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Rossipottis Leibspeise
und andere Lieblingsbücher
Rossipottis Leibspeise
Lieblingsbuch
vorgestellt von Helma Hörath
Geschichte No. 1
"Rülps!" macht Rossipotti und wischt sich mit der
Pranke die letzten Papierreste vom Maul. "Noch ein Buch mehr
und ich platze."
"Sonst beklagst du dich immer, dass es zu wenig gute Bücher
gibt", sage ich, "und jetzt sind es dir plötzlich
zu viele. Man kann es dir auch nie Recht machen."
"Es waren nicht zu viele", sagt Rossipotti. "Es
waren zu viele ranzige dabei!"
"Ich habe dir gleich gesagt, dass dir Lederstrumpf,
Trotzkopf und Pole Poppenspäler auf den Magen
schlagen werden."
"Ach, wenn es nur die gewesen wären!" sagt Rossipotti.
"Ein paar alte Schinken kann man gut wegstecken. Aber einige
der frischeren Klassiker wie zum Beispiel James Krüss und Erich
Kästner, die in jeder Buchhandlung stehen und Kindern ihre
biedere, altmodische Weltsicht aufdrücken, die können
einem schon den Magen verderben!"
"Jetzt aber mal langsam!" sage ich und werde vor Schreck
ganz bleich. "Kästners Helden sind wache, eigenständige
Kinder, die sich für eine gerechte, tolerante Gesellschaft
einsetzen!"
"Wirklich?" fragt Rossipotti. "Und wie erklärst
du es dann, dass mir bei seinem Namen nur Faltenröcke, frisch
gebügelte Polizeihemden und gute Schüler einfallen?"
sagt Rossipotti. "Als ob das ein Ausdruck von Güte
wäre! Vielleicht war das in Kästners Zeit ja vorbildlich,
aber heute brauchen wir Bücher mit zeitgemäßen Bildern."
"Mit dieser Ansicht wirst du dir nicht viele Freunde machen!"
"Pah!" macht Rossipotti und reibt sich seinen Bauch.
"Kennst du nicht dieses alberne Gedicht mit dem Pudel, der
vor einem Autobus herum springt? Der Bus muss wegen dem Pudel langsam
fahren und deshalb ist die ganze Stadt in Aufruhr. Eigentlich könnte
das ja eine ganz amüsante, absurde Geschichte sein. Aber in
dem Gedicht wird das alles mit kleingeistiger Dramatik vorgetragen,
so, als ob die Situation wirklich das Schlimmste wäre, was
sich der Autor vorstellen kann: 'Ein Schlachter, der vorm Hause
steht / verliert vor Angst den Speck / und seine Tochter Annegret
/ wird kreidebleich vor Schreck.' Weißt du, was ich statt
dessen gemacht hätte? Ich hätte diesen dämlichen
Hund einfach von der Straße geholt und mir eine witzigere
Geschichte ausgedacht! Neulich habe ich übrigens gesehen, dass
das Buch neu aufgelegt wurde. Was sagst du dazu?"
"Welches Buch ist denn deiner Meinung nach zu Recht
ein Klassiker?" versuche ich Rossipotti von Krüss' Gedicht
abzulenken. Ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, dass er sich
sonst gleich in Rage redet.
Mein Ablenkungsmanöver klappt und Rossipotti antwortet prompt:
"Zum Beispiel die Geschichte No. 1 von Ionesco und Delessert!"
"Noch nie gehört", sage ich. "Und das
soll ein Klassiker sein?"
"Ja", sagt Rossipotti, "das sollte ein Klassiker
sein!" .
"Aha", sage ich. "Und warum?"
"Weil das Buch den eigenen Horizont erweitert und einen viele
Jahre begleiten kann", sagt Rossipotti. "Du kannst es
wieder und wieder lesen und trotzdem bleibt es rätselhaft.
Stell dir vor: es handelt von nichts anderem als von Leuten, die
Jaqueline heißen!"
"Ist das alles?"
"Alles? Natürlich ist das nicht alles", sagt Rossipotti.
"Da gibt es zum Beispiel noch den Vater und seine Tochter Josette.
Der Vater liegt im Bett und möchte unbedingt schlafen, und
Josette möchte unbedingt eine Geschichte hören. Schließlich
einigen sich beide auf das Wort Jaqueline. Der Vater wiederholt
das Wort 'Jaqueline' und die Tochter spinnt sich aus den vielen
Jaquelines eine eigene Geschichte."
"Jaqueline als streitschlichtendes Schlüsselwort",
sage ich nachdenklich.
"Ja", sagt Rossipotti. "Das Buch steckt voller Wahrheiten.
Und manche davon bleiben bis zum Schluss ein Rätsel."
"Ein Orakelbuch?" frage ich gespannt. Ich liebe Orakelbücher.
"Und erst die Bilder von dem französischen Künstler
Etienne Delessert!" schwärmt Rossipotti ohne auf meine
Frage zu antworten. "Diese üppigen, geheimnisvollen, surrealen
Bilder machen das Buch eigentlich erst zu dem, was es ist!"
"Zu einem Orakelbuch?" vermute ich.
"Quatsch!" sagt Rossipotti und sieht mich ein wenig herablassend
an. "Zu einer Delikatesse!"
Eugène Ionesco/Etienne Delessert: Geschichte
No.1. Deutsch von Herbert Asmodi. Middelhauve Verlag. Köln
1969.
* * *
Löcher
"Löcher!" sagt Rossipotti und starrt auf den Boden.
"Wo?" frage ich und sehe nach unten.
