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Kulturtasche
Interview mit Bettina Kümmerling-Meibauer,
Literaturwissenschaftlerin und Autorin des zweibändigen Lexikons
"Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur"
Die Epoche "Klassik" hat es im Gegensatz zur
Erwachsenenliteraturgeschichte in der Kinder- und Jugendliteratur
nie gegeben. Trotzdem wird von Wissenschaftlern und Verlegern
auch im Kinderbuchbereich der Begriff "Klassiker"
verwendet.
Sie selbst haben 1999 ein zweibändiges, internationales
Lexikon der "Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur"
veröffentlicht.
Wie werden Kinderbuch-Klassiker definiert?
In der deutschen Literaturgeschichte kennt man tatsächlich
keine klassische Epoche der Kinderliteratur. Der Kinderklassikerbegriff
bezieht sich dabei in der Regel auf einzelne Werke und nicht
auf die Autoren oder einen Zeitabschnitt. Allerdings neigt
man in der amerikanischen, englischen und norwegischen Kinderliteraturforschung
dazu, die kinderliterarische Hochphase ihrer jeweiligen nationalen
Kinderliteratur als "Golden Age" oder "Goldenes
Zeitalter" zu bezeichnen.
Bis heute ist man sich uneins, wie man den Begriff "Kinderklassiker"
eindeutig definieren soll: auf der einen Seite orientiert
man sich an der Vorstellung, dass ein Kinderklassiker beliebt,
weit verbreitet ist und noch heute gelesen wird. Auf der anderen
Seite hebt man die literarische Qualität und die Vorbildfunktion
klassischer Kinderbücher hervor.
Wenn man davon ausgeht, dass Klassiker Bücher sind,
die beliebt, weit verbreitet und zum Teil langlebig sind:
Was unterscheidet dann Lieblingsbücher und Bestseller
vom Klassiker?
Lieblingsbücher und Bestseller können Kinderklassiker
sein, müssen es aber nicht. Der Begriff "Lieblingsbuch"
bezeichnet eine persönliche Entscheidung eines einzelnen
Lesers und kann sich auf jedes beliebige Kinderbuch beziehen.
Natürlich
gibt es auch viele Kinderklassiker, die Bestseller geworden
sind: "Pippi Langstrumpf" (1945) von Astrid Lindgren,
"Die Unendliche Geschichte" (1979) von Michael Ende,
"Pinocchio" (1883) von Carlo Collodi oder "Die
kleine Hexe" (1957) von Otfried Preußler. Dennoch
findet man auch zahlreiche Kinderklassiker, deren Verkaufszahlen
nie so hoch waren, dass man von einem Best- oder Longseller
sprechen kann. Hier möchte ich nur auf die wechselvolle
Rezeption von E.T.A. Hoffmanns Kindermärchen "Nußknacker
und Mausekönig" (1816) hinweisen. Von Hoffmanns
Zeitgenossen wegen der Komplexität der Handlung als nicht
kindgemäß abgelehnt, wurde die Bedeutung dieses
Märchens jahrzehntelang verkannt. Erst in den 1980er
Jahren wurde man in der Forschung auf dieses Werk aufmerksam
und erfasste seine weitreichende Wirkung auf die Entwicklung
der internationalen phantastischen Kinderliteratur. Seitdem
hat "Nußknacker
und Mausekönig" den Status eines Kinderklassikers
und wird immer wieder neu aufgelegt; aber ein Bestseller ist
das Werk nicht geworden.
Andere Kinderromane wie Jostein Gaarders "Sofies verden"
(1991, dt. "Sofies Welt") oder Joanne K. Rowlings
"Harry Potter-Serie" (1998ff.) erreichen Millionenauflagen.
Ob diese Werke jedoch jemals als Kinderklassiker eingestuft
werden, wird sich in Zukunft erweisen. Aber ich wage es zu
bezweifeln, denn beide Romane erfüllen weder das Kriterium
der Innovativität noch dasjenige der literarischen Qualität.
