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Rossipottis Leibspeise
und andere Lieblingsbücher
Rossipottis Leibspeise
Lieblingsbuch
vorgestellt von Helma Hörath
* * *
James und der Riesenpfirsich
"Kinderbücher und Phantasie gehören zusammen wie
Fisch und Gräte", sagt Rossipotti, beißt genussvoll
in das Buch James und der Riesenpfirsich und zieht kurz darauf
einen langen, dicken Holzsplitter aus dem Maul. Er hält ihn
triumphierend in die Höhe und sagt: "Sieh mal, ein Stück
vom Pfirsich-Stil!"
"Erstaunlich", pflichte ich Rossipotti bei. "Aber
ich gebe dir trotzdem nicht recht: Fisch ohne Gräten gibt es
nicht, Kinderbücher ohne Phantasie schon."
"Falls du dabei an realistische Kinderbücher denkst,
bist du auf dem Holzweg", sagt Rossipotti. "Auch die brauchen
Phantasie. Zumindest dann, wenn sie den Figuren und Szenen Leben
einhauchen wollen!"
"Die meine ich gar nicht", sage ich, "sondern die
vielen Kinderbücher, die ohne Vorstellungskraft geschrieben
sind. Bücher, die ihre Einfälle irgendwo zusammen stehlen,
sie neu verpacken und ansonsten Dinge erzählen, die niemanden
interessieren!"
"Ach so", sagt Rossipotti und gähnt. "Die meinst
du. Schrottbücher."
"Schrottbücher?" frage ich erstaunt.
"Ja", sagt Rossipotti, "Schrottbücher sind
keine echten Kinderbücher. Sie tarnen sich nur mit kindgerechten
Buchdeckeln und haben Klappentexte, die Kindern das Maul wässrig
machen."
"Und warum machen sie das?" frage ich.
Manchmal macht es mir Spaß, den abwegigen, phantastischen
Gedankengängen Rossipottis zu folgen. Auch wenn mir dabei die
Gräten zu Berge stehen.
"Keine Ahnung", sagt Rossipotti. "Die Verleger der
Schrottbücher behaupten zwar, dass Kinder am liebsten Schrottbücher
lesen. Aber das ist natürlich Quatsch! Wer liest schon gerne
Drachus in Gefahr, Knutschi im Ferienlager, Liebe
meinen Biss oder Probba, das arme Waisenkind?"
"Viele!" sage ich überzeugt und denke an Palmina
Löffelstiels Freundinnen, die sich gerne genau solche Bücher
gegenseitig ausleihen.
"Pah!" sagt Rossipotti. "Wenn man ihnen echte Kinderbücher
geben würde, würden sie die Schrottbücher links liegen
lassen."
"Deine Schrottbuchverschwörung ist doch völliger
Humbug!" sage ich, jetzt doch ein wenig genervt. "Wenn
Kinderbücher tatsächlich genauso gern gelesen werden wie
Schrottbücher, könnten die Verleger doch gleich Kinderbücher
verkaufen. Hauptsache sie verdienen Geld damit."
"Eben!" sagt Rossipotti. "Genau deshalb frage ich
mich ja auch, warum es die ganzen Schrottbücher gibt?! Vielleicht
sind die Verleger und Vermittler ja Mitglieder einer großen,
heimlichen Anti-Aufklärungs-Kampagne, die verhindern will,
dass Kinder schlau, phantasievoll und aufgeweckt werden?"
"Blödsinn!"
"Selbst wenn", sagt Rossipotti. "Dann ist es eben
so, dass heute die falschen Leute am falschen Ort sitzen und die
Schrottbuchverschwörer einfach einen sagenhaft schlechten oder
langweiligen Geschmack haben!"
"Das wird mir allmählich alles zu abwegig und schrullig",
sage ich und versuche, Rossipotti ohne Umwege wieder auf die richtige
Bahn zu lenken. "Kümmern wir uns jetzt lieber um Kinderbücher
und lassen die Schrottbücher einfach Schrottbücher sein.
Thema der Ausgabe ist übrigens Fantasy gegen Phantasie.
Und nicht Schrottbuch gegen Kinderbuch."
"Was tatsächlich auch ein interessantes Thema wäre",
sagt Rossipotti und beißt noch ein großes Stück
aus dem Buch James und der Riesenpfirsich ab. "Das hier
ist auf jeden Fall ein erstaunlich saftiges Kinderbuch!"
"Sollten wir es dann nicht gleich vorstellen?" versuche
ich Rossipotti festzunageln.
"Natürlich", sagt Rossipotti. "Es ist zwar
sicher nicht das beste oder spannendste Buch von Roald Dahl. Dafür
enthält es aber die wichtigsten Elemente eines richtigen, phantastischen
Kinderbuchs."
"Welche denn?" frage ich brav, damit Rossipotti nicht
wieder auf gedankliche Abwege kommt.
"Zum Beispiel, dass der Junge James in seinem traurigen, grauen
Alltag mit seinen bitterbösen Tanten plötzlich einen magischen
Gegenstand bekommt", erklärt Rossipotti.
"Denkst du dabei an diese grün-glitzernden Krokodilszungen,
die James von einem merkwürdigen alten Mann geschenkt bekommt?"
unterbreche ich.
"Ja, genau", nickt Rossipotti und fährt mit seiner
Erklärung fort: "Ein anderes phantastisches Merkmal ist,
dass um James plötzlich seltsame, unerklärliche Dinge
geschehen ..."
"Wie die Verwandlung des Pfirsichs in einen Riesenpfirsich",
überlege ich. "Oder die Verwandlung von Marienkäfer,
Seidenraupe, Spinne, Heuschrecke, Tausendfüßler und Regenwurm
in kindgroße, menschensprechende Wesen?"
"Richtig", sagt Rossipotti. "Phantastisch ist aber
auch, dass sich die Perspektive und Wahrnehmung auf die Dinge völlig
ändert ... "
"Damit meinst du sicher die Luftreise mit dem fliegenden Pfirsich
und die sagenhafte Ankunft der Freunde in New York?"
"Ja, unter anderem", stimmt Rossipotti zu. "Nicht
zuletzt ist James und der Riesenpfirsich aber ein richtig
echtes phantastisches Kinderbuch, weil darin die Einbildungskraft
die Umwelt von James so verändert, dass dadurch nichts mehr
ist, wie es einmal war. Ohne Phantasie keine Veränderung, das
ist das, woran die phantastische Erzählung glaubt. Und mit
ihr James und sehr wahrscheinlich auch sein Erfinder Roald Dahl."
Roald Dahl: James und der Riesenpfirsich. Mit
Illustrationen von Quentin Blake. Aus dem Englischen von Inge M.
Artl. Rowohlt Taschenbuch Verlag. Reinbek bei Hamburg 2009.
* * *
Eragon. Das Vermächtnis der Drachenreiter
"Weil der Pfirsich so gut geschmeckt hat, stellen wir jetzt
alle anderen Bücher von Roald Dahl vor!" sagt Rossipotti:
"Hexen hexen, Matilda, Der fantastische Mr.
Fox, Sophiechen und der Riese, Charlie und die Schokoladenfabrik,
Die Zwicks stehen Kopf ..."
"Tolle Idee!" stelle ich fest und tippe gleich Hexen,
hexen auf den Bildschirm.
"Stopp!" ruft Rossipotti. "Du musst sagen, dass
wir auf keinen Fall noch ein Buch von Dahl vorstellen können!"
"Warum das denn?"
"Damit ich Roald Dahl gegen dich verteidigen kann!"
"Von mir aus kannst du alle seine Bücher vorstellen",
sage ich. "Es gibt wirklich wenige Autoren, die so phantastische
Kinderbücher schreiben oder geschrieben haben wie Dahl."
"He!" sagt Rossipotti entsetzt. "Das ist mein Text!
Du kannst doch nicht einfach meinen Text sagen?!"
"Warum nicht?" frage ich. "Hast du nicht vorhin
selbst gesagt, dass Phantasie die Dinge verändern kann? Als
allererstes die gewohnte Perspektive?"
"Aber damit habe ich doch nicht dich gemeint!" grunzt
Rossipotti. "Was brauchst du einen Perspektivwechsel? Du hast
überhaupt keine böse Tanten, vor denen du dich retten
musst!"
"Dafür ein Krokodil, das mir jeden Moment den Kopf abbeißt",
sage ich.
"Welchen Kopf?!" sagt Rossipotti.
Rossipotti fegt wütend mit dem Schwanz einige Bücher vom
Tisch.
"Tobe so viel wie du willst", sage ich und versuche mich
nicht über die Beleidigung Rossipottis zu ärgern. "Ich
gebe mich auf keinen Fall her, den Dahl-Verhinderer zu spielen."
"Dann eben den Lewis Carrol Verhinderer!" grunzt Rossipotti.
