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Das geheime Buch
Herrn Maiteufels wundersame
Reise in die Wirklichkeit
von
Annette Kautt
Fortsetzung Teil 6
Wer den letzten Teil noch nicht kennt und mehr als
die kurze Zusammenfassung lesen möchte, geht zurück zur
letzten Rossipotti-Ausgabe
Was bisher geschah:
Herr Maiteufel arbeitet in einer
Butterbrotpapierfabrik und lauscht jeden Tag dem verheißungsvollen
Gesang der Butterbrotpapiere, die sich auf ihr großes Leben
in der Welt vorbereiten. Doch je länger er dem Gesang der Papiere
lauscht, umso mehr sehnt er sich danach, selbst ein Butterbrotpapier
zu werden! Da er ein Mensch mit Visionen ist, setzt er eines Tages
seinen Wunsch in die Tat um: Er baut anhand des originalen Konstruktionsplans
von Herrn Knobel, seinem Chef, eine Butterbrotpapiermaschine, in
die er selbst hineinpassen und zum Butterbrotpapier werden kann!
Doch aus irgendeinem Grund funktioniert die Maschine nicht. Irgendein
Detail muss Herrn Maiteufel beim Bau der Maschine entgangen sein
...
Eines Tages bekommt Herr Maiteufel ein Paket. Herr Maiteufel ist
fest davon überzeugt, dass ihm der Finder seiner Gasluftballonkarte,
die er beim letzten Betriebsfest verschickt hat, das Paket geschickt
hat. Doch leider ist es nicht von einem unbekannten Finder, sondern
nur von seiner ehemligen Klassenkameradin Mara. Zuerst ist Herr
Maiteufel enttäuscht darüber, weil in dem Paket nichts
weiter als ein paar alte Fotografien und ein alter Stadtplan seiner
Heimatstadt sind. Doch dann entdeckt er, dass die Streckenverhältnisse
des Stadtplans und seines Konstruktionsplans genau gleich sind!
Und das kann für Herrn Maiteufel
nur eins bedeuten: Wenn sich das fehlende Detail seiner Maschine
nicht auf dem Konstruktionsplan entdecken lässt, muss es in
seiner Heimatstadt zu finden sein! Kurz entschlossen packt Herr
Maiteufel deshalb seine Siebensachen und reist mit dem Zug dorthin.
Doch kaum hat er seine Reise begonnen, weiß er nicht mehr, ob er
nicht lieber zu Hause geblieben wäre. Im Zug bringt ihn sein Gegenüber
stark in Verlegenheit, im Hotel seiner Heimatstadt verwirrt ihn
eine "Brötchenfrau", und auch der eigentlich ganz harmlose Kaffeklatsch-Besuch
bei seiner alten Bekannten Mara ruft bei ihm vor allem Beklemmung
hervor. Zum Glück ist da auf einmal von einem Finder die Rede,
und Herr Maiteufel weiß sofort, dass nur der Finder seiner
Luftballonkarte gemeint sein kann! Er möchte ihn unbedingt
kennenlernen und stattet ihm deshalb gleich einen Besuch ab.
Dort erfährt er, dass der Finder nicht nur seine Karte, sondern
auch noch viele andere Dinge gefunden hat. Außerdem weiht
ihn der Finder in die seltsamen Geschehnisse der Stadt ein:
Eine wichtige Person der Stadt, der Läufer, ist verschwunden.
Und so lange der Läufer verschwunden ist, bleibt in der Stadt
alles gleich und kann sich nichts mehr verändern! Der
Finder ist deshalb beauftragt worden, den Läufer zu finden,
hat aber bisher noch keine Spur.
Herr Maiteufel fühlt sich beim Finder wohl und möchte
ihm gerne helfen. Doch nach einem merkwürdigen Traum, sieht
Herr Maiteufel die Dinge plötzlich in einem
anderen Licht: Der Finder erscheint ihm gefährlich und die
Brötchenfrau dagegen als ernst zu nehmende Persönlichkeit.
Nur sie scheint sowohl Herrn Maiteufel bei der Suche nach seinem
Detail als auch der Stadt bei der Suche nach dem Läufer wirklich
helfen zu können. Er sucht deshalb die Brötchenfrau auf,
erfährt aber nichts von ihr. Stattdessen schleppt sie ihn zu
einer wundersamen Gartenparty mit. Und bevor er es richtig wahrnimmt,
hat Herr Maiteufel das Detail seiner Maschine und den verschwundenen
Läufer beinahe vergessen. Denn in dem Garten riecht es unglaublich
gut, es gibt leckere Regenbogen-Getränke und vor allem Meringue.
Während Herr Maiteufel sich in dem Garten immer heimischer
fühlt, unternehmen Maras Familie und Freunde große Anstrengungen,
den Läufer zu finden: Nachdem die Suche auf dem Erdboden bisher
ergebnislos war, möchten sie jetzt den Himmel über der
Stadt mit einem selbst gebastelten Ballon nach dem Läufer absuchen.
Gleichzeitig entdeckt der Finder, dass Herr Maiteufel verschwunden
ist. Er findet Herrn Maiteufels alten Stadtplan und glaubt zu wissen,
warum Herr Maiteufel verschwunden ist: Die Hindernisse haben ihn
verschleppt und halten ihn gefangen!
Siebtes Kapitel, in dem Herr Maiteufel etwas über
Steine erfährt
"Kennen Sie das Rätsel mit dem Trommelfell?" fragte
Meringue Herrn Maiteufel und ließ sich neben ihn auf die Wiese
fallen.
"Nicht, dass ich wüsste", antwortete Herr Maiteufel.
"Wie geht es denn?"
"Hm, da muss ich einmal überlegen. Da war irgend etwas
mit einem Kamelfell und einer Verwechslung".
"Ach das", sagte Herr Maiteufel, "hat Parbleu Ihnen
dieses Rätsel beigebracht?"
"Ja!" sagte Meringue erstaunt. "Kennen Sie es etwa
doch schon?"
"Ich kenne nur eines, das so anfängt: Keiner irrt langsam,
keiner irrt ..."
"Nein, nein", sagte Meringue schnell, "das ist es
nicht. Meines ging ungefähr so: Welches Fell ohne Trommel und
welche Trommel ohne Fell hat ein Kamel, wenn es im Mondschein zum
Tanze aufgefordert wird?"
"Aber das ist doch völliger Unsinn", meinte Herr
Maiteufel.
"Nein, das ist es nicht!" sagte Meringue und schob beleidigt
ihre Unterlippe vor. "Die Antwort hat mir sehr gut gefallen".
"Wie hieß sie denn?" fragte Herr Maiteufel.
"Aber das müssen doch Sie herausbekommen",
sagte Meringue ungeduldig. "Wissen Sie denn gar nicht, was
ein Rätsel ist?"
"Doch, doch", meinte Herr Maiteufel beschwichtigend. "Vielleicht
ist die Antwort ja Trommelfell'."
"Ha!" rief Meringue erfreut. "Da habe ich Sie ganz
schön an der Nase herumgeführt! Sicher haben Sie das nur
deshalb geglaubt, weil ich am Anfang gesagt habe, dass es das Rätsel
mit dem Trommelfell sei, nicht wahr? Aber die Antwort heißt
ganz, ganz anders."
Meringue schaute Herrn Maiteufel erwartungsvoll an.
Herr Maiteufel dachte nach. Irgend etwas musste in dem Gedicht verwechselt
werden, hatte Meringue gesagt.
"Hm. Vielleicht eine Kameltrommel?"
"Ein bisschen richtig", sagte Meringue, "aber auch
ein bisschen falsch!"
Sie richtete sich wieder auf, neigte ihren Kopf zu Herrn Maiteufel
und flüsterte ihm ziemlich laut ins Ohr: "Ein Kamel und
ein TAMBURIN!"
"Das war doch wohl alles ein bisschen verdreht", mischte
sich Zeber ein.
Anscheinend hatte er schon eine ganze Weile hinter ihnen gestanden
und zugehört.
"So kann Herr Maiteufel ja nie herausbekommen, was die Lösung
des Rätsels ist."
"Aha!" stellte Meringue zornig fest, "genau so
hat es mir aber Parbleu beigebracht!"
