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Salon Albert
Hallo Kinder,
macht es euch in euren Sesseln bequem und lasst euch ins alte China
entführen.
Denn heute wollen wir zusehen, wie Richter Di Giftmördern,
Schmugglern, korrupten Mönchen oder krankhaft eifersüchtigen
Ehemännern das Handwerk legt.
Richter Di ist übrigens keine erfundene Gestalt, sondern hat
wirklich einmal gelebt. Zwischen 630 bis 700 n. Chr. wurde er in
der Tang-Dynastie zuerst als Bezirksrichter, der komplizierte Kriminalfälle
aufklärte, bekannt. Danach spielte er in der Hauptstadt als
Vorsitzender des Reichsgerichts in der Innen- und Außenpolitik
eine wichtige Rolle.
Doch während nach seinem Tod sein Ruhm als Staatsmann ällmählich
verblasste, wurden seine Fähigkeiten als Detektiv immer legendärer.
Einige der Fälle, die Richter Di gelöst haben soll, waren
tatsächlich wahr, andere waren eigentlich von anderen Bezirksrichtern
gelöst, wieder andere schlicht weg erfunden worden.
In der westlichen Welt wurde Richter Di vor allem durch Robert
van Gulik bekannt. Robert van Gulik lernte den Detektiv als
holländischer Diplomat 1949 in China kennen, als er einen Roman
mit mehreren merkwürdigen Fällen des Richters übersetzte.
Die Übersetzung hatte in Europa einen so großen Erfolg,
dass van Gulik dem chinesischen Ermittler bis zu seinem Tod 1967
14 weitere Romane, 2 längere und 8 kürzere Erzählungen auf den Leib
schrieb.
Van Guliks Richter Di ist übrigens nicht gerade ein Sympathieträger.
Ein wenig mürrisch, ein wenig sittenstreng und abweisend, hält
er selbst seine vier besten Freunde Ma Jung, Tschiao Tai, Tao Gan
und Wachtmeister Hung, und seine Familie auf Distanz. Trotzdem möchte
man als Leser immer in seiner Nähe sein. Denn sein absolut
unbestechlicher, loyaler Charakter und sein aufgeklärter, konfuzianischer
Geist verscheuchen Gespenter in verlassenen Tempeln, aufmüpfige
Tataren, verschlagene Bordellbesitzerinnen und korrupte Kaufleute.
Selbst vor Stockschwingern oder brutalen Wegelagerern braucht man
sich nicht zu fürchten. Denn sollte einmal dem gut trainierten
Richter die Puste ausgehen, springen ihm gleich seine treuen Gehilfen
Ma Jung und Tschiau Tai, zwei ehemalige Räuber, zur Seite.
Was gibt es sonst noch zu sagen?
Zum Beispiel, dass van Gulik einige Motive der chinesischen Kriminalliteratur,
öfters auch echte Fälle in seine Romane einbaute. Oder,
dass er seinen Richter nicht in der originalen Tang-Periode, sondern
in der Ming-Zeit etwa tausend Jahre später auftreten lässt.
Oder dass er die Umgebung und die Zeitgenossen des Richters zwar
nicht detailliert, sondern eher holzschnittartig beschreibt, dass
man aber gerade dadurch leicht in das China des 16. Jahrhunderts
versetzt wird.
Doch jetzt will ich euch nicht weiter mit Hintergrundinformationen
ablenken. Konzentrieren wir uns auf das Wesentliche, eine der vielen
Detektivgeschichten um Richter Di.
Am besten beginnen wir mit "Geisterspuk in Peng-lai".
Der Roman beginnt mit den ersten drei Fällen des Richters und
seinem Aufbruch aus der Hauptstadt in die Provinz Peng-lai. Richter
Dis literarische Prüfung, die wichtigste Prüfung im alten
China, liegt schon einige Jahre hinter ihm und er arbeitet mittlerweile
als Sekretär der kaiserlichen Archive. Als ihm das Kramen in
Papieren zu langweilig wird, beantragt er seine Versetzung in die
Provinz Peng-lai, um dort als Bezirksrichter echte Kriminalfälle
lösen zu können."
