[Diese Seite drucken]

Etwas anderes

Überlebenskunst

Hallo Kinder!

nach dieser Einleitung von Rossipotti bin ich natürlich erst mal platt. Es stimmt zwar, dass ich hier im Amazonasbecken in einer kleinen Hütte wohne, einen eigenen Brunnen für mein Trinkwasser habe, nur kalt dusche und mir hin und wieder leckere Snacks aus Käferlarven und Insekten zubereite. Aber immerhin habe ich auch Solarstrom, einen Petroleumkocher und einen Internetanschluss. Das ist für einen Überlebenskünstler der pure Luxus. Wenn ich deshalb jetzt trotzdem als Spezialist herhalten muss, dann deshalb, weil ich auf diesen Luxus auch bei Bedarf verzichten könnte.

Ich möchte vorweg erst mal etwas Grundsätzliches zum Thema Survival sagen. Survival ist englisch und heißt nichts anderes als Überleben. Überleben tun wir ja alle mehr oder weniger. Wichtig dabei sind vor allem: atmen, essen und trinken und gesund bleiben. Mehr gäbe es deshalb zum Thema Überleben erst mal nicht zu sagen. Die treffendere Übersetzung von Survival, von dem wir hier sprechen, heißt deshalb wohl Überlebenskunst. Die Kunst, trotz widriger Umstände zu überleben. Die Spannbreite der widrigen Umstände ist dabei sehr groß: das geht in der eigenen Familie los, wo man sich zwischen nervenden Eltern und Geschwistern behaupten muss, über den platten Fahrradreifen auf freiem Feld bei herannahendem Unwetter bis hin zur Notlandung in der Wüste ohne Nahrungsmittel. Worauf es dem Überlebenskünstler in all diesen Situationen ankommt, ist, dass er über den Zustand nicht jammert, sondern dass er ihn als Herausforderung ansieht und ihn überleben möchte. Survival ist deshalb weniger eine Technik, als eine Einstellung. Ein bisschen Überlebenskunst kann deshalb auch im Alltag nicht schaden.

In Brasilien gibt es nicht nur den fruchtbaren Dschungel, sondern auch sehr trockene und unwirtliche Gebiete, wie die Halbwüste Caatingas im Nordosten Brasiliens. In dieser "Landschaft der Kakteen" können die Bodentemperaturen in der Trockenzeit auf bis zu 60°C ansteigen und jede Vegetation, außer den Kakteen, scheint dann abzusterben. In dieser Wüste bin ich einmal unverhofft gelandet, als mich ein wütender Lastwagenfahrer vor die Beifahrertüre gesetzt hat, weil ich bezweifelt habe, dass Brasilien Fußballweltmeister wird.

Folgende Regeln haben mir dabei geholfen, in der Wüste zu überleben:

Überleben in der Wüste

Die größte Gefahr in der Wüste ist das Verdursten. Klar. In der Regel braucht der Mensch etwa 1 Liter Wasser am Tag. Bei starker Hitze und bei körperlicher Anstrengung kann der Tagesbedarf aber auf bis zu 20 Liter ansteigen. In der Wüste ist es deshalb am wichtigsten, den Wasserverbrauch zu reduzieren und regelmäßig irgendwoher Trinkwasser aufzutreiben.

Wasserverbrauch senken

Wie der Wasserverbrauch reduziert werden kann, zeigen uns die Wüstenbewohner mit ihren traditionellen Kleidern. Sie hüllen sich von Kopf bis Fuß in Tücher ein, damit sie nicht von der Sonne gebraten werden. Der Stoff nimmt außerdem den Schweiß auf und sorgt für eine dauernde Kühlung. Es ist also verkehrt, nur in der Badehose oder im Bikini durch die Wüste zu laufen, sondern lieber mit Mütze, Schal und Wintermantel.

Mittags bis zum Spätnachmittag ist es in der Wüste am heißesten. Während dieser Zeit sollte man sich in der Wüste möglichst wenig bewegen um nicht unnötig zu schwitzen. Man sucht sich stattdessen ein schattiges Plätzchen im Gebüsch oder unter einer Felsspalte und schläft bis zum Abend. In der Nacht wird es in der Wüste dagegen vergleichsweise kühl. Wegen der sternklaren Nächte kühlt die Luft auf bis zu 10 Grad ab. Nachts ist es deshalb optimal zum Wandern.