"Überall Löcher!" sagt Rossipotti. "Fünf
Fuß breit und fünf Fuß tief!"
"Wo denn?" frage ich nochmal und inspiziere den Boden.
"Ein Loch voller giftiger Echsen", sagt Rossipotti, "und
du stehst mitten drin und hältst einen millionenschweren
Schatz in der Hand!"
"Ich?" sage ich und muss schlucken. "In einem Loch
voller Echsen? Mit einem Schatz in der Hand?"
"Du auch?" fragt Rossipotti verwundert. "Ich dachte,
in dem Buch hätte nur etwas von Stanley und Zero gestanden."
"In dem Buch?" frage ich und weiß allmählich
gar nicht mehr, wovon Rossipotti spricht. "Du redest von einem
Buch und gar nicht von Löchern in unserem Boden?"
"Natürlich rede ich von einem Buch!" sagt Rossipotti.
"Und wovon redest du?"
"Ähm."
"Ich denke, du hast 'Löcher' gelesen?!" bohrt Rossipotti
weiter. "Hast du nicht einmal etwas in der Richtung erzählt?"
Ja! Natürlich habe ich Löcher gelesen. Aber das Buch
ist mir vorhin komischerweise gar nicht eingefallen. Diese seltsam
schwebende Geschichte um Camp Green Lake, einem Strafgefangenenlager,
in dem Jungen den ganzen Tag Löcher buddeln müssen. Angeblich,
um eine besseren Charakter zu bekommen, aber in Wirklichkeit, weil
die Chefin des Lagers in dem ausgetrockneten Seebett des Green Lakes
einen riesigen Schatz vermutet. Einen Schatz, den die vor langer
Zeit gestorbene Straßenräuberin Kate Barlow dort vergraben
haben soll.
"Aber zum Glück haben Zero und Stanley die wunderbaren
Zwiebeln gegessen!" knüpft Rossipotti an seinen vorherigen
Gedanken an. "Und deshalb haben die Echsen keinen Appetit auf
Jungenfleisch."
"Ach ja, die Zwiebeln!", erinnere ich mich. "Die
in dieser trockenen Gegend direkt unter dem 'Großen Daumen'
wachsen und vor vielen Jahren schon Zeros Großeltern zusammen
gebracht haben."
Langsam dämmert mir wieder die ganze rührende Liebes-Geschichte
zwischen dem schwarzen Zwiebelverkäufer und der weißen
Lehrerin, die wegen der Rassentrennung in Amerika vor hundert Jahren
schrecklich endete: Der Zwiebelverkäufer wurde erschossen und
die Lehrerin zur Banditin.
"Schade, dass der Chefin keine Echse das Bein hoch geklettert
ist", sagt Rossipotti.
"Welcher Chefin?" frage ich irritiert. "War das
nicht der Sheriff, der den Befehl gab, den Schwarzen umzubringen?"
"Ich rede doch nicht von Trout Walker, sondern von seiner
Tochter Miss Walker, der Chefin des Camps!"
"Ach so", sage ich und führe mir die Szene mit den
giftigen Echsen vor Augen.
"Die Szene ist auch so schon dramatisch genug", sage ich
dann. "Vier Erwachsene stehen um die Grube und sehen seelenruhig
zu, wie die giftigen Echsen auf Stanley und Zero rum krabbeln!"
"Und anstatt ihnen zu helfen", fährt Rossipotti
fort, "freuen sie sich, dass die Jungen bald tot sind, damit
sie endlich den Koffer bekommen!"
"Aber zum Glück hat Stanley bei ihrer Flucht aus dem
Camp den entkräfteten Zero auf den Berg getragen und dadurch
den Fluch, der seit Generationen auf seiner Familie lastete, gebrochen!
Sie haben die sagenhaften Zwiebeln gegessen und den uralten Schatz
von Stanleys Urgroßvater gefunden. Jetzt kann ihnen niemand
mehr etwas anhaben."
"Ja", sagt Rossipotti und streicht genussvoll über
seinen Bauch. "In dem Buch steckt wirklich alles, was man für
einen guten Klassiker braucht: eine eigenständig entwickelte
Welt, ein mit Leichtigkeit vorgetragener Pathos und existentielle
Probleme, die so neuartig verpackt sind, dass man dabei 'Oh! Aha!!
Jaaa!' ausruft. Wenn dann wie in 'Löcher' das Ganze noch mit
skurrilem Witz und Mythos gewürzt ist und eine große
fiktive Leerstelle zum Phantasieren hinterlässt, ist das natürlich
besonders klasse."
"Jetzt haben wir die komisch-tragische Geschichte mit dem
Turnschuh vergessen", fällt mir plötzlich ein.
"Macht nichts", sagt Rossipotti. "Die wurde gedanklich
sicher schon längst von den Lesern eingefügt."
Louis Sachar: Löcher. Die Geheimnisse von Green
Lake. Aus dem Amerikanischen von Birgitt Kollmann. . Broschiert.
Beltz & Gelberg. Weinheim 9. Auflage 2006. 304 Seiten.
* * *
Krabat
"Was hältst du davon, wenn wir zur Abwechslung mal einen
richtigen Klassiker vorstellen?" frage ich, nachdem
wir eine Weile still dagesessen haben. Rossipotti auf seinem roten
Samtsofa und ich schön gerahmt an der Wand.
"Was?!" sagt Rossipotti. "Die 'Geschichte No. 1'
und 'Löcher' sind richtige Klassiker!"
"Schon", sage ich, "aber ich meine einen echten
Klassiker. Einen, der schon seit Generationen weiter gereicht wird
und in den Klassiker-Lexika steht."
