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Salon Albert

 

Hallo und herzlich willkommen in meinem literarischen Salon!

Heute möchte ich euch einen Autor vorstellen, dessen Romane und Erzählungen in vielen Sprachen gelesen und verstanden werden. In Deutschland sind die meisten seiner Bücher Bestseller und liegen stapelweise in den Buchläden.
Normalerweise stellt man sich unter Bestsellern billige Massenware vor, die sich zwar leicht lesen lässt, die einen aber nicht vom Hocker reißt. Das ist schade, denn es gibt immer wieder Bestseller, die das doch tun. Diese Sorte ist zwar selten, aber dafür umso kostbarer. Denn sie muss etwas an sich haben, das uns unabhängig von unserer Herkunft und Biographie berührt und umtreibt.

Ihr könnt euch sicher denken, dass ich euch hier keinen schlechten, sondern einen guten Bestseller vorstellen möchte. Vielleicht habt ihr das Buch selbst schon einmal gelesen, denn es wurde von der Jugendjury 2005 für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert und wird deshalb in Buchhandlungen nicht nur in der Abteilung für Erwachsene, sondern auch in der für Kinder und Jugendliche verkauft. Das Buch heißt "Kafka am Strand" und sein Autor Haruki Murakami.
Haruki Murakami wurde 1949 in Kyoto geboren. Obwohl er Japaner ist, fühlte er sich schon in eurem Alter von der amerikanischen Literatur und Musik angezogen. Nach der Schule eröffnete er eine Jazz-Bar und lebte zehn Jahre später für eine Weile in den USA aber auch in Europa. Deshalb kennt er sich nicht nur mit der östlichen, sondern auch mit der westlichen Lebensweise und Kultur gut aus. Und wahrscheinlich ist das auch einer der Gründe, warum er in diesen Ländern so gerne gelesen wird.
Ein anderer wichtiger Grund für seine Beliebtheit ist aber sicher auch der, dass er in seinen Geschichten Fragen stellt, die die meisten Menschen interessieren: "Wer bin ich?" "Wohin gehe ich?" "Warum schlage ich diesen oder jenen Weg ein?" "Warum tue ich dies oder jenes?" "Gibt es einen Sinn hinter meinen Handlungen?"
Das Aufregende an Haruki Murakamis Büchern ist, dass sie uns auf diese Fragen keine eindeutigen Antworten geben. Der Autor beschreibt nur, wo er selbst oder seine Ich-Erzähler nach den Antworten suchen: In der Begegnung. Fast alle seine Geschichten handeln von einzigartigen, alles verändernden Begegnungen.
Es müssen übrigens nicht unbedingt Begegnungen zwischen Menschen sein. Beschrieben werden auch Begegnungen zwischen Menschen und Dingen oder sogar unsichtbaren Erscheinungen. Zum Beispiel hört einer ein Musikstück und ist danach ein anderer. Ein anderer spricht mit einer Katze oder einem Stein und ändert dadurch seine Blickrichtung, und noch ein anderer hat ein telepathisches Erlebnis, das sein bisheriges Leben aus den Bahnen wirft.
Meistens sind die Begegnungen allerdings zwischenmenschlicher Art. Und am allermeisten trifft der Ich-Erzähler irgendeine Frau, die ihn gedanklich und emotional nicht mehr loslässt und seine Handlungen wesentlich bestimmt.
Ob man diese Begegnungen als tiefe Freundschaft oder leidenschaftliche Liebe bezeichnet, ist eigentlich nebensächlich. Wichtig ist nur, dass Murakamis Helden durch die Auseinandersetzung mit dem anderen zu Einsichten gelangen, die ohne die Begegnung undenkbar wären.

