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Rossipottis Leibspeise
und andere Lieblingsbücher
Rossipottis Leibspeise
Lieblingsbuch
vorgestellt von Helma Hörath
Tim und das Geheimnis von Knolle Murphy
"Weißt du, wann Zeit am allerlangsamsten vorbei
geht?" fragt mich Rossipotti mit halb geschlossenen Augen.
Seit ungefähr zwanzig Minuten sitzt er neben mir und weiß
offensichtlich nichts mit sich anzufangen.
Ich zucke mit den Schultern und lausche weiter der ausdrucksstarken
Stimme von Samuel Weiss, die mir gerade die äußerst spannende
Geschichte "Tim und das Geheimnis von Knolle Murphy" von
Eoin Colfer vorliest.
"Wenn man nichts macht!", beantwortet sich Rossipotti
seine Frage selbst. "Wenn man nur dasitzt und atmet und wartet,
dass die Zeit vergeht."
Ich nicke und konzentriere mich wieder auf mein Hörbuch.
"Und weißt du, wann Zeit am allerschnellsten
vorbei geht?"
"Hm?" mache ich, überlege mir aber schon eine Antwort.
"Wahrscheinlich wenn man ganz viel macht!"
"Genau!" ruft Rossipotti erfreut. "Wenn man ganz
viel macht!"
Mist!
Jetzt habe ich nicht mitbekommen, was Knolle Murphy gerade mit Tims
Bruder Marty gemacht hat. Da muss ich wohl zurück spulen.
"Aber zwischen den beiden Zeit-Polen allerlangsamst
und allerschnellst gibt es viele qualitative Nuancen",
redet Rossipotti weiter. "Wenn man zum Beispiel etwas macht,
das einem Spaß macht, vergeht die Zeit viel schneller, als
wenn man etwas macht, auf das man keine Lust hat. Umgekehrt vergeht
die Zeit noch viel langsamer, wenn man unfreiwillig nichts
macht."
Ich nicke, habe Rossipotti aber nur mit halbem Ohr zugehört.
Jetzt bin ich wieder an der Stelle angelangt, wo Knolle Murphy zum
Angriff übergeht.
"Und weißt du, was man machen kann, wenn man alle
Nuancen kennt?" fragt Rossipotti so laut, dass er Stefan Weiss
übertönt.
"Nein!" sage ich und schalte genervt auf die Pause-Taste.
"Sage es mir, aber fasse dich bitte kurz, damit ich endlich
meine CD weiter hören kann! Denn jetzt gleich holt Knolle Murphy
wahrscheinlich ihr Luftgewehr aus der Schublade und schießt
Marty ein hässliches Knollengesicht!"
"Knolle Murphy?" fragt Rossipotti neugierig. "Wer
ist denn Knolle Murphy?"
"Eine Bibliothekarin", erkläre ich. "Sie hasst
es, wenn Kinder in ihrer Bibliothek Unruhe stiften. Jedem, der laut
ist oder sich nicht nach ihren Regeln verhält, verpasst sie
ein Knollengesicht!"
"Kaum zu glauben!" sagt Rossipotti. "Will sie denn
keine Besucher haben?"
"Doch! Aber am liebsten hätte sie nur erwachsene Besucher",
erkläre ich. Meine Stimme bebt vor Zorn, weil ich so sauer
auf Knolle Murphy bin. Als ausgenommener Fisch weiß ich nur
zu gut, wie man mit wehrlosen Geschöpfen umgeht. "Stell
dir vor: Kinder dürfen in ihrer Bibliothek nur auf einem winzigen
Fleckchen Teppich sitzen! Und sobald sie auch nur einen Zeh darüber
schieben, kommt Knolle Murphy mit ihrem Luftgewehr angerannt und
knallt sie ab!"
"Aha", sagt Rossipotti und fährt seelenruhig fort:
"Dann gibt es also fast keine Kinder mehr in der Stadt!"
"Kluge Kinder gehen natürlich nicht in die Bibliothek",
widerspreche ich. "Aber Tim und Marty wurden von ihren Eltern
in den Ferien dazu gezwungen, drei Mal die Woche für zwei Stunden
in die Bibliothek zu gehen, damit sie zu Hause nicht mehr so viel
Quatsch machen."
"Hört sich vernünftig an."
"Wie?", frage ich empört. "Du findest es vernünftig,
seine Kinder einer durchgeknallten Bibliothekarin mit Luftgewehr
anzuvertrauen?"
