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Rossipottis 11 Uhr Termin

 

Mit 3 Sachen durch die Krim

Eine illustrierte Reportage von Christian Ondracek (Text und Illustration)

Ich bin ein Schreitling und Schreitlinge gibt es vermutlich viele.
Schreitlinge sind immer unterwegs. Da ist es nur zu verständlich, dass sie überall auf der Welt Kinder und Freunde haben. Denn unterwegs zu sein, bedeutet für Schreitlinge, Menschen zu begegnen, statt von einem Termin zum anderen zu hetzen, zack schnell noch hier ins Restaurant, zack mit vollem Mund da die Sehenswürdigkeiten abklappern und dann ab in den Flieger.
Nicht so Schreitlinge. Schreitlinge haben einen lässigen, wippenden Gang wie Menschen, die Zeit haben, und überspringen Sprachbarrieren freundlich lächelnd auf einem Bein. Vielleicht liegt das daran, dass reisende Schreitlinge keine 7 Sachen packen müssen, wie man so schön sagt. Sie haben nämlich nur 3: Ein Laptop mit Wörterbüchern, Handy und ein Lieblingsinstrument. Leute, die sich mit großen Koffern abquälen, tun ihnen leid. "Gepäck, das am Laufen hindert, ist Ballast", sagt ein altes Schreitling-Sprichwort. Sprachbarrieren sind für die leichten Schreitlinge also eine leichte Übung.

Als ich meinem Großvater gesagt habe, dass ich in die Ukraine fahre, hat er gleich sein Adressheftchen rausgeholt, um nachzuschauen, ob er da eventuell Söhne, Töchter oder wenigstens Freunde hat ... aber nee, doch nicht.
Die Ukraine ist geografisch gesehen von uns gar nicht so weit weg, aber selbst für Schreitlinge ein fernes Land. "Weißt du, wo die Ukraine liegt?" hat mein Großvater mich gefragt und die Antwort gleich hinterher geschoben: "Im Osten. Da kamen früher die Spione her."
Bis heute kommt aus dem Osten angeblich nichts Gutes. Aus dem Osten kommen Wölfe nach Brandenburg und zerfleischen Schafe. Östliche Schneestürme wirbeln über Deutschland hinweg und verursachen leere Straßen. Aus dem Osten kommen Sachen, die schnell kaputt gehen, und Leute, die Arbeit suchen und länger bleiben wollen als erlaubt.
"Davon, dass die schönsten Puppentheater, die besten Trickfilme aus dem Osten kamen, davon spricht keiner mehr," hat Großvater Kopf schüttelnd gesagt.
Also hab ich meine 3 Sachen gepackt und bin losgezogen. Ist doch schön, mal wieder ins Puppentheater zu gehen. Oder?

Mein Zug ist durch schneebedecktes, glitzerndes, weites Land gezuckelt und die Häuser wurden langsam immer kleiner und immer hölzerner und die Schornsteine rauchten immer stärker und die Wälder wurden dichter und die Straßen schlechter, sogar der Zug hat sich irgendwann entschlossen, zu ruckeln und da bin ich endlich ausgestiegen.
Und was sehe ich?
Das Meer.
Liegt einfach so da, hingeworfen wie eine Steppdecke für ein Picknick.
Der Osten ist für seine Taiga bekannt, ein waldiges, eisiges Sumpfland, in dem die Leute Gummistiefel tragen, und für seine Steppen voller Reitervölker, die früher in Zelten wohnten. Aber ein Meer?

Die Ukraine hat aber tatsächlich ein Meer im Süden, es heißt Schwarzes Meer, ist aber blau und das Klima ist fast so mild wie in Frankreich oder Italien.
Und da stehe ich nun auf der Halbinsel Krim, die Taschen voll mit einem Bündel Geldscheinen, die Griwnas heißen und in Deutschland wenig wert sind, begrüßt vom Meer, das gegen meine schwieligen Wanderfüße brandet und denke an Fische - und zwar gegrillte.

