oder wir müssten jeden Morgen zum Fahnenappel, um unseren revolutionären Führern zu danken?"

"Vielleicht", sagt Rossipotti. "Sicher aber würden wir unsere heutige Zeit anders beurteilen und davon ausgehend auch anders handeln."

"Bin ich froh, dass wir unsere Vorfahren als arme Kirchenmäuse vorstellen", sage ich und denke an meinen coolen Flossenverstärker, den ich mir neulich gekauft habe. "Ich hätte nämlich keine Lust, mir jeden Tag meinen Kopf über Ideale zerbrechen zu müssen!"

"Wenn du dich so für unsere käuflichen Güter interessierst", sagt Rossipotti und sieht mich dabei scheel an, "kann ich dir die Kurze Geschichte von allen Dingen empfehlen! Das Buch erzählt die Menschheitsgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart allein über ihre Erfindungen und unterschiedlich entwickelten Gegenstände."

"Hört sich gut an", sage ich. "Steht in dem Buch wirklich nichts über ruhmreiche Taten oder politische Ereignisse, sondern nur etwas über Gegenstände?"

"Ja", versichert Rossipotti. "Es ist ein tolles Pop-Up-Bilderbuch, dessen zehn Doppel-Seiten gespickt voll mit witzigen, comicartigen Bildern und kurzen frechen Texten sind."

"Ein Pop-Up-Bilderbuch?" frage ich erstaunt. "Aber dann erfährt man ja überhaupt nichts Genaues über die einzelnen Gegenstände?"

"Nichts Genaues, aber trotzdem genug", sagt Rossipotti. "Gerade so viel, dass man weiß, worum es sich bei der Abbildung handelt. Und gerade so wenig, dass man es nicht gleich wieder vergisst. Auf jeden Fall ist es aber ein tolles, buntes Konsumprodukt, das sich zwischen deinem Computer und dem neuen Flossenverstärker sicher gut ausmachen wird!"

Neal Lyton: Eine kurze Geschichte von allen Dingen. Von der Steinzeit bis zur Gegenwart in 10 Pop-Up-Bildern. Boje Verlag. Köln 2009.

* * *

Leonardo da Vinci, der Zeichner der Zukunft

"Ich liebe kurzweilige Bücher", sage ich, als ich die Kurze Geschichte von allen Dingen wieder zuklappe. "Man kann sie ohne Anstrengung lesen und erfährt trotzdem etwas dabei."

"Etwas schon, aber nicht viel", sagt Rossipotti. "Je vielschichtiger ein Buch, umso anstrengender ist es zwar zu lesen. Aber umso anstrengender es ist, umso mehr erfährt man auch."

"Finde ich nicht", sage ich. "Es gibt anstrengende Bücher, bei denen man sich durch jede Seite quält und trotzdem am Ende kaum mehr weiß als davor."

"Welches denn zum Beispiel?" fragt Rossipotti neugierig.

"Das Foucaultsche Pendel von Umberto Eco", sage ich, ohne lange überlegen zu müssen. "Das Buch tut sehr intelligent und gibt vor, einem unheimlich viel Wissen über Tempelritter und uralte, verborgene Zusammenhänge zu vermitteln. In Wirklichkeit ist es ein unaufgeklärter Schwulst und wird meiner Meinung nach völlig überbewertet."

"1:0 für dich!" meint Rossipotti, ohne mit der Wimper zu zucken. Offensichtlich kann er das Buch auch nicht leiden. "Fällt dir im Gegensatz dazu aber auch ein Buch ein, das zwar kurzweilig ist, von dem man aber trotzdem viel erfahren kann?"

"Ja", sage ich und denke an ein Buch, das ich erst kürzlich gelesen habe: "Leonardo da Vinci, der Zeichner der Zukunft."

"Eine Biographie?" fragt Rossipotti skeptisch. "Seit wann ist es kurzweilig, dem Lebenslauf irgendeiner Persönlichkeit zu folgen?"

"Leonardo da Vinci ist nicht irgendeine Persönlichkeit", sage ich, "sondern ein großer Maler und Erfinder im Zeitalter der Renaissance! Außerdem ist die Biographie ziemlich spannend geschrieben. Der Autor erzählt die Geschichte aus der Ich-Perspektive da Vincis. Dadurch wirkt alles sehr direkt und lebendig."

"Eine fiktive Autobiographie also?" fragt Rossipotti. "Und das nimmt man dem Autor ab?"

"Finde ich schon", sage ich. "Manchmal weiß man zwar nicht, ob dies oder jenes wirklich so gewesen oder gesagt worden ist oder ob der Autor es Leonardo da Vinci nur in den Mund legt. Aber insgesamt hatte ich schon den Eindruck, dass der Autor nur das wieder gibt, was er über da Vinci recherchiert hat. Außerdem wird der Ich-Erzählung immer wieder ein Sach-Text gegenüber gestellt, in dem Leonardo in der Außenperspektive dargestellt wird. Das gibt dem Ganzen noch mehr Glaubhaftigkeit."

"Also auf jeden Fall sehr kurzweilig und gut recherchiert", schnappt Rossipotti mit dem Maul. "Aber hast du auch viel über da Vinci erfahren?"

"Ja, sehr viel sogar!" sage ich überzeugt. "Zum Beispiel, dass da Vinci als uneheliches Kind geboren wurde und die ersten Jahre bei seinen Großeltern aufgewachsen ist. Und dass ihn sein Vater später doch noch zu sich geholt und ihn in die Malschule von Meister Verrochio gesteckt hat. Dort hat er mit Sandro Botticelli und Pietro Vannucci zusammen gerabeitet habt, die später auch weltberühmt wurden. Auch Leonardo da Vincis Talent wurde bald erkannt und er wurde schnell zu einem der anerkanntesten Maler seiner Zeit, der neue Mal-Techniken erfand. Eine davon ist das Sfumato, bei der die Ränder der Gegenstände wie vernebelt oder verwischt aussehen."

"Und das ist alles, was du erfahren hast?" fragt Rossipotti. "Dafür muss man kein ganzes Buch lesen!"