"Hast du das Luftgewehr denn schon mit eigenen Augen gesehen?"
"Bis jetzt habe ich nur davon gehört", sage ich
ausweichend. "Ich bin ja nicht weit gekommen, weil du mich
ständig unterbrochen hast!"
"Dann lass es uns doch zusammen anhören", schlägt
Rossipotti vor.
Offensichtlich interessiert ihn jetzt die Geschichte um Knolle Murphy
wesentlich mehr als das Zeit-Problem, das er vorhin gewälzt
hat.
"Gut!" stimme ich zu und bin froh, dass Rossipotti mich
nicht mehr unterbrechen wird. "Bevor wir weiterhören,
musst du allerdings wissen, dass Marty gerade ausprobieren will,
ob Knolle Murphy bemerkt, wenn er heimlich Bücher aus der Erwachsenen-Abteilung
miteinander vertauscht. Er fühlt sich sehr gewitzt und völlig
unbeobachtet. Tatsächlich steht Knolle aber hinter dem Regal
und beobachtet ihn die ganze Zeit. Jetzt tritt sie hervor und wird
ihn sicher gleich mit dem Luftgewehr abknallen":
Ich schalte den CD-Player auf laut und wir hören gemeinsam
die aufregende Stelle:
"Was denn für Stempel?" fragt Rossipotti irritiert.
"Und wo ist das Luftgewehr?"
"Anscheinend gibt's doch kein Luftgewehr", sage ich erstaunt.
"Aber so ein Bücherei-Stempel ist schließlich auch
nicht ohne."
Rossipotti erwidert nichts darauf, sondern hört weiter gebannt
der Geschichte zu ...
...
Am Ende sind alle Schlachten zwischen der Bibliothekarin und den
Kindern geschlagen.
Ob Tim und Marty dabei ein Knollengesicht verpasst bekommen haben,
verrate ich euch natürlich nicht. Nur eins: Mit spannenden
Büchern vergeht die Zeit viel besser und schneller als ohne.
Rossipotti gab übrigens nur einen Kommentar zur Geschichte
ab: "Schade, dass wir Knolle Murphy nicht auf ein Gespräch
mit der Kulturtasche einladen können!"
Eoin Colfer: Tim und das Geheimnis von Knolle
Murphy. Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit. Mit Illustrationen
von Tony Ross.Beltz & Gelberg. Weinheim/Basel 3. Auflage 2005.
100 Seiten.
Das sehr empfehlenswerte Hörbuch dazu, das
Rossipottis Leibspeise und Rossipotti
gerade zusammen gehört haben, gibt's seit 2006 als CD ebenso
beim Beltz & Gelberg Verlag (Weinheim/Basel). Eindrücklich
gelesen wird es von Samuel Weiss.
*
* *
Verrückte Tage in der Wellenbucht
"Jetzt hast du mir gar nicht erzählt, was man machen
kann, wenn man alle Nuancen zwischen allerschnellst und allerlangsamst
kennt", versuche ich an das Gespräch von vorhin anzuknüpfen.
"Hm?" fragt Rossipotti. Er kramt gerade in einer Bücherkiste
und scheint mit den Gedanken ganz woanders zu sein.
"Vorhin meintest du doch, dass Zeit umso langsamer vergeht,
je weniger einem die Beschäftigung, die man gerade macht, gefällt",
versuche ich Rossipottis Gedächtnis auf die Sprünge zu
helfen. "Und dass umgekehrt die Zeit umso schneller vergeht,
je schöner man seine momentane Beschäftigung findet."
"Stimmt", sagt Rossipotti und zieht ein Buch mit einem
Eisbär auf dem Umschlag aus der Kiste. "Gut, dass du mich
daran erinnerst!"
Er legt das Buch auf das Sofa und sagt dann in feierlichem Ton:
"Fisch, ich habe eine geniale Entdeckung gemacht!"
"Interessant!" sage ich. "Und welche?"
"Stell dir vor: Ich habe herausgefunden, dass man Zeit dehnen
und schrumpfen lassen kann, wenn man weiß, bei welchem gefühlsmäßigem
Zustand die Zeit langsam und bei welchem schnell vorbei geht!"
Ich runzle kritisch die Stirn.
"Überlege doch mal!" ruft Rossipotti aus. "Angenommen,
du möchtest ganz viel Zeit haben - nichts leichter als das!