Für Sie selbst sind also Neuartigkeit und literarische
Qualität wichtigste Kriterien für einen Klassiker?
Die Merkmale "Popularität", "Langlebigkeit"
und "pädagogische Wertung" können bei
der Definition zwar auch vorkommen und dadurch den Klassikerstatus
verstärken, aber sie treffen nicht unbedingt auf alle
internationalen Kinderklassiker zu. Bei der Auswahl der mehr
als 540 Kinderklassiker aus 65 Ländern, die in meinem
Lexikon vorgestellt werden, stand das Merkmal der literarisch-ästhetischen
Qualität im Vordergrund. Das heißt, als Kinderklassiker
gelten diejenigen Werke, die in der Kinderliteratur eines
Landes eine herausragende Rolle spielen und sich durch Merkmale
wie Innovativität, Repräsentativität,
Darstellung der kindlichen Erlebniswelt oder Anregung der
Phantasie auszeichnen. Und noch ein weiteres Kriterium
ist für mich ganz wichtig: Kinderklassiker sind nicht
nur die älteren, vor 1945 erschienenen Werke, sondern
auch moderne Kinderbücher, ja sogar Werke aus den 1990er
Jahren und der Jahrtausendwende.
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Vita
Bettina Kümmerling-Meibauer ist apl.
Professorin an der Universität Tübingen. Sie studierte Deutsche
Philologie, Kunstgeschichte und Philosophie an der Universität
Köln, unterbrochen durch zwei Auslandsaufenthalte in England
und Schweden. Nach der Promotion an der Universität Köln spezialisierte
sie sich auf internationale Kinder- und Jugendliteratur. Sie
verfasste ein zweibändiges Lexikon "Klassiker der Kinder-
und Jugendliteratur" (Metzler 1999) und habilitierte sich
mit einer Studie zur Kanonbildung und literarischen Wertung
in der Kinderliteratur (bei Metzler 2003 erschienen). Bettina
Kümmerling-Meibauer war zweimal Mitglied der Jury "Sonderpreis
für das Gesamtwerk eines/r kinderliterarischen Übersetzers/Übersetzerin"
im Rahmen des Deutschen Jugendliteraturpreises. Zusammen
mit Studierenden der Universität Mainz hat sie eine Ausstellung
über jüdische Kinderliteratur organisiert, die in fünf deutschen
Städten zu sehen war. Außerdem ist sie im Herausgebergremium
der "Oxford Encylopedia of Children's Literature" (2006).
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Warum haben Sie dann in Ihrem Lexikon relativ wenig moderne
Texte aufgenommen? Warum halten zum Beispiel das "Sams"
von Paul Maar oder "Artemis Fowl" von Eoin Colfer ihren
Kriterien nicht Stand?
Es
war mein Bestreben, gerade moderne Kinderklassiker in mein Lexikon
aufzunehmen. Aus der Zeit nach 1945 habe ich insgesamt 180 Werke
aufgenommen, wobei vier Kinderbücher aus den 1990er Jahren
stammen. Da das Lexikon bereits 1999 erschienen ist, ist es schwierig,
bei Werken, die weniger als zehn Jahre alt sind, über deren
Klassikerstatus eine Entscheidung zu fällen. Je größer
der zeitliche Abstand ist, desto leichter kann anhand der literarischen
Bedeutung und Rezeptionsgeschichte des betreffenden Werkes entschieden
werden, ob es bereits als moderner Klassiker eingestuft werden kann.
Einige Kinderbücher, wie etwa Paul Maars Sams-Bände, wurden
von mir als "minor classic" (Klassiker des Randbezirks,
nicht des Kernbereichs, Anm. der Kulturtasche) eingestuft
und deshalb nicht in das Lexikon integriert. Hätte ich sämtliche
minor classics aufgenommen, wäre das Lexikon noch viel umfangreicher
geworden.
Altern Klassiker langsamer als andere Texte?