"Ich habe auch noch viel mehr erfahren!" sage ich. "Wusstest du zum Beispiel, dass da Vinci ein unheimlich langsamer Maler war und viele Bilder nicht fertig gemalt hat? Und dass der Papst ihm damals den großen Michel Angelo vorgezogen hat, was ihn wütend gemacht hat? Und wusstest du, dass er diese berühmte Proportionsstudie eines Menschen, die heute sogar jede italienische 1-Euromünze prägt, gar nicht selbst erfunden hat, sondern die Zeichnung auf den Architekten Vitruv aus dem 1. Jahrhundert nach Christus zurück geht? Oder wusstest du, dass der Maler da Vinci auch ein großer Erfinder von technischen Geräten und Apparaturen war? Zum Beispiel hat er mehrere Fluggeräte, einen Aufzug, einen Füller und einen automatischen Bratspieß erfunden! Als Erfinder war er auch ein beliebter Party-Planer von Adligen. Für eine Party hat er sogar einen Vulkan konstruiert, der Feuer und Steine ausspucken konnte!"

"Das ist ja alles schön und gut", sagt Rossipotti. "Aber was war Leonardo da Vinci für ein Mensch? In welcher Zeit lebte der Maler damals? Waren es friedliche oder kriegerische Zeiten?"

"Steht alles drin!" sage ich. "Leonardo wurde 1492 in der Nähe von Florenz geboren. Das Mittelalter geht gerade in die Renaissance über und Florenz ist deren kulturelles Zentrum. Politisch betrachtet gab es damals in Italien viele Kleinstaaten, die sich zwar oft bekämpften, aber zumindest in Florenz damals ruhig waren. Später zog da Vinci nach Mailand, wo er sich vom Herzog als Hofingenieur und Erfinder von Palästen, Festungen und von technischen Apparturen und Kriegsgeräten anstellen ließ ..."

"Heißt dass, dass da Vinci sich für Kriege begeistert hat?" fragt Rossipotti. "Oder hat er den Auftrag nur notgedrungen angenommen?"

"Keine Ahnung", sage ich. "Ich glaube, er hatte einfach Spaß, am Konstruieren von Geräten. Er hat sich auch überlegt, wie man eine Unterwasserarmee ausrüsten muss, damit sie feindliche Schiffe anbohren kann oder wie man den Fluss so umleiten muss, damit Pisa auf dem Trockenen sitzt."

"Ein unangenehmer Geselle, dieser da Vinci", stellt Rossipotti fest. "Oder war er nur gnadelos unpolitisch?"

"Das glaube ich nicht!" sage ich. "Denn er war mit einem der wichtigsten Politiker seiner Zeit, Machiavelli befreundet."

"Mit Machiavelli?" fragt Rossipotti entsetzt. "Aber das ist doch dieser berühmte Staatsphilosoph, der es gut hieß, wenn ein Fürst Gewalt gegen sein Volk ausübt?!"

"Darüber stand in dem Buch nichts", versuche ich mich rauszureden. "Aber das würde dazu passen, dass Machiavelli da Vinci zu Cesare Borgia schickt, um ihm Kriegsgeräte zu bauen. Und dieser Borgia wird im Buch als hinterhältiger, völlig skrupelloser Mörder beschrieben. "

"Und wieso hat da Vinci das mitgemacht?" fragt Rossipotti. "Aus Geldgier? Oder hatte er keinen anderen Unterstützer?"

"Woher soll ich das wissen?" sage ich. "Davon steht in dem Buch doch auch nichts! Auf jeden Fall hat da Vinci viele tolle Bilder gemalt hat und lauter neue Dinge entwickelt! Wegen dieser Gegenstände und seiner Kunst ist er für uns auch heute immer noch einer der wichtigsten Menschen seiner Zeit. Da ist doch seine Einstellung seiner Zeit und ihrer Politik gegenüber ganz egal! Sein Können aber kommt in dem Buch sehr gut rüber!"

"Also ist die fiktive Autobiographie wieder nur eine Art Konsumgeschichte", überlegt Rossipotti. "In der zwar erklärt wird, was da Vinci alles Tolles erfunden hat, man aber eigentlich nichts wirklich über den Künstler selbst und den politischen Hintergrund erfährt. Kurzweilig schon, aber eben nicht besonders tiefgründig."

"Wenn man es so betrachtet, hast du eigentlich Recht", sage ich und gebe ich mich geschlagen: "1:1 für uns beide."

Luca Novelli: Leonardo da Vinci, der Zeichner der Zukunft. Arena Verlag. Würzburg 2007.

 

* * *

1848. Die Geschichte von Jette und Frieder

"Wir brauchen ein Buch mit mehr Substanz und geschichtlicher Tiefe", sagt Rossipotti. "Wir brauchen ein Buch, das die alten Zeiten nicht nur oberflächenhaft als Ansammlung bunter Güter und Szenen darstellt, sondern vor allem versucht, ihren vielschichtigen politischen Hintergrund und ihre gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu vermitteln."

"Ein Buch wie Walter Gombrichts Weltgeschichte für junge Leser?" frage ich. "Gombricht stellt die Geschichte noch als Abfolge von Eroberungskriegen, Konkurrenz zwischen Kirche und Krone, Stadt und Dorf und Arm und Reich vor."

"Gombrichts Weltgeschichte ist immer noch ein gutes Buch", sagt Rossipotti. "Auch wenn es fast hundert Jahre alt und damit selbst Geschichte geworden ist! Aber liest man so einen Ritt durch die Jahrhunderte gerne?"

"Dann könnten wir einen historischen Roman vorstellen", schlage ich vor. "Die meisten historische Romane sind unterhaltsam und versuchen immerhin, die Zeit damals vielschichtig aufzuzeigen und uns heute zu vermitteln. Wie wäre es zum Beispiel mit Hinterhof Nord von Waldtraut Lewin?"