Denn dann musst du nur etwas ganz Langweiliges machen! Oder umgekehrt:
Du willst, dass Zeit ganz schnell vorbei geht, dann musst du nur
etwas sehr sehr Schönes machen. - Je genauer man sich mit dem
Zeitdehnen und -schrumpfen auskennt, umso genauer kann man die Zeit
natürlich auch seinen Bedürfnissen anpassen. Wenn man
richtig gut ist, geht das sogar auf die Minute genau!"
Ich stutze. Irgendwie hört sich Rossipottis Theorie plausibel
an. Irgendwie aber auch nicht. Wenn es wirklich so leicht ist, die
Zeit zu verdrehen - warum hat das dann vor Rossipotti noch nie jemand
entdeckt?
Noch während ich darüber nachdenke, sagt Rossipotti:
"Zum Glück hast du mich an meine Entdeckung erinnert!
Denn jetzt ist mir wieder eingefallen, dass ich vor der Geschichte
mit Knolle Murphy eigentlich gerade dabei war, mir ein bisschen
Zeit zu dehnen. Durch die spannende Geschichte ist die Zeit aber
leider so schnell vergangen, dass ich jetzt noch mehr Zeit als davor
dehnen muss."
Rossipotti setzt sich auf sein rotes Sofa, schließt wieder
halb die Augen und sagt: "Ich fange am besten gleich mit dem
Zeit-Dehnen an. Du kannst ja schon mal alleine weiter machen! In
einer halben Stunde mache ich wieder mit!"
"In Ordnung", sage ich und denke: 'Prima! Dann kann ich
euch heute wenigstens einen Titel selbst aussuchen. Und ich weiß
auch schon welchen: "Verrückte Tage in der Wellenbucht".
Und ich muss mir dazu nicht Rossipottis Genörgele anhören,
etwa dass das Buch "zu rührselig", "zu zäh"
oder "zu geschmacksneutral" sei.
Ich persönlich finde das Buch übrigens wie einen herrlichen,
heißen Sommerstrandtag! Oder nein, noch viel besser: Wie einen
heiß-kühlen Dschungel-Strand-Sommertag.
Die Geschichte spielt nämlich in Australien, wo in manchen
Gegenden der Dschungel bis an den Strand reicht. Und an so einem
Strand verbringt die Ich-Erzählerin Henni mit ihrer Familie
und zwei befreundeten anderen Familien ihre Ferien. Sie wohnen in
einer großen Baumhütte im Dschungel nahe des "schönsten
Strands des Universum", in der Traumbucht aller Surfer.
Und wirklich alles ist perfekt: Das uralte Baumhaus mit seinen europäischen,
fast hundert Jahre alten Gegenständen, die fünfzigtausend
Vögel, mit ihren unterschiedlichen Gesängen, das glitzernde
Meer zwischen den Klippen, die Insel am Horizont und natürlich
die Erkundungsspaziergänge mit den besten Freunden.
Doch dann müssen sie Hennis Tante zuliebe plötzlich die
13-jährige Tara aufnehmen. Tara hat angebliche eine schwierige
Zeit hinter sich und Henni soll sich besonders gut um sie kümmern.
Doch Henni, die sehr sozial ist und gerne Bücher liest, passt
überhaupt nicht zu Tara, die sich von den anderen absondert
und am liebsten in Schönheitsmagazinen blättert. Und so
sind die Probleme vorprogrammiert. Während Henni immer weniger
Lust auf ihren Babysitter-Job hat, gibt ihr Tara immer mehr zu verstehen,
wer hier in Wirklichkeit das Baby ist. Und so kommt, was kommen
muss: Eine Kraftprobe, die beinahe in einer Katastrophe endet ...
Elisabeth Honey: Verrückte Tage in der Wellenbucht.
Aus dem Englischen von Heike Brandt. Beltz & Gelberg. Weinheim/Basel
2006. 281 Seiten.
* * *
Das Riesenmädchen und die Minipopps
"Als nächstes stellen wir Julia Donaldsons 'Riesenmädchen
und die Minipopps' vor!" sagt Rossipotti.
"Gerne", sage ich. "Ich bin überrascht, wie
kurzentschlossen du heute bist!"
"Meine Zeitverschiebungsmethode funktioniert eben!" erwidert
Rossipotti stolz. "Wenn man die Einfälle dann nimmt, wann
sie kommen und nicht künstlich herbeidenkt, spart man viel
Zeit. Und diese Zeit kann man dann an anderer Stelle wieder verwenden."