"Etwa auch das mit dem Mondschein? Dass ich nicht lache!"
Zeber keckerte.
Meringue war wütend.
Herr Maiteufel saß hilflos daneben.
Zeber keckerte noch eine Weile, dann stellte er sich aufrecht hin,
streckte seinen Kopf etwas in die Höhe und sprach in gepflegtem
Ton:
Ein Fell ohne Trommel und eine Trommel ohne Fell
hat ein Kamel nicht im Ohr, hat ein Kamel nicht im Fell,
sondern hat ein K ... und ein T ..."
"Nun, was sagen Sie nun? Errät es sich so nicht viel
leichter?"
Herr Maiteufel überlegte: "Das kann ich jetzt nicht mehr
beurteilen, weil ich die Lösung ja schon kenne."
"Hm. Wahrscheinlich haben Sie Recht. Aber was denken Sie, wer
von uns beiden das Rätsel schöner vorgetragen hat?"
Zeber schaute Herrn Maiteufel erwartungsvoll an. Aber auch Meringue
schaute ihn mit flehendem Blick an.
Was sollte Herr Maiteufel nur sagen, wenn er keinem von beiden vor
den Kopf stoßen wollte?
Nach einer Weile sagte er deshalb: "Beide Rätsel waren
gleich schön vorgetragen! Man kann es nicht wirklich vergleichen,
weil Meringue ihr Rätsel in Prosa erzählt hat, während
Ihr Rätsel sich gereimt hat."
Meringue strahlte ihn an.
Dann rief sie Melle zu, der gerade aus dem Glaspavillon kam: "Melle,
meines war Prosa!"
Doch Zeber schien nicht zufrieden. "Sie müssen unbedingt
noch eines von mir hören."
Wieder posierte er sich wie vorhin.
Als er jedoch Melle sah, der auf sie zukam, wartete er, bis er da
war und sprach dann:
Spinnenfinger spinnen Finger
Tunnel tiefer Tropf
Dämmerhunger dämmern Hunger
Fliegenflügelkopf
"Schilderkröten", schildern Kröten
"Fledermäuse", fleddern Mäuse
Fallen Falle Fall
Tränenfreude tränen Freude
Entenende endet Ende
Niemand getraute sich etwas zu sagen.
"Nun, wie fandet ihr es?" fragte Zeber ungeduldig.
"Aber das war doch gar kein Rätsel", meinte Herr
Maiteufel schließlich.
"So", sagte Zeber unfreundlich, "und was dann?"
"Ein Quatschgedicht vielleicht?"
"Ein Quatschgedicht?" Zeber wurde rot im Gesicht. "Ein
Quatschgedicht? Soll ich Ihnen mal ein richtiges Quatschgedicht
vorstellen?"
"Besser nicht", dachte Herr Maiteufel, aber Zeber war
schon wieder dabei, Haltung anzunehmen:
Es waren zwei Hasen im Gras
die aßen dort grünen Kohl
als sie keinen Hunger mehr hatten
gingen sie von dem Gras weg
und liefen in den Wald
"Und, haben Sie den Unterschied bemerkt?" fragte Zeber
erregt und streckte seinen dürren Hals nach vorne. "Das
war ein Quatschgedicht! Bei Quatschgedichten gibt es überhaupt
nichts Rätselhaftes. Das Gedicht von den Spinnenfingern dagegen
ist voller Rätsel!"
Das musste Herr Maiteufel zugeben, auch wenn er immer noch nicht
verstand, was man bei diesem Rätselgedicht erraten sollte.
Da sagte Meringue: "Du hast Recht Zeber. Und ich glaube, ich
kenne sogar die Lösung zu deinem Rätsel."
Zeber sah sie ungeduldig an und Meringue erklärte: "Also,
das mit den Spinnenfingern ist ja ganz klar. Damit ist eine Spinne
gemeint, die gerade ein Netz spinnt."
Zeber nickte erfreut und Meringue fuhr fort: "Das Ganze findet
an einem unwirtlichen Ort satt. In einem Tunnel, tief unter der
Erde, wo es nass und kalt ist. Die Spinne hat ziemlich Hunger und
dämmert in ihrem Hunger so vor sich hin. Dann verfängt
sich in ihrem Netz eine Fliege mit allem drum und dran. Die Kröten
meinen, dass sich eine Schildkröte im Netz verfangen habe,
und die Mäuse, dass Fledermäuse ins Netz gegangen seien.
Die Kröten und die Mäuse befreien dann die Fliege, es
gibt Tränenfreuden und dann ist das Rätsel zu Ende."
"Das hast du wirklich gut gemacht", lobte Zeber.
Meringue wurde rot vor Freude.
"Allerdings hast du nicht herausbekommen, wie sie die Fliege
befreien."
"Bei so vielen Fallen kann man auch gar nicht wissen, wer da
wem eine Falle stellt", verteidigte sich Meringue.
"Die Mäuse und Kröten stellen den Fallen der Spinne,
das heißt deren Netz, eine Falle, indem sie sich auf das Netz
fallen lassen und damit zerreißen", sprang ihr Melle
bei.
"Ja genau!" freute sich Zeber. "Daran sieht man,
dass mein Rätsel ganz ausgezeichnet sein muss. Sonst könnte
man es nie so gut auflösen! "
Er schaute Herrn Maiteufel von oben herab an.
Herr Maiteufel meinte: "Meringue und Melle sind eben auch ganz
ausgezeichnete Rätselherausbekommer."
"Im Vergleich zu Ihnen vielleicht", sagte Zeber. "Fest
steht auf jeden Fall, dass man ein Rätsel, das nicht gut durchdacht
ist, auch nicht herausbekommen kann. Also muss mein Rätsel
ziemlich gut sein. Ziemlich gut durchdacht".
Zeber tätschelte sich mit einer Hand seinen Bauch.
"Und was soll das mit dem Entenende?" mischte sich ein
hagerer Mann dazwischen.
Er war unbemerkt hinzugetreten und Herrn Maiteufel noch nicht namentlich
bekannt. "Woher kommen denn plötzlich die Enten und was
spielen sie in dem Rätsel für eine Rolle?"
Zeber machte ein betrübtes Gesicht. "Ja, da haben Sie
Recht. Das mit dem Entenende ist eine schwache Stelle in meinem
Gedicht, weil sie ohne Bedeutung ist. Aber ich musste doch zu einem
Ende kommen?"
Meringue tröstete ihn: "Mir gefällt die Zeile trotzdem.
'Entenende endet Ende'. Das hört sich einfach gut an. Findet
ihr nicht?"
Alle gaben ihr Recht.
Als nächster wollte Melle ein Rätsel vortragen. Er musste
sich allerdings erst noch eines überlegen. Grübelnd lief
er hin und her.
Der Mann, der mit dem Entenende nicht zufrieden gewesen war, stellte
sich neben Herrn Maiteufel und fragte ihn: "Ich habe Sie noch
nie gesehen. Sind Sie neu hier?"
"Sozusagen", antwortete Herr Maiteufel.
Er sah, dass sich Zeber mit Meringue unterhielt.
"Wie gefällt es Ihnen hier?"
"Oh, es gefällt mir sehr gut!" sagte Herr Maiteufel
zerstreut, "hier könnte ich immer bleiben."
"Hier könnten Sie immer bleiben?" Der Mann schien
sehr erstaunt, "und wenn Sie nicht können könnten?"
Zeber und Meringue lachten gerade.
"Wo kann man schon immer bleiben?" bemerkte Herr Maiteufel.
Merinque klatschte fröhlich in die Hände und Zeber hüpfte
ungelenk neben ihr auf und ab.
"Und wenn Sie müssen müssten?"
Herr Maiteufel erwiderte nichts darauf.
"Wie heißen Sie denn?" fragte der Mann.
"Herr Maiteufel", sagte Herr Maiteufel reflexartig. "Und
Sie?" Eigentlich interessierte es ihn überhaupt nicht,
wie sein aufdringlicher Gesprächspartner hieß. Er fragte
nur so aus Höflichkeit.
Der Mann schien über seine Frage erfreut zu sein. Trotzdem
meinte er: "Sie werden sich über mich lustig machen, wenn
Sie meinen Namen hören."
"Aber nein", versicherte ihm Herr Maiteufel.