Albert nimmt ein Buch in die Hand, auf dessen
weißem Einband eine nackte Frau auf einer Liege zu sehen ist.
Vor ihr auf einem Schemel sitzt ein ernst wirkender Mann in einem
weiten Umhang.
"Ach, das kenne ich schon!" sagt
Palmina, als sie den Umschlag sieht. "Kannst du nicht ein anderes
vorstellen?"
"Kein Problem", sagt Albert und
nimmt sich einen anderen Di-Roman vom Stapel. Auf dem Cover sieht
man eine nackte Frau vor einem Vorhang, zwei Männer, die sie
verwundert ansehen und in ihrer Mitte einen Toten auf dem Boden
liegen.
"Nein, auch nicht das!" sagt Palmina
bestimmt. "'Mord in Kanton' ist zwar super, aber ich habe es
mindestens schon fünf Mal gelesen!"
Albert seufzt und greift wieder ein anderes
Buch. Auf dem Titel sieht man jetzt eine schlafende, nackte Frau,
die von einem buddhistisch aussehenden Ungeheuer bedroht wird.
"Ist das der Roman, in dem kinderlose
Frauen in ein buddhistisches Kloster gehen, um fruchtbar zu werden?"
fragt Palmina.
"Nein. Du meinst 'Wunder in Puyang'",
sagt Albert und zeigt auf ein Buch, dessen Deckel eine grinsende
Buddhastatue, ein grinsender Mönch und eine zornige nackte
Frau schmücken. "Aber das hier ist 'Das Phantom im Tempel'."
"Gibt es auch einen Richter Di-Krimi,
auf dem keine nackte Frau zu sehen ist?" fragt ein Mädchen
dazwischen. Auf ihrem T-Shirt steht "I'm nothing but Emma".
"Schon", sagt Albert. "Aber
was hast du gegen nackte Frauen?"
"Nichts", sagt Emma. "Aber
ich finde es mal wieder typisch, dass immer nur Frauen nackt gezeigt
werden."
"Das sind völlig harmlose Aktzeichnungen",
mischt sich Palmina ein. "Die Geschichten um Richter Di sind
insgesamt absolut unsexy. Nicht erotischer als eine Schale Reis.
"
"Robert van Gulik hatte einfach eine
Freude daran, nackte Frauen zu zeichen", erklärt Albert
Emma. "In den Büchern selbst spielen sie meist nur eine
Nebenrolle. Übrigens kann ich dich beruhigen: Nackttänzerinnen
und Prostituierte hatten in China damals oft mehr Rechte als Ehefrauen.
Sie durften alleine auf die Straße gehen, und die besser gestellten
Konkubinen konnten sich ihre Liebhaber sogar selbst aussuchen."
"Willst du damit sagen, dass man in
China damals eine Prostituierte sein musste, um ein freier Mensch
zu sein?" fragt Emma.
"Nein", sagt Albert gedehnt. "Die
Frauen gehörten meistens schon auch Zuhältern oder Bordellbesitzerinnnen.
Aber wenn man sie mit den damals in ihren Häusern eingesperrten,
chinesischen Ehefrauen vergleicht, entspricht deine Vorstellung
von einem emanzipierten Leben wohl trotzdem eher dem Leben dieser
'nackten' Frauen. Ehefrauen konnten ohne die Zustimmung ihres Mannes
ihre Häuser nämlich nur heimlich und damit gesetzesbrecherisch
verlassen."
"Was interessieren mich die Rechte von
Frauen?" krächzt ein Junge mit Pickeln auf der Stirn.
"Ich will jetzt endlich einen Krimi hören."
"Richtig", sagt Albert und schlägt
das erste Kaptitel von "Das Phantom
im Tempel" auf:
"Erstes Kapitel
Schweigend starrte sie den Gegenstand an,
der auf dem Rand des alten Brunnens lag. Kein Windhauch bewegte
die warme, feuchte Luft, die schwer über dem Tempelgarten hing.