 

Ich spreche alle Sprachen der Welt, allerdings nur gebrochen oder gar nicht. In der Ukraine sprechen die Leute russisch oder ukrainisch, 2 schöne, wilde Sprachen, die sich so ähnlich sind wie eineiige Zwillinge. Dem Sprecher wird einiges abverlangt. Wenn er "ü" sagt, rollt er die Zunge nach hinten bis sie am Gaumen kleben bleibt, um sie dann beim nächsten "r" blitzschnell in den Rachen schnalzen zu lassen, wo sie in rasender Geschwindigkeit auf- und abwedelt wie der Schwanz eines glücklichen Hundes, nur halt nach oben und unten.
Wer eine so schwierige Sprache fließend sprechen will, muss gut essen und viel trinken. Das machen die Ukrainer mit Hingabe und ihr Russisch-Ukrainisch klingt tadellos.
Um die Zunge vor dem Sprechen aufzuwärmen, essen die Leute zum Frühstück erst einmal eine warme Suppe namens Bortsch. Bortsch ist aus Rote Beete und macht tolle Flecken auf weiße Hemden. Bortsch wird in großen Töpfen gekocht und je nach Belieben nimmt man sich den ganzen Tag über nach.
Um die Zunge geschmeidig zu halten, reicht das allerdings irgendwann nicht mehr - die Zeit des russischen Zaubertranks ist gekommen: Wodka. Wer Wodka trinkt, kann für kurze Zeit fließend russisch-ukrainisch sprechen, allerdings keine andere Sprache mehr. Wer "kriechen" sagen möchte, robbt über den Fussboden, wer "ich freue mich" sagen möchte, lacht und "schön, dich zu sehen" ist eine Umarmung.
Russisch-Ukrainisch ist so schwer nun auch wieder nicht, fast alle Kinder sprechen es auf ihre Art, Schreitlinge natürlich, sogar ganz gewöhnliche Erwachsene schaffen es hin und wieder mal. Leute, die eigentlich Niklai heißen, ein typischer ukrainischer Name, ruft man dann beim Kosenamen Kolja, Tatjana wird Tanja, Vladimir, Volodja.
Wenn die Kraft des Zaubertranks nachlässt, ist Russisch-Ukrainisch wieder eine unverständliche Fremdsprache, aber Kolja, Tanja und Volodja bleiben Freunde.
"Häää!" prusten sie verblüfft im Chor, "du willst ins Puppentheater? Wieso das denn?"

Eigentlich gehen ja nur Hosenpupser ins Puppentheater. Stimmt's?
Das sagen jedenfalls die ganz coolen Kids, falls sie es schaffen, den Blick vom Fernsehbildschirm weg zu kriegen. "Igitt Puppentheater, voll langweilig, da gehen doch nur Hosenpupser und Kindergartenkinder hin, ich setz mich lieber vorn Computer."
Ok, Computerspiele fetzen natürlich, aber es ist viel, viel schwieriger, mit der Hand die Bewegungen von Marionetten zu steuern, als ein Raumschiff mit Joystick durch die feindlichen Linien zu bugsieren.
Actionfilme, zugegeben, sind wirklich actionreicher als Theaterstücke, bei dem die Kulisse nur einmal in der Pause wechselt. Aber kann man darin "die Puppen tanzen lassen"?
Über den Osten hieß es ja auch, das da nur Schlechtes zu erwarten sei. Und das stimmt offensichtlich nicht. Warum sollte es mir mit dem Puppentheater also anders gehen?
Wer wie ich im Namen des Großvaters und des heiligen Schreitlings 3000 Kilometer zurücklegt und sich die Hacken wund läuft, um ins Theater zu gehen, wird jedenfalls nicht fett. Und das kann man von den ganz coolen Kids nun wirklich nicht sagen. Bätsch!

Das Puppen- oder Figurentheater ist eine uralte, stark unterschätzte Kunstform. Obwohl gern als Kasperletheater oder Kinderkram belächelt, haben schon antike Schriftsteller sich auf darauf bezogen. Zum Beispiel wird der Begriff "Marionette", eine Gliederpuppe, die an Faeden hängt, als Begriff oft für Menschen verwandt, die nicht frei und selbstständig handeln, sondern von anderen gesteuert werden.
Mit der Augsburger Puppenkiste hat das Puppentheater in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts einmal sogar erfolgreich das erste Deutsche Fernsehen unterwandert. Umgekehrt spielt das Fernsehen dagegen in den Aufführungen der Puppentheater bis heute überhaupt keine Rolle. Allerdings ist nicht Deutschland das Land gewesen, wo dem Puppentheater im 20.Jahrhundert die größte Aufmerksamkeit zu Teil geworden ist, sondern eben Russland. Und das führt uns zurück auf die Krim / Ukraine, die bis vor knapp 20 Jahren Teil Russlands gewesen ist.