"So so", sage ich und leite zu einem anderen Thema über:
"Wer soll denn die Minipops vorstellen? Du oder ich?"
"Du natürlich!" sagt Rossipotti. "Ich muss
jetzt nämlich die viele Zeit ausgeben, die ich angespart habe.
Vorhin habe ich vom Balkon aus Curry gesehen. Sicher war er da gerade
auf dem Weg zum Radio Club, um neue Sendungen zusammen zu stellen.
Die will ich mir mal anhören."
"Gut!" sage ich und winke ihm kurz zu. Das läuft
heute ja wie am Schnürchen.
"Ach übrigens ..." Rossipotti streckt nochmals seinen
Kopf durch die Tür: "Das Buch, das auf dem Sofa liegt,
stellst du bitte auch vor. Es entfaltet einen ganz eigenen Charme."
Rossipotti meint sicher das Buch mit dem Eisbär auf dem Umschlag.
Wenn mich nicht alles täuscht, ist es Lutz Rathenows skurrile
Kurzgeschichtensammlung "Ein Eisbär aus Apolda".
Das stelle ich gerne vor. Die Kurzgeschichten heben sich vom sonstigen
Geschichten-Allerlei für Kinder deutlich ab.
Aber erst kommen die Minipopps:
Ein schönes Buch. Ein kluges Buch. Und ein absolut notwendiges
Buch!
Denn es stellt die Minipopps endlich einmal als das dar, was sie
sind: Widerliche kleine Dinger, die stehlen und einen umbringen,
wenn man nicht aufpasst.
Minipopps werfen Bohnenranken nach einem aus und versuchen damit,
in fremde Gebiete einzudringen. Und sie geben keine Ruhe, bis sie
sich nicht endlich alles unter ihre Nägel gerissen haben ...
"Weißt du, wo Rossipotti ist?" unterbricht mich
eine vorwitzige Mädchenstimme.
"Ähm", räuspere ich mich. "Ich glaube,
er wollte zu Curry in den Radio Club."
"Aber ich wollte doch mitgehen!" sagt Palmina aufgebracht.
"Rossipotti hat mir versprochen, dass er mich mitnimmt."
Ich zucke mit den Schultern. Wahrscheinlich hat Rossipotti es einfach
vergessen.
"Was schreibst du denn da?" fragt Palmina und schaut
mir über die Flossen.
"Nichts für kleine Mädchen!" sage ich und versuche
den Bildschirm abzudecken.
"Schreibst du nicht Buchtipps für Kinder?"
fragt Palmina als sie die ersten Sätze gelesen hat.
Ich erwidere nichts. Offensichtlich kennt Palmina die Geschichte
und weiß, dass Minipopps das magrolonische Wort für "Menschen"
ist.
"Ich wusste gar nicht, dass du uns so schrecklich findest",
sagt Palmina. "War es nicht ein Krokodil, das dich gefressen
hat?"
Warum muss dieses Mädchen immer meinen wunden Punkt treffen?
"Macht ja nichts", sagt Palmina unbekümmert. "Ich
finde das Buch übrigens auch toll. Es macht richtig Spaß,
magrolonisch zu sprechen: onk, zwonk, dink!"
"Olle rolli", stimme ich zu. "Die Autorin muss ganz
schön viel Zeit für das Buch gehabt haben, wenn sie dafür
sogar eine eigene Sprache erfindet."
"Übrigens glaube ich, dass du in dem Buch etwas falsch
verstanden hast", sagt Palmina. "Nicht die Minipopps sind
habgierig und werfen ihre Bohneranke nach den Magrolonier-Riesen
aus, sondern umgekehrt: Megalilli, das Magrolonier-Riesen-Mädchen,
lässt die Bohnenranke wachsen, um von dem Riesenland über
den Wolken hinunter zu den Minipopps steigen zu können. Und
nicht die Minipopp-Kinder sind habgierig, sondern Megallili, die
von der Minipopp-Telefonzelle über Schafe und Kinder bis hin
zu Minipopp-Rasenmäher alles in ihren Beutel steckt, nur um
damit in ihrem Riesenland winzige Spielzeuge zu haben."
"Es kommt eben immer auf den Blickwinkel der Betrachtung an",
sage ich.
