Die Flupppuppe
Als die Flupppuppe keine fünf Minuten später ihre gemächlichen Kreise über dem Wüstenrand zog, wunderte sie sich über den blauen Lichtfleck einige hundert Meter weiter nördlich in der Wüste.
Warum lag der Blaue Diamant an einer ganz anderen Stelle als sonst? Das hatte sie noch nie erlebt. Rührte der blaue Fleck also vielleicht gar nicht vom Diamanten, sondern von einem blauen Signallicht her? War dort unten etwa jemand in Not?
Die Flupppuppe änderte ihre Richtung und flog kurz entschlossen auf die blaue Stelle zu. Bald konnte sie erkennen, dass dort tatsächlich eine Person, nein sogar zwei Personen im Sand lagen! Allerdings ging das blaue Licht nicht von einer Notlampe, sondern tatsächlich vom Blauen Diamanten aus.
Wurde sie also gar nicht gebraucht und konnte wieder umdrehen? Aber warum lag der Blaue Diamant hier? Irgend etwas stimmte da unten nicht.
Die Flupppuppe flog tiefer und sah nun Betrüger-Schorschi zusammen gekrümmt neben dem Blauen Diamanten im Sand liegen. Etwas abseits lag Emily. Sie war bereits zu Papier geworden und sah ziemlich zerknittert aus. Die Flupppuppe flog noch ein Stückchen näher heran und bemerkte nun die ebenfalls zu Papier gewordene Geizige Geisel, die auf dem Blauen Diamanten lag.
„Bist du das, Flupppuppe?“, rief Betrüger-Schorschi mit kratziger Stimme.
Die Flupppuppe wackelte fröhlich mit den Beinen.
„Flupppuppe!“, sagte er, dieses Mal mit Verzweiflung in der Stimme. „Wenn du es bist, hilf mir!“
Er versuchte mit den Händen nach der Flupppuppe zu greifen.
Die Flupppuppe wunderte sich. Warum war er sich nicht sicher, dass sie es war? Warum öffnete er nicht die Augen? Warum griff er ständig ins Leere, wenn er sie berühren wollte?
„Ich weiß, dass du es bist“, sagte Betrüger-Schorschi. „Ich rieche deinen verführerischen Plastik-Geruch, der dir eigentlich nur in meiner Welt anhaftet! Ich höre deinen leisen, gelassenen Atem und spüre deine Empörung darüber, dass ich dich nicht erkenne!“
Die Flupppuppe wippte mit den Beinen auf und ab.
„Die Geizige Geisel hat mir die Lider zerstochen, als ich den Blauen Diamanten zum Kesselberg bringen wollte“, erklärte Betrüger-Schorschi.
„Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein“, sagte die Flupppuppe.
„Die Geizige Geisel auf jeden Fall“, sagte Betrüger-Schorschi und zeigte in die Richtung, in der er den schwarz-gelben Fetzen Papier und den Diamanten vermutete. „Flupppuppe, wir müssen so schnell wie möglich zum Kesselberg! Vielleicht ist es noch nicht zu spät für die Bewohner des Blauen Gebirges.“
„Hast du Suppe?“
„Wir haben keine Zeit für Suppe!“
Wieder streckte er die Arme nach der Flupppuppe aus, und wieder verfehlte er sie.
„Ohne Suppe keine Puppe“, sagte die Flupppuppe.
Sie hob den Blauen Diamanten auf und pustete die Geizige Geisel weg. Wie ein Ahornsamen flog der Papierschnipsel in den Sand.
