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Rossipottis 11 Uhr Termin
Mit 3 Sachen durch die Krim
Eine illustrierte Reportage von Christian Ondracek (Text und
Illustration)
Ich bin ein Schreitling und Schreitlinge gibt es vermutlich viele.
Schreitlinge sind immer unterwegs. Da ist es nur zu verständlich,
dass sie überall auf der Welt Kinder und Freunde haben. Denn
unterwegs zu sein, bedeutet für Schreitlinge, Menschen zu begegnen,
statt von einem Termin zum anderen zu hetzen, zack schnell noch
hier ins Restaurant, zack mit vollem Mund da die Sehenswürdigkeiten
abklappern und dann ab in den Flieger.
Nicht so Schreitlinge. Schreitlinge haben einen lässigen, wippenden
Gang wie Menschen, die Zeit haben, und überspringen Sprachbarrieren
freundlich lächelnd auf einem Bein. Vielleicht liegt das daran,
dass reisende Schreitlinge keine 7 Sachen packen müssen, wie
man so schön sagt. Sie haben nämlich nur 3: Ein Laptop
mit Wörterbüchern, Handy und ein Lieblingsinstrument.
Leute, die sich mit großen Koffern abquälen, tun ihnen
leid. "Gepäck, das am Laufen hindert, ist Ballast",
sagt ein altes Schreitling-Sprichwort. Sprachbarrieren sind für
die leichten Schreitlinge also eine leichte Übung.
Als
ich meinem Großvater gesagt habe, dass ich in die Ukraine
fahre, hat er gleich sein Adressheftchen rausgeholt, um nachzuschauen,
ob er da eventuell Söhne, Töchter oder wenigstens Freunde
hat ... aber nee, doch nicht.
Die Ukraine ist geografisch gesehen von uns gar nicht so weit weg,
aber selbst für Schreitlinge ein fernes Land. "Weißt
du, wo die Ukraine liegt?" hat mein Großvater mich gefragt
und die Antwort gleich hinterher geschoben: "Im Osten. Da kamen
früher die Spione her."
Bis heute kommt aus dem Osten angeblich nichts Gutes. Aus dem Osten
kommen Wölfe nach Brandenburg und zerfleischen Schafe. Östliche
Schneestürme wirbeln über Deutschland hinweg und verursachen
leere Straßen. Aus dem Osten kommen Sachen, die schnell kaputt
gehen, und Leute, die Arbeit suchen und länger bleiben wollen
als erlaubt.
"Davon, dass die schönsten Puppentheater, die besten Trickfilme
aus dem Osten kamen, davon spricht keiner mehr," hat Großvater
Kopf schüttelnd gesagt.
Also hab ich meine 3 Sachen gepackt und bin losgezogen. Ist doch
schön, mal wieder ins Puppentheater zu gehen. Oder?
Mein Zug ist durch schneebedecktes, glitzerndes, weites Land gezuckelt
und die Häuser wurden langsam immer kleiner und immer hölzerner
und die Schornsteine rauchten immer stärker und die Wälder
wurden dichter und die Straßen schlechter, sogar der Zug hat
sich irgendwann entschlossen, zu ruckeln und da bin ich endlich
ausgestiegen.
Und was sehe ich?
Das Meer.
Liegt einfach so da, hingeworfen wie eine Steppdecke für ein
Picknick.
Der Osten ist für seine Taiga bekannt, ein waldiges, eisiges
Sumpfland, in dem die Leute Gummistiefel tragen, und für seine
Steppen voller Reitervölker, die früher in Zelten wohnten.
Aber ein Meer?
Die
Ukraine hat aber tatsächlich ein Meer im Süden, es heißt
Schwarzes Meer, ist aber blau und das Klima ist fast so mild wie
in Frankreich oder Italien.
Und da stehe ich nun auf der Halbinsel Krim, die Taschen voll mit
einem Bündel Geldscheinen, die Griwnas heißen und in
Deutschland wenig wert sind, begrüßt vom Meer, das gegen
meine schwieligen Wanderfüße brandet und denke an Fische
- und zwar gegrillte.