"Genau!" sagt Palmina. "Und weil das Buch mit beiden
Blickwinkeln spielt, ist es auch so gut!"
"Ein schönes Schlusswort!" sage ich und versuche
Palmina zur Tür hinaus zu wedeln. Denn eigentlich habe ich
im Moment keine Zeit, mich mit Minipopp-Mädchen zu unterhalten.
"Vielleicht schaust du ja mal bei Curry und Rossipotti im Radio
Club vorbei?"
"Super Idee!" sagt Palmina, drückt mir einen nassen
Kuss auf die Backe und hüpft "Oggelwipp! Oggelwipp!"
rufend zur Tür hinaus.
Julia Donaldson: Das Riesenmädchen und die
Minipopps. Aus dem Englischen von Miriam Pressler, mit Bildern von
Axel Scheffler. Beltz & Gelberg. Weinheim/Basel 2006. 224 Seiten.
* * *
Ein Eisbär aus Apolda
Ruhe, endlich Ruhe.
Endlich Zeit für Lutz Rathenows absurde Miniatur-Geschichten.
Endlich Zeit für Eisbären, Tiger, und Kartoffelkäfer.
Zeit, viel Zeit braucht man nämlich, will man die Tiere wirklich
verstehen. Denn meistens sind sie mit schwierigen Aufgaben beschäftigt.
Aufgaben, die hochwichtig und zugleich völlig sinnlos sind
...
Wer klopft denn jetzt schon wieder an der Tür?
"Ja? Herein!"
"Ich kann die Tür nicht öffnen!" knuspert eine
leise Stimme.
"Oh! Ach so. Einen Moment bitte."
Ich öffne die Tür und sehe: Nichts!
"Darf ich mich vorstellen", knuspert es von unten. "Kartoffelkäfer
aus Thüringen!"
Tatsächlich. Da sehe ich ihn. Einen kleinen gelb-schwarz gestreiften
Kartoffelkäfer!
Ich hebe ihn hoch und setze ihn neben mich auf die Computer-Tastatur.
"Ich habe gehört, dass Sie heute das Buch von Lutz Rathenow
vorstellen", erklärte sich der Käfer und als ich
nicke, fährt er fort: "Wunderbar! Endlich habe auch ich
einmal Glück! Und einmal im Leben Glück zu haben, ist
besser als nie!"
Ich sehe ihn fragend an.
"Sie müssen mir unbedingt helfen!" sagt der Kartoffelkäfer
ganz aufgeregt. "Mir ist übel mitgespielt worden! Sie
müssen das sofort gerade rücken!"
"Um was geht es denn?"
"Um meine Geschichten natürlich!" sagt der Kartoffelkäfer
ungeduldig. "Aus dem Buch 'Ein Eisbär aus Apolda'. Die
Geschichten sind falsch!"
"Wie das?" frage ich verwundert. "Soll sich der
Autor etwa gerirrt haben?"
"Schlimmer: Er hat sie mit Absicht verfälscht!"
"Und jetzt wollen sie ihn anklagen?"
"Genau!" sagt der Käfer mit einem befriedigten Lächeln.
"Ich will ihm hier in aller Öffentlichkeit die Meinung
sagen."
"Gut", sage ich, "aber nur unter einer Bedingung!"
"Und die wäre?" fragt der Kartoffelkäfer misstrauisch.
"Dass ich danach auch meine Meinung äußern darf!"
"Tun Sie, was Sie wollen", sagt der Kartoffelkäfer
herablassend. "Nach meiner Rede wird ohnehin niemand mehr Ihnen
zuhören wollen. Fangen wir also an. Schreiben Sie auf:
Ich, der Kartoffelkäfer aus Thüringen möchte in aller
Öffentlichkeit bekannt geben, dass ich sehr wohl weiß,
dass ich in der ersten Geschichte nicht auf den Fidschi-Inseln war,
sondern von dem Herrn nur einmal um den Häuserblock getragen
wurde. Es war reines Feingefühl dem Herrn gegenüber, das
nicht laut gesagt zu haben. Außerdem möchte ich bekannt
geben, dass meine zweite Geschichte keinesfalls nach dem Korrigieren
des Rechtschreibfehlers zu Ende war, sondern da im Gegenteil gerade
erst angefangen hat. Herr Rathenow zog es aber vor, das zu verschweigen,
um mich lächerlich zu machen. Und drittens habe ich mich mit
dem anderen Kartoffelkäfer nur noch fünfhundert Kartoffelkäferminuten
weiter gestritten und keinesfalls Stunden!"