"Hinterhof Nord?!" schnappt Rossipotti. "Das ist eine triviale Liebesgeschichte, die mit Berliner Bildern aus dem vorletzten Jahrhundert aufgepeppt werden soll. Von Tiefe keine Spur!"

"Dann gefällt dir vielleicht der Roman Das Geheimnis der Weißen Mönche von Rainer M. Schröder?" wage ich einen neuen Versuch. "Der Autor hat sich ziemlich gut über das Mittelalter informiert und er setzt sich in dem Buch seitenlang mit der christlichen Glaubenslehre auseinander. Außerdem ist die Geschichte sehr spannend geschrieben!"

"Für meine Geschmack zu spannend", sagt Rossipotti. "In dem Buch geht es vor allem darum, einen Krimi vor alter Kulisse zu erzählen. Und eben nicht darum, sich wirklich mit der mittelalterlichen Geschichte auseinander zu setzen. Außerdem stolpert der Protagonist mit den Ansichten eines neuzeitlichen Junge durch den Roman. Völlig unzeitgemäß."

"Hast du vorhin nicht selbst gesagt, dass wir Geschichte immer nur aus unserem Blickwinkel betrachten können?!" erinnere ich Rossipotti. "Dann wirst du keinen einzigen Roman finden, der nicht immer auch die Wahrnehmung des Autors mit einfließen lässt."

"Sicher", sagt Rossipotti. "Aber es gibt auch Autoren, denen es vorrangig nicht darum geht, einen reißerischen Titel zu schreiben, sondern die sich ernsthaft mit der Geschichte auseinandersetzen und die ..."

"... total langweilig sind", setzte ich Rossipottis Satz in meiner Version fort. "In solchen Büchern quält man sich doch mehr durch die historischen Betrachtungen, als dass man sich in die Geschichte hinein fallen lassen kann!"

"Kommt auf den Autor an", sagt Rossipotti. "Es gibt Autoren, die haben selbst so viele geschichtliche Brüche und Umwälzungen erfahren, dass sie unsere Vergangenheit sehr lebendig beschreiben können."

"Die müssen aber schon lange tot sein!" sage ich. "Die letzte, große politische Veränderung ist mit dem Fall der Mauer doch schon über zwanzig Jahre her!"

"Menschen leben länger als Fische", erinnert mich Rossipotti lästigerweise an meine kurze Lebensdauer. "Die meisten von ihnen haben nicht nur die letzten zwanzig Jahre überlebt, sondern viele von ihnen auch den zweiten Weltkrieg. Wahrscheinlich gibt es von ihnen sogar noch ein paar, die den ersten Weltkrieg miterlebt haben!"

"Und die schreiben tiefgründige, spannende Bücher über vergangene Zeiten?" frage ich spöttisch. "Wahrscheinlich über Krieg, Zerstörung und Verfall!"

"Aber auch über Hoffnung, Wandel und die Möglichkeit eines Neuanfangs!", sagt Rossipotti.

"Wandel und Neuanfang! Dass ich nicht lache", sage ich, "Die Menschen sind doch zu so etwas gar nicht fähig! Es gibt zwar Phasen, in denen sie so tun, als ob sie die Welt verändern und bessere Menschen werden wollen, aber sobald die Revolution vorbei ist, fängt alles wieder beim Alten an: Die Reichen beuten die Armen aus, die Oberen drücken die Unteren, die Stärkeren besiegen die Schwächeren, die Vegetarier werden wieder zu Fleischfressern."

"Und wenn schon", meint Rossipotti. "Es lohnt sich trotzdem für die Zeiten dazwischen zu kämpfen! Wenn sich die Menschen in den letzten hundert Jahre nicht immer wieder dafür entschieden hätten, frei und demokratisch leben zu wollen, würden wir uns hier jetzt nicht über Bücher unterhalten, sondern geschmort und gebraten auf dem Silberteller eines Königs oder Fürsten liegen!"

"Du willst also ein Buch vorstellen, in dem die Menschen für ihre Rechte kämpfen und tatsächlich auch einen Wandel hervorrufen?" frage ich, um schnell von dem grausamen Bild des Schmorfisches abzulenken.

"Ja!" sagt Rossipotti. "Und wenn ich es mir recht bedenke, am liebsten die Geschichte von Jette und Frieder. Denn sie beschreibt, wie man sich aus seiner miserablen politischen und wirtschaftlichen Situation befreien kann. Zumindest dann, wenn man an die Veränderung glaubt und darum kämpft."

"Die Geschichte von Jette und Frieder hört sich aber sehr privat und überhaupt nicht nach Politik und Revolution an!"

"Das ist ja genau das Gute daran!" sagt Rossipotti. "Denn Revolutionen finden ja nicht gleich im Großen statt, sondern immer zuerst im Privaten. So wie bei Jette und Frieder. Die beiden sind anfangs nur zwei ganz normale Jugendliche, die mit ihrem Berliner Alltag Mitte des 19. Jahrhunderts kämpfen. Jette ist eine Waise und wohnt mit ihrer Schwester Guste und deren Sohn zusammen. Sie wohnen in ärmlichen Verhältnissen und Guste muss anschaffen gehen, um die Familie über Wasser zu halten. Im gleichen Haus wohnt Frieder, weshalb sich beide kennen und lieben lernen. Frieder ist Handwerker mit einigermaßen guter Zukunftsperspektive. Aber auch er ist zu arm, um sich und seiner verwitweten Mutter das verteuerte Gemüse auf dem Markt leisten zu können. In dieser Situation geraten die beiden mehr oder weniger zufällig in den revolutionären Umbruch dieser Zeit. Frieder kommt einige Monate ins Gefängnis und schließt sich danach einer politischen Gruppe an, die für das Mitspracherecht der Bürger kämpft. Und da genau dringt das Private nach Außen, oder bricht das Außen in das Private ein.
Während Jette und Frieder sich allerdings dem politischen Umbruch stellen und an der Neugestaltung mitwirken möchten, versperrt sich Guste dagegen. Sie sieht zwar ihre private miserable Situation, aber sie hält es nicht für möglich, dass sich diese auch ändern lassen kann. Wahrscheinlich lässt Kordon sie deshalb am Ende des Romans sterben, frei nach dem Motto: Jemand, der nicht an den Wandel glaubt, geht unter."