Ich spreche alle Sprachen der Welt, allerdings nur gebrochen oder
gar nicht. In der Ukraine sprechen die Leute russisch oder ukrainisch,
2 schöne, wilde Sprachen, die sich so ähnlich sind
wie eineiige Zwillinge. Dem Sprecher wird einiges abverlangt. Wenn
er "ü" sagt, rollt er die Zunge nach hinten bis sie
am Gaumen kleben bleibt, um sie dann beim nächsten "r"
blitzschnell in den Rachen schnalzen zu lassen, wo sie in rasender
Geschwindigkeit auf- und abwedelt wie der Schwanz eines glücklichen
Hundes, nur halt nach oben und unten.
Wer eine so schwierige Sprache fließend sprechen will, muss
gut essen und viel trinken. Das machen die Ukrainer mit Hingabe
und ihr Russisch-Ukrainisch klingt tadellos.
Um die Zunge vor dem Sprechen aufzuwärmen, essen die Leute
zum Frühstück erst einmal eine warme Suppe namens Bortsch.
Bortsch ist aus Rote Beete und macht tolle Flecken auf weiße
Hemden. Bortsch wird in großen Töpfen gekocht und je
nach Belieben nimmt man sich den ganzen Tag über nach.
Um die Zunge geschmeidig zu halten, reicht das allerdings irgendwann
nicht mehr - die Zeit des russischen Zaubertranks ist gekommen:
Wodka. Wer Wodka trinkt, kann für kurze Zeit fließend
russisch-ukrainisch sprechen, allerdings keine andere Sprache mehr.
Wer "kriechen" sagen möchte, robbt über den
Fussboden, wer "ich freue mich" sagen möchte, lacht
und "schön, dich zu sehen" ist eine Umarmung.
Russisch-Ukrainisch ist so schwer nun auch wieder nicht, fast alle
Kinder sprechen es auf ihre Art, Schreitlinge natürlich, sogar
ganz gewöhnliche Erwachsene schaffen es hin und wieder mal.
Leute, die eigentlich Niklai heißen, ein typischer ukrainischer
Name, ruft man dann beim Kosenamen Kolja, Tatjana wird Tanja, Vladimir,
Volodja.
Wenn die Kraft des Zaubertranks nachlässt, ist Russisch-Ukrainisch
wieder eine unverständliche Fremdsprache, aber Kolja, Tanja
und Volodja bleiben Freunde.
"Häää!" prusten sie verblüfft im Chor,
"du willst ins Puppentheater? Wieso das denn?"
Eigentlich gehen ja nur Hosenpupser ins Puppentheater. Stimmt's?
Das sagen jedenfalls die ganz coolen Kids, falls sie es schaffen,
den Blick vom Fernsehbildschirm weg zu kriegen. "Igitt Puppentheater,
voll langweilig, da gehen doch nur Hosenpupser und Kindergartenkinder
hin, ich setz mich lieber vorn Computer."
Ok, Computerspiele fetzen natürlich, aber es ist viel, viel
schwieriger, mit der Hand die Bewegungen von Marionetten zu steuern,
als ein Raumschiff mit Joystick durch die feindlichen Linien zu
bugsieren.
Actionfilme, zugegeben, sind wirklich actionreicher als Theaterstücke,
bei dem die Kulisse nur einmal in der Pause wechselt. Aber kann
man darin "die Puppen tanzen lassen"?
Über den Osten hieß es ja auch, das da nur Schlechtes
zu erwarten sei. Und das stimmt offensichtlich nicht. Warum sollte
es mir mit dem Puppentheater also anders gehen?
Wer wie ich im Namen des Großvaters und des heiligen Schreitlings
3000 Kilometer zurücklegt und sich die Hacken wund läuft,
um ins Theater zu gehen, wird jedenfalls nicht fett. Und das kann
man von den ganz coolen Kids nun wirklich nicht sagen. Bätsch!
Das
Puppen- oder Figurentheater ist eine uralte, stark unterschätzte
Kunstform. Obwohl gern als Kasperletheater oder Kinderkram belächelt,
haben schon antike Schriftsteller sich auf darauf bezogen. Zum Beispiel
wird der Begriff "Marionette", eine Gliederpuppe, die
an Faeden hängt, als Begriff oft für Menschen verwandt,
die nicht frei und selbstständig handeln, sondern von anderen
gesteuert werden.
Mit der Augsburger Puppenkiste hat das Puppentheater in den 60er
Jahren des letzten Jahrhunderts einmal sogar erfolgreich das erste
Deutsche Fernsehen unterwandert. Umgekehrt spielt das Fernsehen
dagegen in den Aufführungen der Puppentheater bis heute überhaupt
keine Rolle. Allerdings ist nicht Deutschland das Land gewesen,
wo dem Puppentheater im 20.Jahrhundert die größte Aufmerksamkeit
zu Teil geworden ist, sondern eben Russland. Und das führt
uns zurück auf die Krim / Ukraine, die bis vor knapp 20 Jahren
Teil Russlands gewesen ist.