"Und was, wenn Sie sich doch über mich lustig machen?
Ich würde es nicht überleben."
"Seien Sie doch nicht so kindisch", sagte Herr Maiteufel
etwas unwillig, "der Name 'Maiteufel' ist auch nicht gerade
ernstzunehmen."
"Versprechen Sie, dass Sie auch nicht lachen?"
"Ich verspreche es Ihnen."
Herr Maiteufel ging das alberne, unsinnige Gerede des Mannes allmählich
auf die Nerven. Viel lieber hätte er gewusst, was Zeber und
Meringue miteinander zu lachen hatten.
"Larifari!" stieß der Herr leise aus.
"Ja genau, Larifari ist das", antwortete Herr Maiteufel
erleichtert, weil er glaubte, der Herr empfände das Gespräch
genauso lächerlich wie er selbst.
"Sie kennen meinen Namen bereits?" fragte Larifari erstaunt.
"Ihren Namen? Wieso Ihren Namen?" fragte Herr Maiteufel
verblüfft.
"Na, Larifari eben."
"Oh", sagte Herr Maiteufel. Wie peinlich, dass er den
Mann so missverstanden hatte. Deshalb sagte er: "Der Name ist
doch gar nicht so schlecht. Sehr einprägsam!"
Larifari schaute ihn dankbar an.
Melle hatte endlich aufgehört, auf und ab zu gehen und sagte
nun, dass er mit dem Rätsel beginnen würde. Inzwischen
hatte sich schon eine kleine Rätselgemeinde gebildet: Pistazie,
Gerlinde und sogar Dattelfuß waren noch hinzugekommen. Alle
warteten gespannt, was Melle vorzutragen hatte.
"Und was haben Sie noch so alles vor?" Larifari hatte
sich wieder an Herrn Maiteufel gewandt.
"Wann?" fragte Herr Maiteufel.
"Nun, so im Leben", erklärte Larifari. "Das
Leben hätte so viele Möglichkeiten, wenn man nur wüsste,
wie man zu ihnen stoßen könnte."
"Ja, ja", meinte Herr Maiteufel kurz angebunden. Er wollte
jetzt Melles Rätsel anhören.
"Nun?" der Herr ließ nicht locker.
"Das kann man nicht in zwei Sätzen beantworten",
antwortete Herr Maiteufel abweisend.
"In wie vielen dann?"
Dieser Larifari ging Herrn Maiteufel allmählich gehörig
auf die Nerven! Nicht nur, weil er ihn davon abhielt, Melles Rätsel
zu hören, sondern auch, weil seine Fragen so ungeheuer langweilig
waren.
Aber Larifari quasselte unbekümmert weiter: "Wenn Sie
mir nicht antworten wollen, könnte ich Ihnen ein bisschen behilflich
sein. Ich sammle viele der Möglichkeiten, die es gibt, in meinem
Kopf. Im Kopf habe ich sozusagen schon einen ganzen Katalog voller
Möglichkeiten. Ich nenne es im Stillen immer meinen Möglichkeitenkatalog."
Er lächelte Herrn Maiteufel etwas unsicher an. Ein bisschen
zu unsicher vielleicht. Denn Herr Maiteufel bekam deshalb Mitleid
mit ihm.
"Ihre Idee hört sich ganz interessant an", sagte
er aufmunternd zu Larifari. Er bereute es aber sofort, als Larifari
ihm die Möglichkeiten seines Kataloges auseinandersetzte: "Wie
wäre es zum Beispiel, wenn Sie die Möglichkeit hätten,
in ein fernes Land zu reisen oder dem Kaiser von China zu begegnen?"
"In China gibt es keinen Kaiser mehr", sagte Herr Maiteufel
gequält.
"Oh, dann reisen wir eben in die Vergangenheit oder in die
Zukunft?"
Weil Herr Maiteufel nicht reagierte, redete Larifari ununterbrochen
weiter: "Wie fänden Sie ein schönes großes
Haus oder die Aussicht darauf, nie mehr arbeiten zu müssen?
Oder Sie dürften soviel essen, wie Sie nur wollten? Oder Sie
hätten ein Swimming Pool? Oder Sie wären berühmt?
Oder Sie hätten soviel Macht, dass Sie die Welt retten könnten?
Oder Sie könnten die Prinzessin von Saba heiraten?"
Herrn Maiteufel langweilten diese Allerweltsträume unglaublich.
Außerdem ärgerte es ihn, dass er den anderen nicht mehr
konzentriert beim Rätseln zuhören konnte.
"Sie sind wohl eher ein zurückgezogener Mensch?"
redete Larifari weiter. "Aber warten Sie, auch dann habe ich
etwas für Sie in meinem imaginären Katalog stehen. Wie
Sie sehen, sprudeln die Ideen nur so aus mir heraus."
Als Herr Maiteufel wieder nicht reagierte, rückte Larifari
nahe an ihn heran und flüsterte ihm ins Ohr: "Hätten
Sie nicht Lust, jeden Frühlingstag im Wald spazieren zu gehen
und das Flüstern der Blätter zu hören? Hätten
Sie nicht Lust, ein Butterbrotpapier zu sein?"
Herr Maiteufel drehte sich abrupt zu Larifari um, sah in verdutzt
an und sagte: "Hören Sie endlich mit ihrem Geschwätz
auf und lassen Sie mich endlich in Ruhe!"
Die letzten Worte hatte Herr Maiteufel beinahe geschrien, und so
hatten sich die Rätselrater verwundert zu dem ungleichen Paar
umgedreht.
Nach einer peinlichen Pause ging Melle auf Herrn Maiteufel zu und
legte seinen Arm um ihn.
"Dieser Larifari soll nicht meine Visionen in seinem Katalog
herumtragen", sagte Herr Maiteufel.
Obwohl Melle nicht verstand, was Herr Maiteufel damit meinte, sagte
er zu ihm: "Kommen Sie mal mit. Ich weiß etwas Schönes
für Sie."
Er führte Herrn Maiteufel zu dem Teich am hinteren Teil des
Gartens und zeigte ihm einen seltsam blühenden Busch, der in
einer betörenden Mischung gleichzeitig nach Honig und Rosen
roch. Er brach eine der kleinen lachsfarbenen Blüten ab und
gab sie Herrn Maiteufel zu essen.
Kurze Zeit später lag Herr Maiteufel mit dem Bauch auf dem
Gras. Einen Arm hielt er in das Teichwasser. Das Wasser war warm
und umspülte ihn. Herr Maiteufel fühlte sich mit einem
Mal ganz frei: Er schloss die Augen und hatte das Gefühl, mit
dem ganzen Körper im Wasser zu schweben. Gleichzeitig wusste
er, dass er fest und sicher auf dem Boden lag. Manchmal berührte
ein Fisch seinen Arm. Zart und unabsichtlich, und doch empfand er
die Berührung als Begegnung.
Herr Maiteufel blieb eine ganze Weile so liegen. Aus einiger Entfernung
hörte er das Stimmengewirr der Rätsler.
Nach einer Weile stand er wieder auf und ging zu den anderen zurück.
Zeber fuchtelte gerade aufgeregt mit seinen Armen und zeigte auf
Larifari. "Wenn der Herr da immer etwas an unseren Rätseln
auszusetzen hat, dann soll er doch selber mal ein Rätsel vorstellen.
Sicher sind seine Rätsel auch nicht besser durchdacht."
Das fanden die anderen auch.
Larifari schien unschlüssig zu sein. Herr Maiteufel hatte das
Gefühl, dass sich Larifari gerne bitten ließ.
Endlich sagte Larifari: "Also gut. Aber ihr müsst mir
versprechen, dass ihr nicht beleidigt mit mir seid, wenn ihr es
nicht herausbekommt, weil es zu durchdacht ist?!"
Zeber machte nur "Pah!" und dann begann Larifari mit hoher
Stimme sein Rätsel vorzutragen:
Wer es macht, der nennt es nicht,
wer es sucht, der kennt es nicht,
findet er's, wird's hinterdrein
nicht mehr, was es war ihm sein.
"Das Rätsel ist überhaupt nicht rätselhaft!"
stellte Zeber zufrieden fest.
Meringue stimmte ihm zu: "Man kann sich dabei gar nichts vorstellen.