Wasser suchen

Wenn die Sonne wieder aufgegangen ist, wird es Zeit, eine Wasserstelle zu suchen. Man erkennt Wasserstellen daran, dass es bei ihnen grüne Pflanzen gibt. Wachsen an einem Felsen Pflanzen, so ist in den Ritzen sicher Wasser zu finden, das man rausschlürfen kann. Ein auseinander geschraubter Kugelschreiber kann dabei als Röhrchen dienen.

In der Wüste durch die ich mich kämpfen musste, gibt es außerdem essbare Kakteen, die Wasser enthalten. Man schneidet den Kaktus auf oder zertritt ihn mit dem Fuß und kann dann das Fruchtfleisch essen. Doch Vorsicht, nicht alle Kakteen sind essbar: manche Sorten werden von den einheimischen Schamanen als Rauschgift verwendet.

Wenn kein Wasser aufzutreiben ist, kann man es immer noch mit dem Destillieren von Feuchtigkeit probieren: Man gräbt ein Loch und wirft seine alten, verschwitzten Kleider oder schmutziges Wasser hinein. In die Mitte stellen wir ein Gefäß und über das Loch spannen wir eine Plastikplane (oder die Regenjacke), die wir seitlich mit der Erde oder dem Sand abdichten. In die Mitte der Plastikplane legen wir jetzt noch einen Stein, damit sich eine Kegelspitze direkt über dem Gefäß bildet. Die Feuchtigkeit in den Kleidern und ggf. in der Erde verdunstet jetzt bei der Sonneneinstrahlung. Ist die Sonne wieder weg, kondensiert das Wasser an der Plastikplane, rinnt zur tiefsten Stelle und tropft von dort in das Gefäß.

Orientierung

Das Herumwandern in der Wüste soll natürlich irgendwann auch mal ein Ende haben. Es ist deshalb wichtig, die Orientierung zu behalten, damit man nicht immer im Kreis herum läuft. Eine Große Hilfe ist dabei die Sonne: sie geht im Osten auf und geht im Westen unter. Am besten kann man sich deshalb morgens und abends orientieren. Nachts kann man sich nach den Sternen richten. Bei euch auf der nördlichen Erdhalbkugel ist der Polarstern ein verlässlicher Wegweiser. Man kann ihn finden, indem man die Hinterachse des großen Wagens etwa 5 mal in die Richtung der Deichsel verlängert. Der helle Stern, auf den man dann trifft ist der Polarstern. Er zeigt immer die Richtung Norden an.

Sehr praktisch zur Orientierung sind übrigens auch Strom- oder Telegrafenmasten. So bin ich auf meinem Weg durch die Halbwüste Caatingas eine Woche lang einer Telefonleitung gefolgt, bis ich schließlich auf eine Imbissbude an einer belebten Landstraße gestoßen bin. Dort habe ich mir dann erstmal eine große, eisgekühlte Limonade bestellt.

Nützliches Überlebenswissen

Dass ihr in die Wüste geratet, ist vielleicht eher unwahrscheinlich. Vielleicht aber auf eine einsame Insel oder in eine verlassene Berggegend in Norwegen? Für diesen Fall möchte ich euch deshalb noch ein paar Hinweise geben, die zum Überleben nützlich sind.

Feuer machen

Ein Feuer ist natürlich eine feine Sache: es wärmt, trocknet die nassen Schuhe, hält Mücken und wilde Tiere fern. Außerdem braucht man das Feuer zum Abkochen von verkeimtem Wasser und natürlich zum Zubereiten von Speisen. Ein Feuerzeug oder Streichhölzer gehören deshalb in jedes Reisgepäck. Streichhölzer kann man wasserdicht machen, indem man sie einzeln in Wachs eintaucht. Das Wachs wird vor dem Anzünden abgepopelt und dient außerdem als Brandbeschleuniger beim Anfeuern. Die Feuerstelle muss so gewählt werden, dass sich das Feuer nicht ausbreiten kann. Schließlich will man nicht morgens aufwachen und die ganze Umgebung steht in Flammen!