In Simferopol der Hauptstadt im Zentrum der Krim haben die Puppen ein richtig tolles Theaterhaus bekommen. Einen hübschen, kleinen Palast in Rosa, mit Säulen davor und einem Fries, dem dreieckigen Dachfirst über den Säulen, auf dem TEATR KUKOL - Puppentheater - geschrieben steht. Sieht aus wie die geschrumpfte Ausgabe eines antiken Tempels. Für die Puppen reicht das allemal, denn die sind sowieso nicht größer als ein Kleinkind.
Ich denke, es gibt in der Ukraine wenige Leute, die so ein nobles, geräumiges Zuhause haben wie die Puppen Simferopols. Die meisten Leute wohnen in Wohnblocks, Plattenbauten, die ich schon aus Deutschland kenne. Das sind 5- bis 10-stöckige, schnörkellose Schuhschachteln aus Betonplatten und weit und breit keine Säule. In der Ukraine sehen sie ein bisschen grauer und böser aus als in Berlin, die Fenster erinnern an die Schießscharten einer Festung. Andere Ukrainer leben gemütlicher - in niedrigen, windschiefen Häuschen aus Holz und Muschelkalksteinen, denn die ganze Halbinsel ist eigentlich nichts anderes als ein riesiger Muschelkalkfelsen mit fruchtbarer Erde drauf.
"Vielleicht", sag' ich zu Tania am Telefon, "sollten Puppen genauso leben und wohnen wie die Menschen, für die sie Theater machen." "Nu", antwortet sie in der Art wie Ukrainer es gerne tun, "dann musst du zu Larissa fahren nach Evpatoria, einem schnuckeligen Städtchen an der Westküste."
Küste? Ich sitze schon so gut wie im Bus!
Am Fahrkartenschalter mache ich Motorengeräusche, steuere ein speziell von mir entwickeltes großes, unsichtbares Lenkrad und sage "Evpatoria".
Die Kassenfrau grummelt und sagt den Preis. Dummerweise kann ich die Zahlen nur bis 20. Und nichts, was die Kassenfrau sagt, erinnert mich an eine dieser 20 Zahlen. In der Ukraine würde ich in die erste Schulkllasse müssen. Dabei bin ich schon viel älter und kann bis, sagen wir, unendlich zählen. Allein reisen sollte man deshalb erst ab der 3. Klasse oder man hat Stift und Papier dabei. Habe ich. Die Kassenfrau schreibt den Preis auf meinen Zettel, ich zahle und die Fahrt beginnt.