Es ist sozusagen langweilig."
Auch Pistazie meinte: "Dieses Rätsel können Sie vielleicht
in der Kneipe am Fischmarkt loswerden, aber nicht bei uns."
Niemand hatte Lust dazu, dieses Rätsel zu lösen.
Da schaute Larifari Herrn Maiteufel an: "Und was meinen Sie
dazu?"
Herr Maiteufel fühlte sich unangenehm berührt. Mit Larifari
wollte er nichts mehr zu tun haben. Er gab deshalb keine Antwort.
Larifari wurde traurig. Bei allen Rätseln hatten alle aufmerksam
mitgeraten, während man bei seinem nicht einmal den Versuch
machte, herauszubekommen, um was es sich dabei handelte. Er schaute
auf den Boden, damit man nicht sehen konnte, wie traurig er war.
Da tat er den anderen leid. Zeber meinte, dass die Lösung vielleicht
'Stockfisch' sei, doch Larifari schüttelte mit dem Kopf.
Meringue meinte, dass sie es nun ja vielleicht alle noch einmal
versuchen könnten.
Larifari hob den Kopf und fragte schüchtern: "Ja?"
"Ja!" sagten dann alle ganz erleichtert, weil Larifari
nicht mehr ganz so traurig war.
Selbst Herr Maiteufel wollte nun mitraten.
Larifari half den anderen ein bisschen: "Was sucht man denn,
ohne es zu kennen?"
Alle überlegten.
Dann sagte Meringue: "Freunde."
Larifari schaute sie verwundert an und schüttelte mit dem Kopf.
Gerlinde rief: "Steine natürlich! Die Steine haben wir
gesucht, ohne dass wir die einzelnen gekannt haben."
Larifari sagte: "Ja, das stimmt zwar, aber wir müssen
auch noch die anderen Zeilen des Rätsels mit berücksichtigen.
Da hieß es auch noch 'Wer es macht, der nennt es nicht', und
das trifft ja nicht auf die Steine zu. Oder?"
Das sahen alle ein.
Pistazie meinte: "Es muss etwas sein, das derjenige, der es
macht, so belanglos findet, dass er es nicht einmal erwähnenswert
findet. Also, wenn ich zum Beispiel in mein Taschentuch schneuze,
erzähle ich es niemandem."
Meringue lachte: "Aber deinen Rotz suchst du doch wohl nicht?"
Pistazie sagte gelassen, dass das ja auch nur ein Beispiel gewesen
sei. Alle dachten nun an etwas Belangloses, das sie trotzdem suchen
würden.
"So etwas gibt es einfach gar nicht!" meinte Zeber schließlich.
"Ich zumindest suche immer nur spannende oder aufregende Dinge,
aber nie etwas Langweiliges!" Und leise sagte er in Meringues
Ohr: "Aber dass der Larifari etwas Langweiliges sucht, das
kann ich mir schon vorstellen. Nur können wir es dann nie und
nimmer erraten."
Zum Glück hatte Larifari das nicht mitbekommen, sonst wäre
er bestimmt wieder traurig geworden. So sagte er: "Du hast
ganz Recht, Zeber. Bei diesem Rätsel handelt es sich auch um
etwas Spannendes, nicht um etwas Langweiliges."
Auch Herr Maiteufel dachte nach. Etwas Spannendes, das man anderen
nicht erzählte. Hm, was könnte das nur sein?
Plötzlich wusste er es!
Aufgeregt stieß er hervor: "Das muss das Geheimnis sein!"
Larifari schaute ihn erfreut an.
Dann sagte er: "Beinahe! Es ist das Rätsel."
Zehntes Kapitel, in dem Arturo und Lena eine Entdeckung machen
Der Gasluftballon flog nun schon den dritten Tag über der
Stadt.
Kaprize saß auf dem Kirschbaum im Garten in der Bohnengasse
und spuckte immer wieder einen Kirschstein ins Gras. Sie versuchte,
genau in eine Mulde zu treffen, die sie davor mit einer kleinen
Schaufel ausgehoben hatte. Es befanden sich bereits zehn Steine
in der Mulde.
"Kaprize!" rief Arturo aus dem Haus. "Kannst du mir
einen Gefallen tun? Ich habe hier einen Korb für die Jaquelines.
Kannst du ihn deinen Freundinnen bringen? Sie müssen ziemlich
hungrig sein. Immerhin sind sie schon seit heute früh auf den
Kreuzköpfen."
Kaprize seufzte und ließ sich vom Baum herunterfallen. Langsam
ging sie ins Haus.
"Warum darf ich denn nur Esskörbe hin- und hertragen,
anstatt euch richtig bei der Beobachtung der Hindernisse zu helfen?"
maulte sie, als sie zu Arturo in die Küche kam.
Arturo streichelte ihr über den Kopf und sagte: "Du kennst
doch Mara. Wenn sie findet, dass du noch zu klein bist für
solch gefährliche Dinge, bist du eben zu klein, und damit basta.
Aber sei doch froh. So kannst du in den Ferien machen, was du willst."
"Kann ich eben nicht! Wenn die Jaquelines immer auf den Kreuzköpfen
sind, kann ich doch mit niemandem spielen!"
Arturo nickte. "Wärst du trotzdem so lieb, und würdest
den Korb auf die Kreuzköpfe tragen? Das wäre uns wirklich
auch eine große Hilfe. Lena wird heute im Norden die Stadt
beobachten und ich im Süden, da können wir es uns nicht
leisten, unsere Position für ein paar Stunden aus den Augen
zu lassen."
"Klar", meinte Kaprize und knuffte Arturo in den Bauch.
"Darf ich mir auch etwas aus dem Korb nehmen?"
"Klar", sagte Arturo und zog Kaprize an der Nase.
Kaprize nahm den Korb und ging pfeifend aus dem Haus.
"Bis heute abend!" rief Arturo ihr hinterher.
Doch Kaprize stand schon auf der Gasse und hörte ihn nicht
mehr.
Der Tag war heiß und drückend. Die Straßen lagen
ausgestorben und teerschwer zwischen den Häusern und machten
Kaprize das Gehen schwer.
Kaprize seufzte. Zu den Kreuzköpfen würde sie eine gute
Stunde brauchen. Zum Glück konnte sie dabei die längste
Strecke durch den Stadtwald gehen.
Kurz nach dem Vergnügungsbad konnte Kaprize bereits die Jaquelines
auf den Hügelkuppen der Kreuzköpfe erkennen.
Auf jedem Hügel standen zwei Jaquelines. Die eine blickte in
den Norden, die andere in den Osten. Die dritte in den Süden
und die vierte in den Westen.
Angestrengt atmend kletterte Kaprize den ersten Kreuzkopf, der südlich
vom anderen Kreuzkopf lag, hinauf.
"Da ist wer! Da ist wer!" kam ein unterdrückter Aufschrei
von oben.
Kaprize schmunzelte. Die Jaquelines hielten sie bestimmt für
ein Hindernis. Doch bevor sie sich überlegen konnte, wie sie
die Jaquelines erschrecken könnte, wurde sie schon von den
beiden entdeckt.
"Ach, du bist es", sagte Jaqueline beinahe etwas enttäuscht.
Kaprize lies sich mit ihrem Korb ins Gras plumpsen.
Der Himmel über ihr war blau. Nichts als blau.
Wo der Ballon wohl war?
"Wann habt ihr den Ballon zuletzt gesehen?" fragte Kaprize
die Jaquelines.
"Hm, schwer zu sagen", sagte Jaqueline, während sie
den Korb durchwühlte. Sie nahm sich einen Pfirsich und biss
genüsslich hinein. "Wir müssen uns auf die Stadt
unter uns konzentrieren. Da haben wir wenig Zeit, in die Luft zu
schauen."
"Was ist denn noch alles in dem Korb?" fragte die andere
Jaqueline.
"Aber ihr müsst doch trotzdem wissen, wann ihr den Ballon
zum letzten Mal gesehen habt!" meinte Kaprize.
"Vielleicht gestern abend", antwortete Jaqueline etwas
gelangweilt.
"Ja, ich denke auch, dass es gestern abend war. Kurz bevor
wir unseren Posten hier aufgegeben haben", bestätigte
Jaqueline. "Warum interssiert das dich denn so?"