Jetzt lese ich euch also einen Ausschnitt aus dem ersten Kapitel des Buchs "Kafka am Strand" vor. Ich habe mich für diesen Roman entschieden, weil der Ich-Erzähler erst 15 Jahre alt und damit nicht viel älter als ihr ist.
Bevor ich zu lesen anfange, müsst ihr allerdings wissen, dass der Ich-Erzähler seinem Vater gerade 400 000 Yen gestohlen hat, weil er von zu Hause abhauen möchte. Jetzt sitzt er auf dem Sofa seines Vaters und erzählt seinem Freund Krähe von dem Diebstahl und seinen Plänen. Krähe findet es nicht schlimm, dass er das Geld gestohlen hat und unterstützt ihn in seinem Entschluss, wegzugehen: "Schließlich ist es dein Leben. Konkret bleibt dir nichts anderes übrig, als das zu tun, was du vorhast." Auf der anderen Seite ist Krähe allerdings auch skeptisch: Wird die Flucht seines Freundes klappen und kann er sich alleine durchschlagen?
Doch ich lasse den Autor lieber selbst erzählen:

"Aber vor allem musst du jetzt stark werden."
"Ich gebe mir Mühe."
"Stimmt", sagt Krähe. "In den letzten Jahren bist du ganz schön kräftig geworden. Das kann ich nicht leugnen."
Ich nicke
.
"Allerdings bist du erst fünfzehn", sagt Krähe. "Dein Leben hat, gelinde ausgedrückt, gerade erst begonnen. Die Welt ist voll von Dingen, denen du noch nie begegnet bist. Von denen du überhaupt noch keine Vorstellung hast."
Wie üblich sitzen wir nebeneinander auf dem alten Ledersofa im Arbeitszimmer meines Vaters. Krähe schätzt diesen Raum sehr. Er liebt die kleinen Gegenstände, die es hier gibt. Gerade spielt er mit einem gläsernen Briefbeschwerer, der die Form einer Biene hat. Natürlich lässt er sich nicht blicken, wenn mein Vater zu Hause ist.
"Eins steht jedenfalls fest", sage ich, "ich muss hier raus. Daran ist nicht zu rütteln."
"Mag sein", pflichtete Krähe mir bei. Er legt den Briefbeschwerer auf den Tisch und verschränkt die Hände hinter dem Kopf." "Aber das ist keine Lösung für alles. Ich will deinen Entschluss nicht ins Wanken bringen, aber ich weiß nicht, ob du dem Ganzen wirklich entkommen kannst, auch wenn du noch so weit fährst. Du solltest dir nicht allzu viel von der Entfernung versprechen."
Ich denke über die Entfernung nach. Krähe drückt sich seufzend die Fingerkuppen auf beide Augenlider. Dann spricht er mich aus dem Dunkel seiner geschlossenen Augen an.
"Spielen wir unser Spiel?"
"Einverstanden." Ich schließe ebenfalls die Augen und atme langsam und tief ein.
"Also gut, stell dir einen grausamen Sandsturm vor", sagte er. "Und vergiss alles andere."
Wie geheißen, stelle ich mir einen tobenden Sandsturm vor. Und vergesse alles andere. Sogar mich selbst. Ich werde völlig leer. Sofort taucht er vor mir auf. Wie schon so oft erleben Krähe und ich so etwas gemeinsam auf dem alten Ledersofa im Arbeitszimmer meines Vaters.
Hin und wieder hat das Schicksal Ähnlichkeit mit einem örtlichen Sandsturm, der unablässig die Richtung wechselt."

Albert schlägt das Buch zu und trinkt einen Schluck Wasser.

"Was ist das denn für ein Spiel, das die beiden spielen?" fragt Palmina neugierig. "Verschmelzen sie ihre Gedanken miteinander? - Das stelle ich mir sehr schwer vor. Für so etwas muss man sich sicher unglaublich nah sein!"

Ein Mädchen, das neben Palmina sitzt, will etwas sagen. Aber ein Junge plappert schnell dazwischen: "Ich finde gar nicht, dass die beiden sich unglaublich nah sind. Ich finde sogar, dass sie weiter voneinander entfernt sind, als das bei guten Freunden der Fall sein sollte. Denn Krähe lässt seinen Freund einfach mit seinen Problemen alleine gehen. Ich würde mit meinem Freund mitgehen. Sonst wäre ich kein guter Freund."