Ein paar Mandelblüten schwebten von den Zweigen über ihrem
Kopf herab, sehr weiß im Licht der Laterne. Weißer noch,
als sie an den Blutflecken auf den verwitterten Steinen haftenblieben.
Sie zog das weite Gewand eng um ihre Brust und sagte zu dem großen
Mann, der neben ihr stand: "Wirf ihn auch in den Brunnen! Es
ist ein sicherer Ort; dieser alte Brunnen ist seit Jahren nicht
mehr benutzt worden. Ich glaube nicht, dass irgend jemand überhaupt
etwas von seiner Existenz weiß."
Er warf einen ängstlichen Blick auf ihr bleiches, ausdrucksloses
Gesicht, stellte die Laterne auf einen Haufen Felssteine und Ziegel
neben dem Brunnen und löste mit ungeduldigen, ruckartigen Bewegungen
sein Halstuch."
"Ich will doppelt sicher gehen, weißt
du. Ich werde ihn einwickeln und ..." Er merkte, dass seine
Stimme in dem verlassenen Tempelgarten sehr laut klang, und fuhr
flüsternd fort: "... ihn zwischen den Bäumen hinter
dem Tempel vergraben. Der betrunkene Dummkopf schläft tief,
und sonst wird niemand auf den Beinen sein, denn es ist nach Mitternacht."
Sie sah ihm ungerührt zu, wie er den abgetrennten Kopf in sein
Halstuch wickelte. Seine Finger zitterten so heftig, dass er Schwierigkeiten
hatte, die Enden zu verknoten ..."
Albert nimmt einen kurzen Schluck aus seiner
Flasche, blubbert ein wenig und liest dann unvermittelt an einer
anderen Stelle weiter:
"Zweites Kapitel
Früh am nächsten Morgen hing die
drückend schwüle Luft immer noch über der Stadt Lan-fang.
Als Richter Di von seinem Morgenspaziergang in sein privates Arbeitszimmer
zurückkehrte, bemerkte er missmutig, dass ihm sein Baumwollgewand,
vom Schweiß durchnässt, an den breiten Schultern klebte.
Er nahm das Holzkästchen aus seinem Ärmel und stellte
es auf den Tisch. Dann ging er zu seiner Kleidertruhe in der Ecke.
Nachdem er ein frisches Sommergewand aus blauer Baumwolle angezogen
hatte, öffnete er das Fenster und sah hinaus. Sein stämmiger
Adjutant Ma Jung überquerte gerade den gepflasterten Gerichtshof,
auf den Schultern trug er ein ganzes geröstetes Schwein. Er
summte ein Lied. Es klang dünn und unheimlich in dem leeren
Hof.
Der Richter schloss das Fenster und
setzte sich an seinen mit Papieren übersäten Schreibtisch.
Er fuhr sich über das Gesicht und dachte, dass auch er sich
an diesem besonderen Tag glücklich fühlen sollte. Seine
Augen wanderten zu dem kleinen Ebenholzkästchen, das er ans
Ende des Schreibtisches gestellt hatte. Die runde Scheibe aus gründer
Jade, die den glatten schwarzen Deckel verzierte, glänzte matt.
Als er seinen Morgenspaziergang machte, hatte er das Kästchen
im Schaufenster eines Raritätenhändlers in der Stadt entdeckt
und es sofort gekauft. Denn die Jadescheibe war in der stilisierten
Form des Schriftzeichens für "langes Leben" gearbeitet,
was das Kästchen für den heutigen Anlass höchst geeignet
erscheinen ließ. Es gab keinen denkbaren Grund, sich verdrießlich
zu fühlen. Er musste sich zusammennehmen. Das öde Leben
in diesem fernen Grenzbezirk macht ihn nervös. Er durfte diesen
gelegentlichen schwermütigen Stimmungen nicht nachgeben.