Kaprize zuckte mit den Schultern.
"Und, habt ihr was entdecken können?"
"Nö", schmatzte Jaqueline. "Die Straßen
sind fast menschenleer seit wir hier oben sind. Es ist beinahe unheimlich.
Vielleicht braut sich da unten etwas zusammen?"
"Das Problem ist", sagte Jaqueline, "dass wir nicht
in die Gebäude hineinschauen können."
"Außerdem verdecken die Bäume den ganzen Stadtwald",
fügte Jaqueline hinzu. "Wer weiß, wer sich bei der
Hitze dort alles versteckt."
Kaprize stand auf und packte die Lebensmittel wieder in den Korb.
"Ich geh' dann mal zu den Jaquelines rüber. Wollt ihr
noch was von den Sachen hier behalten?"
"Lass mal", sagte Jaqueline, "Essen stört uns
nur bei unserer Aufgabe."
Kaprize nickte, nahm den Korb, sagte "bis dann", und lief
den Hügel hinunter.
Als sie den zweiten Kreuzkopf hinaufstieg, überlegte sie, was
sie Nachmittags machen sollte. Eigentlich war bei so einem Wetter
das Vergnügungsbad ja genau das Richtige. Aber ihr gefiel es
dort nicht. Schon gar nicht alleine. Vielleicht sollte sie ein bisschen
am Fluss baden gehn? Allerdings hatte sie keine Badesachen dabei.
Und deshalb wieder heimzugehen, hatte sie auch keine Lust. Am liebsten
hätte sie Arturo beim Suchen geholfen. Aber der wollte sie
einfach nicht dabei haben.
"Da bist du ja endlich!" riefen die Jaquelines. "Wir
haben einen solchen Hunger."
Kaum war Kaprize oben angekommen, rissen ihr die Jaquelines den
Korb aus der Hand und stürzten sich auf die Sachen.
"Hmm, wie das schmeckt! Das hat Arturo aber fein gemacht",
sagte Jaqueline anerkennend.
Nun bekam auch Kaprize Appetit. Genüßlich biss sie in
einen Fleischkuchen.
"Mir ist es da unten so langweilig", maulte Kaprize zwischen
den einzelnen Bissen. "Könnt ihr mich hier oben wirklich
nicht gebrauchen?"
"Tut uns leid", meinten die Jaquelines, "aber alle
Richtungen sind bereits vergeben."
"Aber warte mal", sagte Jaqueline und kramte in ihrer
Hosentasche. "Ich hab hier ein paar Murmeln. Die kannst du
haben."
"Oh, danke", freute sich Kaprize. "Meine habe ich
neulich im Fluss versenkt."
"Kann ich euch den Korb hierlassen?" fragte Kaprize.
"Klar. Wir bringen ihn euch heute abend vorbei."
"Danke!" freute sich Kaprize. "Dann geh ich mal wieder.
Tschüß."
Sie drehte sich um und rannte den Hügel hinunter. Irgendwann
schien sie zu fallen und sich den Rest hinunterkugeln zu lassen.
Als Kaprize unten ankam, schüttelte sie sich Gras und Blätter
aus dem Kleidern und ging in Richtung Stadt. In ihrer Hosentasche
fühlte sie Jaquelines Murmeln aneinanderstoßen. Sie holte
die Murmeln heraus und betrachtete sie.
Das Glas der Kugeln war grün oder blau gefärbt. Nur eine
der Kugeln war durchsichtig und hatte in der Mitte eine rotfarbene
Glasspirale.
Kaprize hob die durchsichtige Murmel gegen die Sonne. Sie ließ
das Glas grün schimmern und das Farbige der Murmel darin magisch
einbetten.
Sie war mittlerweile beim Bahnhof angelangt. Weil sie keine Lust
hatte, zu Hause alleine zu sein, schlenderte sie auf Umwegen Richtung
Bohnengasse.
Im Schatten eines hohen modernen Gebäudes, dem Finanzamt der
Stadt, setzte sie sich auf die Bordsteinkante.
Gedankenverloren spielte sie mit den Murmeln in ihren Händen,
ließ sie über ihre nackten Beine auf die Straßen
rollen, hob sie wieder auf und klemmte eine Kugel zwischen Oberlippe
und Nase.
Die Murmel fiel ihr hinunter, hüpfte einmal nach oben und rollte
dann die Straße entlang, bis sie schließlich in einer
Kuhle einer runden Dole zu liegen kam.
Kaprize schaute auf und lief zur Murmel. Sie entdeckte ein kleines
Loch in der Dole, das gerade groß genug war, die Murmel festzuhalten,
aber zu klein, um sie hindurch zu lassen.
Kaprize nahm die Glaskugel und versuchte, sie in das Loch zu spielen.
Es war gar nicht so einfach. Kaprize brauchte einige Zeit, bevor
eine Murmel in der Vertiefung liegen blieb. Sie übte so lange,
bis sie alle Kugeln einmal in das Loch gespielt hatte. Danach versuchte
sie, eine Kugel, die bereits in dem Loch lag, durch eine andere
Murmel wegzustoßen, und diese dann dort zu plazieren. Das
war noch viel schwieriger!
Kaprize stieß eine Kugel mit so viel Schwung weg, dass sie
die Straße weit entlangrollte. Sie ging der Kugel hinterher
und entdeckt eine zweite runde Dole. Diese Dole hatte im Unterschied
zur ersten zwei kleine Löcher. Nach dieser Dole sah Kaprize
noch eine Dole mit drei Löchern und ein paar hundert Meter
weiter eine mit vier.
Kaprize wurde etwas aufgeregt. Sie dachte sich ein Spiel aus: Wenn
sie in der ersten Dole alle Murmeln plazieren konnte, musste sie
in der zweiten Dole zwei Murmeln, in der dritten drei und in der
vierten vier Murmeln in die Öffnungen spielen. Das war sicher
schwierig, weil man dann die Murmeln gegenseitig wegstieß,
bevor man sie in dem jeweiligen Loch hatte. Damit das Spiel noch
spannender wurde, stellte sich Kaprize mehrere Mannschaften vor.
So musste sie also bei jeder Dole für drei spielen.
Sie war mit allen drei Mannschaften gerade bei der zweiten Dole
angekommen, als die Kirchturmuhr sechsmal schlug.
"Schade! Gerade jetzt muss ich nach Hause", dachte Kaprize.
"Gerade jetzt, da die Mannschaft von Jenny nur zwei Punkte
vor meiner liegt. In der nächsten Runde hätte ich die
anderen bestimmt geschlagen", dachte Kaprize und versuchte
eine Murmel in eines der beiden Löcher zu spielen.
Als es ihr auch beim dritten Mal nicht gelang, gab sich Kaprize
notgedrungen geschlagen, sammelte die Murmeln ein und machte sich
auf den Heimweg.
"Da bist du ja endlich", rief Arturo, als Kaprize in
die Küche gestürmt kam. "Ich habe mir Sorgen gemacht.
Die Jaquelines haben mir schon vor einer Stunde den Korb vorbeigebracht
und mir gesagt, dass sie dich seit Mittag nicht mehr gesehen hätten.
Wo warst du nur?"
Doch bevor Kaprize antworten konnte, erzählte ihr Arturo schon
von seinen Erlebnissen: "Lena und ich haben heute eine merkwürdige
Entdeckung gemacht. Während ich heute den Südteil der
Stadt beobachtete, fielen mir sechs Leute auf, die den ganzen Tag
um mich herum schlichen. Als ich sie heute abend deswegen zur Rede
stellte, kicherten sie nur blöd und streckten mir die Zunge
heraus ..."
"Was ist denn daran merkwürdig?" unterbrach Kaprize
Arturo.
"Merkwürdig daran ist, dass Lena heute in der Nordstadt
genau dasselbe erlebt hat!", erklärte Arturo. "Nach
Lenas Beschreibung sahen die Leute, die sie gesehen hat, genau gleich
aus, wie die, die ich beobachtet habe."
Nach einer kurzen Pause fügte Arturo hinzu: "Bestimmt
waren es die Hindernisse! - Deshalb habe ich mir auch Sorgen um
dich gemacht."