„Ich erinnere mich“, lachte Betrüger-Schorschi verzweifelt. „Du bist die Puppe mit dem fremden Herzen!“
„Ich bin die Puppe mit dem fremden Herzen!“
„Du wirst von anderem Herzblut gespeist!“
„Wenn du mich sehen könntest, wüsstest du die Antwort.“
„Wir haben keine Zeit für Rätselraten“, sagte Betrüger-Schorschi. „Auch wenn ich ahne, dass du deinen herrlichen Körper wegen des PLOPPs wieder in Plastikbeine eintauschen musstest. Aber deine Stimme hast du offensichtlich behalten.“
Er versuchte die Augen zu öffnen. Aber die Hornisse hatte im letzten Moment ganze Arbeit geleistet. Die Lider waren zugeschwollen, und er bekam sie keinen Millimeter mehr auf.
Die Flupppuppe flog etwas näher und sah sich Betrüger-Schorschis Hornissenstiche an.
„Wir werden unseren Termin verschieben müssen.“
Betrüger-Schorschis Herz zog sich zusammen. Bestimmt meinte die Flupppuppe damit, dass sie in weniger als zwei Sekunden auf und davon fliegen würde! Denn genauso unerwartet wie sie immer auftauchte, verschwand sie auch.
„Lass’ mich nicht alleine!“, stammelte Betrüger-Schorschi, obwohl er wusste, dass es sinnlos war, die Flupppuppe um etwas zu bitten.
„Aufgeschoben ist nicht aufgehoben“, sagte die Flupppuppe. Sie rollte das Emily-Poster zusammen, öffnete die Klappe in einem ihrer Plastik-Beinen, schob das Poster hinein und schloss die Klappe wieder.
Dann drückte sie Betrüger-Schorschi den Diamanten in die Hand und sagte: „Die Suppe kochst du mir, wenn wir diese Sache hinter uns haben! - Und jetzt spring auf meine Beine, bevor sie der Wüstensand verdorren lässt!“
Betrüger-Schorschi schossen Tränen in die Augen.
Die Flupppuppe ließ ihn nicht im Stich! Die Flupppuppe half ihm, obwohl er ihr keine Suppe gekocht hatte! Die Flupppuppe war die selbstloseste Person, die er kannte!
Sie war der Gipfel!
Die Flupppuppe flog nahe zu ihm heran, Betrüger-Schorschi umfasste ihre Beine mit seinen geschwollenen Händen und zog sich mit letzter Kraft zu ihnen hinauf.
Endlich war sein Teil der Aufgabe erfüllt, und alles würde gut werden!
Er verstaute den Blauen Diamanten in dem Beutel des Druiden und hängte ihn sich quer über die Schulter. Dann legte er sich auf die Beine der Flupppuppe und schlief unbesorgt ein.
Die Flupppuppe aber, als würde sie ihre schwere Last an den Beinen nicht spüren, schwang sich leicht wie ein Vogel empor, streckte ihre Beine durch und flog in Windeseile dem Kesselberg entgegen.
Nach etwa drei Stunden erwachte Betrüger-Schorschi aus einem tiefen, traumlosen Schlaf. Er konnte immer noch nicht die Augen öffnen. Vorsichtig tastete er mit den Händen nach seinen Lidern. Sie waren noch dicker geworden, aber er hatte den Eindruck, dass sich das Gift allmählich verteilte.
„Wie spät ist es, Flupppuppe?“, fragte Betrüger-Schorschi.
„Genau eine Stunde nach Mittag“, sagte die Flupppuppe und zog gemächlich ihre Kreise.
„Eine Stunde nach Mittag!“, sagte Betrüger-Schorschi bestürzt. „Dann sind es nur noch zwei Stunden, bis der letzte Bewohner des Blauen Gebirges stirbt! Flupppuppe, warum fliegst du nicht schneller?“
„Morgenstund hat Gold im Mund.“
„Für Sprichwörter haben wir im Moment keine Zeit“, sagte Betrüger-Schorschi. „Wenn du bis zum nächsten Morgen wartest, sind hier alle tot!“
„Angst verleiht Flügel“, sagte die Flupppuppe. „Wenn du willst, kannst du alleine fliegen.“
Sie senkte ihre Beine gefährlich weit nach unten, und Betrüger-Schorschi klammerte sich verzweifelt an ihnen fest, um nicht in die Tiefe zu fallen.