In Simferopol der Hauptstadt im Zentrum der Krim haben die Puppen
ein richtig tolles Theaterhaus bekommen. Einen hübschen, kleinen
Palast in Rosa, mit Säulen davor und einem Fries, dem dreieckigen
Dachfirst über den Säulen, auf dem TEATR KUKOL - Puppentheater
- geschrieben steht. Sieht aus wie die geschrumpfte Ausgabe eines
antiken Tempels. Für die Puppen reicht das allemal, denn die
sind sowieso nicht größer als ein Kleinkind.
Ich denke, es gibt in der Ukraine wenige Leute, die so ein nobles,
geräumiges Zuhause haben wie die Puppen Simferopols. Die meisten
Leute wohnen in Wohnblocks, Plattenbauten, die ich schon aus Deutschland
kenne. Das sind 5- bis 10-stöckige, schnörkellose Schuhschachteln
aus Betonplatten und weit und breit keine Säule. In der Ukraine
sehen sie ein bisschen grauer und böser aus als in Berlin,
die Fenster erinnern an die Schießscharten einer Festung.
Andere Ukrainer leben gemütlicher - in niedrigen, windschiefen
Häuschen aus Holz und Muschelkalksteinen, denn die ganze Halbinsel
ist eigentlich nichts anderes als ein riesiger Muschelkalkfelsen
mit fruchtbarer Erde drauf.
"Vielleicht", sag' ich zu Tania am Telefon, "sollten
Puppen genauso leben und wohnen wie die Menschen, für die sie
Theater machen." "Nu", antwortet sie in der Art wie
Ukrainer es gerne tun, "dann musst du zu Larissa fahren nach
Evpatoria, einem schnuckeligen Städtchen an der Westküste."
Küste? Ich sitze schon so gut wie im Bus!
Am Fahrkartenschalter mache ich Motorengeräusche, steuere ein
speziell von mir entwickeltes großes, unsichtbares Lenkrad
und sage "Evpatoria".
Die Kassenfrau grummelt und sagt den Preis. Dummerweise kann ich
die Zahlen nur bis 20. Und nichts, was die Kassenfrau sagt, erinnert
mich an eine dieser 20 Zahlen. In der Ukraine würde ich in
die erste Schulkllasse müssen. Dabei bin ich schon viel älter
und kann bis, sagen wir, unendlich zählen. Allein reisen sollte
man deshalb erst ab der 3. Klasse oder man hat Stift und Papier
dabei. Habe ich. Die Kassenfrau schreibt den Preis auf meinen Zettel,
ich zahle und die Fahrt beginnt.
Krimlandschaft
Vor hundert Jahren war die Krim in weiten Teilen eine karge Steppe,
ein hügeliges, Wind zerzaustes Grasland mit ein paar mickrigen
Bäumen und dornigem Gestrüpp hier und da. Wenn ich aus
meinem Busfenster schaue, kann ich das noch vage erkennen. Die Hügel
sind weich und sehen aus wie versteinerte, Gras bewachsene Meereswogen.
Hier und da ragt ein Fels heraus wie eine Klippe. Und am Horizont,
zwischen geduckten Häuschen und Bäumen stehen wie Leuchttürme
die Minarette von Moscheen.
Auf der Krim herrschten lange die Krimtataren, geschickte Reiter
mit Krummsäbeln, die den Islam hierher brachten. Nach einer
Weile legten sie die Krummsäbel weg, griffen zum Pflug und
machten das Land urbar.
Stalin, ein finsterer russischer Despot des 20.Jahrhunderts, den
mein Großvater noch leibhaftig gesehen haben will, hasste
alle und jeden, der gläubig war, egal ob Moslem, Christ oder
Jude. Obwohl er selbst behauptete, Kommunist zu sein, verfolgte
er sogar Kommunisten, die zu sehr an die Gerechtigkeit glaubten.
Die Krimtataren verschleppte er in alle möglichen Teile Russlands.