Klaus Kordon: 1848. Die Geschichte von Jette und Frieder. Beltz & Gelberg. Weinheim/Basel 1997.

* * *

Malka Mai

"Ich frage mich, warum es keine Geschichte des Wandels gibt", sage ich nachdenklich. "Eine Geschichte also, die nur die Wendepunkte beschreibt und die zeigt, dass Menschen fähig sind, sich zu verändern."

"So wie du?" grinst Rossipotti. "Hast du nicht gerade noch behauptet, dass sich die Menschheits-Geschichte nie wirklich ändert, sondern in ihrer Grundstruktur immer gleich bleibt?"

"Ich bleibe eben nicht wie Jettes Schwester Guste zurück, sondern bin fähig meine Meinung zu ändern!" sage ich. "Und deshalb glaube ich jetzt, dass, wenn es die allgemeine Überzeugung der Menschen wäre, Dinge verändern zu können, nie mehr jemand sagen könnte: Das ist eben so, das kann man nicht ändern!"

"Geschichte ist immer Wandel," stellt Rossipotti fest, "dafür braucht es keine Geschichte des Wandels. So lange man jung ist, denkt man zwar, die Welt ist genau so, wie man sie gerade erlebt. Aber ab einem gewissen Alter merkt man, dass sich die Welt jeden einzelnen Tag ein Stück weit verändert."

"Die meisten scheinen das aber nie zu bemerken!" sage ich. "Wie erklärst du dir sonst, dass die Menschen nicht reagieren, wenn ihre Rechte beschnitten werden? Oder dass sie einfach nur zusehen, wenn die Welt immer ungerechter wird?"

"Woher soll ich wissen, was in den Köpfen der Menschen vorgeht?" versucht sich Rossipotti heraus zu reden. "Ich bin ein Krokodil!"

"Du hast die Menschen über Jahre hinweg studiert", lasse ich nicht locker. "Du musst wenigstens eine Ahnung haben, warum sie so wenig handeln!"

"Bei den Menschen ist sich jeder selbst der nächste", sagt Rossipotti. "So lange es ihnen selber nicht an den Kragen geht, sehen sie nicht ein, warum sie handeln sollten."

"Sie reagieren ja nicht einmal, wenn es ihnen selbst schlecht geht!" sage ich empört. "Ich habe neulich zum Beispiel das Buch Malka Mai von Mirjam Pressler gelesen. Die Autorin schildert darin sehr eindrücklich, wie eine jüdische Mutter, die mit ihren beiden Töchtern in Polen lebt, nicht vor den deutschen Nationalsozialisten flieht. Und das, obwohl Hitler längst in Polen einmarschiert ist und sie damit rechnen muss, jeden Tag in eines der Konzentrationslager abgeholt zu werden!"

"Ein gutes Buch!" sagt Rossipotti. "Und ein sehr gutes Beispiel dafür, dass die Menschen sehr wohl erst dann etwas unternehmen, wenn sie selbst unmittelbar bedroht sind! Die Mutter von Malka und deren Schwester Minna hat einfach nicht geglaubt, dass sie durch die Deutschen bedroht ist. Sie hielt sich als Landärztin für unentbehrlich, hatte außerdem eine Affäre mit einem Deutschen und sah im nazifreien Ausland auch keine Perspektive für sich. Deshalb ist sie erst mit ihren Töchtern geflohen, als die Deutschen schon in ihrem Dorf standen, um die Juden abzutransportieren."

"Und was ist mit den anderen Juden?" frage ich aufmüpfig. "Waren die auch alle Ärzte und hatten Affären mit Deutschen?"

"Auf gewisse Weise schon", sagt Rossipotti. "Die meisten werden tatsächlich geglaubt haben, dass sie wegen ihrer besonderen Situation noch einmal ungeschoren davon kommen."

"So eine Haltung ist doch viel zu riskant!" sage ich. "Und was hat es ihnen gebracht? Nichts! Die meisten von ihnen wurden in jüdische Ghettos oder in Konzentrationslager verschleppt und umgebracht! Hätten sie an die Möglichkeit geglaubt, die Dinge verändern zu können, wäre das nicht passiert!"

"Einige von ihnen haben sehr wohl versucht, sich zu wehren!" sagt Rossipotti. "Es gab mehrere Aufstände, sowohl in den Ghettos als auch in den KZs. Aber sie hatten gegen die Übermacht der Deutschen keine Chance."

"Dann lag es eben an der deutschen Bevölkerung!" sage ich. "Wenn die an die Möglichkeit einer Veränderung geglaubt hätte, wäre es nicht zu den Massenmorden gekommen. Dann hätten sie sich gemeinsam für die Juden eingesetzt und Hitler vertrieben!"

"Schön wär's" sagt Rossipotti. "Aber viellicht lag es gar nicht am fehlenden Glaube an einen Wandel, der die meisten Deutschen nicht helfen ließ, sondern viel mehr daran, dass sie an einen anderen Wandel glaubten als dir lieb ist?"

Ich stutze: Was meint Rossipotti damit?
Als mir die Antwort langsam ins Bewusstsein dringt, läuft es mir kalt den Rücken runter.

"Zum Glück hat die kleine Malka Mai in dem Buch mehr Glück als die meisten Juden damals!" sagt Rossipotti. "Sie wird zwar von ihrer Mutter bei der Flucht nach Ungarn getrennt, wird in ein Ghetto gesteckt, wo sie fast verhungert und an Typhus erkrankt, aber sie wird immer wieder auch auf wundersame Weise gerettet. Paradoxerweise ist das unwirkliche Ende des Romans aber trotzdem wahr: Denn obwohl die meisten deutschen Juden ermordet wurden, waren es am Ende doch sie und nicht Adolf Hitler und die Nationalsozialisten, die überlebt und ihre Situation verändert haben."