"Solche Klassiker sind viel zu bekannt", sagt Rossipotti.
"Wer will schon eine Buchtipp über 'Pippi Langstrumpf'
oder das 'Sams' lesen?"
Ich ziehe tief Luft ein und konzentriere mich auf meinen Atem.
Nachdem Rossipotti in den letzten Ausgaben so pflegeleicht war,
bin ich es nicht mehr gewohnt, streitlustige Debatten mit ihm zu
führen.
Nach einer Weile sage ich:
"Klassiker sind nun mal meistens bekannt. Und wenn dir Klassiker
zu bekannt sind, hättest du ihnen keine ganze Ausgabe widmen
sollen. "
"Das stimmt", sagt Rossipotti. "Aber ich habe gedacht,
dass wir in dem Magazin schon so viele Klassiker vorgestellt haben,
dass wir einmal gleich eine ganze Ausgabe damit bestücken können.
Wenn du im Archiv unsere Buchtipps anschaust, liest sich das beinahe
wie eine Kinderbuch-Klassiker-Liste."
"Sind wir denn ein klassisches Magazin?" frage ich erstaunt.
Bisher habe ich uns eher für subkulturell gehalten.
"Psst!" sagt Rossipotti erschrocken. "Wenn dich
jemand so reden hört, könnte er auf die dumme Idee kommen,
das wirklich zu glauben."
"O.K.", sage ich und versuche meinen Fehler wieder gut
zu machen. Ich sage deshalb ganz laut: "Wir sind absolut kein
klassisches Magazin, wir bevorzugen im Gegenteil Bücher, die
möglichst nur eine Saison lang gelesen werden und dann auf
dem Ramschtisch der Kaufhäuser landen."
"Hilfe!" schreit Rossipotti. "Sei sofort ruhig.
Oder besser: Stell lieber ein Buch vor, dann bist du beschäftigt.
Von mir aus kannst du in diesem Fall auch einen Klassiker nehmen,
den alle schon kennen!"
Ich nehme Rossipotti beim Wort und stelle euch jetzt ein Buch vor,
das die meisten von euch wahrscheinlich schon gelesen haben. Das
Buch heißt "Krabat" und ist von Otfried Preußler
geschrieben. Preußler ist neben Karl May, Johanna Spyri, Lisa
Tetzner, James Krüss, Erich Kästner, Michael Ende, Janosch,
Paul Maar, Christine Nöstlinger, Cornelia Funke und noch ein
paar anderen, die mir gerade nicht einfallen, einer der wenigen
deutschsprachigen Autoren, dessen Bücher zu Kinderbuch-Klassikern
geworden sind.
Wie ihr sicher wisst, hat Otfried Preußler auch "Räuber
Hotzenplotz", "Die kleine Hexe" und "Der kleine
Wassermann" geschrieben, die neben "Krabat" alle
auch Klassiker geworden sind. Das ist schon etwas Besonderes. Denn
den meisten Autoren würde es völlig ausreichen, wenn sie
wenigstens einen Klassiker in ihrem Leben schreiben würden.
Eine Spezialität Preußlers ist übrigens, alten
Märchen, Sagen und Kasperlgeschichten neues Leben einzuhauchen.
Auch "Krabat" ist einer alten sorbischen Sage entnommen.
Falls ihr sie mal zu lesen bekommt, wundert ihr euch sicher, wie
wenig Preußler selbst hinzugefügt hat. Auch der Name
"Krabat" stammt nicht von Preußler selbst, sondern
von Jurij Brezan. Der gab seinem Zauberlehrling in dem Buch "Die
Schwarze Mühle" bereits drei Jahre vor Preußlers Roman-Veröffentlichung
den Namen Krabat.
Trotzdem ist Preußlers Roman keine bloße Nachahmung,
sondern eine eigenständige Arbeit. Und wenn es zum vielgelesenen
und viel geliebten Buch geworden ist, dann sicher deshalb, weil
Otfried Preußler die Geschichte so schön und geheimnisvoll
beschrieben hat. Ich persönlich finde "Krabat" Preußlers
schönstes Buch. Denn es ist voller Zauberkraft und Magie. Beinahe
würde man selbst gerne als Rabe auf der Stange sitzen oder
mit seiner Seele durch die Nacht fliegen. Beinahe. Würde da
nicht jedes Neujahr einer der zwölf Lehrlinge ums Leben kommen
und der Gevatter an der Tür klopfen ...
Otfried Preußler: Krabat.
Thienemann Verlag. Stuttgart 1981. 256 Seiten.
* * *
Der Zauberer der Smaragdenstadt
"A propos Nachahmung", sagt Rossipotti und schielt
über meine Schultern auf den Bildschirm. "Da gibt es doch
diese russische Variante von Lyman Frank Baums 'Zauberer von Oz'!
"
"Du meinst Alexander Wolkows 'Zauberer der Smaragdenstadt'?"
frage ich. "Das ist schon keine Nachahmung mehr, sondern ein
waschechtes Plagiat. Komisch eigentlich, dass das Buch nicht verboten
wurde."
"Bei Wolkow heißt das nicht Plagiat, sondern Übersetzung",
klärt mich Rossipotti auf. "Ursprünglich sollte Wolkow
den 'Zauberer von Oz' nämlich nur ins Russische übersetzen.
Doch dann hat er so einen Narren daran gefressen, dass er gleich
einige Elemente verändert und hinzugefügt hat. Das passiert
übrigens öfters. Zum Beispiel mit E.T.A. Hoffmanns 'Nußknacker
und Mäusekönig'. Alexandre Dumas' 'Geschichte eines Nussknackers'
ist wesentlich harmloser als das Original und trotzdem glauben viele,
dass es die originalgetreue Übersetzung von Hoffmanns Text
ist."