Wer sich wehrte, starb, wer sich beugte, musste so hart arbeiten,
dass er auch oft starb. Kein Wunder, das die Stalindenkmäler
heute alle verschwunden sind und die übrig gebliebenen Krimtataren
in ihre alte Heimat zurückkehren, um leuchtend weiße
Moscheen, neben die neuen goldenen Zwiebeltürme der russisch-orthodoxen
Kirchen zu bauen.
Über Stalins Vorgänger Lenin, der die kommunistische Sowjetunion
errichtete, die Stalin dann tyrannisch regierte, fällt kaum
ein böses Wort hier, obwohl die Idee, den Widerstand der Krimtataren
und anderer Völker zu brechen, indem man sie zwingt, woanders
hin zugehen, auch auf seinem Mist gewachsen ist. Ein bronzener Lenin
blickt in jeder größeren Ortschaft von seinem Steinsockel
auf die Kinder jener Familien hinab, die er entzweit hat. In Simferopol
gibt es sogar einen ganz sympathischen, sitzenden Lenin, der so
aussieht, als wolle er seine nächste Rede noch einmal überdenken.
Ich habe ihn "das Auge" getauft, weil er überall
zu sein scheint, nach Sauron, dem dunklen Herrscher aus Tolkiens
Mittelerde. Aber hier gibt es weder Hobbits, noch Elfen, Zwerge
oder wenigstens Menschen, die sich gegen ihn zur Wehr setzen. Denn
die Menschen meinen, es sei Lenin zu verdanken, dass die Krim heute
keine wüste Steppe mehr sei, auf ihn gehe das ausgeklügelte
Bewässerungssystem der Krim zurück und ein nie gekannter
Reichtum an Getreide, Gemüse und Obst.
Aus dem Dnepr, dem größten Fluss der Ukraine, wird Wasser
über mächtige Rohre in die wasserarmen Regionen der Krim
gepumpt. "150 Liter in der Sekunde, schießen durch ein
Rohr, werden über Berge gepumpt und überwinden Schluchten
bis sie sich zuletzt in Kanäle ergießen", sagt Kolja.
Seitdem wächst hier allerhand.
Im Norden bin ich einmal durch verschneite Reisfelder gelaufen.
Bei Reis denkt man doch eher an China oder andere tropische Gegenden,
stimmt's? Aber ich bin durch verschneite Reisfelder gelaufen, Felder,
die im Frühling und Sommer vollständig unter Wasser stehen
und im Winter wie das Nichtschwimmerbecken eines verlassenen Schwimmbades
aussehen.
Mit dem Wasser kamen von überall her neue Leute auf die Krim,
die einst dünn besiedelt war, und noch heute wagen sich Wölfe
aus dem Norden zu Raubzügen auf die Krim und wandern an den
Kanälen entlang.
Bum! Mein Kopf knallt gegen die Fensterscheibe, während ich
den weiten Horizont nach Wasserrohren absuche. Der Busfahrer grinst.
Auf der Krim würde ich auch Busfahrer werden. Das ist schon
was anderes als eine langweilige deutsche Autobahn. Die Schlaglöcher
sehen aus wie Bombentrichter, es gibt weder einen Mittelstreifen,
noch eine deutliche Straßenbegrenzung und auf den Verkehrsinseln
grasen Kühe. Das ist etwas für Leute, die Auto fahren
ernst meinen.
"Evpatoria",
ruft der Busfahrer fröhlich. Ich spring den knappen Meter aus
dem Bus, der hinten keine Treppen hat.
Geschafft! Ich glaub, mir wächst grade ne Beule am Kopf.
"Oh", kichert eine ältere Dame am Bahnsteig und bestaunt
mein Stirn, "meine Puppen sind fast alle aus Pappmasche, die
haben auch manchmal ... äh ... das."
Beulen? Na toll. Eine Begrüßung, ganz nach dem Geschmack
eines Schreitlings. Zumal auf Deutsch. Und auf dem Fussmarsch zum
Theater, vorbei an kleinen Gärten mit blühenden Bäumen,
erfahre ich auch wieso: Larisas Tochter lebt in Berlin. Meinen Wodka
kann ich also ruhigen Gewissens in der Innentasche verstauen. Wir
verstehen uns auch so.
Larisa hat eine verzaubernde, krächzende Hexenstimme und ist
fähig, auf einem schmalen Bordstein entlang zu tänzeln,
ohne in den Matsch links und rechts davon zu fallen und gleichzeitig
in einem Wörterbuch Worte wie "Prinz", "Zauberer"
und "Märchen" nachzuschlagen. Worte eben, die in
ihrem Alltag eine große Rolle spielen. Denn Larisa führt
seit 23 Jahren ein Puppentheater, baut Puppen, spielt Puppen, sucht
Geschichten für Puppen aus und verwandelt sich manchmal selbst
in eine Puppe.