Viele
Kinderbuchklassiker zeichnen sich ja durch ihre Zeitlosigkeit aus.
Wenn man an Astrid Lindgrens drei Bücher über die "Kinder
von Bullerbü" (1947-1952) denkt, so wird in ihnen eine
Welt dargestellt, die es in dieser Weise gar nicht mehr gibt. Dennoch
werden ihre Bücher weiterhin mit großer Begeisterung
gelesen. Worin diese Zeitlosigkeit eigentlich besteht, ist noch
gar nicht im Detail untersucht worden, aber die eindringliche und
poetische Sprache, die innige Bindung des Kindes an die Natur, die
Darstellung des kindlichen Alltags und der zahlreichen Kinderspiele
sowie das vertrauensvolle Verhältnis zwischen Eltern und Kindern
zählen sicher zu den Merkmalen, die dazu beitragen, dass Lindgrens
Bullerbü-Trilogie noch in hundert Jahren auf das Interesse
der kindlichen Leserschaft stoßen wird.
Bleibt ein Buch, das einmal als Klassiker definiert wurde, immer
Klassiker?
Es gibt weder in der Literatur für erwachsene Leser noch in
der Kinderliteratur einen feststehenden und unabänderlichen
Klassiker-Kanon.Die
aktuelle Kanondebatte hat ja herausgestellt, dass der Kanon einem
stetigen Wandel der Bewertung unterworfen ist. Dennoch gibt es einen
kanonischen Kernbestand, der vor allem die Kinderklassiker umfasst.
Doch in den Randzonen kommt es zu ständigen Änderungen:
mal wird ein lange vergessenes, herausragendes Kinderbuch neu entdeckt
- hier möchte ich nur den Schülerroman "Die Perlmutterfarbe"
(1948) der österreichisch-jüdischen Autorin Anna Maria
Jokl erwähnen -, mal wird einem kinderliterarischen Werk der
Klassikerstatus aberkannt - wie
etwa Agnes Sappers "Die Familie Pfäffling" (1907).
Ein Kanon ist aber nicht nur nach hinten, mit Blick auf die Vergangenheit,
sondern auch nach vorn hin, mit Blick auf die Zukunft, offen. Denn
einige zeitgenössische Kinderbücher werden es sicher schaffen,
Zugang zum kinderliterarischen Kanon zu erhalten. Da tippe ich z.B.
auf Philip Gwynnes australischen Jugendroman "Deadly, Unna?"
(1998, deutsch: "Wir Goonyas, ihr Nungas") oder Mark Haddons
mit dem Whitbread Award ausgezeichneten Roman über einen
autistischen Jugendlichen "The Curious Incident of the Dog
in the Night Time" (2003; deutsch: "Supergute Tage oder
die sonderbare Welt des Christopher Boone").
Ist es in unserer schnelllebigen Zeit überhaupt noch möglich,
länger als zwanzig Jahre Klassiker zu sein?
In
unserer schnelllebigen Zeit, in der ständig neue Kinderbücher
geschrieben und publiziert werden, die oft nach einem halben Jahr
schon wieder aus den Regalen der Buchhandlungen verschwinden, um
noch neueren Kinderbüchern Platz zu machen, stehen Kinderklassiker
für eine gewisse Kontinuität. Sie sind seit Jahrzehnten,
teilweise sogar seit mehr als einem Jahrhundert, auf dem Buchmarkt
präsent und werden auch weiterhin gelesen. Selbst einem erwachsenen
Leser macht es Vergnügen, Johanna Spyris Heidis Lehr- und Wanderjahre
(1884), Robert Louis Stevensons "Treasure Island" (1883;
dt. "Die Schatzinsel") oder A.A Milnes "Winnie-the-Pooh"
(1926, dt. "Pu der Bär") zu lesen.