"Was soll denn an Leuten, die nur Kichern und die Zunge herausstrecken,
gefährlich sein?" fragte Kaprize erstaunt.
"Gefährlich daran ist hauptsächlich, dass sie an
zwei Stellen gleichzeitig sein können! Der Finder hatte also
Recht, wenn er meinte, dass die Hindernisse uns so überlisten
und den Läufer verstecken. Aber er hatte leider nicht Recht
damit, dass wir die Hindernisse bei ihrem Spiel ertappen können,
wenn wir nur da suchen, wo der Finder nicht ist. Denn wie wir heute
festgestellt haben sind die Hindernisse überall gleichzeitig!"
Arturo schaute Kaprize bedeutungsvoll an.
So bedeutungsvoll, dass Kaprize Angst bekam. Sie fühlte sich
plötzlich so klein. Warum war Mara nicht da? Was wollte sie
eigentlich in der Luft? War das nicht völlig unsinnig? Was,
wenn es stimmte und die Hindernisse überall waren? Hielten
sie dann Mara und die anderen oben gefangen? Hatte sie deshalb den
Ballon heute noch nicht gesehen?
"Hast du heute den Ballon gesehen?" fragte Kaprize zaghaft.
"Ja. Heute morgen. Die Luft war heute ziemlich dunstig. Deshalb
hat man ihn mittags nicht sehen können", beruhigte Arturo
Kaprize.
"Glaubst du, dass die Hindernisse auch im Ballon sind?"
"Das ist sehr unwahrscheinlich", sagte Arturo. "Oder
hast du außer Mara, dem Finder, Karla, Ottokar, Malte und
Emili noch jemand in den Ballon steigen sehen?"
Erleichtert schüttelte Kaprize den Kopf.
"Na, dann lass uns jetzt abendessen", meinte Arturo.
Nachdem sie eine Weile schweigend gegessen hatten, fragte er: "Was
hast du denn heute den ganzen Tag getrieben? "
Kaprize erzählte ihm von ihrem mühsamen Aufstieg auf die
Kreuzköpfe, und dass die Jaquelines bisher nichts Auffälliges
bemerkt hätten. Sie erzählte von Jaquelines Murmelgeschenk,
von den Löchern in den Dolen und ihrem Wettkampf.
"Wenn ich nicht nach Hause hätte kommen müssen, hätte
ich bestimmt Jenny geschlagen!" sagte Kaprize vorwurfsvoll.
"Aber dann würde ich jetzt meinen, dass die Hindernisse
dich entführt hätten", gab Arturo zurück. "Außerdem
kannst du morgen und übermorgen ..."
"Und überübermorgen und überüberübermorgen
und überüberüberüberüber ..."
"Falsch! Ein 'über' zuviel. Nach überüberübermorgen
kommt überüberüberübermorgen!"
"Das habe ich doch gesagt!"
"Hast du nicht!" meinte Arturo.
"Und was kommt nach vorvorvorvorvorvorvorgestern?" fragte
Kaprize trotzig.
"Vorvorvorvorvorvorvorvorvorgestern", sagte Arturo triumphierend.
"Falsch!" quieckte Kaprize erfreut. "Ein 'vor' zuviel.
Ich habe genau mitgezählt. Nach vorvorvorvorvorvorvorgestern
kommt vorvorvorvorvorvorvorvorgestern."
Arturo gab sich geschlagen.
Er gab Kaprize einen Kuss, sagte ihr "Gute Nacht" und
ging nach oben in sein Schlafzimmer. Der Tag war für ihn sehr
anstrengend gewesen.
Kaprize blieb noch eine Weile in der Küche sitzen und spielte
mit den Murmeln in ihrer Hand.
Elftes Kapitel, in dem die Ballonreisenden einen Kartoffelauflauf
mit Speck essen
Arturo stand im Garten und schaute nach oben. Der Ballon war nur
als kleiner Punkt am Himmel sichtbar. Doch allmählich verlor
er an Höhe und bald konnte Arturo Korb und Ballon voneinander
unterscheiden. Schon sah er einige Händepaare winken und glaubte,
Mara etwas rufen zu hören.
Aufgeregt beobachtete Arturo das Sinken des Ballons. Er fragte sich,
ob der Ballon das Gartengrundstück treffen und alle sicher
landen würden.
Als der Ballon ungefähr die Höhe der Schuldächer
erreicht hatte, warf Mara Arturo ein dickes Seil zu und rief etwas,
was Arturo nicht recht verstand: "Imseil ach aum est, im och
saseil machs baum fett."
Hektisch, das Seil in beiden Händen haltend, drehte sich Arturo
um und schaute nach, ob ein fetter Baum oder Ähnliches im Weg
stand. Doch der Kirschbaum stand ganz hinten am Gartenzaun.
"Sagt tu im baum fett, baum fett!" schrie Mara immer wieder,
während der Ballon schon beinahe den Giebel ihres Hauses streifte.
Arturo schüttelte nervös den Kopf. Was wollte Mara nur
von ihm? -
Anstatt sich weiter darum zu kümmern, sprang er in die hinterste
Ecke des Gartens und zog so stark er konnte an dem Seil. Geschickt
manövrierte er den Ballon in die Mitte des Gartens.
Die Luftreisenden sahen erschöpft aus. Vermutlich waren sie
froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Arturo
bemerkte, dass der Läufer nicht dabei war.
"Warum hast du denn das Seil nicht am Baum festgebunden?"
fragte Mara Arturo aufgebracht.
"Wieso hätte ich es denn am Baum festbinden sollen?"
fragte Arturo verwundert. "So ging es doch viel besser."
"Hast du mich denn nicht verstanden? Ich habe dir doch immer
zugerufen, dass du das Seil am Baum festmachen sollst?!"
"Aber Mara", mischte sich Lena ein, die gerade aus dem
Haus in den Garten gekommen war, "du bist doch eben erst zurück
gekommen. Freust du dich denn gar nicht, dass du Arturo wiedersiehst?
Immerhin haben wir hier auch einiges gearbeitet und entdeckt. Nicht
nur ihr habt etwas zu erzählen."
"Entdeckt?" horchte Mara auf. "Was habt ihr denn
entdeckt?"
"Können wir nicht erst mal aussteigen?" meldete sich
Ottokar zu Wort und reichte Arturo einen Schemel nach draußen.
Arturo gab Ottokar die Hand und half ihm beim Aussteigen. Etwas
steif kletterte Ottokar über den Korbrand auf den Schemel und
sprang dann auf die Wiese.
"Ahh", sagte er und schaute dabei die anderen Reisenden
feierlich an: "Die Erde hat mich wieder!"
Emili warf Ottokar einen giftigen Blick zu und bat dann Arturo,
ihr auch beim Aussteigen zu helfen.
Nacheinander stiegen Malte, Karla, der Finder und Mara aus dem Korb.
Ausgiebig streckten und dehnten sie ihre Glieder.
Als Arturo ihnen sagte, dass er im Esszimmer bereits gedeckt habe,
man müsse nur noch den Auflauf aus dem Ofen holen, liefen die
Ballonreisenden schnell ins Haus.
Arturo und Mara blieben alleine zurück.
"Hat es dir da oben nicht gefallen?" fragte Arturo Mara
einfühlsam.
"Ach, Arturo", seufzte Mara. "Wir haben nichts herausgefunden.
Wir haben nichts gesehen außer Luft, Luft und nochmals Luft."
Arturo nahm Mara in den Arm.
Mara drückte ihr Gesicht an seine schmale Brust.
Dann sagte sie weinerlich: "Es gibt nichts zu erzählen."
Arturo nickte.
"Wie wäre es mit einem großen Teller Kartoffelauflauf?"
"Mit Speck?" fragte Mara.
Arturo nickte abermals und führte Mara ins Haus.
Die anderen hatte es sich im Esszimmer bereits gemütlich gemacht.
"Dein Kartoffelauflauf schmeckt ausgezeichnet", rief Malte
Arturo zu, als er und Mara sich an den Tisch setzten.
"Sie wollten einfach nicht warten", sagte Karla mit vollem
Mund und zuckte entschuldigend mit ihren Schultern.
"Macht nichts", sagte Arturo und füllte Maras und
seinen Teller.