Mirjam Pressler: Malka Mai. Beltz & Gelberg. Weinheim/Basel 2001.

* * *

Adile. Ein Mädchen aus Istanbul

"Auch wenn Malka Mai mit der Rettung Malkas am Ende zeigt, dass sich die Verhältnisse ändern können", setze ich unsere vorige Unterhaltung fort, "finde ich trotzdem, dass das Buch nicht wirklich zum aktiven Handeln aufruft. Das ist in dem Roman Adile. Ein Mädchen aus Istanbul anders. Das türkische Mädchen wird zwar auch zeitweilig von ihrer Mutter, die ihrem Mann nach Deutschland folgt, getrennt, aber immerhin nimmt sie ihr Schicksal am Ende selbst in die Hand und wartet nicht ab, ob sich die Umstände zu ihren Gunsten ändern oder nicht."

"Du kannst doch die siebziger Jahre aus der Sicht einer türkischen Gastarbeiterfamilie nicht mit dem Dritten Reich aus der Sicht von Juden vergleichen!" sagt Rossipotti. "Die Gastarbeiter waren auf Einladung der Bundesrepublik hier. Auch wenn man ihnen nicht wirklich gesonnen war und man sie oft unwürdig behandelte, mussten sie keine Angst davor haben, verschleppt und ermordert zu werden!"

"Das wäre ja auch noch schöner!" sage ich. "Erst lädt man sie ein, und dann bringt man sie um! Trotzdem ist es doch erstaunlich, dass sich die Juden im Dritten Reich trotz der Gefahr sehr schwer getan haben, ins Ausland zu fliehen. Während die Italiener, Türken, Griechen, Jugoslawien und Portugiesen keine zwanzig Jahre später einfach so ihrer Heimat den Rücken gekehrt haben und nach Deutschland gekommen sind."

"Komisch finde ich daran vor allem, dass sie Lust hatten, nach Deutschland zu kommen", sagt Rossipotti. "Aber im Unterschied zu den Juden, die oft zur reichen Bürgerschicht gehört haben, waren die Gastarbeiter in ihrer Heimat meistens arm. Deshalb waren sie froh, in Deutschland mehr Geld für ihre Arbeit zu bekommen."

"Wenn es stimmt, was in dem Buch über Adile steht", sage ich, "hatten die Gastarbeiter hier auch kein schönes Leben. Adiles Eltern haben sich in Deutschland überhaupt nicht mehr verstanden. Der Vater fängt an, die Mutter und die Kinder zu schlagen, die Mutter hat keine Freundinnen mehr und die Kinder dürfen niemand mit nach Hause bringen. Außerdem werden Adile und ihr Bruder in der Schule gemobbt. Und bald haben sie auch keine Chance mehr, deutsche Kinder kennen zu lernen, weil die türkischen Kinder von den deutschen abgesondert in einer eigenen Klasse unterrichtet werden."

"Auch das kein schönes Kapitel der deutschen Geschichte", sagt Rossipotti. "Vielleicht haben die Deutschen aus ihrer Geschichte doch zu wenig gelernt, wie man mit andersgläubigen Menschen umgeht?"

"Die Gastarbeiter wurden von den West-Deutschen einfach mehr oder weniger ausgeblendet", sage ich. "Wenn man sich mit Leuten, die schon in den sechziger und siebziger Jahren gelebt haben, unterhält, bekommt man ein ganz anderes Bild dieser Jahre als in dem Buch über Adile. Für die Deutschen boomte damals einerseits die Wirtschaft, andererseits revoltierten die jungen Studenten gegen die alten Hierarchien und Vorstellungen. Die Menschen mischten sich in die Politik ein, besetzten Häuser, gründeten Zeitschriften und Parteien und glaubten an eine freiere, offenere Gesellschaft, in der auch Frauen gleichberechtigt behandelt werden. Keine Spur davon, dass sie sich für die Gastarbeiter interessierten."

"Zu jeder Zeit finden gleichzeitig unterschiedliche Dinge oder Strömungen statt, die eigentlich nicht zusammen passen," sagt Rossipotti. "Im Nachhinein wirkt die Geschichte relativ homogen oder einheitlich, weil man sich nur noch an das für die Zeit Typische oder Herausragende erinnert. Aber bei genauer Betrachtung, treffen zu jedem Zeitpunkt immer Vorstellungen aus verschiedenen Zeitaltern aufeinander. Heute leben in Deutschland beispielsweise Menschen, die noch nie einen Computer oder ein Handy bedient haben und statt dessen lieber Briefe schreiben und klassische Musik hören, gleichzeitig mit Menschen zusammen, die sich ein Leben ohne neue Medien und Popstars überhaupt nicht vorstellen könnnen."

"Trotzdem ist es seltsam, dass sich die Menschen in der Bundesrepublik in den siebziger Jahren einerseits für eine offene Gesellschaft eingesetzt haben, aber andererseits die Ausgrenzung von Ausländern toleriert haben", sage ich. "Das passt für mich nicht zusammen."

"Ein paar haben sich schon für die Gastarbeiter eingesetzt", sagt Rossipotti. "Der Reporter Günther Wallraff beispielsweise hat sich Anfang der achtziger Jahren als Türke verkleidet, verschiedene Arbeiten angenommen und danach ein Buch geschrieben, wie menschenverachtend er behandelt wurde. Das Buch Ganz unten war damals ein riesiger Erfolg und löste auch eine Debatte über das Verhalten der Deutschen gegenüber Ausländern aus."

"Stimmt", erinnere ich mich. "Aber zu dem Zeitpunkt haben die Gastarbeiter ja schon viele Jahre Ausbeutung und Ausgrenzung hinter sich. Übrigens setzt sich für Adile am Ende auch noch ein deutsches Mädchen ein. Der Schluss des Buchs bleibt zwar offen, aber im Nachwort steht, dass es die Mutter schafft, sich vom brutalen Vater zu trennen, und sich in Deutschland mit den Kindern besser einzurichten. Heute geht es Adile hier so gut, dass sie nicht mehr weg will und in Berlin lebt."