"Das war's?" frage ich.
Der Kartoffelkäfer aus Thüringen nickt zufrieden.
"Dann bin jetzt ich dran", sage ich: "Als Herrn
Rathenows Verteidiger möchte ich sagen, dass die Geschichten
gerade durch die Verfälschung der eigentlichen Tatsachen einen
großen Reiz auf die Leser haben. Die Lächerlichkeit der
tierischen Handlungen bei gleichzeitig enormer Wichtigkeit, entlarvt
die Absurdität menschlicher Verhältnisse und sollte vom
Kartoffelkäfer nicht persönlich genommen werden. Außerdem
ist es sehr charmant von dem Autor, das Nebensächliche ins
Rampenlicht zu stellen und bisher Unbeachtetem eine Geschichte zu
schenken. Wenn ich ehrlich sein soll, Kartoffelkäfer, glaube
ich kaum, dass ein anderer Autor Ihnen ein Geschichte gewidmet hätte.
- Abschließend möchte ich aber öffentlich zu Protokoll
geben, dass der Kartoffelkäfer vom Autor ein wenig mehr Feingefühl
hätte erwarten können. Ich schlage dem Autor deshalb vor,
dem Kartoffelkäfer eine Extra-Portion Marzipankartoffel zukommen
zu lassen."
"Vielen Dank!" sagt der Kartoffelkäfer gerührt.
"Ich liebe Marzipankartoffeln! Wissen Sie, eigentlich sind
Sie ein sehr empfindsamer Fisch! Sie müssen mich unbedingt
einmal in Thürigen besuchen kommen."
Der Kartoffelkäfer kramt in seiner gelb-schwarzen Jackentasche
und holt ein winzig kleines Ei daraus hervor.
"Eigentlich verstehe ich mich mit Lutz Rathenow gut. Aber gerade
deshalb stört es mich auch so, wenn dieses Missverständnis
nicht aus dem Weg geräumt wird! - Sehen Sie, wie nett er sein
kann: Vor einiger Zeit hat mir dieses schöne Ei geschenkt!"
Zu meiner Verblüffung legt mir der Kartoffelkäfer das
Ei in die Flosse und sagt: "Hier, nehmen Sie zum Abschied dieses
Geschenk von mir! Es ist ein ganz besonderes Geschenk. In diesem
kleinen Ei wächst ein kleiner bunter Vogel, der sprechen kann!
Und wissen Sie, was er macht, wenn er geboren ist?
Er wird Ihnen die schönste aller Geschichte erzählen!"
Lutz Rathenow: Ein Eisbär aus Apolda. Mit
Illustrationen von Egbert Herfurth. leiv Leipzig 2006. 32 Seiten.
Im 11
Uhr-Termin findet ihr übrigens drei Kurzgeschichten aus
dem Buch.
Lieblingsbuch
vorgestellt von Helma Hörath
Die Zeit - Strömen und Stille
'... endlich Ferien, Sommer, Sonne und freie Zeit; endlich, endlich
freie Zeit für alles, was ich will, nicht für das, was
ich machen muss.'
Das hast du bestimmt gedacht, als du am letzten Schultag auf den
Schulhof gestürmt bist. Viele Tage ohne Hausaufgaben lagen
vor dir. Die Ferienwochen schienen in diesem Augenblick unendlich.
Jetzt sind die Ferientage zur Hälfte vorbei und du fragst dich
vielleicht, wo denn eigentlich die Zeit geblieben ist. Denn du hast
nicht mal einen Bruchteil von dem gemacht und unternommen, was du
dir zu tun vorgenommen hattest.
Ja, das mit der Zeit ist eine komplizierte Angelegenheit und das
nicht nur für Kinder, sondern gleichermaßen auch für
die Erwachsenen. Was ist das eigentlich: die Zeit?
Blöde Frage, denkst du vielleicht. Die Uhr am Handgelenk zeigt
die Zeit an. Kann man die Uhr lesen, dann weiß man: Das ist
die Zeit. Richtig. Die Uhr ist ein Zeitmesser, konstruiert und gebaut
von Menschen. Es ist also etwas, was so nicht in der Natur vorkommt.
Es ist ein künstliches Werk und ein künstliches Gefühl,
dass der Mensch für sich geschaffen hat. Das Leben der Pflanzen
und Tiere wird nicht davon bestimmt, ob es 8.23 oder 18.57 Uhr ist.