"Aber bei Wolkow ist es doch genau umgekehrt", sage ich
und wundere mich über Rossipottis Gedankensprünge. "Da
denkt doch jeder, dass es Wolkows eigenes Werk ist."
"Wirklich?" sagt Rossipotti. "Ich dachte, jeder
weiß, dass das eine Nacherzählung von Baums 'Zauberer
von Oz' ist!"
"Also doch ein Plagiat und keine Übersetzung",
kontere ich und komme mir schlau vor, weil ich Rossipotti überführt
habe. "Soweit ich weiß, ist ein Text ein Plagiat, wenn
der Text oder eine Passage daraus, wörtlich wieder gegeben
wird."
"Beiß dich doch nicht so an dem Begriff fest",
sagt Rossipotti. "Wolkow hat den 'Zauberer von Oz' zwar nacherzählt,
aber mit seinen eigenen Worten. Außerdem hat er den Figuren
andere Namen gegeben. Aus Dorothy wurde zum Beispiel Elli und aus
Toto Totoschka."
"Wirklich eine erstaunliche Eigenleistung", bemerke ich
trocken.
"Viel erstaunlicher finde ich, dass die fünf Fortsetzungen
von Wolkows Wunderland-Geschichte in (Ost)Deutschland Klassiker
geworden sind, während Baums 13 Fortsetzungen der Oz-Geschichten
hier kaum einer kennt."
"13 Fortsetzungen?" frage ich. "Waren die etwa auch
alle Vorlage für Wolkows Romane?"
"Keine Ahnung", sagt Rossipotti. "Ich habe keine
einzige davon gelesen."
"Da siehst du es!" sage ich. "Während du dir
den 'Schlauen Urfin und seine Holzsoldaten', 'Die sieben unterirdischen
Könige', den 'Feuergott der Marranen', den 'Gelben Nebel' und 'Das
Geheimnis des verlassenen Schlosses' reingezogen hast, hast du Baums
'Zauberer von Oz' Fortsetzungsgeschichten links liegen gelassen!
Ist das denn gerecht?"
"Was heißt hier gerecht?" fragt Rossipotti. "Wolkow
kann doch nichts dafür, dass ich Baums Fortsetzungen nicht
gelesen habe! Und er kann auch nichts dafür, dass sie in Deutschland
nur halbherzig veröffentlicht wurden."
"Wer weiß", sage ich. "Vielleicht war durch
Wolkows Fortsetzungen der Bedarf schon gedeckt."
"Vielleicht", sagt Rossipotti. "Sicher waren Wolkows
Bücher auch deshalb so erfolgreich, weil man mit jedem Buch
mehr in die Zaubererwelt eintauchen und darüber erfahren konnte."
"Willst du damit sagen, dass das Serienhafte ein Buch zum
Klassiker macht?"
"Es schadet ihm auf jeden Fall nicht", sagt Rossipotti.
"Denk nur an den 'Herr der Ringe', 'Winnie der Pu', 'Hotzenplotz',
'Mary Poppins', 'Die Chroniken von Narnia', 'Jim Knopf', 'Pippi
Langstrumpf', 'Heidi', 'Tintenblut', 'Harry Potter' und so weiter,
und so weiter."
Ich denke darüber nach, was Rossipotti gerade gesagt hat.
Dann sage ich aufgeregt: "Rossipotti! Meinst du nicht, dass
mein Roman 'Kalter Fisch in Sojasauce' die Chance hat, ein Klassiker
zu werden, wenn ich ihm nur noch ein paar Fortsetzungen anhänge?"
"'Kalter Fisch in Sojasauce'?" wiederholt Rossipotti
und läßt die Worte kritisch auf der Zunge zergehen. "Unmöglich
ist nichts. Doch bis es soweit ist, haben wir sicher genug Zeit,
Baums gesammelte Oz-Reihe auf englisch zu lesen!"
Alexander Wolkow: Der Zauberer der Smaragdenstadt.
Aus dem Russischen von L. Steinmetz. Mit Illustrationen von L. Wladimirski.
Raduga Verlag. Moskau 7. Auflage 1989.
Heute gibt es die Bücher beim Leiv-Verlag.
Und hier die gesammelten Titel von L. Frank Baums
Oz-Reihe:
1. The wonderful Wizard of Oz / 2. The
marvellous Land of Oz / 3. Ozma of Oz / 4. Dorothy and the Wizard
in Oz / 5. The Road of Oz / 6. The Emerald City of Oz / 7. The Patchwork
Girl of Oz / 8. The Tiktok of Oz / 9. The Scarecrow of Oz / 10.
Rinkitink in Oz / 11. The lost Princess of Oz / 12. The Tin Woodman
of Oz / 13. The Magic of Oz / 14. Glinda of Oz.
* * *
Das riesengroße Krokodil
"Nach so vielen schwerwiegenden Fragen brauche ich jetzt etwas
Leichtes, Leckeres, Süffiges!" sagt Rossipotti. "Hast
du einen Einfall?"
"Roald Dahl vielleicht?" frage ich. Ich weiß, dass
Roald Dahl Rossipottis Leibgericht ist.
"Tolle Idee!" sagt Rossipotti. "Mir läuft schon
das Wasser im Mund zusammen. Wie wäre es zum Beispiel mit dem
'Riesengroßen Krokodil'? Das ist eins von Dahls Bücher,
die in Deutschland fast unbekannt sind und großen Appetit
machen!"