Die krächzende Hexenstimme ist nur eine Larisa. Sie kann auch
säuseln wie eine Prinzessin, sogar eine dunkle Stimme zaubert
sie tief aus dem Bauch hervor und leiht sie Prinzen, Zauberern und
Bären - denn Männer arbeiten am Theater nicht mit.
Larisa kommt von überall her. Aufgewachsen ist sie im kalten
Sibirien, als Tochter von Usbeken, denen es unter Stalin ähnlich
erging wie den Krimtataren. Eigentlich stammt sie aus Taschkent
in Usbekistan, der Stadt aus der die orientalischen Märchen
stammen. Sie hat rabenschwarzes Haar und eine hübsche, kleine
Hakennase, wie die orientalische Prinzessin mit dem Sternengewand,
die im Puppenlager ihres Theaters, dem nächsten Auftritt entgegen
fiebert.
Die Familie lebt über ganz Asien und Europa verstreut, und
Larisa war mit dem Theater schon in Tschechien, Polen und Deutschland
auf Tournee. Sie ist schon etwas älter, aber Reisen liebt sie
über alles. Larisa ist also ohne Zweifel auch ein Schreitling.
Von meinem Großvater will sie noch nie etwas gehört haben,
er aber behauptet, er habe sie in Usbekistan auf einem Basar getroffen
und sie gehöre zur Familie.
Larisa ist ein Märchen aus "Tausend und einer Nacht".
Sie schneidert Kostüme für echte Schauspieler, kann Menschen
so schminken, dass sie wie Tiere aussehen und zeichnet mit schnellem
Strich Bühnenbilder. Ihre Märchen handeln manchmal von
Khanen, den Herrschern der Krimtataren, oder vom Drachen Gosha.
Aber dieses Mal dreht sich alles um eine blonde Prinzessin mit geflochten
Zöpfen, die außer mir alle wunderschön finden. Ich
mag aus praktischen Gründen Hexen lieber. Auf einem Hexenbesen
lässt sich seelenruhig die Welt umrunden ohne Warteschlange
am Flughafenschalter oder Visaprobleme, wie sie Ukrainer an der
deutschen Grenze erwarten.
Auf
der Bühne sind heute aber keine Besenflüge geplant. In
einer Viertelstunde geht es los. Während die Mädchen,
die heute die Marionettenfiguren führen, die Fäden des
bösen blauen Zauberers entheddern, schlage ich mich bis zum
Klo durch. Das ist gar nicht so leicht. Mein Weg führt durch
eine Schlucht zwischen Bergen von schweren Stoffen mit schimmernden
Farben, aus denen Puppenarme herausragen. Ein Clownsgesicht schielt
aus einem Pappkarton hervor und hinter der Tür lauert ein Stoffkrokodil
auf frisches Schreitlingfleisch. Ich klettere über die Türme
einer roten Holzkirche und stolpere über eine Balalaika, so
etwas wie eine russische Gitarre. Der Klang ist hell und ich habe
eine 2. Beule zu verbuchen, aber nichts kann mich aufhalten, auch
das gelbe Monster ohne Augen nicht, das vor dem Klo Wache schiebt.
Geschafft!
Und was lese ich auf der Postkarte, die auf der Innenseite der Klotür
hängt? "Viele Grüße aus Köln" und
dazu der Kölner Dom. Ich bin in einer Geisterbahn gelandet.
Die Geschichte, die heute gespielt wird, heißt "Die
verzauberte Prinzessin" und ist schnell erzählt:
Ein Prinz mit echtem Schwert liebt eine gar nicht so hübsche
Prinzessin mit langweiliger Stupsnase mehr alles andere auf der
Welt. Typisch Prinz. Aber die Prinzessin ist von einer bösen
Waldhexe verzaubert worden, die ziemlich sexy verfilzte, superlange
Haare hat, aber leider keinen Besen. Wenn die Prinzessin zu tanzen
versucht, hüpft sie stattdessen gegen ihren Willen wild durch
die Gegend. Deswegen ist sie unglücklich, denn sie tanzt sehr
gern und will den Prinzen natürlich gern heiraten, aber der
König fürchtet den peinlichen Augenblick auf der Hochzeit,
wenn die Prinzessin beim Hochzeitstanz wild durch die Gegend springt.