"Vergiss es!"
"Dann spiele wenigstens den James Matthew Barrie Gegner!"
sagt Rossipotti wütend.
"Dafür ist sein Peter Pan viel zu gut!" sage
ich.
"Artemis Fowl?"
Ich schüttle überlegen den Kopf.
"Du Schuft!" sagt Rossipotti. "Du verweigerst dich
so lange, bis nichts Gutes mehr übrig bleibt! Am Ende müssen
wir noch Gabilein im Häschenwald vorstellen. Und alles
nur, weil du so bockig bist!"
"Versuchs doch einfach mal mit meiner Perspektive", sage
ich. "Dann werden wir uns sicher schneller einig."
"Pah!" macht Rossipotti. "Das wird nichts Halbes
und nichts Ganzes."
Ungeduldig klopft er mit dem Schwanz auf das Sofa.
Nachdem ich eine Weile nichts sage, funkelt er mich wütend
an und sagt: "Also gut, mein Herr und Meister. Ich höre:
Was sollen wir als nächstes vorstellen?"
"Eragon!" sage ich spontan.
Wahrscheinlich hat mich Rossipottis schuppige Haut dazu inspiriert.
"Eragon?" faucht Rossipotti. "Aber das ist
ja gar keine phantastische Erzählung, sondern Fantasy!"
"Na und?" sage ich. "Wollten wir hier nicht auch
Fantasy vorstellen?!"
"Aber doch nicht so!" sagt Rossipotti. "Sondern
jeder mit seiner gewohnten Sichtweise!"
"Dann musst du dir dieses Mal einen anderen suchen, mit dem
du Bücher vorstellen kannst."
"Gemeiner Erpresser!" sagt Rossipotti. "Aber gut.
Ich stelle mich dem Kampf. Welche Waffe benützt du?"
"Meinen Verstand!"
"Ich ziehe bei Fantasy lieber das Gefühl vor",
sagt Rossipotti.
"Gut", sage ich. "Bist du bereit?"
Rossipotti nickt.
"Eragon ist ein lausiges Stück Literatur",
werfe ich Rossipotti gleich mein erstes Argument an den Kopf. "Falls
es nicht an der Übersetzung liegt, ist allein schon die Sprache
so unbeholfen und billig, dass man das Buch nach den ersten Seiten
in die Ecke schleudern will ... "
"Halt, stopp!" sagt Rossipotti und reibt sich den Kopf.
"Bevor wir wirklich beginnen, muss ich gestehen, dass ich nur
das erste Buch aus der Eragon-Reihe gelesen habe. Ich kann
also auch nur das erste verteidigen!"
"In Ordnung", sage ich. "Dann nur das erste Buch.
Umso besser. Gleich am Anfang des ersten Buchs gibt es nämlich
eine Stelle, die einem zeigt, wie wenig Vorstellungskraft der Autor
hat."
Ich ziehe das Buch Eragon. Das Vermächtnis der Drachenreiter
unter einem Bücherstapel hervor und lese auf Seite fünfzehn
Rossipotti vor: "Auf dem ersten Pferd saß ein Elf
mit spitzen Ohren und elegant geschwungenen Augenbrauen. Sein Körper
war gertenschlank, aber kräftig wie ein Degen. Ein mächtiger
Bogen war auf seinem Rücken befestigt. An einer Seite hing
ein Schwert, an der anderen ein Köcher voller weiß gefiederter
Pfeile.
Der hintere Reiter hatte dieselbe helle Haut und dieselben länglichen
Gesichtszüge wie der andere."
Ich sehe Rossipotti auffordernd an, aber das Krokodil winkt
nur ab.
"Ich weiß, was du meinst", sagt Rossipotti. "Dieselben
länglichen Gesichtszüge wie der andere, obwohl
die Gesichtszüge des anderen davor überhaupt nicht beschrieben
wurden! In dem Buch wird ja überhaupt nichts richtig beschrieben,
sondern nur angedeutet ..."
"Das gilt nicht!" fahre ich Rossipotti in die Parade.
"Du klaust meine Waffe. Das verstößt gegen die Kampfregeln."
"Dann lass mich ausreden", pariert Rossipotti. "Und
du wirst sehen, dass ich nicht deine Meinung teile. Denn wozu soll
der Autor Paolini etwas beschreiben, wenn sich jeder seine eigene
Vorstellungen von den Figuren machen kann?"
"So ein Quatsch", rufe ich kampfeslustig. "Wenn
Paolini nichts beschreiben will, kann er es doch gleich ganz lassen."
"Falsch", sagt Rossipotti. "In Eragon überbrückt
das Gefühl die Lücke, die dem Verstand nicht genügt.
Und deshalb wirst du das Buch auch nie verstehen, wenn du es nicht
mit dem Gefühl begreifen kannst."
"Ein übles Totschlag-Argument", sage ich. "Über
Geschmack lässt sich nicht streiten, fertig."
"Wieder falsch", sagt Rossipotti und ich merke, wie er
es genießt, allmählich wieder die Oberhand zu gewinnen.
"Ich glaube nur, dass Paolini es gar nicht nötig hat,
seine Figuren und Szenen detailliert zu beschreiben, weil seine
Leser schon so viele Fantasy-Bücher, -Filme oder -Spiele
gesehen haben, dass Andeutungen genügen, um einen ganzen Film
vor dem inneren Auge ablaufen lassen zu können."
"Ach, und die völlig lasche Handlung, in der es nur darum
geht, dass ein Bauernjunge ein Drachenei findet und deshalb verfolgt
wird, sich in einer stumpfsinnigen und furchtbar langweiligen Irrreise
durch das Land kämpft und ohne jeden ersichtlichen Grund zum
Helden wird - diese farblose Kulisse reicht auch aus, um im Kopf
der Leser einen viel spannenderen Film ablaufen zu lassen?"
greife ich zielsicher Rossipotti an.
"Nein", macht Rossipotti tatsächlich kurz einen
Rückzieher, führt aber gleich darauf einen nächsten
Stoß aus: "Aber die Handlung reicht aus, um sich den
Leser gut fühlen zu lassen."
"Wie das?" frage ich erstaunt und vergesse dabei, in
Deckung zu gehen.
"Der Leser wird wie Eragon zum Auserwählten, der eine
schwierige Prüfung besteht", erklärt Rossipotti und
drängt mich rückwärts. "Übrigens ist das
ein sehr häufiges Handlungsmotiv in Fantasy und ..."
"Ich weiß, ich weiß", springe ich an Rossipotti
vorbei und gewinne ein paar Meter Luft zwischen uns. "Aber
im Unterschied zu manch anderen Fantasy-Romanen, in denen
der Auserwählte die Gesellschaft vor dem Bösen retten
muss, muss Eragon im ersten Buch, das immerhin auch über 700
Seiten dick ist, nichts anderes machen, als einen Drachen auszubrüten
und ihn vor den Bösen zu verstecken! Die Rettung der Gesellschaft
oder verschiedener Kulturen ist dabei völlige Nebensache oder
nur Schmuckwerk!"
"Aber das ist doch gerade das Tolle!" ruft Rossipotti
und versetzt mir überraschend einen gewaltigen Stoß.
"Eragon kann sich ganz auf seinen Status als Auserwählter
konzentrieren. Hin und wieder muss er zwar ein bisschen kämpfen
und sich das Gerede seines Lehrers und Begleiters anhören,
aber ansonsten kann er sich ganz seinem Heldentum hingeben. Kannst
du dir etwas Erregenders vorstellen?"
"Siehst du nicht, dass es genau das ist, was das Buch so hohl
macht?!" versuche ich Rossipotti direkt ins Herz zu treffen.
"Die ganze Reise mit ihren unterschiedlichen Schauplätzen
und Personen haben in dem Buch keinerlei eigene Bedeutung mehr.
Das wird nur so gemacht, weil Fantasy das eben so macht.
Selbst Eragons Lehrer, der ihm den Sinn seiner Prüfung erklärt
und ihn als Drachenreiter einweist, ist nichts anderes als ein Versatzstück
anderer, viel größerer Werke. Aber es wird nicht klug
zitiert, sondern ohne Sinn und Verstand zusammen geklebt! In Eragon
wird eben keine eigenständige, phantastische Welt entwickelt,
sondern nur das Klischee davon. Außerdem gibt es kein echtes
Problem und die Problemlösung bezieht sich nur auf Eragon selbst."
"Wie gesagt: Großartig!" sagt Rossipotti und entwaffnet
mich dadurch mit einem Schlag."Ein Fantasy Buch, das
nur dazu gemacht ist, dem Egotrip jedes Lesers zu schmeicheln! Will
nicht jeder irgendwie auserwählt oder etwas Besonderes sein?
Und das auch noch, ohne wirklich etwas dafür tun zu müssen?