"Ich weiß nicht, ob das eine geeignete Leküre für
Kinder ist", sage ich und denke an das grässliche Krokodil,
das seinen Sumpf verlässt, um spielende Kinder zu fressen.
"Fisch, du bist und bleibst zwar meine Leibspeise", sagt
Rossipotti. "Aber du bist manchmal so entsetzlich deutsch!"
"Deutsch?" sage ich. "Wieso das denn?"
"Du nimmst alles so genau und hast wenig Humor!" sagt
Rossipotti. "Das ist sicher auch der Grund, warum die Deutschen
im Vergleich zu den Engländern und Amerikanern so wenige Klassiker
schreiben: Sie sind viel zu verkrampft!"
"Finden es Engländer und Amerikaner etwa gut, wenn Krokodile
Kinder verspeisen?"
"Wohl kaum", sagt Rossipotti. "Aber sie können
offensichtlich besser zwischen Literatur und Realität trennen.
Deshalb haben sie auch nicht solche Angst, ihrer Phantasie freien
Lauf zu lassen. Sie wissen, dass sie immer wieder in der Realität
ankommen. In Deutschland setzt man der Kinderliteratur überall
Grenzen. - Außerdem werden die Kinder vom riesengroßen
Krokodil natürlich gar nicht gefressen!"
"Stimmt!" gebe ich zu. "Stattdessen wird das Krokodil
von einem Elefant mit dem Rüssel ins Universum geschleudert,
prallt auf die Sonne und wird von ihr wie ein leckeres Würstchen
gegrillt!"
"Äh", sagt Rossiptti. "Können wir nicht
von etwas anderem reden?"
Roal Dahl: Das riesengroße Krokodil. Rowohlt
Verlag GmbH. Hamburg 1978. 32 Seiten.
* * *
Kai aus der Kiste
"Wie wäre es mit 'Kai aus der Kiste'?" frage ich.
"Kenne ich nicht", sagt Rossipotti. "Ist das ein
Klassiker?"
"Das wird zumindest behauptet", sage ich.
"Wer behauptet das?" fragt Rossipotti.
Er ist heute wirklich kritisch.
"Zum Beispiel der dtv Verlag, der es in seiner Klassiker-Reihe
herausgegeben hat."
"Ist das Buch gut?" fragt Rossipotti skeptisch.
"Mir gefällt es", sage ich. "Es ist mit seiner
großstädtischen Handlung und den Berliner Straßenjungen,
die einen Erwachsenen überlisten, übrigens ein Vorläufer
von Kästners 'Emil und die Detektive'! "
Rossipotti grunzt.
"'Kai aus der Kiste' ist wirklich ein erstaunliches Buch",
versuche ich Werbung dafür zu machen. "Obwohl es schon
1926 erschien, wirkt es noch erstaunlich frisch!"
Rossipotti reagiert nicht.
"Vielleicht liegt es daran, dass Wolf Durian die Geschichte
nur skizziert und die Schauplätze und Figuren nicht detailreich
beschrieben hat. Nur mit ein paar Pinselstrichen zeichnet er den
Straßenjungen Kai, den Schokoladehersteller Mister Joe Allan
aus Amerika ..."
"Schokolade?" fragt Rossipotti interessiert. "In
dem Buch geht es um Schokolade?"
Ich nicke.
"Warum sagst du das nicht gleich?" sagt Rossipotti. "Ich
habe immer noch den Geschmack von verbrannten Würstchen im
Mund! Da können ein paar Stückchen Schokolade nicht schaden!"
"Fein!" sage ich und rücke mich zurecht: "Also:
Der Schokoladehersteller Allan aus Amerika will in Berlin seine
Schokolade verkaufen und sucht einen Reklamekönig, der die
Werbekampagne für ihn macht. Es bewerben sich zwei um den Posten:
Der aufgeblasene Reklameagent Alexander Kubalski und der Straßenjunge
Kai, Anführer der gesamten Berliner Straßenjungenbande
'Schwarze Hand'. Kubalski möchte das viele Geld, das ihm Allan
für den Job verspricht, für sein häusliches Glück
und seine Verlobte, die sich schon lange ein neues Kleid wünscht.
Kai braucht das Geld für seine Straßenjungen und eine
Puppe für seine einsame Schwester ..."
"Wo bleibt die Schokolade?" fragt Rossipotti ungeduldig.
"Hast du mir nicht Schokolade versprochen?"
"Warte", sage ich, "gleich kommt es: Weil Mister
Joe Allan aus Amerika ist, schert er sich nicht um Konventionen,
solange der SCHOKOLADEverkauf stimmt. Und deshalb nimmt er den pfiffigen
Kai, der sich in einer Kiste in sein Hotelzimmer schmuggeln lässt,
ernst und bietet ihm die Chance seines Lebens, nämlich bei
ihm tatsächlich Reklamekönig für SCHOKOLADE zu werden!
Doch zuerst muss er sich in einem Wettkampf mit seinem Kontrahenten
messen: Wem es gelingt, innerhalb von zwei Tagen 150 Werbungen für
seine SCHOKOLADE zu plazieren, wird Werbekönig. Der Reklameagent
sieht sich schon als Sieger, hat er doch mehr Geld und Mittel, seine
Werbekampagne durchzusetzen. Doch Kai hat die besseren Ideen und
seine Straßenjungen, und so ist es bis zum Schluss spannend,
wer das Rennen um die SCHOKOLADENpunkte wirklich macht."
"Oh, Ah, Jaa!", sagt Rossipotti und leckt sich das Maul.