Das Mädchen möchte wieder etwas sagen. Aber dieses Mal ist Palmina schneller: "Man muss doch nicht überall hin mitgehen, nur weil man befreundet ist! Manchmal kann es viel wichtiger sein, dass einem der Freund zuhört, einen versteht oder einen Rat gibt."

"Welchen Rat gibt Krähe denn?" fragt der Junge erregt. "Dass sein Freund stark sein soll? Das ist doch kein Rat, sondern eine abgedroschene Phrase."

"Für dich vielleicht", meint Palmina. "Aber für den Jungen hat der Rat offensichtlich eine tiefere Bedeutung. Krähe ist auf jeden Fall ein guter Freund. Denn er gibt dem Jungen das Gefühl, dass es jemanden gibt, der ihm sehr nah ist. So nah, dass man beinahe meinen könnte, dass die beiden ein und dieselbe Person sind."

"Aber das sind sie doch auch!" ruft das Mädchen. Endlich konnte sie sagen, was sie schon die ganze Zeit sagen wollte: "Krähe ist doch nur eine Phantasiefigur von Kafka Kamura. Kafka spricht nicht mit seinem Freund, sondern mit sich selbst! Deshalb kann er in dem Spiel auch so gut mit Krähe verschmelzen. Aber genau deshalb kann ihm Krähe auch nicht wirklich helfen!"

"Hab ich doch gesagt, dass Krähe kein guter Freund ist!" sagt der Junge zufrieden.

"Wer ist denn Kafka Kamura?" fragt Palmina verdutzt.

"Der Ich-Erzähler natürlich", sagt das Mädchen. "Hast du das Buch denn etwa nicht gelesen?"

"Nein", sagt Palmina unbeeindruckt und überlegt: "Warum tut Kafka denn so, als ob Krähe ein Freund wäre?"

"Natürlich weil er sonst niemanden hat", sagt das Mädchen. "Er ist so einsam, dass er sich einen Freund erfinden muss."

Albert blubbert laut in seinem Glas.
"Eigentlich macht es doch keinen großen Unterschied, ob Kafka mit sich selbst oder mit einem Freund redet", wirft er listig in die Runde. "Hauptsache er hat jemanden, der ihn versteht."

"Natürlich macht es einen Unterschied!" sagt das Mädchen. "Krähe rät ihm nur das, was Kafka sich selbst vorstellen kann. Er ist für Kafka zwar eine Art Über-Ich. Aber als echter Freund völlig untauglich."

"Aber sieht man in wirklichen Freunde nicht auch oft nur das, was man in ihnen sehen möchte?" fragt Albert weiter. "Vielleicht bilden wir uns die Freundschaft mit wirklichen Freunden auch nur ein?"

"Beim Chatten vielleicht", sagt das Mädchen ungerührt. "Aber da sind die Freunde auch nicht wirklich real. Das ist auch schon beinahe eine Traumwelt. Aber bei echten Freunden interpretiere ich nichts hinein."

"Warum bist du dir da so sicher?" fragt Albert.

"Weil sie wirklich existieren. Sie können mir Gedanken und Gefühle mitteilen, die völlig unabhängig von mir sind. Genau das macht doch auch gute Freundschaften so wertvoll: Dass man sich gegenseitig auf neue Ideen bringen kann. Und dass man sich alles sagen kann, auch wenn einem das eine oder andere davon gar nicht passt. Dass man also einen Dialog und nicht eine Art Monolog mit einem Phantasie- oder Wunschpartner führt. Die Vorstellung, mit meinen Freunden eins zu sein und sozusagen gedanklich zu verschmelzen, finde ich gruselig!"

"Die Freundschaften, die du beschreibst, sind die gewöhnlichen", sagt Palmina. "Die ungewöhnlichen und einzigartigen sind aber die, bei denen man mit den anderen sehr wohl verschmelzen kann und das auch will. Meiner Meinung nach ist man eigentlich immer auf der Suche nach einem Freund, der zu einem passt wie ..." Palmina überlegt.