Geh in den Wald, finde einen Stein und sei etwas Besonderes! Toll!"
"Das meinst du doch nicht ernst?"
Ohne Waffe in der Hand, versuche ich, Rossipotti wenigstens noch
mit List und Verstand in einen Hinterhalt locken zu können.
"Natürlich meine ich es ernst", sagt Rossipotti.
"Eragon ist ein Roman, der die natürlichen Bedürfnisse
des Menschen befriedigt. Allen voran Jugendlichen, die sich ihren
eigenen Platz in der Gesellschaft erst noch erkämpfen müssen."
"Und du hast kein Problem damit, dass das nur Trostlektüre
ist und überhaupt nicht alltagstauglich?" frage ich fassungslos.
"Eragon lässt sich doch überhaupt nicht in
die Wirklichkeit übertragen. In ihrer realen Umgebung sind
die Jugendlichen genauso wenig heldenhaft wie davor!"
"Zum Glück!" sagt Rossipotti: "Stell dir vor,
draußen würden lauter auserwählte Drachenkämpfer
rumlaufen. Wäre das nicht furchtbar?"
"Allerdings", sage ich matt. "Übrigens hast
du den Kampf für Eragon gewonnen. Ich gebe es zwar nicht
gerne zu. Aber nach deiner letzten Bemerkung gebe ich mich gerne
geschlagen."
Christopher Paolini: Eragon. Das Vermächtnis
der Drachenreiter. cbj Verlag. München 2004.
* * *
Desperaux
"Wie wär's jetzt mit einer Revanche?" fragt Rossipotti
kampfeslustig. "Wieder mit getauschten Rollen: Ich als gefühlvoller
Fisch und du als gescheites Krokodil?"
"Hmpf!"
"Wie? Du machst doch jetzt noch nicht schlapp?" sagt
Rossipotti. "Von mir aus, darfst du auch noch ein Buch aussuchen."
"Wie gnädig!" sage ich und überlege, ob ich
nicht doch auf Rossipottis Angebot eingehen soll?
Wie wäre es zum Beispiel, wenn ich ein Buch aussuchen würde,
das wirklich toll ist und Rossipotti muss es dann gegen seinen Willen
verreißen? -
Ja, ich glaube, auf die Weise werde ich den Kampf gewinnen!
"Na, wie sieht's aus?" fragt Rossipotti und klopft mit
der Vorderpranke auf den Boden.
"O.K.", sage ich. "Ich mache noch einmal mit. Aber
du musst mit dem ersten Buchvorschlag, den ich mache, einverstanden
sein."
"Abgemacht", sagt Rossipotti und sieht mich wild und
herausfordernd an.
"Desperaux!" sage ich triumphierend.
Ich weiß, dass Despereaux eines von Rossipottis Lieblingsbüchern
ist und er wird es sehr schwer haben, ihm einen Hieb zu verpassen.
"Desperaux!" wiederholt Rossipotti überrascht.
"Ich dachte, wir kämpfen um Fantasy, nicht um phantastische
Romane!"
"Keine Ausrede", sage ich. "Der erste Vorschlag
gilt."
"Gut", sagt Rossipotti. "Der Verlierer beginnt."
Prima, denke ich, weil ich die vorige Kampfpartie um Eragon
verloren habe. Wenn ich jetzt mit Despereaux auch noch beginnen
darf, habe ich diese Partie schon so gut wie gewonnen.
Ich klicke mich am Computer heimlich zur elften Ausgabe unseres
Magazins, in der wir Edward Tulane vorgestellt haben, und
lese Rossipottis damalige Meinung zur Autorin des Buchs leise durch.
Lautstark gebe ich sie anschließend als meine eigene Meinung
aus:
"Es gibt nicht viele, die so schreiben wie Kate DiCamillo.
Sie spielt mit phantastischen Elementen ohne deshalb Fantasy-Romane
zu schreiben und lässt Tiere fühlen und sprechen wie Menschen, ohne
fabelartige Geschichten zu produzieren. Ihre Romane passen in keine
der gängigen Schubladen und wurden wohl nicht geschrieben, um irgendeine
Zielgruppe zu erreichen, sondern einfach nur deshalb, weil sie der
Autorin am Herzen liegen ..."
"Ich bin beeindruckt!" sagt Rossipotti. "Du spielst
meine Rolle wirklich gut!"
Meint Rossipotti das ernst oder hat er mich durchschaut? Erinnert
er sich womöglich noch an seinen Text? Und falls ja, werde
ich dann wegen unlauterer Tricks disqualifiziert?
"Aber", sagt Rossipotti gedehnt: "Dein Seitenhieb
auf Fantasy hat mir gar nicht gefallen."
'Puh', denke ich. 'Rossipotti hat von meiner List nichts bemerkt.'
"Was soll denn das für eine Auszeichnung sein, phantastisch
zu schreiben ohne Fantasy zu sein?" geht Rossipotti unerwartet
auf mich los. "Was hast du gegen Fantasy?"
"Ich?" frage ich und fühle mich plötzlich gegen
die Wand gedrückt. "Nichts, wenn es gut geschrieben und
spannend ist."
"Warum ziehst du es dann in den Schmutz?"
"Tu ich doch gar nicht", versuche ich unter Rossipottis
Spitze hindurch zu kriechen.
Aber wie? Ich kann Rossipotti doch nicht seine eigene Meinung um
die Ohren hauen, ohne mich der Schummelei schuldig zu machen?!
"Übrigens braucht Despereaux gar nicht die Abgrenzung
zu Fantasy, um selbst glänzen zu können",
fährt Rossipotti fort. "Weil es ein eigenständiges,
brilliantes Stück Kinderliteratur ist. Es ist aufregend, es
rührt, es erstaunt, es gruselt und es geht gut aus!"
"Diese Worte besagen gar nichts", rapple ich mich wieder
auf. "Sie könnten genauso gut auf einen schaurigen Kitschroman
zutreffen."
"Kitschroman!" ruft Rossipotti und greift sich pathetisch
ans Herz. "Wie kannst du Desperaux, die süße, mutige,
kleine Maus, die in die Prinzessin verliebt ist und ihr zuliebe
den Kampf mit der riesigen Ratte aus dem Kerker aufnimmt, als Figur
eines Kitschromans beleidigen? Dann ist sie doch eher Held eines
Ritterdramas: Als edler Ritter trotzt Desperaux allen Gefahren,
um die Ehre seiner Dame zu retten und ihren Sturz vom Thron durch
eine hinterhältige Magd zu verhindern!"
"Hör auf, hör auf!" sage ich. "Dein gefühlvolles
Geschwafle verdirbt den ganzen Roman!"
"Und was sagt dein heller Verstand zum Buch?" fragt Rossipotti.
"Bleibt bei vernünftiger Betrachtung überhaupt etwas
von Desperaux übrig?"
"Aber natürlich!" sage ich. "Desperaux
ist einmalig, weil Kate DiCamillo sich auf die Beschreibung des
Wesentlichen konzentriert und mit wenigen Strichen komplexe Charaktere,
Szenen und Beziehungen konstruiert. Außerdem ist das Buch
so spannend geschrieben, dass man von der ersten bis zur letzten
Zeile in Bann gezogen ist. Und viel mehr kann man von einem Buch
wirklich nicht erwarten."
Kate Di Camillo: Desperaux. Von einem, der auszog,
das Fürchten zu lernen. Mit Illustrationen von Timothy Basil
Ering. Aus dem Amerikanischen von Sabine Ludwig. dtv. München
2005.
* * *
Warrior Cats
"Das war gerade ein waschechtes Patt!" sagt Rossipotti.
"Es ist schön, einen so ebenbürtigen Kampfgegener
wie dich zu haben! Trotzdem steht es immer noch 2:1 für mich."
"Dann herzlichen Glückwunsch zu deinem Sieg", sage
ich. "Ich habe keine Lust mehr zu kämpfen. Mir ist es
zu anstrengend und irgendwie auch zu unfruchtbar. Es geht nur um
die eigene Überlegenheit und überhaupt nicht um Inhalte.
Ich gebe meine Waffe deshalb lieber ab und nehme gerne wieder meine
eigene Sichtweise ein."
"Schade", sagt Rossipotti. "Ich fand es ganz interessant,
aus deiner Perspektive für ein Buch zu kämpfen."
"Was dir aber nicht wirklich gelungen ist!" sage ich.
"Ich hätte weder Eragon über den Klee gelobt
nocht Desperaux als kitschigen Liebesroman vorgestellt."
"Habe ich das?" fragt Rossipotti und sieht mich scheel
an. "Als Krokodil hast du allerdings auch nicht die beste Figur
gemacht!"
"Krokodile sind mir einfach zu undurchschaubar", sage
ich. "Dann schon lieber Katzen."
"Katzen fressen auch Fisch", sagt Rossipotti. "Und
sie sind nicht mal Wassertiere."