Es gibt neben Literaturwissenschaftlern verschiedene andere
Gruppen, die bestimmte Kinderbücher als Klassiker bewerten
und ausrufen. Verlage, die nur gewisse Bücher immer wieder
auflegen und neue Bücher mit Spitzentiteln gezielt forcieren,
verschiedene Medien wie Zeitungen/Zeitschriften, Radio- und Fernsehsender,
die die Bücher beurteilen, und Institute oder Vereine, die
versuchen, Bücher marktunabhängig zu beurteilen und zu
prämieren und nicht zuletzt natürlich die Leserinnen und
Leser, die die Bücher zum Teil über Generationen hinweg
kaufen und auch dadurch eine Art traditionellen Kanon schaffen.
Zwischen Wissenschaft, gezielter Verlagswerbung, Preisen, Kritik
und Verkauf, fragt man sich, wer Klassiker eigentlich zu Klassikern
macht?
Die Interessen von Verlagen, Jurys und Wissenschaftlern unterscheiden
sich oft erheblich.
Die Verlage orientieren sich leider nur immer an den populären
Kinderklassikern, die seit Generationen überliefert sind und
deshalb hohe Absatzzahlen versprechen. Das führt dazu, dass
immer und immer wieder dieselben 30-40 Kinderklassiker ediert werden.
Von manchem klassischen Kinderbuch gibt es bis zu fünf verschiedene
Ausgaben, die sich oft nur durch die Illustrationen voneinander
unterscheiden. Den Mut, in Analogie zu der erfolgreichen "Puffin
Modern Classics"-Reihe, auch moderne Kinderklassiker herauszubringen,
hat bislang kein deutschsprachiger Verlag aufgebracht. Lobenswert
sind deshalb die "Junge Bibliothek" (50 Bände) der
"Süddeutschen Zeitung" und die "Kinderbuchedition"
(15 Bände) der Wochenzeitung "DIE ZEIT", die auf
vergriffene und dadurch in Vergessenheit geratene herausragende
Kinderbücher aufmerksam machen, denen man zum Teil schon den
Status eines modernen Kinderklassikers zuerkannt hat.
Hier zeigt sich schon deutlich, dass unterschiedliche Auffassungen
darüber, was einen Klassiker eigentlich zum Klassiker macht,
existieren. Auf der einen Seite die Tendenz, auf Nummer Sicher zu
gehen und nur die schon lange etablierten älteren Kinderklassiker
zu verlegen, auf der anderen Seite der Versuch, auch weniger bekannte
bedeutende Kinderklassiker wieder zugänglich zu machen (meist
handelt es sich um moderne Kinderklassiker oder um klassische Kinderbücher
aus Ländern, deren kinderliterarische Produktion in Deutschland
nicht so stark wahrgenommen wird).
In letzter Zeit scheint ein regelrechter Heißhunger auf
Kanonbildung entstanden zu sein. Neben den von Ihnen gerade erwähnten
Editionen der "Zeit" und der "SZ", gibt es mehrere
Handbücher oder Ratgeber, die die "besten Bücher"
versammeln, Bestenlisten und Preise für das "Buch des
Monats" haben Hochkonjunktur. Wie erklären Sie diesen
plötzlichen Hunger?
Das Bedürfnis nach Lese- und Empfehlungslisten sowie nach
Klassikereditionen ist verständlich angesichts der nicht mehr
zu überschaubaren Menge an Neuerscheinungen auf dem kinderliterarischen
Buchmarkt (ganz zu schweigen von der Backlist). Wer nicht die Zeit
und Muße hat, stundenlang in Bücherregalen oder Katalogen
zu blättern, und wenn selbst die Experten den Überblick
verlieren, liegt der Griff nach Kinderklassikern nahe.
Die Kinderliteratur vieler Länder kann auf eine Tradition von
mehr als zweihundert Jahren zurückblicken. Angesichts dessen
ist der Versuch einer Kanonbildung nahezu zwingend. Ein Kanon, auch
wenn er einem Wandel unterliegt, weist den interessierten Leser,
aber auch den Forscher, darauf hin, welche kinderliterarischen Werke
einen großen Einfluss auf die Entwicklung der (inter)nationalen
Kinderliteratur ausgeübt haben und sich durch ihren literarischen
Anspruch auszeichnen.