"Das Buch scheint ziemlich aktuell zu sein. Aber ein bisschen
mehr Schokolade hätte schon dabei sein können."
Wolf Durian: Kai aus der Kiste. Mit Zeichnungen
von Peter Knorr. Deutscher Taschenbuch Verlag. München 3. Auflage
2004. 105 Seiten.
* * *
Lieblingsbuch
vorgestellt von Helma Hörath
Wenn's draußen stürmt und schneit ...
... dann haben wir endlich Zeit, alles das zu machen,
was wir schon soooooo lange machen wollten und was wir immer auf
irgendwann später verschoben haben, auf den Tag, der uns nicht
zum Baden einlädt; auf den Tag, an dem das Fahrrad schon lange
im Keller steht und an dem wir lieber in der warmen Stube sind.
Keine Sorge, ich meine nicht das Aufräumen, ich meine nicht
das Staubwischen oder das Schuheputzen, obwohl das alles wirklich
ganz wichtige Arbeiten sind. Nein, nein, ich denke da zum Beispiel
an das Kuscheln mit Oma oder Opa, an das Kramen mit ihnen in Kisten
und Kasten, um zu sehen, was sich dort so über Jahre und Jahrzehnte
angesammelt hat.
Mit diesem Ziel besuchte Josephine gerade am vorigen Wochenende
ihre Ur-Oma, Marianne Zernikow, in Kleinmachnow. Aber diesmal blätterten
sie nicht gemeinsam in den dicken Alben mit den Fotos aller Familienmitglieder,
befühlten nicht Taschentücher mit selbstgehäkelter
Spitze und probierten auch keine sonderbaren Hüte auf, nein,
Oma hatte einen riesigen Stapel mit alten Büchern auf dem Tisch
zu liegen:
Josie: Was sind das für Bücher?
Warum hast du sie aus dem Regal genommen?
Oma: Es sind Bücher
mit Geschichten, die ich in meiner Kindheit gelesen und geliebt
habe. Ich musste sie mir wieder einmal ansehen. Mein absoluter Liebling
aber war "Die
Biene Maja". Das Buch hatte ich von meinem Vater. Es steht
jetzt bei deiner Tante im Regal, ich habe es ihr vor Jahren geschenkt.
Von meiner Mutter bekam ich sehr selten ein Buch, denn meist musste
das Geld für wichtige Dinge ausgegeben werden, für Schuhe,
für einen Wintermantel, für eine Medizin. Und zwischendurch
gab es so ein Geschenk schon ganz und gar nicht, sondern das war
etwas für den Geburtstagstisch oder es lag unter dem Weihnachtsbaum.
Das
hier ist so ein Geburtstagsgeschenk: "Herzblättchens Zeitvertreib".
Darin sind viele Geschichten, Gedichte, Rätsel, Beschäftigungs-
und Handarbeitsanleitungen. Da fällt mir gleich meine Lehrerin
Fräulein von Kalkreuth ein. Sie unterrichtete Handarbeit und
war sehr pingelig. Ich habe mir immer große Mühe beim
Sticken und Stricken gegeben. Aber irgendetwas hat ihr immer nicht
gefallen. Ich musste vieles noch einmal machen und bekam trotzdem
schlechte Noten. Naja, so war früher "Herzblättchens
Zeitvertreib". Das war eine Buchreihe, die vor allem für
jüngere Schulkinder gedacht war. Einmal im Jahr kam ein Band
heraus, das ist die Nummer 62.
Josie: So was gibt es heute auch noch.
Meine Mama sagt Jahrbuch dazu. Sie hat solch ein Buch, das
heißt "Der bunte Hund". Es ist ganz dick und hat
viele Seiten. Sicher würde man ein ganzes Jahr brauchen, um
alle Geschichten zu lesen.
Oma: Das kann gut sein. Wahrscheinlich
heißen diese Bücher deswegen so. Aber manchmal war früher
auch wirklich ein Jahreskalender darin und den Monaten waren die
Geschichten zugeordnet. Sieh dir mal hier das Titelbild an! Den
Mann erkennst du doch bestimmt.
Josie: Die Mütze sieht aus wie
die von Till Eulenspiegel.
Oma: Richtig. Es ist eine Narrenkappe
und es sind die Geschichten von Till Eulenspiegel. Hast du schon
mal eine gelesen?
Josie: Nein, aber ich habe ein Video mit dem Zeichentrickfilm.
Oma: Den kenne ich nicht. Bring ihn
doch mal mit! Dann können wir ihn uns gemeinsam ansehen. Schau
mal, dieses Eulenspiegel-Buch habe ich mir gekauft, da war ich aus
der Schule raus und verdiente mein eigenes Geld. Und das hier, das
muss doch von deinem Papa sein. Ja, jetzt erinnere ich mich, dass
es zu diesem Buch auch einen Trickfilm gab, einen Puppentrickfilm.
Wir sind damals nach Berlin ins Kino gefahren sind. Ich glaube,
das Buch und diese Fahrt haben Opa und ich deinem Papa zum fünften
Geburtstag geschenkt.
Josie:
Oma, gibst du es mir? Dann kann ich es zu Hause lesen und vielleicht
weiß Papa noch etwas von dem Kinobesuch.
Oma:
Klar, das Buch kannst du haben. Es gibt darin eine Anleitung, wie
man sich kleine Puppen und ein Theater selbst anfertigen kann. Vielleicht
machen wir das in nächster Zeit. Stoffreste habe ich genug.
Und dann führen wir Sylvester zum Zeitverkürzen ein Theaterstück
auf. Was hälst du davon?