"Dafür haben sie ein Fell", sage ich, "Und
sie haben lange, rauhe Zungen, mit denen sie ihr Fell putzen können.
Kannst du dir vorstellen, mir die Zunge zu geben?"
"Dir was zu geben?" fragt Rossipotti und sieht
mich entsetzt an.
"Die Zunge!" sage ich. "So heißt das, wenn
Katzen sich gegenseitig putzen."
"Wo hast du denn das gehört?" grunzt Rossipotti.
"Etwa im Katzenclub?"
"So ähnlich", sage ich. "Im Katzenclan."
"Als leckerer Fisch bist du da sicher willkommen?"
"Nicht direkt", sage ich gedehnt. "Nur als lesender
Zaungast von Warrior Cats."
"Warrior Cats?" fragt Rossipotti interessiert.
"Ist das ein Buch über einen Katzenclan?"
"Nicht nur ein Buch, sondern eine ganze Buchreihe", sage
ich. "Warrior Cats liegt übrigens stapelweise in
jedem Buchladen."
"In der Sach-, Schrott- oder Kinderbuchabteilung?"
fragt Rossipotti.
"Kinderbuch natürlich!" sage ich. "Schrottbuch
sicher nicht, und Sachbuch auch nicht, weil Katzen in Wirklichkeit
gar nicht in Clans oder Rudeln leben, sondern Einzelgänger
sind."
"Dann ist Warrior Cats also auch kein realistisches,
sondern ein phantastisches Kinderbuch?" überlegt Rossipotti
und fragt weiter. "Fantasy oder Phantasie?"
"Ist das wichtig?" frage ich.
"Natürlich ist das wichtig!" sagt Rossipotti. "Ich
habe schließlich einen Kampf gegen Zorx, den Drachen, zu gewinnen.
Also: Spielt das Buch in einer von uns abgetrennten, unwirklichen
Welt oder in der Realität?"
"Eigentlich spielt es in unserer Wirklichkeit", sage
ich widerwillig. "Der Kater Feuerpfote, aus dessen Perspektive
die Geschichte erzählt wird, lebt zumindest am Anfang bei normalen
Menschen. Aber als Hauskatze Sammy ist es ihm zu langweilig und
er sehnt sich nach der Wildnis und dem freien Leben der Clankatzen.
Deshalb schließt er sich gerne dem DonnerClan an, als ihm
die Anführerin Blaustern anbietet, zu ihnen in den Wald zu
ziehen."
"Wenn der unrealistische Ort des Clans innerhalb unserer Wirklichkeit
angesiedelt ist, ist es ein phantastisches Kinderbuch",
stellt Rossipotti zufrieden fest.
"Mir kommt Warrior Cats trotzdem eher wie Fantasy
vor", widerspreche ich. " Erstens ist die Welt der Clan-Katzen
in sich ziemlich abgeschlossen und hat eigene Regeln und Möglichkeiten.
Und auch für den Leser spielt die reale Außenwelt fast
keine Rolle. Zweitens wird auch wie in anderen Fantasy-Geschichten
viel gekämpft und drittens gibt es Magie. Zum Beispiel erhalten
die Anführer der Clans mit Magie neun Leben."
"Dann ist es eben eine Mischform zwischen Fantasy und
Phantasie", beharrt Rossipotti.
"Interessierst du dich denn gar nicht für das Buch, sondern
nur für die Schublade, in die du es stecken kannst?" frage
ich wütend. "Dem Leser ist es doch völlig egal, ob
das Buch in die Kategorie Fantasy oder Phantasie gehört,
Hauptsache es ist gut! Und Warrior Cats ist gut! Phantastisch
gut, weil man sich vorstellen kann, dass es im Wald vor der Haustür
womöglich genau solche Katzen gibt und das auch den eigenen
Alltag irgendwie spannender macht. Fantasymäßig
gut, weil man als Leser ganz in die Welt der Katzen eintauchen und
mit ihnen durch den Wald und die Wiese streifen kann."
"Danke, dass du mich in meine Schranken gewiesen hast",
sagt Rossipotti und versucht möglichst geknickt auszusehen.
"Aber der Wettkampf mit Zorx macht mir ziemlich zu schaffen.
Ich brauche einfach mehr Punkte für Phantasie! Und dann gibt
es auch noch Grünwurm, der mich ständig drängt, dass
ich mehr in den Schubladen und Regeln der Bücherwürmer
denken solle."
"Grünwurm?" frage ich befremdet. "Bücherwürmer?
Was hast du denn mit denen zu schaffen?"
"Psst!" macht Rossipotti. "Das ist eigentlich ein
Geheimnis. Ich habe mich den Bücherwürmern angeschlossen,
um mal etwas anderes zu erleben! Stell dir vor, es gibt verschieden
Gruppen von Bücherwürmern, die sich bekämpfen und
sich das Lese-Futter gegenseitig wegschnappen."
"Das ist ja wie bei Warrior Cats!" stelle ich
fest. "Da gibt es auch verschiedene Clans: den DonnerClan,
in dem Feuerpfote und Blaustern sind, den FlussClan, den Sternen-,
Schatten- und den WindClan. Wie heißt denn dein Clan?"
"Wir sind die Schlangenwürmer!" sagt Rossipotti.
"Es gibt noch die Staubwürmer, Haubenwürmer, Dunkel-
und Fresswürmer. - Die Schlangenwürmer sind aber mit Abstand
die interessantesten. Sie haben am meisten Überblick, sind
am mutigsten und sind gleichzeitig sehr gerecht und friedlich."
"Wie der DonnerClan!" sage ich.
"Leider haben aber auch die Schlangenwürmer ihre engstirnigen
Regeln, die zumindest mir immer wieder Bauchschmerzen machen."
"Das geht Feuerpfote genauso", sage ich mitfühlend.
"Er wird auch immer wieder zurecht gewiesen. Ich finde das
öfters ungerecht. Aber insgesamt denke ich, dass es vor allem
die Regeln sind, die die Warrior-Reihe so spannend machen.
Weil es ohne Regeln keinen spannenden Regelbruch geben könnte."
"Du meinst, der Regelbruch ist das eigentlich spannende?"
fragt Rossipotti interessiert.
"Nur für den Leser", sage ich. "Für die
Figuren im Buch kann ein Regelbruch lebensbedrohlich werden. Vor
allem für den Regelbrecher. Zum Beispiel kann er aus der Gemeinschaft
ausgeschlossen oder sonst wie bestraft werden. Zumindest wird er
aber zurecht gewiesen."
"Und warum bricht Feuerpfote dann öfters die Regeln?"
"Nur aus der Not heraus", meine ich. "Wenn zum Beispiel
jemand in Gefahr schwebt oder dringend Hilfe braucht."
"Und wird er dann irgendwann rausgeschmissen?" fragt
Rossipotti interessiert.
"Nein", sage ich. "Weil Feuerpfote nur das Gute
will und nichts Böses tut, darf er bleiben."
"Feuerpfote ist also ein Held der alten Schule?" fragt
Rossipotti. "Einer, der noch das Gemeinwohl und nicht nur die
Erhöhung seiner eigenen Person im Blickfeld hat?"
"Genau", sage ich. "Aber im DonnerClan gibt es auch
Katzen, die nur an sich und ihre Interessen denken. Sie verstoßen
heimlich gegen die Regeln, dass es die Anführerin nicht merkt.
Und sie führen Böses im Schilde."
"Hört sich nach einem interessanten Buch an", sagt
Rossipotti. "Schade, dass bei uns niemand in Gefahr ist. Ich
hätte große Lust, ein guter Held zu werden."
"Gibt's zwischen den einzelnen Buchwurmgruppen keine Meinungsverschiedenheiten?"
frage ich erstaunt. "Keine Würmer, die sich für besser
halten, keine Würmer, die den anderen alles nachplappern und
wieder andere, die sich nie etwas zu sagen trauen?"
"Doch schon", sagt Rossipotti. "Aber wo liegt da
die Gefahr?"
"So etwas kann ganz schnell gefährlich werden",
sage ich. "Von einem Moment auf den anderen, kann die Stimmung
kippen und einer der Würmer kann in die Ecke gedrängt
und verletzt werden."
"Und du meinst, so eine Situation allein reicht aus, um die
Regeln brechen zu dürfen und ein Held zu werden?" fragt
Rossipotti.
"Natürlich!" sage ich. "Was kann es Heldenhafteres
geben, als sich für einen Schwächeren einzusetzen, obwohl
für einen selbst eigentlich keine Gefahr droht?"
Rossipotti sieht mich verwundert an, sagt aber kein Wort.
"Siehst du!" sage ich überzeugt. "Am besten
gehst du gleich zu deinen Schlangenwürmern und verteidigst
den schwächsten Wurm! Und wenn du dann wieder kommst, feiern
wir dich hier als Held!"