Mit Klassikern wie Theodor Storms "Regentrude" oder
Karl Mays "Winnetou" haben Kinder höchstens noch
übers Schultheater oder den Fernsehfilm Berührungspunkte.
Ansonsten scheinen sie in ihrem Alltag keine Bedeutung mehr zu haben.
Lassen sich Kinder von Erwachsenen Klassiker vorschreiben?
Ich
halte es für fatal zu meinen, dass man Kindern die Lektüre
von Kinderklassikern und auch von anderen Kinderbüchern vorschreiben
soll, nur weil man diese Bücher selbst für gut oder wichtig
hält. Ich habe mein Lexikon als ein Angebot für Kinder
und interessierte Eltern, Lehrer und andere Vermittler konzipiert:
wer sich für die internationalen Kinderklassiker interessiert,
findet hierbei manchen Tipp und stößt dabei vielleicht
auch auf Werke, die sonst übersehen worden wären. Kinderklassiker
kann man lesen, man muss sie aber nicht lesen. Wer diese oder zumindest
eine Auswahl von ihnen jedoch nicht kennen lernt, dem entgehen viele
faszinierende und literarisch anspruchsvolle Kinderbücher,
die zum Weiterlesen und Nachdenken anregen. Denn wer kennt schon
den leider vergriffenen ungarischen Schülerroman "A Pál
utkai fiúk" (1907, dt. "Die Jungen der Paulstraße")
von Ferenc Molnár oder den tschechischen Kinderroman Klapzubova
jedenáctka (1922, dt. "Klapperzahns Wunderelf")
von Eduard Bass, einen der besten Fußballromane, die je für
Kinder geschrieben wurden (und gerade neu erschienen beim Wuppertaler
Arco Verlag)?
Welche Bedeutung haben Klassiker für Kinder?
Ich
habe selbst zwei Kinder im Alter von 17 und 7 Jahren und kann hinsichtlich
ihrer Lesevorlieben und Lektüreerfahrungen feststellen, dass
die Kinderklassiker bei ihnen einen breiten Raum einnehmen bzw.
eingenommen haben. Daneben werden aber auch aktuelle Neuerscheinungen,
Comics und Kinderzeitschriften gelesen. Ich will damit sagen, dass
Kinder und Jugendliche ein breites Lesespektrum abdecken. Sie lesen
kreuz und quer, was ihnen in die Finger kommt, ob Enid Blyton, "Die
drei Fragezeichen", Donald Duck-Hefte, Cornelia Funkes "Die
Wilden Hühner", oder Astrid Lindgrens "Ronja Räubertochter"
und die Märchen der "Brüder Grimm". Es gibt
mittlerweile viele herausragende Kinderbücher, die Kinderklassiker
gehören auf jeden Fall dazu!
Sie haben in Ihrem Lexikon ja nicht nur deutsche Kinderbuch-Klassiker,
sondern vor allem auch viele internationale Klassiker aufgenommen.
Länder mit der höchsten Klassiker-Rate sind demnach die
USA und England. Deutschland ist mit relativ wenigen Klassikern
vertreten. Warum gibt es Ihrer Meinung nach so wenig deutsche Klassiker
oder warum gibt es umgekehrt so viele englischsprachige Klassiker?
Ich finde ehrlich gesagt nicht, dass Deutschland so schlecht wegkommt
in meinem Lexikon, vor allem dann, wenn man die Liste der deutschen
Kinderklassiker mit derjenigen anderer Länder vergleicht.