Krimlandschaft

Vor hundert Jahren war die Krim in weiten Teilen eine karge Steppe, ein hügeliges, Wind zerzaustes Grasland mit ein paar mickrigen Bäumen und dornigem Gestrüpp hier und da. Wenn ich aus meinem Busfenster schaue, kann ich das noch vage erkennen. Die Hügel sind weich und sehen aus wie versteinerte, Gras bewachsene Meereswogen. Hier und da ragt ein Fels heraus wie eine Klippe. Und am Horizont, zwischen geduckten Häuschen und Bäumen stehen wie Leuchttürme die Minarette von Moscheen.
Auf der Krim herrschten lange die Krimtataren, geschickte Reiter mit Krummsäbeln, die den Islam hierher brachten. Nach einer Weile legten sie die Krummsäbel weg, griffen zum Pflug und machten das Land urbar.
Stalin, ein finsterer russischer Despot des 20.Jahrhunderts, den mein Großvater noch leibhaftig gesehen haben will, hasste alle und jeden, der gläubig war, egal ob Moslem, Christ oder Jude. Obwohl er selbst behauptete, Kommunist zu sein, verfolgte er sogar Kommunisten, die zu sehr an die Gerechtigkeit glaubten. Die Krimtataren verschleppte er in alle möglichen Teile Russlands. Wer sich wehrte, starb, wer sich beugte, musste so hart arbeiten, dass er auch oft starb. Kein Wunder, das die Stalindenkmäler heute alle verschwunden sind und die übrig gebliebenen Krimtataren in ihre alte Heimat zurückkehren, um leuchtend weiße Moscheen, neben die neuen goldenen Zwiebeltürme der russisch-orthodoxen Kirchen zu bauen.
Über Stalins Vorgänger Lenin, der die kommunistische Sowjetunion errichtete, die Stalin dann tyrannisch regierte, fällt kaum ein böses Wort hier, obwohl die Idee, den Widerstand der Krimtataren und anderer Völker zu brechen, indem man sie zwingt, woanders hin zugehen, auch auf seinem Mist gewachsen ist. Ein bronzener Lenin blickt in jeder größeren Ortschaft von seinem Steinsockel auf die Kinder jener Familien hinab, die er entzweit hat. In Simferopol gibt es sogar einen ganz sympathischen, sitzenden Lenin, der so aussieht, als wolle er seine nächste Rede noch einmal überdenken. Ich habe ihn "das Auge" getauft, weil er überall zu sein scheint, nach Sauron, dem dunklen Herrscher aus Tolkiens Mittelerde. Aber hier gibt es weder Hobbits, noch Elfen, Zwerge oder wenigstens Menschen, die sich gegen ihn zur Wehr setzen. Denn die Menschen meinen, es sei Lenin zu verdanken, dass die Krim heute keine wüste Steppe mehr sei, auf ihn gehe das ausgeklügelte Bewässerungssystem der Krim zurück und ein nie gekannter Reichtum an Getreide, Gemüse und Obst.
Aus dem Dnepr, dem größten Fluss der Ukraine, wird Wasser über mächtige Rohre in die wasserarmen Regionen der Krim gepumpt. "150 Liter in der Sekunde, schießen durch ein Rohr, werden über Berge gepumpt und überwinden Schluchten bis sie sich zuletzt in Kanäle ergießen", sagt Kolja. Seitdem wächst hier allerhand.
Im Norden bin ich einmal durch verschneite Reisfelder gelaufen. Bei Reis denkt man doch eher an China oder andere tropische Gegenden, stimmt's? Aber ich bin durch verschneite Reisfelder gelaufen, Felder, die im Frühling und Sommer vollständig unter Wasser stehen und im Winter wie das Nichtschwimmerbecken eines verlassenen Schwimmbades aussehen.
Mit dem Wasser kamen von überall her neue Leute auf die Krim, die einst dünn besiedelt war, und noch heute wagen sich Wölfe aus dem Norden zu Raubzügen auf die Krim und wandern an den Kanälen entlang.

Bum! Mein Kopf knallt gegen die Fensterscheibe, während ich den weiten Horizont nach Wasserrohren absuche. Der Busfahrer grinst. Auf der Krim würde ich auch Busfahrer werden. Das ist schon was anderes als eine langweilige deutsche Autobahn. Die Schlaglöcher sehen aus wie Bombentrichter, es gibt weder einen Mittelstreifen, noch eine deutliche Straßenbegrenzung und auf den Verkehrsinseln grasen Kühe. Das ist etwas für Leute, die Auto fahren ernst meinen.

"Evpatoria", ruft der Busfahrer fröhlich. Ich spring den knappen Meter aus dem Bus, der hinten keine Treppen hat.
Geschafft! Ich glaub, mir wächst grade ne Beule am Kopf.
"Oh", kichert eine ältere Dame am Bahnsteig und bestaunt mein Stirn, "meine Puppen sind fast alle aus Pappmasche, die haben auch manchmal ... äh ... das."
Beulen? Na toll. Eine Begrüßung, ganz nach dem Geschmack eines Schreitlings. Zumal auf Deutsch. Und auf dem Fussmarsch zum Theater, vorbei an kleinen Gärten mit blühenden Bäumen, erfahre ich auch wieso: Larisas Tochter lebt in Berlin. Meinen Wodka kann ich also ruhigen Gewissens in der Innentasche verstauen. Wir verstehen uns auch so.