In der Natur herrschen Tag oder Nacht, Sommer oder Winter, Dürre
oder Regen, Kälte oder Wärme, Licht oder Schatten, Sonne
oder Mond, Sturm oder Ruhe ... Ein Gestern und ein Morgen gibt es
für die Tiere nicht. Sie kennen nur das Heute.
Die Menschen deuteten die Zeit vor vielen Tausend Jahren als ein
großes Geheimnis und siedelten sie deshalb im Götterreich
an. Sie nahmen als Symbol für die Zeit u.a. die Schlange, den
Drachen, den Sonnengott mit seinem Himmelsschiff oder den Gott,
der die Welt und mit ihr die Zeit verschlingt und wieder ausspeit.
Auf jeden Fall ist die Zeit mit Bewegung in einer bestimmten räumlichen
Vorstellung verbunden.
Aber tiefer können wir in dieses umfangreiche Gebiet hier an
dieser Stelle nicht eindringen. Leider habe ich im Buchhandel kein
Buch entdeckt, das sich für Kinder mit dieser Thematik beschäftigt.
(Über "Die Uhr" gibt es viele im Angebot, aber keins
über "Die Zeit".) In meinem Bücherschrank fand
ich aber das hier abgebildete Buch "Die Zeit - Strömen
und Stille" von Marie-Louise von Franz. Es ist für Erwachsene
geschrieben. Aber vielleicht kann es dein Vati oder deine Mutti
trotzdem aus der Bibliothek mitbringen. Es hat ganz beeindruckende
Abbildungen. Es lohnt sich, diese mit deinen Eltern oder Großeltern
anzuschauen und darüber gemeinsam ins Nachdenken über
die Zeit zu kommen.
Und damit wärt ihr nicht die Einzigen. Wissenschaftler - Mathematiker,
Physiker, Philosophen, Historiker u.a.m. - tun das täglich.
Aber auch Künstler. In vielen Filmen, Hörspielen und Büchern
bieten sie Geschichten an, in der sie mit der Zeit spielen und den
Leser auf ihren Sprüngen von der Gegenwart in die Vergangenheit
und von dort in die Zukunft mitnehmen.
|
Marie-Louise
von Franz: Die Zeit - Strömen und Stille. Insel Verlag.
Frankfurt am Main 1981. 96 Seiten. |
* * *
Drifthaus
Beim Stöbern in einem Buchladen stieß ich auf folgende
Kinderbuchtitel: Am Abgrund der Zeit und Drifthaus - Die erste Reise.
Das Buch nahm ich auf Empfehlung der Buchhändlerin in die Hand,
denn sonst wäre ich sicher daran vorbeigegangen. Auch wenn
das Titelbild schon sehr interessant aussieht, konnte ich es im
Vorübergehen nicht mit unserem Thema "Zeit" bzw.
"freie Zeit" in Verbindung bringen.
Die Geschichte beginnt in New York. Als die beiden großen
Türme durch einen Terroranschlag einstürzen, beschließen
Herr und Frau Oakenfeld ihre Kinder Susan, Charles und Murray nach
Kanada zum Bruder von Frau Oakenfeld zu bringen. Dort sollen sie
den Sommer verbringen. Onkel Farley wohnt an der Küste Neufundlands
und sein Haus befindet sich in der Ewigkeitsbucht.
Die Geschwister wundern sich über diesen seltsamen Namen. Noch
mehr staunen sie über das Haus, das nicht nur wie ein gestrandetes
Schiff aussieht, sondern verquer am Ufer liegt, gerade so als hätte
es jemand an Land gepustet, ohne auf Weg, Steg und Haustür
zu achten. So seltsam wie das Äußere, so seltsam erscheint
den Kindern auch das Innere des Hauses und vor allem der Onkel,
der sich als Zeitforscher, als Temporologe, ausgibt. Er ist auf
den ersten Blick auch nicht gerade Vertrauens erweckend ...
Aber das Essen ist wunderbar. Eine unsichtbare Köchin errät
jeden geheimsten Wunsch und zaubert Mahlzeiten, die alle Seltsamkeiten
vergessen machen. Ein geheimnisvoller Speisenaufzug befördert
sie aus der Küche nach oben.