Mit entschlossener Geste räumte er einen Platz auf dem Schreibtisch
vor sich frei, indem er eine dicke Akte beiseite schob, und klatschte
in die Hände, um einen Angestellten herbeizurufen. Ein ordentliches
Frühstück würde das unangenehme
Gefühl in seinem Magen vertreiben. Wahrscheinlich war auch
die Hitze schuld daran. Er nahm seinen großen Fächer
aus Kranichfedern auf, lehnte sich in seinem Armsessel aus geschnitztem
Ebenholz zurück und fächelte sich langsam Luft zu.
Die Tür öffnete sich, und ein gebrechlicher alter Mann
kam hereingeschlurft. Er trug ein langes blaues Gewand, ein kleines
schwarzes Käppchen bedeckte seinen grauen Kopf. Er wünschte
dem Richter einen guten Morgen und setzte das Frühstückstablett
vorsichtig auf den Seitentisch. Während er die Teekanne und
die kleinen Platten mit gesalzenem Fisch und Gemüse auf den
Schreibtisch stellte, sagte Richter Di lächelnd:
'Du hättest den Angestellten mein Frühstück bringen
lassen sollen, Hung! Warum machst du dir die Mühe?'
'Ich kam sowieso gerade an der Küche vorbei, Exzellenz. Dort
sah ich, dass Ma Jung im Fleischladen das größte geröstete
Schwein erstanden hat, das ich jemals gesehen habe!'
'Ja, das wird heute abend das Hauptgericht sein. Bitte gib mir die
Teekanne, ich kann mir selbst einschenken! Setz dich, Hung!'
Aber der alte Mann schüttelte den Kopf. Er goss dem Richter
rasch eine Tasse heißen Tee ein und stellte die Schale mit
dem dampfenden, köstlich duftenden Reis vor ihn hin. Erst danach
nahm er auf dem niedrigen Schemel vor dem Schreibtisch Platz. Er
hatte heimlich Richter Dis müdes Gesicht beobachtet. Da er
schon seit dessen Kindheit in der Di-Familie diente, kannte er alle
Stimmungen seines Herrn. Der Richter nahm seine Essstäbchen
auf und sagte:
'Ich habe letzte Nacht nicht besonders gut geschlafen, Hung. Dieses
herzhafte Frühstück wird mir wieder auf die Beine helfen.'
'Es ist ein anstrengendes Klima hier in Lan-fang', bemerkte Wachtmeister
Hung mit seiner nüchternen, klaren Stimme. 'Ein kalter, nasser
Winter, dann dieser heiße, stickige Sommer mit plötzlichen
kalten Stürmen, die von der Wüstenebene jenseits der Grenze
herüberkommen. Sie müssen auf Ihre Gesundheit achten,
Exzellenz. Man holt sich leicht eine tückische Erkältung
hier.' Er schlürfte seinen Tee, wobei er mit der linken Hand
vorsichtig seinen langen strähnigen Schnurrbart hochhielt.
Nachdem er die Tasse abgesetzt hatte, fuhr er fort: 'Gestern abend
sah ich weit nach Mitternacht noch Licht bei Ihnen brennen. Ich
hoffe, dass sich kein wichtiger Fall ergeben hat?'
Der Richter schüttelte den Kopf.
'Nein, es gab nichts Besonderes. Es hat sich hier nicht viel ereignet,
Hung, seitdem ich vor einem halben Jahr Recht und Ordnung wiederhergestellt
habe. Ein paar Fälle von Totschlag in der Stadt, ein Diebstahl
oder zwei, das ist schon alles! Unsere Arbeit besteht hauptsächlich
aus den gewöhnlichen Verwaltungsaufgaben: Geburten, Heiraten
und Todefälle registrieren, geringfügige Streitigkeiten
schlichten, Steuern einziehen ... Sehr friedlich. Zu friedlich,
hätte ich beinahe gesagt!' Er lachte, doch dem alten Mann war
nicht entgangen, dass es ein ziemlich gezwungenes Lachen war. 'Tut
mir leid, Hung', fuhr der Richter rasch fort. 'Ich werde ein wenig
sauertöpfisch, das ist alles. Ich komme bald darüber hinweg.