Nach einer Weile unterbrach Lena die schmatzende Stille: "Offensichtlich
habt ihr den Läufer nicht mitgebracht. Habt ihr denn sonst
etwas von da oben aus gesehen?"
"Och", meinte Ottokar gedehnt und schielte zu Malte, "unsere
Stadt sieht von oben betrachtet richtig hübsch aus. Ich hatte
noch gar nicht gewusst, dass der Stadtpark beinahe gleich groß
ist wie die Stadt selbst."
"Wenn man bedenkt, dass die Zuschüsse einer Stadt nach
deren Einwohnerzahl berechnet werden", fügte Male hinzu,
"sollte man sich vielleicht überlegen, die Grünflächen
zuzubauen ..."
"Ja, ja", winkte Lena Malte ab, "aber habt ihr nicht
irgend etwas Spezielles entdeckt, etwas, das mit dem Verschwinden
des Läufers zu tun haben könnte?"
Malte rutschte nervös auf seinem Stuhl hin und her. Ottokar
blickte scheinbar unbeteiligt auf den Boden. Emili rieb auffällig
ihre spitze Nase.
Mara schaute verwundert in die Runde. Dann sagte sie: "Hat
es euch denn allen die Sprache verschlagen? Dabei müsstet ihr
nur ein ganz kleines Wörtchen sagen: Nichts! Es gab nichts
zu sehen. Wir haben nichts entdeckt. Wir haben den Läufer nicht
gefunden. Wir hätten uns gerade so gut die paar Tage in ein
Zimmer einschließen können!"
"Das hätten wir aber nicht gemacht!"
Alle drehten ihre Köpfe verwundert zum Finder, der bisher still
auf seinem Stuhl gesessen war.
"Wieso hätten wir uns denn auch in ein Zimmer einsperren
sollen?" fragte Mara gereizt. "Gerade du wolltest doch
hier unten unbedingt die Hindernisse beobachten. Wären wir
nicht im Ballon gesessen, hätten wir die Hindernisse vielleicht
schon geschnappt, und der Läufer wäre endlich auf seiner
Position."
"Schon möglich", gab der Finder zu. "Aber es
hatte auch sein Gutes, dass wir - oder zumindest ich - viel Zeit
zum Nachdenken hatten."
Ottokar grinste spöttisch: "Nachdenken, ja. Aber bloß
über was?!" Lena und Arturo erklärend fügte
er hinzu: "Während wir angestrengt durch das Fernglas
alles unter, über und neben uns im Auge behielten und nach
dem Läufer suchten, hatte der Finder nichts Besseres zu tun
als über den Plänen von diesem Gürteltier zu brüten.
Nur, was hat das alles mit dem Läufer zu tun?"
Ottokar hatte sich aufgesetzt und seine Brust weit nach vorn geschoben.
Er blickte den Finder herausfordernd an.
Der Finder seufzte: "Ich gebe zu, dass das alles nichts mit
dem Läufer zu tun hat. Aber dafür mit Herrn Maiteufel.
Er ist nämlich auch verschwunden. Ihn muss ich auch suchen.
Oder ist er inzwischen wieder aufgetaucht?"
Arturo schüttelte den Kopf. "Nicht, dass ich wüsste."
Der Finder nickte. "Bevor ich tagelang für nichts
in den Himmel schaue, überlege ich mir lieber, wie ich ein
anderes Problem lösen kann. Und insofern bin ich froh, dass
ich mir die Zeit dafür nehmen konnte. Denn wären wir hier
unten geblieben, wäre ich sicher die ganze Zeit durch die Suche
des Läufers in Anspruch genommen worden."
Die anderen schwiegen betreten.
Sicher, Herr Maiteufel war auch nicht ganz unwichtig. Aber wie konnte
der Finder bei einer so wichtigen Angelegenheit, wie der Suche nach
dem Läufer, den Kopf für solch eine Nebensächlichkeit
frei haben? Wenn der Finder für die Sache der Stadt so wenig
Engagement zeigte, wie konnte er da überhaupt jemals den Läufer
finden?
Andererseits stimmte es, dass er in dem Ballonkorb ohnehin nicht
viel anderes hätte tun können ...
"Und, hast du mit den Plänen etwas anfangen können?"
beendete Mara das Schweigen.
"Hm, ja, ich denke schon", antwortete der Finder. "Herr
Maiteufel hat die unterschiedlichen Maße der beiden Pläne
offensichtlich miteinander verglichen. Erstaunlicherweise sind die
Streckenverhältnisse des Konstruktionsplans und des Stadtplans
alle genau gleich! Es muss also eine tiefere Verbindung zwischen
beiden Plänen geben. Mir ist nur absolut nicht klar, welche."
"Was ist denn das für ein Konstruktionsplan?" fragte
Karla.
"Ich kenne mich in solchen Dingen nicht aus", erwiderte
der Finder. "Aber der Plan scheint eine meterhohe Maschine
mit Besprenkelungsanlage und Fön zu beschreiben."
"Sind denn auch Walzen dabei?" fragte Ottokar. Er schien
sich nun doch ein wenig für Herrn Maiteufels Plan zu interessieren.
"Ja", stimmte ihm der Finder zu. "Haben Sie eine
Ahnung, um welche Maschine es sich dabei handeln könnte?"
"Vielleicht", sagte Ottokar, "zeigen Sie mir mal
den Plan."
Schnell stand der Finder auf und lief in den Garten, um seine Sachen
aus dem Korb zu holen. Als er in den Garten kam, sah er, dass unter
dem Ballon immer noch Feuer war. Er stieg in den Korb, drehte den
Gashahn zu und räumte den Korb aus.
Langsam begann der Ballon einzufallen.
Der Finder ging wieder ins Haus.
"Hier, sehen Sie", sagte der Finder und gab Ottokar den
Plan.
Nachdem Ottokar den Plan eine Weile studiert hatte, murmelte er:
"Dachte ich es mir doch. Das ist eine Butterbrotpapiermaschine.
Kommt Herr Maiteufel nicht aus Oberfischen?"
Der Finder nickte.
"Dann ist das sicher der Plan einer Butterbrotpapiermaschine.
In Oberfischen steht nämlich eine Butterbrotpapierfabrik. Kennen
Sie nicht den Spruch, 'Nur mit Knobels Brotpapier, schmeckt mein
Butterbrot noch mir'?"
Der Finder sah ihn verständnislos an.
"Na, ist ja auch egal", meinte Ottokar. "Auf jeden
Fall wissen Sie jetzt, was das für ein Plan ist. Vielleicht
hilft Ihnen das ja weiter."
"Vielleicht, vielleicht auch nicht", meinte der Finder
und rollte den Plan zusammen. "Auf jeden Fall scheint Herr
Maiteufel hier etwas ganz Konkretes gesucht zu haben. Als er den
Plan von Mara geschickt bekommen hat, muss er etwas entdeckt haben,
weshalb er sofort hier her gereist ist. - Wann hast du ihm noch
mal das Paket geschickt, Mara?"
"Höchstens eine Woche bevor er hier ankam", sagte
Mara nachdenklich. "Wenn ihm nur nichts passiert ist!"
"Es ist schon merkwürdig, wie hier einer nach dem anderen
verschwindet", meinte Emili. "Vielleicht war es doch ein
Fehler von mir, hier her zu ziehen."
"Die Hindernisse sind einfach sehr gerissen", wandte Lena
ein. "Sie entwerfen immer neue Taktiken, uns zu überlisten."
"Meinst du damit etwas Bestimmtes?" fragte Karla Lena
gespannt.
Die ganze Gesellschaft sah Lena erwartungsvoll an.
"Arturo und ich haben herausgefunden, dass die Hindernisse
über die Fähigkeit verfügen, sich zu verdoppeln oder
zu verdreifachen! Wir sind darauf gekommen, weil wir an unterschiedlichen
Orten zur gleichen Zeit die gleichen Menschen gesehen haben."
"Wie das?" fragte Karla.
"Während Arturo den Südteil der Stadt beobachtete,
umkreisten und grinsten ihn dort genau die gleichen Gestalten höhnisch
an, wie mich, als ich im Nordteil der Stadt die Position hielt",
erklärte Lena.
"Aber das ist ja entsetzlich!" stieß Malte hervor
und schnappte nach Luft.