„Ich habe nur einen schlechten Witz gemacht“, beeilte sich Betrüger-Schorschi zu sagen. „Natürlich haben wir Zeit für Sprichwörter.“
Die Puppe brachte ihre Beine wieder in die Horizontale.
„Wie wäre es zum Beispiel mit ‚Arbeiten im Lande ist besser als in der Wüste beten’?“
„Veraltet“, sagte die Puppe.
„Bäume wachsen nicht in den Himmel“, versuchte Betrüger-Schorschi die Flupppuppe bei Laune zu halten.
„Na und?“
„Vier Augen sehen mehr als zwei!“
„Stimmt“, sagte die Puppe und wippte gefährlich mit den Beinen.
„Dem Glücklichen schlägt keine Stunde“, sagte Betrüger-Schorschi. „Den Unglücklichen beißen dafür die Hunde!“
„Den Letzten“, korrigierte die Flupppuppe.
„Den Letzten“, wiederholte Betrüger-Schorschi.
„Des einen Leid ist des anderen Freud“, sagte die Flupppuppe.
„Ja“, sagte Betrüger-Schorschi. „Aber weißt du, was jetzt schön wäre? Wenn Glaube wirklich Berge versetzen könnte!“
„Kann er doch“, sagte die Flupppuppe unbekümmert.
„Glaubst du das wirklich?“, fragte Betrüger-Schorschi. „Dann versetze doch bitte den Kesselberg hier her!“
„Nicht nötig“, sagte die Flupppuppe. „Da vorne ist er schon! Nur noch zehn Flugmeilen entfernt.“
„Zwei Ohren glaubt man weniger als einem Auge“, sagte Betrüger-Schorschi und versuchte vergeblich seine Augen zu öffnen. „Wie ist es möglich, dass wir schon fast da sind? Du fliegst doch die ganze Zeit fast nur auf der Stelle!“
„Alte Liebe rostet nicht“, sagte die Flupppuppe.
Betrüger-Schorschi schwieg verwirrt. Die Flupppuppe war unergründlich. Er wusste nie, woran er bei ihr war.
Eigentlich hätte er es für unmöglich gehalten, mit der Flupppuppe in so kurzer Zeit zum Kesselberg zu fliegen. Aber vielleicht hatte er die Entfernung überschätzt? Oder die Flupppuppe flog die ganze Zeit sehr schnell, ohne, dass er es bemerkt hatte? Vielleicht hatte sie das mit dem Kesselberg aber auch nur erfunden, um ihn zu beruhigen?
Nun, in spätestens zwei Stunden würde er wissen, ob sie die Wahrheit gesagt hatte oder nicht. Er konnte ohnehin nichts anderes tun, als abzuwarten.
Nervös tastete er nach dem Blauen Diamanten. Kühl und kantig spürte er ihn durch den Beutel hindurch. Ob außer dem Druiden wohl schon alle gestorben waren? Immerhin hörte er außer den im Wind flatternden Bändern der Flupppuppen-Fliegermütze kein Geräusch. Kein Flügelschlagen, kein Krächzen oder Pfeifen von vorbeifliegenden Vögeln, und erst recht keine entfernten Motoren- oder Propellergeräusche. Selbst hier, in dieser luftigen Höhe, glaubte er vor allem den Tod und seine Stille wahr zu nehmen.
Es war merkwürdig. Bis vor wenigen Tagen waren ihm die Bewohner dieses Landes noch völlig gleichgültig gewesen. Und trotzdem war ihm jetzt die Vorstellung, dass in der kurzen Zeit fast alle Bewohner gestorben waren, schrecklich.
Aber er durfte sich nicht mit störenden Gefühlen aufhalten, sondern musste sich auf das Kommende konzentrieren. Er würde die Bewohner retten, und sei es auch nur, um den Üpsiolanern mit ihren lächerlichen Zukunftsprognosen ein Schnippchen zu schlagen!