Erin Hunter: Warrior Cats. Aus dem Englischen
von Klaus Weiman. Beltz & Gelberg. Weinheim/Basel 2008.
* * *
Hüterin des Drachens
Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass ich so überzeugend
über Heldentum gesprochen habe, oder dass Rossipotti nur eine
Gelegenheit gesucht hat, sich zu verdrücken. Auf jeden Fall
hat er behauptet, gleich zu den Schlangenwürmern zu gehen,
um dort den Schwächeren hilfreich zur Seite zu stehen.
Jetzt ist es erstaunlich still in der Bibliothek und ich weiß
nicht, ob es einfach nur erholsam oder nicht doch auch ein bisschen
einsam ist?
Ich lasse meinen Blick über die Wände gleiten und bleibe
an einem chinesischen Bild hängen, das Rossipotti vor ein paar
Jahren von einem befreundeten Krokodil aus China geschickt bekommen
hat. Auf ihm ist ein gemalter Berg zu sehen, auf dessen Spitze ein
winzig kleines Gebäude steht. Der Berg selbst ragt ungeheuer
mächtig auf einer Ebene empor und an seine Hänge klammern
sich knorrige Bäumchen. Ob es in China wirklich so aussieht?
Das Bild interessiert mich plötzlich und ich nehme es von der
Wand, um es genauer betrachten zu können. Ich entdecke, dass
auf seiner Rückseite ein Brief an Rossipotti klebt. Die blaue
Tinte ist schon etwas ausgebleicht, aber noch gut zu lesen.
In der Regel bin ich eher diskret und mische mich nicht in die Angelegenheiten
anderer ein. Aber dieses eine Mal bin ich doch neugierig, was da
wohl geschrieben steht. Zum Glück ist der Brief nicht auf chinesisch,
sondern auf deutsch geschrieben:
Lieber Rossipotti, Krokodil, aus dem Land,
wo die Sonne untergeht,
sicher erinnerst du dich noch an diesen
mächtigen Berg, an dessen Fuße wir aus dem Gelben Fluss
mehrere orange-rote Fische angelten, um nach tagelanger Entbehrung
unseren unglaublichen Hunger zu stillen?
Der Hunger war es auch, der unseren Verstand benebelt hatte und
uns glauben machte, dass an uns in einem Boot ein Drachen und eine
Frau vorbei segelten. Zumindest dachten wir damals, dass wir uns
die beiden nur eingebildet hätten. Jetzt, nach mehr als fünf
Jahren, war ich wieder dort und habe mir die Mühe gemacht,
den Berg zu erklimmen, um zu sehen, was es mit dem Häuschen
auf dem Berg auf sich habe. Und stell dir vor, wen ich darin getroffen
habe: Die Frau und den Drachen!
Die Frau heißt Ping und ist die letzte Drachenhüterin
des Kaisers. Gemeinsam mit dem Drachen soll sie den Kaiser und das
Reich vor Feinden beschützen und sich um ein tugendhaftes Zusammenleben
der Bevölkerung kümmern!
Ich weiß, dass sich das alles ganz unglaublich anhört,
aber ich versichere dir bei meinen Schuppen, dass es wirklich stimmt.
Ich war drei Tage dort, so lange, bis Ping mir ihre phantastische
Geschichte vollständig erzählen konnten:
Ping ist schon mehr als zweihundert Jahre alt und hat als Mädchen
unter dem chinesischen Kaiser als Magd gearbeitet. Schon damals
hat der Kaiser nicht mehr an die Kraft der Drachen und Drachenhüter
geglaubt und wollte die Drachen sogar ausrotten. Ping hat das letzte
Drachenei mit Hilfe des letzten ausgewachsenen, sehr alten Drachen
vor dem Kaiser, dessen falschen Drachenhüter und bösen
Zauberern, die das Ei für ihre dunklen Magiekünste gebrauchen
wollten, in Sicherheit gebracht und ausgebrütet. Nachdem der
alte Drache Ping und den kleinen Drachen wegen Krankheit und Alter
verlassen musste, versteckte sie sich jahrelang mit dem kleinen
Drachen in Höhlen und lebte von der Welt völlig abgeschieden.
Als der Drache so groß war, dass er endlich fliegen konnte,
fanden sie das Häuschen auf der Bergspitze. Dort leben sie
seit vielen Jahrzehnten und warten darauf, dass ein neuer Kaiser
sich an den Drachen und seine Drachenhüterin erinnert!
Als ich ihr sagte, dass es in China schon lange keinen Kaiser mehr
gäbe, wurde sie wütend, drückte mir das Buch "Hüterin
der Drachen" in die Hand und sagte, dass ich dort den Anfang
ihrer Geschichte lesen und erfahren könnte, dass alles wahr
sei, was sie mir erzählte. Bevor der Drache geschlüpft
sei, habe sie mit dem alten Drachen schon viele Gefahren überstanden.
Außerdem habe er sie auch in vielen Drachendingen und Weisheiten
unterrichtet. Von ihm habe sie beispielsweise erfahren, dass alle
Wesen gleich viel wert seien, von der Ameise bis hin zum Kaiser.
Und sie habe gelernt, ihr Qi zu bündeln, um die unwahrscheinlichsten
Dinge zu erreichen.
Als ich ihr sagte, dass ich
das alles gar nicht bezweifle, dass der letzte Kaiser aber trotzdem
schon lange tot sei, schlug sie mir wütend die Tür vor
der Nase zu.
Natürlich habe ich das Buch gleich gelesen, sobald sich eine
Gelegenheit dazu fand. Die Geschichte über Pings Reise mit
dem alten Drachen hat mich sehr beeindruckt. Ping ist eine sehr
schlichte, aber aufrichtige Person. Und obwohl in dem Buch äußerlich
sehr viel passiert, verströmt es innerlich eine meditative
Ruhe. Ich habe viel über die Geschichte der Drachenhüter
und die Philosophie der Drachen erfahren. Auffallend wenig dagegen,
über das Ziel des Buchs, das den Leser am Ende völlig
allein lässt und tatsächlich nur geschrieben scheint,
um Pings Geschichte nicht zu vergessen. Und vielleicht ist es das
ja? Einfach nur ein Buch, das uns daran erinnern soll, dass wir
nur eine kleine Zeitspanne auf der Erde sind. Ping wird dagegen
so lange bleiben, bis sie den nächsten Kaiser von China, der
viele Jahrzehnte nach uns kommen wird, noch kennen lernen und ein
neues Zeitalter der Drachen beginnen kann. Je länger ich darüber
nachdenke, umso wahrscheinlicher wird mir der Gedanke. Ja, und sicher
wirst auch du mir zustimmen, dass eine neue Zeit der Drachen kommen
wird, sobald du das Buch, das ich dir diesem Gemälde beilege,
gelesen hast?...
'Wohl kaum!' denke ich und hänge den Brief samt Gemälde
wieder an die Wand, weil mir die Sache an dieser Stelle doch zu
abgedreht wird.
Trotzdem hat mich der Brief neugierig auf das Buch gemacht. Und
während ich warte, bis Rossipotti von seinen Schlangenwürmern
wieder kommt, suche ich mir das Buch Hüterin des Drachens
aus dem Regal und beginne es zu lesen.
Carole Wilkinson: Hüterin des Drachen. dtv
junior. München 2010.
* * *
Meisterfälscher
"Das hat wirklich gut getan!" platzt Rossipotti
in die Bibliothek und in meine meditative Stille.
"Bist du den schwachen Schlangenwürmern heldenhaft zur
Seite gestanden?" frage ich und klappe das Buch Hüterin
des Drachen zu.
"Das war gar nicht nötig!" sagt Rossipotti. "Denn
als ich ins Schlangewurm-Zentrum kam, war gerade die schönste
Schlacht gegen die Dunkelwürmern im Gange! Stell dir vor, irgendjemand
von den Dunkelwürmern hat unser Computersystem abstürzen
lassen!"
"Woher wisst ihr, dass es ausgerechnet die Dunkelwürmer
waren?" frage ich misstrauisch. Ich kann es nicht leiden, jemanden
aufs Geratewohl zu verurteilen.
"Weil die Dunkelwürmer im System einen Fußabdruck
hinterlassen haben", sagt Rossipotti. "Sie haben natürlich
alles abgestritten, aber die Beweislage ist erdrückend. Also
haben wir sie gleich in die Mangel genommen. Wir haben gegen sie
gewonnen und als Entschädigung für den Computerwurm haben
sie uns viele neue Bücher geschenkt."
"Vielleicht waren die Spuren gefälscht?!" vermute
ich. "Wer hinterlässt schon Fußspuren, wenn er anderen
bewusst schaden will?"
"Darüber habe ich mich auch gewundert", meint Rossipotti.