Anja Tuckermann: Adile. Ein Mädchen aus Istanbul. Mit Bildern von Ulrike Barth-Musil. Klett Kinderbuch. Leipzig 2011.

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Der Ritter

"Wir haben einen großen Fehler begangen", sagt Rossipotti, während ich die letzte Buchbesprechung in den Computer fertig tippe. "Wir haben kein Buch aus dem Mittelalter vorgestellt! Dabei ist gerade das Mittelalter für viele Kinder die spannendste Zeit unserer Geschichte!"

"An mir kann es nicht liegen", sage ich. "Ich habe dir vorhin das Geheimnis der weißen Mönche empfohlen."

"Richtig", sagt Rossipotti und funkelt mich wütend an. "Du bist schuld daran, dass wir das Mittelalter verpasst haben. Mit diesem oberflächlichen Schinken hast du mich vorhin von der richtigen Spur abgelenkt! Und jetzt habe ich keine Zeit mehr! In zehn Minuten treffe ich mich zum 11-Uhr-Termin mit alten und neuen Autoren!"

"Also Schluss für heute?" frage ich und recke meine Gräten. Nach sechs Buchbesprechungen habe ich nichts dagegen, ein Päuschen einzulegen.

"Das könnte dir so passen!" sagt Rossipotti. "Wenn ich keine Zeit mehr habe, musst du eben das mittelalterliche Buch alleine vorstellen!"

"Von mir aus", sage ich und denke, dass es auf jeden Fall weniger anstrengend ist als mit Rossipotti zusammen.

"Am liebsten wäre es mir, wenn du einen Originaltext vorstellen könntest", sagt Rossipotti. "Aber ich glaube eigentlich nicht, dass sich Kinder heute für den Versepos von Parzival, Das Nibelungenlied oder für Boccaccios deftige Novellensammlung Decamerone interessieren? Und Kinderbücher gab es damals noch gar nicht. Die gibt es ja erst seit ungefähr zweihundert Jahren. "

"Was haben die Kinder denn dann im Mittelalter gelesen?" überlege ich mir komischerweise zum ersten Mal.

"Gar nichts", sagt Rossipotti. "Die konnten doch weder lesen und schreiben! Wie die meisten Eltern übrigens auch nicht. Die Geschichten wurden damals noch mündlich erzählt und die Kinder hörten wahrscheinlich sehr gerne dabei zu. Schon deshalb, weil sie keine anderen Ablenkungen hatten. - Heute muss eine Geschichte dagegen ja möglichst kurzweilig und wenig anstrengend sein, damit ein Kind überhaupt noch ein Buch liest!"

Sollte das ein Seitenhieb auf mich sein, weil ich mich vorhin für kurzweilige Bücher und gegen anstrengende ausgesprochen habe?! Ich möchte Rossipotti gerade fragen, als er auf die Uhr sieht, zur Türe eilt und sagt: "Ich muss jetzt los. Suche du ein Buch aus dem Mittelalter aus! Am besten ein spannendes, das auch etwas mitzuteilen hat! Einmal wirst du es sicher auch alleine hinbekommen."

Einmal! denke ich wütend und knirsche mit den Gräten. Dass ich nicht lache! Ich habe schon x-mal Bücher alleine vorgestellt und meiner Meinung nach auch weitaus besser als mit Rossipotti zusammen.
Ich krame in meinem Bücherstapel mit historischen Romanen über das Mittelalter. Ich finde Bücher über gute und böse Hexen, über Alchemisten, tapfere Ritter und holde Burgfräuleins, verschlagene und hilfreiche Mönche und Intrigen am königlichen Hof von König Artus.
Das ist eine Menge und doch scheinen sie mir nicht geeignet für die Ansprüche von Rossipotti. Denn Rossipotti wollte vorhin ja ein Buch, das anstrengend und doch spannend zugleich ist. Eines, das sich intensiv mit der Geschichte auseinander setzt, ohne zu viel von der eigenen Betrachtungsweise von heute mit einfließen zu lassen.
Und damit fallen die meisten Bücher weg. Schon allein deshalb, weil die meisten historischen Romane wirkliche Begebenheiten mit Fantasy vermischen.
Ich krame weiter im Bücherstapel und fische schließlich von ganz unten ein relativ dickes Buch mit dem schlichten, aber verführerischen Titel Der Ritter hervor.
Ich weiß, dass ich das Buch vor längerer Zeit gelesen habe, kann mich aber nicht mehr richtig daran erinnern. Szenen von Pferden und einem blutigen Kreuzzug, Bilder von einem vertriebenen König und seinem treuen Knappen kommen mir in den Sinn. Gerüche von arabischen Gewürzen, dunklen Kellerverliesen und dem brennenden Holz eines Scheiterhaufens. Geräusche von klingenden Waffen in einem Turnierkampf und die lieblichen Stimmen von zwei verschiedenen Frauen.
Welche der beiden Frauen bekam der zum Ritter geschlagene Knappe am Ende noch einmal? Ich überlege, glaube aber komischerweise, dass der Ritter sowohl die blonde Adlige als auch die schwarze Jüdin am Ende heiratete.
Wie kann das sein?
Ich krame in meinem Gedächtnis und plötzlich fällt es mir wieder ein: Max Kruse hat Walter Scotts Ivanhoe zu seinem Buch Der Ritter umgeschrieben. Beide Geschichten sind sehr ähnlich. Aber während Scotts Ivanhoe viele Dinge im Dunkeln lässt oder viel Vorwissen über die Zeit damals voraussetzt, erklärt Kruse die Motive der Handelnden und stellt sie in einen Zusammenhang, den man leicht nachvollziehen kann. Außerdem fügt er Scotts Stoff mehrere Kapitel über die Kreuzzüge und der Auseinandersetzung zwischen Moslems, Christen und Juden hinzu. Die ersten Kapitel sind zwar anstrengend zu lesen, weil Max Kruse sie komischerweise im Plusquamperfekt geschrieben hat und sie dadurch steif und distanziert wirken, aber danach nimmt der Roman an Fahrt auf und schafft es, trotz geistiger Tiefe spannend zu sein.
Fragt sich nur, wie realistisch Max Kruse die die damalige Zeit beschreibt? Ich weiß es nicht, denke aber, dass Der Ritter trotzdem Rossipottis Kriterien standhält: Die Vergangenheit wird nicht zu sehr aus unserer heutigen Sicht beschrieben, und der Roman ist anstrengend und spannend zugleich.