Larisa hat eine verzaubernde, krächzende Hexenstimme und ist fähig, auf einem schmalen Bordstein entlang zu tänzeln, ohne in den Matsch links und rechts davon zu fallen und gleichzeitig in einem Wörterbuch Worte wie "Prinz", "Zauberer" und "Märchen" nachzuschlagen. Worte eben, die in ihrem Alltag eine große Rolle spielen. Denn Larisa führt seit 23 Jahren ein Puppentheater, baut Puppen, spielt Puppen, sucht Geschichten für Puppen aus und verwandelt sich manchmal selbst in eine Puppe.
Die krächzende Hexenstimme ist nur eine Larisa. Sie kann auch säuseln wie eine Prinzessin, sogar eine dunkle Stimme zaubert sie tief aus dem Bauch hervor und leiht sie Prinzen, Zauberern und Bären - denn Männer arbeiten am Theater nicht mit.
Larisa kommt von überall her. Aufgewachsen ist sie im kalten Sibirien, als Tochter von Usbeken, denen es unter Stalin ähnlich erging wie den Krimtataren. Eigentlich stammt sie aus Taschkent in Usbekistan, der Stadt aus der die orientalischen Märchen stammen. Sie hat rabenschwarzes Haar und eine hübsche, kleine Hakennase, wie die orientalische Prinzessin mit dem Sternengewand, die im Puppenlager ihres Theaters, dem nächsten Auftritt entgegen fiebert.
Die Familie lebt über ganz Asien und Europa verstreut, und Larisa war mit dem Theater schon in Tschechien, Polen und Deutschland auf Tournee. Sie ist schon etwas älter, aber Reisen liebt sie über alles. Larisa ist also ohne Zweifel auch ein Schreitling. Von meinem Großvater will sie noch nie etwas gehört haben, er aber behauptet, er habe sie in Usbekistan auf einem Basar getroffen und sie gehöre zur Familie.
Larisa ist ein Märchen aus "Tausend und einer Nacht". Sie schneidert Kostüme für echte Schauspieler, kann Menschen so schminken, dass sie wie Tiere aussehen und zeichnet mit schnellem Strich Bühnenbilder. Ihre Märchen handeln manchmal von Khanen, den Herrschern der Krimtataren, oder vom Drachen Gosha.
Aber dieses Mal dreht sich alles um eine blonde Prinzessin mit geflochten Zöpfen, die außer mir alle wunderschön finden. Ich mag aus praktischen Gründen Hexen lieber. Auf einem Hexenbesen lässt sich seelenruhig die Welt umrunden ohne Warteschlange am Flughafenschalter oder Visaprobleme, wie sie Ukrainer an der deutschen Grenze erwarten.
Auf der Bühne sind heute aber keine Besenflüge geplant. In einer Viertelstunde geht es los. Während die Mädchen, die heute die Marionettenfiguren führen, die Fäden des bösen blauen Zauberers entheddern, schlage ich mich bis zum Klo durch. Das ist gar nicht so leicht. Mein Weg führt durch eine Schlucht zwischen Bergen von schweren Stoffen mit schimmernden Farben, aus denen Puppenarme herausragen. Ein Clownsgesicht schielt aus einem Pappkarton hervor und hinter der Tür lauert ein Stoffkrokodil auf frisches Schreitlingfleisch. Ich klettere über die Türme einer roten Holzkirche und stolpere über eine Balalaika, so etwas wie eine russische Gitarre. Der Klang ist hell und ich habe eine 2. Beule zu verbuchen, aber nichts kann mich aufhalten, auch das gelbe Monster ohne Augen nicht, das vor dem Klo Wache schiebt. Geschafft!
Und was lese ich auf der Postkarte, die auf der Innenseite der Klotür hängt? "Viele Grüße aus Köln" und dazu der Kölner Dom. Ich bin in einer Geisterbahn gelandet.