"Die Dunkelwürmer sind zwar unscheinbar, aber eigentlich
viel zu schlau, um ihre Spuren nicht zu verwischen. Andererseits:
Wer sollte ein Interesse daran haben, eine falsche Fährte zu
legen?"
"Jeder, der euch und den Dunkelwürmern schaden will",
sage ich.
"Mit den anderen Würmern haben wir zur Zeit ein Friedensabkommen",
sagt Rossipotti. "Ich glaube kaum, dass sie uns einen Wurm
ins System setzen."
"Dann hat jemand von euch selbst den Wurm ausgesetzt und die
Spuren von den Dunkelwürmern gefälscht, um sie zu verdächtigen",
sage ich.
"Was für einen Sinn sollte das denn machen?" fragt
Rossipotti.
"Immerhin habt ihr so von den Dunkelwürmern viele Bücher
bekommen", bemerke ich.
"Die Idee gefällt mir gar nicht", sagt Rossipotti.
"Aber man muss das Unmögliche denken können, wenn
man etwas Neues entdecken will."
"Wie die gemeine Intrige eines Schlangenwurms?" frage
ich.
"Ich denke eher an etwas anderes", sagt Rossipotti. "Vielleicht
war es gar keine böse Absicht, sondern nur die heimliche Tat
eines Schlangenwurms, der seine bisher unentdeckte Begabung als
malender Künstler demonstrieren wollte?"
"Wie der ausgezeichnet malende Käfer Marvin?" frage
ich. "Der das Werk von Albrecht Dürer fälscht und
mit Verbrechern zusammen arbeitet, nur, um sich als Künstler
ausleben zu können?"
"Du verdrehst ja die ganze Geschichte des Meisterfälschers!"
sagt Rossipotti. "Der hochbegabte Käfer Marvin hat das
Bild doch nur deshalb bis ins kleinste Detail kopiert und gefälscht,
weil er gedacht hat, dass er so den eigentlichen Diebstahl verhindert!"
"Ich weiß, ich weiß", sage ich. "Trotzdem
hat er jedes Mal eine unbändige Lust verspürt, das Werk
eines anderen zu kopieren, wenn ihn sein Freund, der Junge James,
ins Museum gebracht hat. Hätte er nicht lieber zu Hause bleiben
und dort eigene Werke zeichnen sollen?"
"Als Käfer hätte er dazu doch gar keine Chance gehabt!"
sagt Rossipotti. "Oder kannst du dir irgendjemand vorstellen,
der Marvin geglaubt hätte, dass er ein großer Künstler
ist?!"
"Nein", gebe ich zu. "Genauso wenig, wie ich mir
das übrigens bei einem deiner Schlangenwürmern vorstellen
kann."
"Aber genau deshalb ist das Buch Meisterfälscher
doch so außergewöhnlich", sagt Rossipotti. "Weil
es die gewöhnliche Vorstellungskraft übersteigt."
"Ich gebe dir ja recht", sage ich. "Der Meisterfälscher
ist sicher eines der wenigen neuen, phantastischen Bücher,
die eine Bereicherung für den Buchmarkt sind. Die meisten anderen
kann man eigentlich den Hasen geben."
"Oder den Schlangenwürmern!" zuckt Rossipotti bei
meiner letzten Bemerkung plötzlich zusammen. "Fisch! Du
hast mich gerade auf eine tolle Idee gebracht: Die Fußspuren
in unserem Computer waren doch nicht die Fälschung eines hochbegabten
Schlangenwurms, sondern wirklich von den Dunkelwürmern. Sie
haben ihre Spuren absichtlich nicht verwischt, damit wir sie entdecken!
Und sie haben nicht gut gekämpft, damit wir sie besiegen! Und
weißt du, warum sie das alles gemacht haben? Damit sie unsere
Regale mit ihren neuen, langweiligen Büchern vollstopfen können!
Ganz schön hinterhältig, was?! Und weißt du auch,
was der sichere Beweis für meine Theorie ist?: Der Meisterfälscher
war in ihrem Bücherstapel nicht dabei!"
Elise Broach: Meisterfälscher. Boje Verlag.
Köln 2009.
* * *
Miesel und der Kakerlakenzauber
"Irgend etwas fehlt", sagt Rossipotti und durchwühlt
ratlos seine Bücherstapel.
"Suchst du etwas Bestimmtes?" frage ich hilfsbereit.
"Ja", sagt Rossipotti. "Ich suche den ultimativen
Fantasy- oder Phantasie-Kick! Etwas, das allen Lesern
die Augen über phantastische Literatur öffnet und alle
Fragen danach beantwortet."
"Ach so", sage ich. "Du suchst den Buch-Gral. Ein
zündendes Werk, das alle erleuchtet. Aber so etwas gibt es
nicht. Das ist nur eine Jahrhunderte alte Phantasie oder ein Wunschtraum."
"Hat Albert nicht behauptet, dass er ihn gefunden hat?"
fragt Rossipotti.
"Albert hat den Unheiligen Gral von Fritz Leiber für
sich entdeckt", sage ich. "Ein gutes Buch, aber auch nicht
das, was du suchst."
"Trotzdem habe ich das Gefühl, die ganze Zeit an den
eigentlich wichtigen Büchern vorbei zu reden", sagt Rossipotti.
"Gibt es nicht Bücher, die sagenhaft sind und die wir
komplett vergessen haben?"
"Sicher", sage ich. "Wir hätten Dutzend andere
vorstellen könne. Der Herr der Ringe, Die Unendliche
Geschichte, die Mumin-Reihe, Teile der Scheibenwelt,
Eine Reihe betrüblicher Ereignisse, Schlimmes Ende
..."
"Die bekannten meine ich doch gar nicht", unterbricht
Rossipotti. "Es muss doch irgendwelche Geheimtipps geben,
wenigstens eine glänzende Perle unter den Massen von Büchern."
"Wahrscheinlich gibt es sie, aber wir haben sie nicht gefunden",
sage ich. "Zumindest unter den vielen Stapeln neuerer Bücher,
die wir in den letzten Monaten gelesen haben, war nichts dabei."
"Nichts dabei", wiederholt Rossipotti und sieht plötzlich
unglaublich müde aus. "Ist das nicht unfassbar? Dafür
haben wir manche Buchideen doppelt gelesen! Isabel Abedis Verbotene
Welt beispielsweise habe ich zwei Wochen davor in weitaus besserer
Ausführung in Ian Ogilvys Miesel und der Kakerlakenzauber
gelesen."
"So was kommt vor", sage ich. "Es gibt Ideen, die
fliegen plötzlich im Raum herum und jeder braucht nur nach
ihnen zu greifen. Da kann es durchaus Doppelungen geben."
"Dafür ist mir die Idee zu ähnlich", sagt
Rossipotti. "In beiden Büchern gibt es eine Spielzeugwelt,
in der geschrumpfte Menschen herum laufen. Beide Spielzeugwelten
wurden von einer durchgeknallten Person in einem verbotenem Raum
auf Tischen aufgebaut. Und bei beiden Büchern werden Kinder
klein geschrumpft, erleben in der Spielzeugwelt Gefahren und werden
nur in letzter Minute wieder entzaubert. Für mich sieht das
nicht nach wundersamer Ideenwolke aus, sondern nach uninspirierter
Abschreiberei!"
"Aber die Ausführung der Idee ist doch bei beiden ganz
anders", gebe ich zu Bedenken. "Isabel Abedis Geschichte
spielt in der Realität. Ihr böser Mann ist einfach ein
kranker, gelangweilter Mensch, der zufällig eine Fee in die
Hände bekommt, die ihm die ganzen Sehenswürdigkeiten der
Welt in den Keller zaubern muss. Bei Ogilvys ist die ganze Szenerie
phantastisch, skurril, komisch. Der Antiheld ist ein verrückter,
fieser Hexer, der auf dem Dachboden mit einer Spielzeugeisenbahn
spielt und sich selbst in eine Kakerlake verzaubern kann."
"Na und?" sagt Rossipotti. "Das ganze Ideengerüst
ist trotzdem gleich. Und dass Abedis Roman lasch mit einem Mondscheinkranken
motiviert ist, die Fee irgendwie aufgepfropft wirkt und das Ganze
in der Realität spielen soll, vertuscht trotzdem nicht, dass
Abedi die Idee von Ogilvy geklaut hat. Das glaube ich zumindest,
weil Abedis Buch zwei Jahre später als Miesel und der Kakerlakenzauber
erschienen ist. Und weil das Mieselbuch reiner, knapper,
geradliniger ist. Ogilvy hatte es offensichtlich nicht nötig,
den Ideenklau mit ermüdenden Ausschmückungen und Nebenschauplätzen
zu vertuschen, sondern kann sich auf die pure, witzige Idee konzentrieren."