Er hatte den Blauen Diamanten, und er hatte die Flupppuppe! Gemeinsam würden sie die Bewohner wieder zum Leben erwecken!
Betrüger-Schorschi richtete sich auf und saß zum ersten Mal seit langem wieder aufrecht auf den Beinen der Flupppuppe. Es war ein gutes Gefühl. Er war Betrüger-Schorschi! Flugbegleiter der Flupppuppe und Retter des Blauen Gebirges!
Voller Stolz sang er das Flupppuppenlied:
Ich bin die tolle Puppe,
nur mit mir gibt’s Suppe.
Bist du mal alleine,
dann rufe meine Beine:
Meine zarten, schlanken
prallen Hinterpranken
Zick zack zong
ohne Gong!
Ich bin die tolle Puppe
Nur mit mir gibt’s Suppe.
Ich helfe immer allen,
den Menschen und den Quallen.
Doch wenn du meine Beine stichst,
dann helfe ich dir nicht.
Denn ohne Beine,
bin ich keine.
Ich bin die tolle Puppe
Nur mit mir gibt’s Suppe.
Bist du in großer Not,
ich bring’ es dir ins Lot:
Mit meinen zarten, schlanken
flugsichren Hinterpranken
Zick zack zong
ohne Gong!
Ich bin die tolle Puppe
nur mit mir gibt’s Suppe
seit heut’ ist auch mein Freund dabei
mit ihm gibt’s Ruhm und Geld wie Heu,
ich trage ihn jetzt übern Berg,
zu Abenteuern, Kind und Zwerg
auf meinen zarten, schlanken,
prallen Hinterpranken
Zick zack zong
ohne Gong!
Nach der letzten Strophe schüttelte Betrüger-Schorschi unzufrieden den Kopf. Nein, diese Strophe konnte unmöglich so bleiben. Zwar war er hier schon zu Ruhm gekommen. Zwar hatte er inzwischen einige Abenteuer erlebt, bei dem sogar ein Kind eine große Rolle gespielt hatte, und Zwerge hatte er auf der Straße des Triumphes vor dem Kesselberg auch gesehen. Aber irgendwie war diese Strophe trotzdem nicht richtig. Er musste sich eine neue überlegen. Eine Strophe, die die Wirklichkeit, wie er sie erlebt hatte, erzählte. Zum Beispiel diese hier:
Ich bin die tolle Puppe
nur mit mir gibt’s Suppe
mein Freund kommt nun auch immer mit
den finden hier wohl alle chic,
er ist der Retter dieses Landes,
hilft Menschen, Monstern, Schwämmen jeden Standes
ich bringe ihn jetzt zu dem Blut
und dann wird alles wieder gut.
Zick zack zong
ohne Gong!
Betrüger-Schorschi nickte zufrieden und sang die Strophe nochmals aus vollem Halse. Er sang so laut, dass er gar nicht hörte, wie plötzlich mehrere, riesige Vögel neben ihnen flogen. Es waren Vögel mit nackten, sehnigen Hälsen, großen, kräftigen Schnäbeln und messerscharfen Krallen. Hungrig schauten sie auf Betrüger-Schorschi und schienen es zu bedauern, dass er noch lebte.
Die Riesen-Geier flogen nun von allen Seiten herbei und begleiteten die Flupppuppe und Betrüger-Schorschi zum Kesselberg. Dort angekommen, setzten sie sich nebeneinander auf den Kraterrand des Berges und reckten ihre Köpfe in die Tiefe. Sie warteten darauf, dass der Druide endlich zu Papier werden und ihnen das riesige, fleischige Herz überlassen würde.
Die Flupppuppe ließ sich von den Geiern nicht beeindrucken. Sie flog, als ob die Vögel Luft wären, erst neben ihnen her und dann zwischen ihnen hindurch in den Krater hinein. Langsam, aber sicher schraubte sie sich nach unten zum Herzkessel.