Die Geschichte, die heute gespielt wird, heißt "Die verzauberte Prinzessin" und ist schnell erzählt:
Ein Prinz mit echtem Schwert liebt eine gar nicht so hübsche Prinzessin mit langweiliger Stupsnase mehr alles andere auf der Welt. Typisch Prinz. Aber die Prinzessin ist von einer bösen Waldhexe verzaubert worden, die ziemlich sexy verfilzte, superlange Haare hat, aber leider keinen Besen. Wenn die Prinzessin zu tanzen versucht, hüpft sie stattdessen gegen ihren Willen wild durch die Gegend. Deswegen ist sie unglücklich, denn sie tanzt sehr gern und will den Prinzen natürlich gern heiraten, aber der König fürchtet den peinlichen Augenblick auf der Hochzeit, wenn die Prinzessin beim Hochzeitstanz wild durch die Gegend springt.
Wieso das denn? Warum lässt er sie nicht einfach durch die Gegend hüpfen?
Jedenfalls, der Prinz ist ein gewieftes Kerlchen und kann nicht ohne seine Prinzessin. Also macht er sich auf zur Waldhexe, für deren Reize er völlig unempfänglich ist und versucht, sie zu überreden, den Fluch von der Prinzessin zu nehmen. Die Waldhexe lacht ihn aus, Schadenfreude, denn sie ist richtig böse und pfeift auf den Prinzen. Aber die beiden kommen trotzdem ins Gespräch und der Prinz erfährt, dass sie bis über beide Ohren in den bösen, blauen Zauberer verliebt ist, weil er so fies und mächtig ist.
Er verspricht der Hexe eine Hochzeit mit dem bösen Zauberer, wenn sie seine Hochzeit mit der Prinzessin möglich macht. Die beiden kommen ins Geschäft. Der Prinz riskiert Kopf und Kragen bei einem Besuch im Schloss des bösen Zauberers. Aber er schafft es, den Zauberer zur Rede zu stellen und erzählt ihm von der heimlichen Liebe der Waldhexe. Der böse Zauberer ist Feuer und Flamme, die Waldhexe ist schließlich fast genauso böse wie er selbst und er hat einen guten Geschmack, mag ihre Haare und liebt sie sowieso schon lange. Bösewichter dürfen eigentlich im Land nicht heiraten, aber der Prinz verspricht, ein Auge zu zudrücken. Gemeinsam kehren die neuen Freunde fein herausgeputzt in den Wald der Hexe zurück. Die erwartet sie schon im Hochzeitskleid, hat sich die Lippen angemalt und sieht absolut Hammer aus.
Die Hexe fällt dem Zauberer überschwänglich in die Arme und sie küssen sich. Da passiert das Wunder - sie verlieren aus Liebe die Lust, böse zu sein. Die neuerdings gute Waldhexe nimmt natürlich sofort den Fluch von der Prinzessin und der Prinz kann endlich um ihre Hand anhalten. Zuletzt gibt es eine glanzvolle Doppelhochzeit mit naja, einem eher langweiligen Hochzeitstanz zwischen Prinz und Prinzessin.

Jetzt könnte man meinen, alles geht gut aus, aber das Tragische an der Sache für mich persönlich ist, dass die Hexe jetzt vergeben ist und die Tatsache, dass die Hexe keinen Besen hat, ist da nur ein schwacher Trost. Ich hab ja von Anfang an geahnt, das die böse Waldhexe eigentlich ein gutes Herz hat, aber das bringt jetzt auch nichts mehr.
Damit ich nicht laut losheule, lädt mich Larisa nach dem Stück zum Tee ein und füttert mich mit Käse und Wurst. "Geh' noch mal runter zum Meer", sagt sie aufmunternd und knufft mich zum Abschied, "da ist es schön".

Natürlich! Hätte ich beinahe vergessen! In Evpatoria gibt es ja einen der schönsten Strände der Krim! Und da sitz ich nun gerade und die Wellen brechen und werfen Muscheln in den Sand und ich hab Heimweh, aber der Wind trocknet meine Tränen. Und ich schau raus aufs Meer und komme zu einem Schluss:
Im Leben geht's irgendwie auch so zu wie in dem Märchen. Genauso wie sich die böse Hexe am Ende als gute entpuppt hat, so hat sich die angeblich gefährliche Ukraine als freundliches, schönes Land erwiesen. Man sollte wirklich nicht alles glauben, was einem erzählt wird. Die meisten Dinge sind Einbildung. Vielleicht habe ich mir zum Beispiel nur eingebildet, in die Hexe verliebt zu sein. Zuhause, das weiß ich genau, hat mich wirklich jemand gern. Da wartet in Leipzig der kleine Zauberer Anton auf mich. Und wenn ich den nicht bald küsse, krieg' ich seinen Zauberbesen nie. Also nichts wie los!

Diese eindrückliche Reportage hat Christian extra für Rossipotti aufgeschrieben und illustriert. Super! Vielen Dank! © Christian Ondracek

 

 © Rossipotti No. 20, April 2009