"Wusstest du, dass es mehrere Mieselbücher gibt?"
versuche ich Rossipotti von Isabel Abedi abzulenken. Schließlich
kann die Autorin nichts dafür, dass sie nicht so gute Ideen
wie andere hat.
"Natürlich weiß ich das", sagt Rossipotti.
"Bis auf Band drei habe ich auch alle Mieselbücher
gelesen. Übrigens ist Miesel sicher auch nicht das von
mir gesuchte zündende Gralsbuch. Aber Miesel strahlt
trotzdem heller als viele anderen Bücher und es macht auf jeden
Fall Spaß, es zu lesen!"
Ian Ogilvy: Miesel und der Kakerlakenzauber.
Mit Illustrationen von Chris Mould. Aus dem Englischen von Cornelia
Krutz-Arnold. Ravensburger Verlag. Ravensburg 2005.
* * *
Lieblingsbuch
vorgestellt von Helma Hörath
Verfolgungsjagd mit Fantasie und Kreativität
Also, eigentlich, ja eigentlich sollte mein Manuskript schon soooooooooooooooooo
lange fertig auf dem Tisch liegen bzw. auf dem Bildschirm zu sehen
sein bzw. in der Ausgabe Nr. 23 zu finden sein bzw. von dir schon
lange gelesen worden sein bzw.bzw.bzw. Aber so ist es im Leben.
Manchmal liegt einem ein Thema nicht, selbst wenn man es noch so
interessant findet.
Damit man trotzdem etwas Gutes schreiben kann, fängt man an,
umfangreich zu lesen: Sachbücher, alte und neue Belletristik
für Kinder und Jugendliche. Und weil man ja noch nicht fertig
mit dem Lesen ist, kann man auch nicht mit dem Schreiben beginnen.
Sicherlich kennst du dieses Suchen nach Ausreden auch. Vielleicht
geht es dir manchmal auch so, wenn du einen Vortrag oder einen Hausaufsatz
ausarbeiten sollst. Man muss sich zwingen, den ersten Satz auf das
Papier oder auf das Display zu bringen. Das ist sehr schwer und
anstrengend.
Beim Überlegen wurde ich immer müde, so dass ich mich
erst einmal etwas ausruhen musste. Aber daraus wurde nichts. Denn
sie verfolgten mich. Bis in mein Bett und meine Träume kamen
sie mir nach, die Vampire, die Gestaltumwandler, die Werwölfe,
die Magier, die Hexen, die Drachen, die Untoten, die Herpien, die
Einhörner, die Gestalten aus der Spiegelwelt...
Dann stand Ostern unmittelbar bevor. Und in meiner Not beschloss
ich, die Fantasy-Bücher an meine Großnichten und Großneffen
(das sind die Kinder meines Neffen, des Sohnes meines Bruders) zu
verschenken. Hurra! Es funktionierte. Die Fantasy-Figuren ließen
mich sofort in Ruhe. Die Beschenkten freuten sich riesig.
Und so ist auch klar: Empfehlen kann ich dir alle "meine"
Bücher als packenden Lesestoff, auch wenn die Fantasy-Reihen
- um ehrlich zu sein - wohl nicht zu meiner Lieblingslektüre
aufsteigen werden.
* * *
Unheimliche Begegnungen auf Quittenquart
Quittenquart ist ein gelber, wenig abwechslungsreicher Planet.
Trotzdem wollen die grünen Außerirdischen etwas erleben.
Statt vor dem Fernseher zu sitzen, ziehen sie los, um anderen Außerirdischen
zu begegnen. Manche davon sind grauenhaft laut, manche grässlich
behaart, andere haben viel zu viele Augen. Aber auch wenn sie auf
den ersten Blick unheimlich aussehen: langweilig sind auf keinen
Fall!
Unheimliche Begegnungen auf Quittenquart ist eine Bilder-Geschichte,
die du sehr gut mit deinen kleinen Geschwistern ansehen und lesen
kannst. Es ist wenig Text, der auch wirklich für Vorschul-
und Vorlesekinder verfasst wurde. Es sind klare, sehr anregende
Bilder, mit denen man Expeditionen auf diesen unbekannten Stern
unternehmen kann. Und damit du ordentlich mitmischen kannst, erfinde
einfach einen neuen Bewohner dazu. Überlege dir: Wie sollte
er heißen, wie aussehen? Wo sollte er wohnen? Wer sollten
seine Freunde sein? Wie können wir Menschen mit ihm Kontakt
aufnehmen? Male ihn, beschreibe ihn. Und schon bist du nicht nur
Zaungast, sondern mittendrin in Quittenquart. Und da du den Zauberstift
der Fantasie in deinen Händen hältst, kann dir keiner
von den alten, unheimlichen Quittenquartern etwas anhaben.
Nadia Budde: Unheimliche Begegnungen auf Quittenquart.
Peter Hammer Verlag. Wuppertal 2010.
* * *
Joran Nordwind
Ich hätte bei den Quittenquartern auch aktiv mitmischen sollen,
anstatt mich von irgendwelchen durchsichtigen und zwielichtigen
Gestalten treiben zu lassen. Ja, ich hätte selbst aktiv werden
sollen. Ich aber hörte in der Nacht immerzu ein Knarren, ein
Wimmern, ein Flüstern ... Und so zog ich mir lieber die Decke
über den Kopf. Oder ich versteckte mich, manchmal im Schrank,
manchmal unter meinem Bett und erschreckte dort unseren Kater Felix,
der bisher diese Welt da unten für sich allein hatte. Aber
wäre das nicht auch eine Fantasy-Geschichte, wenn ich mich
mit unserem dicken, lieben Kater unter meinem Bett einrichten würde?
Vielleicht fällt dir dazu ein Gedicht oder ein Text in Prosa
ein. Es könnte natürlich auch eine Bildergeschichte werden.
In eine ganz andere, eben fantastische Welt kommst du, wenn du
dem Schmetterling Joran Nordwind folgst. Joran wird hinter das große
Steinerne Reich entführt, um dort als kleine, blaue Brosche
für die Käfer-Königin zu enden.
In dieser Fantasy-Geschichte leben nur seltsame Insekten, die zwar
ihre Insekteneigenschaften teilweise nicht vergessen haben, oft
aber auch wie Menschen handeln. Da gibt es beispielsweise einen
despotischen Käfer-König, der alle unterdrückt. Da
gibt es Falter-Diener und Minister, die dem Herrscher nach dem Munde
reden und dafür nicht nur einen besonderen Platz in der Nähe
des Throns einnehmen dürfen, sondern auch mit besonderen wohlschmeckenden
Speisen belohnt werden. Da gibt es aber sogar am Königshof
mutige Aufwiegler, die im Geheimen den Sturz des falschen Königs
und seiner hinterhältigen Offiziere vorbereiten. Als sich alle
vereinen, die Unterdrückten, die Ausgebeuteten, die Eingesperrten,
die nach Freiheit Strebenden, erst dann waren sie siegreich. Nach
dieser letzten, gewonnenen Schlacht konnten Joran Nordwind, die
anderen Käfer und Schmetterlingen durch die Wand des Wasserfalles
zurück in die sonnige Außenwelt gelangen.
Trotz des etwas merkwürdigen Insektenreiches ist die Handlung
spannend. Nicht selten vergisst man, dass alles nur Tiere sind.
Und dazu noch was für welche! Insekten und Würmer, die
manchem von uns in unserer Welt nur ein Igittigitt entlocken. Man
leidet mit ihnen, man freut sich mit ihnen. Aber es bleiben immer
Tiere, was sich in den beschriebenen Körperformen deutlich
abzeichnen, auch wenn ansonsten das Leben in diesem Fantasy-Reich
sehr menschlich anmutet.
Lilli Thal: Joran Nordwind. Illustrationen von
Einar Turkoswski. Gerstenberg Verlag. Hildesheim 2010.
* * *
Septimus Heap - Flyte
Dieses Buch handelt von schwarzen Zauberern und weißen Hexen.
Was das bedeutet, muss ich dir als geübten Fantasy-Fan sicherlich
nicht erklären. Für die anderen, die sich noch nicht so
gut auskennen, nur so viel: Es gibt gute und böse Zauberer,
gute und böse Hexen. Die böse Kategorie wird mit der Farbe
Schwarz und die andere mit der Farbe Weiß gekennzeichnet.
Um ein Ringen der weißen Hexen und Zauberer mit bösen
Dunkelmännern geht es im nächsten Buch.
Im Mittelpunkt stehen die Heaps, eine Familie der Guten in einem
selbstverständlich imaginären Land. Es gibt Familienmitglieder,
die sich lieben, und andere, die von Hass und Missgunst zerfressen
werden, die sich mit jedem schwarzen Zauberer verschwören,
um den Geschwistern und Eltern zu zeigen, was sie können. Und
doch scheitern sie. Wie im Märchen so siegt auch in dieser
spannenden Geschichte das Gute.