Max Kruse: Der Ritter. Verlag Carl Ueberreuter. Wien 1988.

 

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Lieblingsbuch

vorgestellt von Helma Hörath

Papier? Papier! Und doch noch mehr

"Was ist da fotografiert worden?"

"Das da? Na, das sieht doch jeder. Das ist ein Haufen Abfall und muss in die Papiertonne."

"Ja. Aber konzentriere dich mal! Was könnte man noch damit machen? Vielleicht fällt dir noch was anderes als die Tonne ein."

"Eigentlich nicht. Morgen haben wir wieder so einen Haufen mit Zeitungen, Werbung, Kartons, Versandkatalogen ... Ach doch, mir fällt was ein. Ich könnte Papierflieger falten."

"Das ist schon eine gute Idee. Wie viele unterschiedliche Flugzeugtypen kannst du aus Papier falten?"

"Mmh ... Drei oder vier."

"Ich erinnere mich an ein Buch, da waren 16 unterschiedliche Modelle und 60 Flugzeuge zum Falten abgebildet und erläutert. Wenn es dich interessiert, dann geh in die Kinderbibliothek und frag nach dem folgenden Titel:

Ken Blackburn, Jeff Lammers: Weltrekorde zum Nachbauen -Papierflugzeuge,Tandem Verlag Königswinter, erschienen 2004.

"Wenn dieser Titel in deiner Kinderbibliothek nicht vorhanden ist, dann findest du ganz sicher ein anderes Buch mit Tipps und Tricks zum Falten von Flugzeugen aus Papier. Frag die Bibliothekarin! Sie wird dir ganz sicher helfen.
Aber was machst du, wenn du einen Berg von Papierflugzeugen gefaltet hast?"

"Dann schmeiße ich sie in die Papiertonne."

"So bist du wieder am Anfang. Ich zeig dir mal ein anderes Foto."


Wenn du wissen möchtest, wie man aus altem Papier
neues herstellen kann, klicke auf das Foto.

"Was siehst du auf diesem Foto?"

"Das ist ein Bild, zusammengeklebt aus verschiedenen Sachen."

"So etwas nennt man Collage.
Diese Collage entstand aus Abfallpapier. Es zeigt drei Bäume, die sich aneinander schmiegen. Teilweise habe ich das Papier und die Pappe so genommen, wie ich sie aus dem Stapel mit Altpapier herausgezogen habe. Teilweise habe ich vom Spaziergang mitgebrachte Naturmaterialien eingearbeitet. Du erkennst bestimmt deutlich die Rindenstückchen, die ich als Stämme benutzt habe. Teilweise habe ich das Papier aber erst noch vor dem Herstellen der Collage bearbeitet und dann verwendet. Das siehst du bei den runden Baumkronen."

"Ja, ich erinnere mich daran, dass man aus altem Papier Neues machen kann. Wir haben das irgendwann mal in der Schule gemacht. Das ist schon so lange her, dass ich mich nicht mehr erinnern kann, wie das ging."

"Wenn du es wieder wissen und vielleicht in den Ferien auch ausprobieren möchtest, dann klicke auf die Collage! Dahinter findest du die Anleitung zur Herstellung deines eigenen Papiers.
Und was könnte man mit den alten Kartons noch machen - außer natürlich zerreißen und in die Papiertonne stecken?"

"Im Kindergarten habe ich mal mit anderen Kindern ein Haus daraus gebaut. Das hat Spaß gemacht."

"Das finde ich auch gut. So hat der alte Karton eure Fantasie beflügelt und ganz sicher habt ihr mit eurem Papphaus noch lange gespielt.
Jetzt schau dir mal das nächste Foto an! Was meinst du was hier aus einem alten Karton entstanden ist? Woran erinnert dich das Gebilde?"

"An einen Fernsehapparat."

"Eine interessante Deutung. Das ist es aber nicht. Es ist ein kleines Theater.
An diesem Theater ist alles aus Papier: die Bühne, der Vorhang, die Kulissen, die Figuren, die an einem Hölzchen auf die Bühne geführt werden.
Sie "betreten" die Bühne durch die Gassen, das sind die Lücken, die links und rechts in den Karton geschnitten wurden. Diese seitlichen Auftrittsflächen werden auch bei den großen Bühnen als Gassen bezeichnet.
Ich habe das Wort "betreten" in Anführungszeichen gesetzt. Denn diese Figuren können nicht laufen, sondern werden auf die Bühne geschoben. Und so verlassen sie die Szene auch wieder, also, sie werden zurückgezogen.
Das mit den Führungshölzchen auf dem Rücken der Papierfiguren siehst du auf dem nächsten Foto recht gut:

"Drei Mädchen aus Teltow, einem Ort am Rande Berlins, haben dieses Papiertheater aus dem Karton gebastelt. Sie haben sich auch das Theaterstück dazu ausgedacht, die passenden Kulissen gemalt und die Spielfiguren gezeichnet."

"Aber darauf sind die Mädchen nicht allein gekommen. Oder?"

"Den Anstoß dazu hat Marie Charlé gegeben. Sie hatte schon lange davon geträumt, mal so ein Projekt gemeinsam mit Kindern zu machen."

"Aber die Gesichter der Theaterfiguren auf den Fotos sehen alle so gleich aus."