Dass England und die USA auf weitaus mehr Kinderklassiker zurückblicken
können als etwa Deutschland oder Italien hängt mit der
Geschichte der nationalen Kinderliteratur und dem zugrunde liegenden
Kindheitsbild zusammen. In England hat sich eine qualitativ hochstehende
Kinderliteratur bereits Ende des 18. Jahrhunderts angekündigt,
in den USA seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Ein anderer Grund liegt
darin, dass in England und den USA von Beginn an renommierte Autoren,
die sich als Schriftsteller für Erwachsene einen Namen gemacht
haben, auch Bücher für Kinder schrieben, u.a. Louisa May
Alcott, Mark Twain, Charles Dickens etc. Bis heute tragen die amerikanische
und die britische Kinderliteratur neben derjenigen aus den skandinavischen
Ländern wesentlich zur Erneuerung und zum stetigen Renommee
kinderliterarischer Werke auch unter der erwachsenen Leserschaft
bei.
In Deutschland erlebte die Kinderliteratur während der Spätromantik
ihre erste Blütezeit (Gebrüder Grimm, E.T.A. Hoffmann
u.a.), aber danach gab es einen Einbruch. Erst mit der Weimarer
Republik etablierte sich eine anspruchsvolle Kinderliteratur mit
den Romanen von Erich Kästner, Lisa Tetzner und Wolf Durian.
Viele Klassiker wie "Peter Pan", "Winnie der
Pu", "Pinocchio" oder "Heidi" und natürlich
auch viele Märchen kennen Kinder oft nur noch aus Filmen. Dass
das Original ein Buch war, wissen einige schon gar nicht mehr. Wie
haben die modernen Medien die Klassiker verändert?
Durch den Medienverbund und die Übertragung in andere Medien
(Theaterstück, Hörspiel, Film, Computerspiel) gibt es
von vielen Klassikern mehrere Versionen. Oft lernen Kinder sicher
Kinderklassiker erst in der Filmfassung oder als Hörspiel kennen.
Doch die Begegnung mit diesen Medien führt nach meiner Beobachtung
dazu, dass sich die Kinder auch für die Buchfassung interessieren
und diese entweder selber lesen oder sich vorlesen lassen.
Was wird unter diesen Voraussetzungen als das Original angesehen?
Es besteht zuweilen die Gefahr, dass Kinder nur den plot eines
Buches kennen, weil durch die Umsetzung in ein anderes Medium und
die damit bedingten Kürzungen und Veränderungen viele
Aspekte der Originalfassung verloren gegangen sind. Aber dies trifft
auch auf Literatur für Erwachsene zu: die Geschichte von dem
Kampf
Don Quichotes gegen die Windmühlen ist vielen geläufig,
aber wer hat wirklich den umfangreichen Roman über "Don
Quichote" von Cervantes gelesen?
Grundsätzlich spricht meiner Meinung nach nichts dagegen, wenn
Kinder dieselbe Geschichte in mehreren Versionen bzw. Medienumsetzungen
kennen lernen. Ihrem Bedürfnis, dieselbe Geschichte mehrmals
zu hören, zu lesen oder zu sehen, wird damit Rechnung getragen.
Ob hierbei das Buch zuerst gelesen wird und danach die Adaption
in andere Medien zur Kenntnis genommen wird oder umgekehrt, scheint
mir eher sekundär zu sein.
Abschließend interessiert mich natürlich noch eine
Frage: Welcher Klassiker gefällt Ihnen persönlich denn
am meisten?
Diese
Frage ist wirklich schwer zu beantworten, denn da fallen mir gleich
mehrere Werke ein, die mir wirklich am Herzen liegen. Wenn ich jedoch
nur jeweils ein Werk nennen darf, dann würde ich bei der deutschen
Kinderliteratur "Timm Thaler oder das verkaufte Lachen"
(1962) von James Krüss nennen und bei der internationalen Kinderliteratur
"The Mouse and His Child" (1967, dt. "Der Mausvater
und sein Sohn") des amerikanischen Autors Russell Hoban.
Liebe Frau Bettina Kümmerling-Meibauer, ich bedanke mich
ganz herzlich für dieses Gespräch!
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