Was mir mehr Sorgen macht, sind meine Frauen. Das Leben ist sehr
trostlos für sie hier draußen. Sie haben kaum irgendwelche
interessanten Freundinnen in dieser kleinen Provinzstadt, und es
gibt wenig Unterhaltungsmöglichkeiten. Keine guten Theateraufführungen,
keine angenehmen Ausflugsziele ... Und der Einfluss der Tataren
ist noch so stark, dass selbst unsere chinesischen Jahreszeitenfeste
ohne viel Aufhebens gefeiert werden. Aus diesem Grund bin ich froh
über die kleine Feier für meine Erste Dame heute abend.'
Er schüttelte den Kopf und aß eine Weile schweigend.
Nachdem er die Stäbchen aus der Hand gelgt hatte, lehnte er
sich in seinen Stuhl zurück.
'Du hast dich nach der vergangenen Nacht erkundigt, Hung. Nun, während
ich im Gerichtsarchiv herumkramte, fand ich die Akte über jenen
berühmten ungelösten Diebstahl, der sich hier ereignet
hat. Den Diebstahl des dem kaiserlichen Schatzmeister anvertrauten
Goldes ...'
"Der peilt doch nichts!" platzt
der Junge mit den Pickeln dazwischen. "Da passiert vor seinen
Augen ein Mord und er trinkt gemütlich Tee, kauft läppische
Jadeschächtelchen und kümmert sich um einen Diebstahl,
den längst keiner mehr interessiert! Der soll sich endlich
mal um die Leute an dem Brunnen kümmern! Knarre raus und auf
Mörderjagd!"
Der Junge streckt seine Arme und ahmt die Geräuchse eines Maschinengewehrs
nach.
Emma verdreht gelangweilt die Augen.
"O Mann, damals gab es doch noch gar
keine Maschinengewehre!" ruft ein Junge aus der Ecke. Albert
kennt ihn aus einem der letzten Salons. Carlos heißt er.
"Schade", sagt der picklige Junge.
"Dann wäre hier mal was los. Wer interessiert sich schon
für das Gold des Kaisers? Der ist doch eh schon stinkreich."
"Du hast offensichtlich keine Ahnung
von Detektivgeschichten", sagt Carlos. "Da wird nicht
einfach so etwas daher gesagt, sondern alles hat ein Motiv! Sicher
ist das Jadeschächtelchen ein verdecktes Indiz und bekommt
noch eine wichtige Bedeutung! Und das Gold des Kaisers ist vielleicht
der Grund, warum die Frau und der Mann einen Mord begangen haben."
"Und du hast wahrscheinlich noch nie
etwas von einer falschen Spur gehört!" antwortet der Junge
schlagfertig. "Woher weiß ich denn, dass der Richter
nicht bis zum Schluss im Dunkeln tappt und erst dann durch einige
merkwürdige Zufälle und plötzlicher logischer Eingaben
seine richtigen Schlüsse zieht?"
"Weil gute Detektivgeschichten das Verbrechen
stückweise aufklären. Es kann zwar falsche Verdächtige
und Spuren geben, aber parallel dazu wird die richtige Spur unauffällig
mitverfolgt."
"Pah!", macht der Junge. "Action-Krimis
sind viel besser. Da wird einem Spannung nicht wie in Detektivgeschichten
häppchenweise serviert. Da ist von Anfang an was los: Tattatatatatam.
"
"Man kann so aber viel besser in die
Haut des Detektivs schlüpfen und, wie hier, in die Atmosphäre
des alten Chinas abtauchen", meint Carlos altklug. "Und
das ist meiner Meinung nach viel spannender als wildes Geballere
oder eine Autojagd."
"Ich glaube, ich kenne das Buch doch
schon", sagt Palmina ohne erkennbaren Zusammenhang.
Emma stöhnt.