Wieso das denn? Warum lässt er sie nicht einfach durch die
Gegend hüpfen?
Jedenfalls, der Prinz ist ein gewieftes Kerlchen und kann nicht
ohne seine Prinzessin. Also macht er sich auf zur Waldhexe, für
deren Reize er völlig unempfänglich ist und versucht,
sie zu überreden, den Fluch von der Prinzessin zu nehmen. Die
Waldhexe lacht ihn aus, Schadenfreude, denn sie ist richtig böse
und pfeift auf den Prinzen. Aber die beiden kommen trotzdem ins
Gespräch und der Prinz erfährt, dass sie bis über
beide Ohren in den bösen, blauen Zauberer verliebt ist, weil
er so fies und mächtig ist.
Er verspricht der Hexe eine Hochzeit mit dem bösen Zauberer,
wenn sie seine Hochzeit mit der Prinzessin möglich macht. Die
beiden kommen ins Geschäft. Der Prinz riskiert Kopf und Kragen
bei einem Besuch im Schloss des bösen Zauberers. Aber er schafft
es, den Zauberer zur Rede zu stellen und erzählt ihm von der
heimlichen Liebe der Waldhexe. Der böse Zauberer ist Feuer
und Flamme, die Waldhexe ist schließlich fast genauso böse
wie er selbst und er hat einen guten Geschmack, mag ihre Haare und
liebt sie sowieso schon lange. Bösewichter dürfen eigentlich
im Land nicht heiraten, aber der Prinz verspricht, ein Auge zu zudrücken.
Gemeinsam kehren die neuen Freunde fein herausgeputzt in den Wald
der Hexe zurück. Die erwartet sie schon im Hochzeitskleid,
hat sich die Lippen angemalt und sieht absolut Hammer aus.
Die Hexe fällt dem Zauberer überschwänglich in die
Arme und sie küssen sich. Da passiert das Wunder - sie verlieren
aus Liebe die Lust, böse zu sein. Die neuerdings gute Waldhexe
nimmt natürlich sofort den Fluch von der Prinzessin und der
Prinz kann endlich um ihre Hand anhalten. Zuletzt gibt es eine glanzvolle
Doppelhochzeit mit naja, einem eher langweiligen Hochzeitstanz zwischen
Prinz und Prinzessin.
Jetzt
könnte man meinen, alles geht gut aus, aber das Tragische an
der Sache für mich persönlich ist, dass die Hexe jetzt
vergeben ist und die Tatsache, dass die Hexe keinen Besen hat, ist
da nur ein schwacher Trost. Ich hab ja von Anfang an geahnt, das
die böse Waldhexe eigentlich ein gutes Herz hat, aber das bringt
jetzt auch nichts mehr.
Damit ich nicht laut losheule, lädt mich Larisa nach dem Stück
zum Tee ein und füttert mich mit Käse und Wurst. "Geh'
noch mal runter zum Meer", sagt sie aufmunternd und knufft
mich zum Abschied, "da ist es schön".
Natürlich! Hätte ich beinahe vergessen! In Evpatoria
gibt es ja einen der schönsten Strände der Krim! Und da
sitz ich nun gerade und die Wellen brechen und werfen Muscheln in
den Sand und ich hab Heimweh, aber der Wind trocknet meine Tränen.
Und ich schau raus aufs Meer und komme zu einem Schluss:
Im Leben geht's irgendwie auch so zu wie in dem Märchen. Genauso
wie sich die böse Hexe am Ende als gute entpuppt hat, so hat
sich die angeblich gefährliche Ukraine als freundliches, schönes
Land erwiesen. Man sollte wirklich nicht alles glauben, was einem
erzählt wird. Die meisten Dinge sind Einbildung. Vielleicht
habe ich mir zum Beispiel nur eingebildet, in die Hexe verliebt
zu sein. Zuhause, das weiß ich genau, hat mich wirklich jemand
gern. Da wartet in Leipzig der kleine Zauberer Anton auf mich. Und
wenn ich den nicht bald küsse, krieg' ich seinen Zauberbesen
nie. Also nichts wie los!
Diese eindrückliche Reportage hat Christian
extra für Rossipotti
aufgeschrieben und illustriert. Super! Vielen
Dank! © Christian Ondracek
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