Josie: Das würde mir schon
gefallen.
Oma: Dieses große Till Eulenspiegel-Buch
hier, das hat schon mein Vater gelesen. Und er hatte es - glaube
ich - von seinem Vater.
Josie: Was, da gab es Till Eulenspiegel
auch schon?
Oma: Ach, diese Geschichten sind
noch viel, viel, viel älter. Sie sind vor sehr langer Zeit
entstanden. Wir können es uns heute kaum vorstellen, dass dieser
Eulenspiegel die Menschen schon vor 500 Jahren zum Lachen und vielleicht
auch zum Nachdenken gebracht hat.
Und jetzt verlasse ich Oma und Urenkelin für ein Weilchen,
denn ich will dir etwas über die Figur des Till Eulenspiegels
und diesen Kinderbuchklassiker erzählen.
Eine
Geschichte wird zu einem Klassiker, wenn sie immer und immer wieder
von einer Generation zur anderen weitererzählt oder aufgeschrieben
weitergegeben wird. Der Held solch einer Handlung lebt, auch wenn
Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte vom ersten Tag des Erscheinens
ins Land gegangen sind. Auch wenn jede neue Zeit Veränderungen
an Figur und Inhalt vorgenommen hat - die alte Handlung sozusagen
modernisiert und auch mit neuen Medien wie Film, Rundfunk und Computer
auf den aktuellen Stand des Lebens gebracht hat -, bleibt die Geschichte
doch unverkennbar. Dann sprechen wir von einem Kinderbuchklassiker.
Und da gibt es sehr viele, so zum Beispiel: "Die Schatzinsel"
von Robert Louis Stevenson, "Das Dschungelbuch" von Rudyard
Kipling; "Robinson Crusoe" von Daniel Defoe; "Tom
Sawyer" von Mark Twain; "Pinocchio" von Carlo Collodi
und eben auch "Till Eulenspiegel" von ...von ...
Ja, so ganz genau weiß man gar nicht, wer die Geschichte von
Till Eulenspiegel zum ersten Mal aufgeschrieben hat. Nur in London
gibt es in der Staatsbibliothek noch weltweit ein einziges Exemplar
der Druckschrift aus dem Jahre 1509. Aber wahrscheinlich geht diese
auf eine niederdeutsche Vorlage aus dem Jahr 1483 zurück. Und
da Till Eulenspiegel die Herrschenden und die Reichen aufs Korn
nimmt, ihre Taten genau beleuchtet und ihre Worte sehr genau hin-
und herdreht, war es für den Schreiber sicher besser, unerkannt
zu bleiben. Um sein Leben zu schützen (wer lässt sich
schon gern auslachen), hat er seinen Namen sicherlich weggelassen.
Aber gelacht hat er bestimmt auch mit den Lesern des Buches über
die Eulen und Meerkatzen, die Till dem geizigen und ausbeuterischen
Bäckermeister gebacken hat, oder wie er den Wirt, der für
den Duft des Essens kassieren wollte, mit dem Klang des Geldes bezahlte.
Es wurden immer wieder Kapitel angefügt oder verändert.
Von wem? Das ist unbekannt. Viele Künstler schrieben ihre Version
von Till Eulenspiegel in Büchern und für die Bühne,
für den Film, mit Buchstaben und mit Noten.
Lange Zeit glaubten die Menschen, dass Till Eulenspiegel, der Sohn
eines Bauern, tatsächlich gelebt und diese Streiche wirklich
gemacht hat. Heute wissen wir, dass das nicht der Fall ist. Till
Eulenspiegel war eine Figur des Volkswitzes. Alles das, was die
Menschen sich nicht trauten, das machte Till. Er spießte Dummheit,
Geiz und Selbstzufriedenheit seiner Mitbürger auf. Und das
machte er nicht immer mit feinen Mitteln, sondern wie seine Widersacher
ist auch er oftmals derb und grob. Auch daran können wir erkennen,
dass die Historie von Till Eulenspiegel vor 500 Jahren für
Erwachsene aufgeschrieben wurde. Heute freuen sich Kinder und Eltern
- und natürlich auch die Großeltern - gemeinsam an dem
Narr, dem Schalk, dem Wortewender, dem Genauhingucker...
Und damit gebe ich das Wort wieder an Josephine und ihre Urgroßmutter
ab. Beide sitzen immer noch am Tisch und blättern in den Büchern.
Josie:
Was ist denn das für eine Schrift? Die kann ich ja gar nicht
lesen.
Oma: Das ist heute etwas Besonderes,
früher aber war es was ganz Alltägliches. Es sind die
alten deutschen Schriftzeichen. Heute benutzen wir lateinische Buchstaben.
Aber darüber unterhalten wir uns das nächste Mal.
Josie: Ja, Oma, jetzt will ich
mit dir spielen.
Und damit steht Josephine auf, geht an das Bücherregal und
zieht ein Buch heraus, in dem es keine Geschichten, sondern Spielpläne
für 11 Brettspiele gibt. Und dann wird gewürfelt, gezählt
und Spielfiguren werden gesetzt, gewonnen und verloren. Aber das
ist den beiden dort am runden Tisch egal. Denn Oma und Josephine
lachen gemeinsam und ärgern sich gemeinsam, wenn mal der rote
oder der gelbe Spielstein über die Brücke nach unten rutschen
und wieder von vorn anfangen muss.
Übrigens, weißt du eigentlich, welches das Lieblingsbuch
deiner Oma oder deines Opas war, als sie selbst Kinder waren? Nein?
Dann solltest du gleich zum Telefon greifen und einen Lese- oder
Erzählnachmittag mit deinen Großeltern ausmachen.