"Das Ebenholzkästchen mit dem Jadedeckel
führt Richter Di direkt zum Mörder", fährt Palmina
fort. "Der Mörder hatte das Kästchen präpariert,
damit jemand wahnsinnig wird."
"Quatsch", sagt Carlos. "Das
verwechselst du mit dem 'Roten Wandschirm aus Lack'. Da präpariert
jemand den Wandschirm."
"Trotzdem habe ich das mit dem Kästchen
schon mal gelesen", beharrt Palmina. "Ich glaube, man
verbrennt Weihrauch in ihm, und kann dadurch den Todeszeitpunkt
des Opfers rauskriegen."
"Wieder falsch", sagt Carlos. "Das
war in der Kurzgeschichte 'Fünf glückbringende Wolken'
aus 'Richter Di bei der Arbeit'. Da manipuliert der Täter die
Weihrauchlampe so, dass der Mord an seiner Frau wie ein Selbstmord
aussieht."
"Natürlich!" sagt Emma wütend.
"Die Ehefrau muss mal wieder sterben. Wie wäre es zur
Abwechslung mal mit dem Richter?"
"Und wer löst dann die weiteren
Fälle?" fragt Carlos.
"Ich kann dich beruhigen", sagt
Palmina zu Emma. "In 'Wunder in Puyang' entkommt der Richter
tatsächlich nur knapp einem Mordanschlag und am Ende landet
er fast am Galgen."
"Irgendwie bist du heute etwas durcheinander"
sagt Albert. "Das mit dem Galgen ist in meinem Lieblingskrimi
'Nagelprobe in Peitscho'."
"Nicht ich bin durcheinander, sondern
die Krimis", rechtfertigt sich Palmina. "Die Verwicklungen
und Motive in den Romanen sind so ähnlich, dass man sie verwechseln
muss! Oder weißt du noch, in welchem Roman ein Putsch gegen
den Kaiser geplant wird oder das blinde Grillen-Mädchen in
Ruinen rumklettert oder der Boxmeister im Bad vergiftet wird?"
"Vielleicht hast du die Krimis schon
zu oft gelesen", überlegt Albert. "Da kommt es dir
so vor, als ob sie zu einem Ganzen zusammengewachsen wären.
Oder es liegt daran, dass in den meisten Romanen mehrere Kriminalfälle
miteinander verwoben wurden und sich gegenseitig bedingen."
"Ich finde die einzelnen Motive und
Indizien überhaupt nicht austauschbar", meint Carlos.
"Im Gegenteil: Ich bin bei jedem Roman wieder über die
Vielfalt der Szenen, Personen, Hintergründe und Verstrickungen
überrascht."
"Könnt ihr mit dem Gelaber mal
aufhören und ein bisschen mehr Action in die Sitzung bringen?
Wenn hier nicht gleich etwas Spannendes passiert, verzieh' ich mich
wieder vor meinen Computer", blafft der picklige Junge.
Albert blubbert ein paar Blasen und rutscht
in seiner Wasserflasche unschlüssig hin und her. Dann schlägt
er wieder das 'Phantom im Tempel'
auf und liest aus dem achtzehnten Kapitel:
"... Der Oberkonstabler stürmte
ins Zimmer.
'Der Aufseher des Nordwestviertels kam soeben zu uns, Exzellenz',
keuchte er. 'Es herrscht dort großer Aufruhr. Die Tataren
steinigen die Zauberin zu Tode. Als die Männer des Aufsehers
sie daran hindern wollten, verjagten die Halunken sie mit Stockschlägen
und Steinwürfen ...'
Ma Jung sah den Richter fragend an. Als Richter Di nickte, war er
mit einem Satz auf den Füßen, riss dem Oberkonstabler
die schwere Peitsche aus seinem Gürtel und lief hinaus.
Im Stallhof rieben zwei Knechte ein Pferd ab. Ma Jung sprang auf
dessen ungesattelten Rücken und ritt durchs Tor.