"Septimus Heap - Flyte" ist die zweite Veröffentlichung
in einer Reihe von bisher erschienen drei Geschichten. Ich habe
den ersten Band nicht gelesen und kam trotzdem ohne Schwierigkeiten
in die Handlung hinein. Leider habe ich erst am Ende gesehen, dass
auf den letzten Seiten des Buches eine Zusammenfassung über
das, was vorher geschah, zu lesen ist. Ich muss aber bekennen, dass
es mich nicht danach drängt, auch den dritten Band zu lesen.
Aber du solltest dir allein eine Meinung bilden, wenn ich dein Interesse
durch diese Zeilen geweckt haben sollte. Es kann durchaus sein,
dass du alle Seiten sozusagen "verschlingst" und der Fortsetzung
in den vorliegenden vierten, fünften und sechsten und weiteren
angekündigten Bänden entgegenfieberst.
Angie Sage: Septimus Heap - Flyte. Mit Illustrationen
von Mark Zug. Aus dem Englischen von Reiner Pfleiderer., Deutscher
Taschenbuch Verlag. München 3. Auflage 2010.
* * *
Der Clan der Wolfen
In dem Buch kippt die Realität plötzlich in eine andere
Dimension: Aus einem Hund wird plötzlich ein Wesen halb Junge,
halb Wolf, aus einem Haustier plötzlich ein Gejagter des königlichen
Clans der Wolfen. Und plötzlich ist Nat, der "Besitzer"
des Wolfen mitten in einer fantastischen Geschichte um Gestaltwandlern
und solchen, die das nicht können oder nicht wollen.
Am meisten wurde ich vom letzten Wolfen und seinem Clan gejagt.
Dabei ist ein Gestaltumwandler eigentlich ganz nett, mal war es
ein Junge, mal ein Wolfen. Also kein Werwolf, eben ein Wolfen. Schon
auf dem Buchdeckel findest du ein Bild von diesem Vierbeiner oder
Zweibeiner. Das Bild verändert sich, je nachdem wie du es ins
Licht hältst. Aber was das für ein Wesen ist, ob gut oder
böse, das musst du allein herausfinden. Also, lies das Buch!
Es ist eine richtig packende Geschichte, in der sich das reale Leben
mit der Fatasy-Geschichte vermischt.
Di Toft: Der Clan der Wolfen., Aus dem Englischen
von Ilse Rothfuchs. Deutsche Erstausgabe bei Carlsen Verlag. Hamburg
2010.
* * *
Der Tiger unter der Stadt
aklkdzncäalsjfdhfiezdhcnba,mäuhtaöskfdjgfhjxcbnvcm,bvpüweuirzurtz
...
Nein, nein, das ist keine neue und ganz geheime Fantasy-Sprache.
Das war nur unser Kater Felix. Er ist gerade über die Tastatur
meines Computers gelaufen, als ich zur Tür ging, um dem Postboten
die Briefe abzunehmen. Als ich zurückkam und ihn von meinem
Schreibtisch schubste, schaute er mich böse an und miaute beleidigt.
Er wolle mir doch nur helfen, meinte er.
Was, wer hat da gesprochen? Hat das wirklich Kater Felix gesagt?
Ja, vielleicht ist das gar kein Kater, vielleicht ist das mein Nachbar,
den ich schon seit Tagen nicht gesehen habe. Fange ich jetzt langsam
an zu spinnen? Auf jeden Fall erinnerte mich der Blick über
die Katerschulter an Tante Tiger. Kennst du Tante Tiger? Du wirst
sie kennen lernen, wenn du die Geschichte liest, die Kilian Leypold
geschrieben hat. Sie heißt: "Der Tiger unter der Stadt".
Jonas und Philipp aus der Hochhaussiedlung haben ihren eigenen
Fantasy-Spielplatz in einer unterirdischen Welt. Sie steigen an
einer bestimmten Stelle der Straße in die Kanalisation hinab.
Dort treffen sie neben stinkenden Abfall auf einen sibirischen Tiger.
Du hast richtig gelesen. Die beiden Freunde konnten es zuerst auch
nicht glauben. Und als dann das Tier auch noch anfing zu sprechen,
wurde es den Jungen im fantastisch unheimlichen Untergrund noch
unheimlicher. "Ich bin ein Mensch", fauchte der Tiger,
"und heiße Kunigunde Ohm, bin 78 Jahre alt und wohne
in der Keunertstraße." Das war ein Schreck!
Aber nun wollen Jonas und Philipp herausfinden, wie das passieren
konnte, dass die alte Frau in den Tigerkörper geraten ist.
Dabei kommen sie ihr menschlich immer näher, so dass sie irgendwann
"Tante Tiger" zu ihr sagen und für sie auch ihre
Tabletten und einige Kleidungsstücke wie ihren rosa Lieblingsschal
aus der Wohnung in der Keunertstraße holen. Dann taucht auch
noch ein kleiner seltsamer alter Mann aus Sibirien auf. Mit ihm
kam der Tiger aus den unendlichen Wäldern des fernen Sibiriens
hierher. Es ist eindeutig ein Mensch, dieser kleine Mann mit den
etwas schräg stehenden Schlitzaugen. Aber irgendwie verhält
er sich sehr eigenartig.
Bei der Suche nach dem Tiger im Menschenkörper, denn den
gibt es in der Geschichte tatsächlich, wechseln die Jungen
mehrmals zwischen der realen und der fantastischen Welt hin und
her. Dabei treffen sie auch auf weitere seltsame Gestalten. Da ist
zum Beispiel ein riesengroßer, sehr behaarter Mann, der sie
manchmal auch in seinem Geruch ganz intensiv an einen Satyr erinnert.
(Wenn du diese Figur nicht kennst, dann schau hier in dieser Ausgabe
in der Rubrik mit den Erläuterungen von Fantasy-Wesen nach!)
Dann müssen die Jungen erkennen, dass Tante Tiger eigentlich
gar nicht mehr in ihre Menschengestalt zurück will. Das ist
für sie im ersten Augenblick vollkommen unverständlich.
Warum will sie nicht wieder sie werden? Fragen sie erstaunt. Kunigunde
Ohm setzt ihr schönstes Tigerschnurren auf und erklärt
den beiden Zweibeinern, dass sie in den letzten Jahren und seit
dem Tod ihrer Familienmitglieder zum ersten Mal wieder Zuwendung
und Aufmerksamkeit erfahren habe. Und das sei so herrlich, nicht
mehr allein zu sein.
Ob Kunigunde Ohm mit dem wirklichen Tiger wieder die Gestalt wechselt
oder nicht, ob der sibirische Jäger wieder nach Hause zurückkehrt
oder nicht, ob allein oder in Begleitung eines Tigers, ob Jonas
und Philipp andere fantastische Spielplätze in der Oberwelt
finden (das mit der Kanalisation ist auch auf keinen Fall nachahmenswert),
das werde ich dir nicht verraten. Besorg dir das Buch, leih es dir
in der Kinderbibliothek aus oder lass es dir schenken!
Kilian Leypold: Der Tiger unter der Stadt. Aufbau
Verlag. Berlin 2010.
* * *
Reckless-Steinernes Fleisch
Als ich an meinem Geburtstag meine Geschenke beguckte und anfing,
sie von dem Geschenkpapier zu befreien, da kam aus einem Päckchen
doch tatsächlich ein Fantasy-Buch heraus. Oh, nein, dachte
ich still bei mir, fängt jetzt etwa alles von vorne an? Ich
legte es zur Seite. Aber aus der nächsten Papier holte ich
das dazu passende Hörbuch raus. Schon in der Nacht, als ich
nicht einschlafen konnte, legte ich die erste CD auf und begleitete
Jacob Reckless durch den Spiegel im Arbeitszimmer seines Vaters
in eine fremde Welt voller Zauber und Gefahren.
Nun ist es nichts Neues in der Fantasy-Literatur, durch einen Spiegel
in eine andere Welt zu gelangen. Schon der englische Schriftsteller
Lewis Carroll lies 1871 seine Alice hinter die Spiegel reisen. Aber
was Cornelia Funke aus diesem alten literarischen Motiv macht und
wie Rainer Strecker das im Hörbuch darbietet, empfand ich wirklich
als toll, spannend und packend. Nun habe ich alle acht CDs gehört.
Jetzt habe ich richtige Lust, das Buch zu lesen und mir die von
der Autorin gezeichneten Illustrationen anzuschauen.
Viel Spaß beim Lesen, wünscht dir
Helma
Cornelia Funke: Reckless - Steinernes Fleisch.
Mit Illustrationen der Autorin. Cecilie Dressler Verlag. Hamburg
2010.
Hörbuch: Gelesen von Rainer Strecker.Oetinger
audio Verlag. Hamburg 2010.
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