Auf dem Foto siehst du die Bücher mit Geschichten von Till
Eulenspiegel aufgestapelt, die sich im Bücherschrank von Oma
Zernikow und in meinem Bücherregal finden ließen. Aber
das ist nur ein klitzekleiner Bruchteil von denen, die du heute
im Buchladen kaufen oder in der Bibliothek ausleihen könntest.
Aber vielleicht kann ich dich oder deine Eltern für das eine
oder andere Buch interessieren, darum hier die ganze Liste:
-
Charles de Coster: Ulenspiegel und Lamm Goedzak. Illustrationen
von Félicien Rops. Wilhelm Borngräber. Berlin um 1910.
- Karl Freund (Bearbeitung): Till Eulenspiegel.
Aus niederdeutscher Mundart. Mit Illustrationen von Max Wulff. Meidinger's
Jugendschriften Verlag. Berlin 1923.
- Gerhart Hauptmann: Till Eulenspiegel. Abenteuer, Streiche, Gaukeleien,
Gesichte und Träume. S. Fischer Verlag. Berlin 1928.
- Gerhard Steiner (Bearbeitung): Ein kurzweilig Lesen
von Till Eulenspiegel. Mit Illustrationen von Werner Klemke. Eulenspiegel
Verlag. Berlin 1955.
- Günther Jäckel: Ein kurzweilig Lesen von Till Eulenspiegel.
Reclam Verlag. Leipzig 1959
- Karlhans Frank: Till Eulenspiegel. Das Leben des listigen Schalks,
Wortewenders, Genauhinguckers. Mit Illustrationen von Renate Seelig.
Bechtermünz Verlag. Augsburg 1997. (Dieses Buch kann ich sehr
empfehlen.)
- Erich Kästner: Till Eulenspiegel. Mit Illustrationen von
Walter Trier, erschienen im Dressler Verlag. Hamburg 2000.
- Heinz Janisch: Till Eulenspiegel. Mit Illustrationen von Lisbeth
Zwerger. Neugebauer Verlag 1990.
- Gisela Geisler (Übertragung und Bearbeitung):
Till Eulenspiegel. cbj-Verlag. München 2005.
- Till Eulenspiegel (3 CDs), nacherzählt
von Dirk Walbrecker, erschienen im Hörbuchverlag, 2001.
- Erzählung für den Film von Christa
und Gerhard Wolf, Aufbau Verlag Berlin und Weimar, 1972.
- Film von Eberhard Junkersdorf, als
Video herausgegeben von Solo Filmverleih München, 2003.
Viel Vergnügen beim Lesen, Hören und Schauen wünscht
dir
Helma
* * *
Rossipotti:
Aus aktuellem Anlass erzählen wir
euch hier und nicht im 11 Uhr Termin
eine Geschichte von Till Eulenspiegel. Illustriert wurde
sie von Tine Neubert, nacherzählt von
Lupus Pinselschweif.
Die vierte Historie
sagt, wie Eulenspiegel den Jungen die Schuhe von den Füßen
redete
und bewirkte, dass sich alt und jung darum rauften
|
Ein anderes Mal zog Eulenspiegel über die Saale ein
Seil und behauptete, er wollte auf dem Seil über den
Fluss gehen. Viele junge und alte Leute kamen und wollten
ihm dabei zusehen. Eulenspiegel sagte zu den Jungen, etwa
hundertzwanzig an der Zahl, dass sie ihm ihre jeweils linken
Schuhe geben sollten, weil er ihnen damit ein tolles Kunststück
vorführen wollte.
Die Leute glaubten ihm, zogen gleich ihre Schuhe aus und gaben
sie ihm. Kaum hatte Eulenspiegel die linken Schuhe, so reihte
er sie auf einer Schnur auf und kletterte damit auf das Seil.
Natürlich dachten nun alle, er wolle ihnen damit ein
großartiges Kunststück vorführen. Nur manche
hätten vielleicht wieder lieber ihre Schuhe gehabt. Doch
die meisten schauten gebannt nach oben.
Aber statt eines Kunststücks rief Eulenspiegel nur von
seinem Seil herunter: "Passt auf, damit ihr eure Schuhe
wieder findet!" Dabei schnitt er die Schnur entzwei und
ließ alle Schuhe wieder nach unten purzeln, bis unter
ihm ein großer Schuhhaufen war.
Sofort sprangen die Jungen hin, denn jeder wollte als erster
seinen Schuh haben. Weil das aber natürlich nicht ging,
fielen sie grob übereinander her und hießen sich
gegenseitig Diebe: "Der gehört mir", "Nein,
mir!" "Das ist meiner!" "Lügner,
gib mir meinen Schuh wieder!"
Sie rissen einander an den Haaren, bissen und kratzten sich,
schrieen und weinten. Nur ein paar fanden das alles sehr lustig
und lachten blöde. Und am Schluss machten bei der Rauferei
sogar noch die Alten mit.
Eulenspiegel saß in der Zwischenzeit auf dem Seil, freute
sich an dem Durcheinander und rief hinab: "Ha, ha! Das
kommt davon, dass ihr mir gestern so übel mitgespielt
habt!" Dann kletterte er vom Seil herunter und ließ
die anderen alleine weiter streiten.
Übrigens blieb Eulenspiegel die nächsten vier
Wochen lieber zu Hause und flickte bei seiner Mutter Helmstädter
Schuhe. Seine Mutter freute sich, denn sie wusste nicht, weshalb
ihr Sohn plötzliche zum guten Schuster geworden war.
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