Hilfe rufen

Wenn man Glück hat, kommt schon bald ein Schiff an der einsamen Insel vorbei oder es kreist ein Flugzeug über der verlassenen Berggegend. Dann ist es wichtig, auf sich aufmerksam zu machen. Hat man ein Feuer, so kann man es mit nassem Gras zum Qualmen bringen. Das erzeugt auf jeden Fall schon mal Interesse beim Kapitän oder Piloten. Mit Körperzeichen kann man jetzt um Hilfe rufen. Doch Vorsicht: das erfreute Winken mit der rechten Hand bedeutet bei den internationalen Rettungszeichen "Alles in Ordnung! Nicht warten!". Auf diese Weise ist schon mancher Schiffbrüchiger auf seiner einsamen Insel sitzen geblieben, weil er sich falsch ausgedrückt hat. "Ich brauche Hilfe!" ruft man dagegen mit seitlich ausgestreckten Armen und "Holt mich hier raus!" mit beiden Armen nach oben gestreckt.

Die Seefahrer funken im Notfall ein SOS-Signal. Dieses Morsesignal besteht aus drei kurzen, drei langen und wieder drei kurzen Sendesignalen: ••• ––– •••. Wenn ihr den Piratensender aus der Rossipotti-Ausgabe No. 12 gebaut habt, könnt ihr im Notfall auch diesen zum Absetzen der Rettungssignale verwenden.

Essen zubereiten

Ist man länger in der Wildnis unterwegs, stellt sich irgendwann auch einmal die Frage nach dem Essen. Es gibt viele Pflanzen, die man prima essen kann, aber es gibt auch jede Menge Giftpflanzen. Mit den Pflanzen sollte man sich deshalb gut auskennen, bevor man daraus einen Eintopf kocht. Recht unproblematisch ist es dagegen, Fisch und Fleisch zu essen. Fische fängt man mit einem Netz, einer Angel oder wie die Indianer mit der bloßen Hand. Säugetiere und Vögel kann man mit Fallen oder mit der Steinschleuder erlegen.

Ein leckeres Menü, das man auch ohne Kochtopf zubereiten kann, ist gebackener Igel. Man fängt einen Igel und hüllt ihn in eine dicke Schicht Lehm ein. Diese Kugel wirft man jetzt in die Glut und lässt sie zwei Stunden garen. Zum Essen bricht man die Lehmkugel auf und kann das gebratene Igelfleisch herausholen. Die Stacheln bleiben dann übrigens im trockenen Lehm stecken.

Wer in der Wildnis nicht auf seinen Kaffee verzichten will, für den ist dieses alte bayerische Hausrezept interessant: Man röstet Löwenzahnwurzeln, zerreibt sie zwischen flachen Steinen und benutzt sie dann zum Zubereiten von Ersatzkaffee.

Flüsse überqueren

Auf Rossipottis speziellen Wunsch erzähle ich euch jetzt noch, wie man reißende Flüsse überquert. Das kommt bei mir am Amazonas recht häufig vor, weil der Amazonas so unglaublich viele Nebenzweige hat und die Brücken immer wieder weg gespült werden. Wichtig beim Überqueren ist, dass man von zwei Punkten her mit einem Seil gesichert ist. Am besten klappt es deshalb, wenn man zu dritt ist. Man nimmt ein Seil, das etwa dreimal so lang ist, wie der Fluss breit und bindet eine Schleife daraus. Zwei Leute halten das Seil von unterschiedlichen Punkten am Ufer und der Erste watet oder schwimmt mit dem Seil durchs Wasser. Die beiden Leute am Ufer sorgen dafür, dass der Schwimmer nicht von der Strömung mitgerissen wird. Ist einer drüben, wird die Schlaufe über den Fluss gespannt und der nächste kommt durchs Wasser. Beim Dritten wiederholt sich die Anordnung vom Ersten, nur dass die beiden Helfer schon am anderen Ufer sind. Schließlich sind alle drei drüben und können sich jetzt die nassen Kleider auswringen.

Entdeckt man bei dieser Gelegenheit einen fiesen Blutegel, der sich beim Durchwaten am Bein festgesaugt hat, dann kann man ihn jetzt entfernen. Das klappt ganz gut, wenn man kurz eine Feuerzeugflamme an den Blutegel hält. Das kann er nicht leiden und er hört auf, sich festzusaugen.

Und jetzt wünsche ich euch viel Spaß beim Überleben von Notsituationen und guten Appetit beim Zubereiten einer leckeren Blutegelsuppe.

Juan aus Brasilien

Literaturhinweis: Claire Llewellyn: Survival Handbuch für Kids. Mit einem Vorwort von Rüdiger Nehberg. ars edition 2006.

 © Rossipotti No. 18, Juli 2008