Auf der Straße trieb er sein Pferd zum Galopp. Die Menge machte
eilig Platz, als sie das Klappern der Hufe hörte und den Reiter
herankommen sah. Die Straßen des Nordwestviertels boten einen
beunruhigend verlassenen Anblick. Über den niedrigen Dächern
weiter vorn sah Ma Jung Rauch aufsteigen, und er vernahm ein wirres
Geschrei.
In der Straße, in der Tala wohnte, versperrte ihm ein Menschenauflauf
den Weg. Einige Dutzend Tataren rempelten sich schreiend und fluchend
gegenseitig an. Drei Inder warfen brennende Fackeln auf das Dach
des Hauses, angefeuert von schlampig gekleideten Frauen, die in
den Eingängen ihrer Häuser gegenüber standen. Ma
Jung ließ seine schwere Peitsche auf die nackten, schweißbedeckten
Rücken der ihm am nächsten stehenden Tataren herabsausen,
dann trieb er sein Pferd mitten zwischen sie. Unter Wutgeheul drehte
die Menge sich zu ihm um. Als sie die Uniform eines Gerichtsbeamten
erkannte, fiel sie in dumpfes Schweigen.
Ma Jung sprang von seinem Pferd und lief zu der Frau hinüber,
die am Fuße der Lehmmauer neben der Tür lag. Talas langer
Umhang war in blutgetränkte Fetzen gerissen, und hässliche
Schnittwunden klafften auf ihren weißen Armen, die sie schützend
vor das Gesicht hielt. Überall um sie herum lagen zerbrochene
Stöcke und Steine.
Als Ma Jung neben ihr niederkniete, flog ein Backstein an seinem
Kopf vorbei und traf mit einem dumpfen Aufschlag die Mauer. Er drehte
sich um und sah, wie ein halbnackter Tatar sich bückte, um
einen neuen Stein aufzuheben. Blitzschnell sprang Ma Jung hoch und
stürzte sich auf ihn. Er packte den Mann an seinen langen Haaren
und versetzte ihm mit dem Peitschengriff einen wuchtigen Schlag
in den Nacken. Dann ließ er den leblosen Körper fallen
und brüllte die Menge an:
'Holt Wassereimer und löscht das Feuer! Wollt ihr, dass alle
eure Häuser abbrennen?'
Tala hatte die Arme von ihrem Gesicht genommen. Eine breite Wunde
lief quer über ihre Stirn, und die linke Seite ihres Gesichts
war grässlich verstümmelt.
'Ich bringe Sie zu meinem Pferd und ...', begann Ma Jung.
Sie sah ihn mit ihrem einen, blutunterlaufenen Auge an.
'Verbrennt ... meinen Leichnam', flüsterte sie.
Plötzlich war ein lautes Krachen zu hören, gefolgt von
Schreckensschreien der Menge. Das Dach von Talas Haus war eingestürzt.
Der große Kopf der grimmig dreinblickenden Gottheit wurde
sichtbar. Das rote Antlitz der Statue wirkte grauenvoll verzerrt
im Licht der lodernden Flammen.
Ma Jung nahm die Frau in seine Arme und trat von der Wand zurück,
denn brennende Holzteile fielen vom Dach herab. Er sah, wie sich
ihre blutenden Lippen bewegten:
'Zerstreut meine Asche ...', sagte sie kaum vernehmbar. Er spürte,
wie ein Zittern durch sie hindurchging, dann erschlaffte ihr Körper
in seinen Armen ..."
"Soweit so gut", sagt der Junge und schluckt. "Aber
was haben Tala und der Aufruhr mit dem kaiserlichen Gold, der Frau
und dem Mann beim Brunnen und mit dem Phantom im Tempel zu tun?"
"Ihr lest doch gerne Krimis?" fragt Albert in die Runde.
Emma, der Junge, Palmina und Carlos nicken.
"Dann findet es heraus."
Robert van Gulik: Das Phantom im Tempel. Deutsch
von Klaus Schomberg. Diogenes Verlag AG. Zürich 1989. 200 Seiten.
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