"Da hast du etwas sofort erkannt. Die Figuren sind mit einer Schablone gezeichnet worden.
Da sich die Mädchen so viel Mühe mit dem Schreiben ihres Stückes gegeben hatten, saßen sie wirklich viele Wochen an dem Drehbuch des Stückes.
Wie viel Spaß ihnen das gemeinsame Ideenfinden und Schreiben machte, das erkennst du ganz bestimmt auf dem nächsten Foto:

Und dann fehlte den Schreiberinnen am Ende die Zeit, eigene Entwürfe für die Personen zu machen. Die Premiere aber war angekündigt und konnte nicht verschoben werden. Sie war ein wichtiger Bestandteil des Programms für den Tag der offenen Tür in der MädchenZukunftsWerkstatt Teltow.
Abgesehen von den gleichen Gesichtern, haben die Figuren aber keine schlechte Wirkung. Denn die Mädchen haben versucht, die Individualität der Personen über die Kleidungsstücke deutlich zu zeigen.
Hier siehst du einige Fotos von der Generalprobe, die einen Tag vor der Premiere stattfand. Nachdem die Generalprobe - wie es zu sein hat - etwas quer verrutschte, also nicht so gut lief, ging aber die Aufführung am 12. März 2011 fast reibungslos über die Bühne. Entsprechend groß waren der Applaus des zahlreichen Publikums und die Freude der Papiertheater-Truppe."

"Was hat den Mädchen denn besonders an dem Papiertheater-Projekt gefallen?"

"Diese Frage können sie am besten selbst beantworten."
Auf dem Foto siehst du links Tuja, in der Mitte Jessica und links Viktoria:

Tuja: "Eigentlich hat mir alles gefallen. Aber am allermeisten das Theaterspielen.
Richtig gut fand ich, dass wir in einer Szene - also sozusagen vor dem Vorhang - Mädchen von heute spielen konnten. So begann unsere Aufführung in der Gegenwart und so endete auch das ganze Stück. Die Szenen des Papiertheaters aber spielten in der Vergangenheit und in der Zukunft. Und dass wir durch das Papiertheater mehrere Figuren darstellen konnten, das fand ich auch gut.

Jessica: "Mir hat das Schreiben sehr gefallen. Ich schreibe auch sonst gern Geschichten. Aber am besten fand ich, dass alles aus Papier war. Man konnte was ausprobieren. Wenn es nicht gelang, dann zeichnete man eben beispielsweise ein neues Kostüm.
Schwer fand ich, dass wir den Text der Handlung, die vor der Papiertheaterbühne ablief, frei sprechen mussten. Das war ja klar. Das bedeutete, auswendig zu lernen. Dafür konnten wir aber die Texte der Papiertheater-Figuren ablesen. Hinter dem Vorhang waren wir für das Publikum ja unsichtbar.

Viktoria: "Am besten hat mir gefallen, dass wir alles alleine machen mussten, dass wir uns dann nach dem Stück oder fast gleichzeitig die Einrichtung der Bühne entsprechend ausdenken und malen mussten, dass wir bei den Personen und bei dem Schreiben des Stückes der Fantasie freien Lauf lassen konnten. Schön fand ich auch, dass wir in der Gruppe darüber geredet haben, wie das Stück werden soll. Natürlich hat mir auch das Theaterspielen gefallen.

"Das klingt interessant. Vor allem das Bauen des Theaters. Da habe ich gleich Ideen im Kopf. Nur das Selbstschreiben ist eigentlich nichts für mich. Wo finde ich denn solche Theaterstücke fürs Papiertheater, wenn ich selbst nicht schreiben will?"

"Leider kann ich dir dafür keinen Buchtipp geben. Natürlich kannst du jede Geschichte, die du gelesen hast und die dir gefällt, in ein Theaterstück umwandeln. In dem Fall musst du dir keine Handlung ausdenken, sondern alle erzählten Stelle in gesprochene Worte, also in Dialoge, umwandeln. Dafür kannst du in aller Ruhe die Bühne mit den passenden Kulissen planen.
Du kannst natürlich auch die Geschichte deines Lieblingsbuches weiterdenken und diese Fortsetzung in ein Papiertheaterstück umwandeln.
Es erscheinen auch immer mal wieder Kinderbücher, bei denen ein Papiertheater sozusagen eine Zugabe zur Geschichte des Buches darstellt. Vielleicht besorgst du dir in der Kinderbibliothek solch ein Buch, um festzustellen, ob das Theaterspielen auf einer Papierbühne etwas für dich sein könnte oder doch eher nicht. Und wenn es dir gefallen hat, dann kannst du an die Herstellung deines eigenen Werkes gehen.
In meinem Bücherregal gibt es zwei Titel, mit denen du neben dem Lesen auch Theaterspielen kannst. Das eine ist:

Michael Sowa: Prinz Tamino. Märchen und Papiertheater nach Mozarts Zauberflöte. Aufbau-Verlag Berlin.

Hier musst du die Bühne zusammenbauen. Aber alles, was du dafür brauchst, ist vorhanden und es geht schnell. Die Figuren sind vorgestanzt.

Und das andere Buch ist:

Axel Scheffler / Julia Donaldson: Der Grüffelo, Pop-up-Theaterbuch, Beltz&Gelberg.

Hier ist die Bühne bereits fertig, wenn du das Buch aufgeklappt hast. Im hinteren Buchdeckel ist ein "Schrank" mit Requisiten und Figuren zum Rausdrücken und Zusammenstecken.

Aber der wirkliche Spaß kommt natürlich erst dadurch zustande, dass man sich wie beim Teltower Papiertheater-Projekt alles selbst ausdenkt, schreibt, baut, zeichnet, bastelt und spielt.
Aber dabei ist es natürlich viel schöner, wenn noch jemand da ist, mit dem man alles bereden kann. Du solltest also mindestens noch jemanden überzeugen, dabei zu sein. Auch das Spielen macht mit Freunden viel mehr Spaß, als wenn man alles allein machen muss. Na ja, und wenigstens ein Zuschauer wäre auch nicht gerade schlecht.
Vielleicht gelingt es dir, deine Freunde und Freundinnen oder deine Eltern und deine Geschwister zum Mitmachen zu gewinnen.

Das wünscht dir Helma

 
 © Rossipotti No. 24, Juli 2011