"Das ist das Ende", stöhnte Ottokar.
"Die Situation ist auswegslos!" sagte Emili schrill.
"Wo sind die Jaquelines?" rief Karla in die allgemeine
Unruhe hinein. "Arturo, weißt du, wo die Jaquelines sind?
Wann hast du sie zum letzten Mal gesehen?"
Karla war aufgesprungen und lief hektisch im Zimmer auf und ab.
"Vielleicht hätte ich doch nicht mitfliegen sollen. Es
war wahrscheinlich viel zu leichtsinnig, meine Jaquelines alleine
zulassen. Wie konnte ich nur so verantwortungslos sein ..."
"So beruhige dich doch", sagte Arturo. "Deinen Jaquelines
ist nichts passiert. Sie sind wie immer auf den Kreuzköpfen
und halten Ausschau."
"Was?" schrie Karla Arturo an. "Du hast sie noch
auf die Kreuzköpfe gehen lassen, nachdem du wusstest, dass
es in der ganzen Stadt von Hindernissen nur so wimmelt?"
Arturo sah hilflos Mara an.
Mara ging zu Karla und legte ihre Hand beschwichtigend auf Karlas
Arm: "Karla! Arturo weiß schon, was er tut. Die Jaquelines
sind groß genug, um auf sich selbst aufzupassen. Kaprize ist
schließlich auch nicht da, und ich falle nicht aus allen Wolken."
Mara sah etwas ängstlich zu Arturo, doch er nickte mit dem
Kopf, als wolle er sagen, dass alles in Ordnung war.
Doch Karla wütete weiter: "Dir ist Kaprize auch nicht
so wichtig, wie mir die Jaquelines."
Mara spürte einen Stich in ihrer Brust: "Karla, du bist
ungerecht. Am besten gehst du jetzt gleich auf die Kreuzköpfe
und überzeugst dich selbst davon, dass es den Jaquelines gut
geht."
Karla sah Mara giftig an: "Das mache ich auch! Hier versäume
ich sowieso nichts."
Sie packte ihre Sachen zusammen und ging ohne ein Wort des Abschieds
aus dem Haus.
"Können wir uns jetzt vielleicht überlegen, wie wir
die Hindernissen trotz aller Umstände überlisten können?"
fragte Emili mit dünner Stimme.
Arturo schluckte. "Lena und ich haben uns überlegt, dass
wir uns auch vervielfältigen müssen, wenn wir eine echte
Chance gegenüber den Hindernissen haben wollen."
"Sehr witzig", sagte Ottokar. "Dann gehen wir jetzt
alle mal nach Hause und holen unseren Klon aus dem Schrank."
"Wir haben uns deshalb etwas anderes überlegt", fuhr
Arturo fort, ohne auf Ottokars bissige Bemerkung einzugehen: "Es
gibt nur eine Möglichkeit: Wir müssen selbst zu Hindernissen
werden! Nur dann sind wir zahlenmäßig so stark wie sie.
Sogar noch stärker. Denn sie haben nur sich. Aber wir haben
sie und uns."
"Ich wusste es!" schnaubte Malte. "Früher oder
später werden wir alle zu Hindernissen! Schön, sehr schön!
Merkt ihr denn nicht, dass dann die Hindernisse genau das erreicht
haben, was sie wollten? Sind wir erst alle zu Hindernissen geworden,
wird es in der Stadt nie mehr Veränderungen geben."
"Du hast Arturo offenbar falsch verstanden", sagte Lena.
"Wir werden keine Hindernisse im eigentlichen Sinne, sondern
nur als Hindernisse erscheinen. Sie werden uns dann nicht mehr von
sich selbst unterscheiden können. Können sie uns aber
nicht mehr unterscheiden, werden sie uns auch nicht mehr beobachten
und bedrängen. Außerdem können sie dann auch nicht
mehr den Läufer vor uns versteckt halten."
"Ach, und wie sieht man wie ein Hindernis aus, ohne eines zu
sein?" fragte Malte schnippisch. "Sieht man erst mal wie
eins aus, wird man auch ganz schnell eins! Oder glaubt ihr vielleicht,
dass sich die Hindernisse mit solch billigen Tricks täuschen
lassen?"
"Es stimmt, dass es schwierig sein wird, die Hindernisse zu
imitieren ohne selbst eines zu werden", gab Lena zu. "Aber
welche Chance haben wir denn sonst, den Läufer zu finden?"
Resigniert zuckte Malte mit den Achseln.
Mara fragte den Finder, was er dazu meine.
"Ich weiß nicht", sagte er nachdenklich. "Vielleicht
haben sich Lena und Arturo getäuscht und die Hindernisse können
sich gar nicht nach Belieben verdoppeln? Ansonsten denke ich, dass
man sich davon nicht beirren lassen sollte. Anscheinend haben sie
euch nicht körperlich bedroht. Vielleicht sollte man sie einfach
grinsen lassen und unbeeindruckt weiter nach dem Läufer Ausschau
halten?"
"Richtig!" rief Malte, sichtlich erleichtert, dass dem
Finder noch etwas anderes eingefallen war.
"Du kannst es dir vielleicht schwer vorstellen, aber es ist
unheimlich schwierig, sich auf die Beobachtung der Geschehnisse
in der Stadt zu konzentrieren, wenn man ständig von grinsenden
Hindernissen umzingelt ist", sagte Arturo zum Finder.
"Das glaube ich dir", erwiderte der Finder. "Aber
womöglich wird die Suche einfacher, wenn ich wieder daran beteiligt
bin. Denn es gilt immer noch, dass der Läufer da ist, wo ich
nicht bin. Ich denke, dass ihr dann genauer wisst, was oder wen
ihr beobachten müsst."
Arturo schwieg.
Lena sagte: "Einen Vorteil hat der Vorschlag auf jeden Fall.
Wir verlieren momentan keine weitere Zeit damit, uns zu überlegen,
wie wir die Hindernisse am besten nachahmen können und wie
wir uns dann mit den echten Hindernissen auseinander zu setzen haben,
um nicht aufzufallen. Außerdem müssten wir uns auch eine
Strategie überlegen, wie wir uns gegenseitig unter den echten
Hindernissen erkennen können."
"Und an was wir die übergelaufenen Hindernissen ausmachen
können", meckerte Malte.
"Wir können ja noch drei bis vier Tage versuchen, den
Läufer so zu finden", schlug Mara vor. "Wenn sich
aber heraus stellen sollte, dass uns die Hindernisse zu sehr behindern
und wir keinerlei neue Spur bekommen, überlegen wir, wie wir
als unechte Hindernisse zu verfahren haben."
Damit waren alle einverstanden.
Weil es schon später Nachmittag war und alle müde von
den anstrengenden Nächten im Ballon waren, beschlossen sie,
erst am nächsten Tag weiter zu suchen. So packten Malte, Emili,
der Finder und Ottokar ihre Sachen zusammen, verabschiedeten sich
von Mara und Arturo und gingen nach Hause.
Als Mara und Arturo das Geschirr in der Küche abwuschen, fragte
Mara, wo Kaprize denn den ganzen Tag stecke, ob ihr doch hoffentlich
nichts zugestoßen sei?
Arturo lächelte: "Ich glaube, da kannst du ganz unbesorgt
sein. Seit ein paar Tagen spielt Kaprize wie besessen ein Murmelspiel,
das sie selbst erfunden hat. Beim Finanzamt hat sie mehrere Dolen
entdeckt, die kleine Löcher im Deckel haben. Dort spielt sie
die Murmeln hinein. Sie hat sich mehrere Mannschaften ausgedacht,
gegen die sie mit ihrer eigenen Mannschaft antritt. Ich glaube,
ihre Mannschaft hat noch nie gewonnen. Sie möchte wohl mindestens
so lange dort spielen, bis sie einmal gewonnen hat."
Mara schaute Arturo erleichtert an. "Vielleicht sollten wir
mal einen Spaziergang zum Finanzamt machen?"
Arturo nickte und stellte das abgetrocknete Geschirr in den Schrank.
Gemeinsam machten sie sich auf den Weg.
Ende Teil 6
Die Fortsetzung der Geschichte könnt
ihr im
Rossipotti
No. 13
lesen!
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