Am nächsten Morgen stellen die Oakenfeld-Kinder fest, dass
das Haus mitten auf hoher See schwimmt. Und dieses Wasser ist nicht
etwa irgendein beliebiges, nein, es ist das Meer der Zeit, auf dem
das Drifthaus treibt, umlagert von einer Rotte wilder Nixen. Die
Meerjungfrauen wollen Susan für den hinterhältigen Plan
ihrer Königin Oktavia benutzen. Oktavia will nicht nur das
Meer, sondern die Zeit beherrschen. Dazu muss sie sie vernichten.
Das wiederum bedeutet, dass das Meer in den Großen Sog, den
alles verschlingenden Strudel, getrieben werden muss, was ohne Susan
nicht zu schaffen ist.
Wie die Kinder, Onkel Farley, der sprechende Papagei, die Seeräuber,
der Wal und die Nixe Diaphone, die am Ende Susans Freundin ist,
es schaffen, die teuflische Wasserkönigin zu besiegen, das
ist spannend, richtig spannend. Darum will ich gar nichts weiter
von den Helden dieses Buches verraten. Du musst es selbst lesen.
Es ist aber vom Inhalt her trotz des spannenden Abenteuers ziemlich
anspruchsvoll - du solltest vielleicht so um die 11-12 Jahre alt
sein - und es ist mit fast 20 € nicht preiswert, auch wenn
es eine tolle Ausstattung hat, einen festen Einband, ein Lesebändchen,
einen Schutzumschlag. Also suche erst einmal in deiner Kinderbibliothek
danach.
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Dale Peck: Drifthaus
- Die erste Reise. Bloomsbury Verlag. Berlin 2006. 397 Seiten. |
* * *
Am Abgrund der Zeit
Auch in meinem dritten Buchtipp geht es um einen Abgrund, einen
Abgrund der Zeit. Im Mittelpunkt steht Florian, der es am Ende mit
Hilfe von Laura schafft, sich nicht in den Großen Sog des
Zeitspringens ziehen zu lassen.
Und das ist wirklich und wahrhaftig eine Heldentat, auch wenn Florian
alles andere als ein Held ist. Er ist nämlich dazu eigentlich
viel zu träge, zu träge für eine sportliche Betätigung,
zu träge für das Aufräumen seines Zimmers, zu träge
für das regelmäßige Lernen. Seine Mitschüler
nennen ihn darum nur den Copy-King, weil er Hausaufgaben grundsätzlich
abschreibt.
Eines Tages entdeckt Florian, dass er die Zeit auf Null drehen und
damit die Welt um ihn herum erstarren lassen kann. Das bedeutet,
alles um ihn herum ist unbeweglich. Er aber kann zwischen den Menschen
hin- und herlaufen, kann tun und lassen, was er will, kann sich
im Supermarkt das größte Eis nehmen, kann ganze Klassenarbeiten
abschreiben. Und wenn er die Zeit wieder in ihre Bewegung zurückversetzt
hat, dann weiß nur er, was passiert ist. Kein anderer erinnert
sich an irgendetwas, denn für sie geht die Zeit dort weiter,
an der sie vor Minuten oder auch Stunden angehalten wurde.
Nur Florian und ein anderer Zeiträuber, der irgendwann seinen
Weg kreuzt, wissen von der Nullwelt. Und später auch Laura,
die nur durch das Springen in die Nullwelt vor einem Auto gerettet
werden kann.
Florian genießt dieses Geheimwissen und die große Freiheit.
Aber dann gerät irgendwie alles außer Kontrolle. Von
dem Jungen wird eine Entscheidung gefordert, die ihn fast in Stücke
reißt. Er schafft es, den richtigen Weg zu beschreiten. Aber
wie er es schafft, warum er es schafft, das musst du allein beim
Lesen dieses Buches ergründen.
Mit der Zeit surfen
Das gibt's doch nicht, so viele Sätze habe ich nun schon geschrieben.
Sie flossen mir leicht durch den Kopf und von dort über die
Hände in die Tasten des Computers. Es ist schon kurz vor Mitternacht.
Die Zeit ist gerast, dass ich es gar nicht bemerkt habe. Ja, wenn
etwas Spaß macht, dann tragen einen die Zeitwellen hoch hinaus
und man gleitet trotzdem ganz leicht an Land.
Ein ähnlich freudiges Gefühl beim Lesen wünscht dir
Helma
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Andreas Schreiner: Am Abgrund
der Zeit. Arena Verlag. Würzburg 2004. 211 Seiten |
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