"Wie ein Teil zum anderen?" nimmt Albert ihren Gedanken auf.

"Ja!", sagt Palmina. "Wie ein Teil zum anderen."

"Hm", macht Albert. "Das erinnert mich an eine Stelle aus dem Buch. Ich glaube, die lese ich euch einmal vor. Kafka ist übrigens mittlerweile von zu Hause weg, in einer anderen Stadt angekommen und hat in einer ruhigen Privat-Bibliothek Zuflucht gefunden. Er hat dort Oshima, den einzigen Angestellten der Bibliothek, kennen gelernt.
Mit Oshima redet er öfters über Musik und Literatur. Und Oshima erzählt Kafka öfters kleine Geschichten, wie zum Beispiel diese hier:

"Nach Aristophanes in Platons Gastmahl gab es früher drei Geschlechter von Menschen", sagt Oshima. "Kennst du die Geschichte."
"Nein."
"In alter Zeit gab es nicht nur ein mannmännliches und ein weib-weibliches Geschlecht, sondern auch ein mannweibliches. Alle Menschen bestanden aus jeweils zwei Teilen. Und alle lebten unbekümmert und zufrieden. Dann freilich nahmen die Götter ein Messer und schnitten sie in zwei Hälften. Säuberlich wie Früchte. Seitdem gibt es Frauen und Männer auf der Welt, und die Menschen irren ständig auf der Suche nach ihrer anderen Hälfte durchs Leben."
"Warum haben die Götter das getan?"
"Die Menschen in zwei Hälften geteilt? Weiß ich auch nicht. Was die Götter tun, ist meistens unverständlich. Sie sind launisch und haben - wie soll man sagen - eine Neigung zum Individualismus. Vielleicht sollte es einen Strafe sein, so wie bei Adam und Eva in der Bibel, als sie aus dem Paradies verjagt wurden."
"Wegen der Erbsünde", sage ich.
"Genau. Die Erbsünde", sagt Oshima.
Er klemmt sich den langen Bleistift zwischen Mittel- und Zeigefinger und lässt ihn langsam hin- und herschwingen. "Ich wollte damit nur sagen, dass es schwer für einen Menschen ist, ganz allein zu leben."
Ich gehe in den Lesesaal zurück und lese weiter in der "Geschichte von Abu El-Hasan dem Schalk", aber so richtig kann ich mich nicht mehr darauf konzentrieren. Männlich, mannweiblich und weiblich?

 

"Eine schöne Geschichte", sagt Palmina. "Sie erklärt gut, warum wir uns so sehr nach jemandem sehnen, der zu uns passt."

"Mich interessiert viel mehr, warum Oshima diese Geschichte erzählt", mischt sich der Junge ins Gespräch. "Erzählt er die Geschichte, damit Kafka sich endlich von Krähe trennt und einen wirklichen Freund sucht? Oder will Oshima ihm damit nur mitteilen, dass er ihn versteht, wenn Kafka sich alleine fühlt?"

"Oshima kennt Krähe doch gar nicht", meint das Mädchen. "Meiner Meinung nach erzählt er Kafka die Geschichte mit den drei Geschlechtern, weil er selbst mannweiblich, also ein Hermaphrodith ist. Aber obwohl er körperlich beide Teile vereint, ist er alles andere als glücklich. Er selbst ist lebendiger Beweis dafür, dass Platons Geschichte Quatsch ist."

"Warum?" fragt Palmina. "Oshima ist doch selbst nur Teil einer Geschichte!"

"Ich glaube, dass Oshima die Geschichte eigentlich aus einem anderen Grund erzählt", mischt sich Albert ein. "Indirekt redet er über seine Bibliotheks-Vorgesetzte, Saeki-San. Als Jugendliche hatte Saeki-San ihren anderen, männlichen Teil tatsächlich gefunden und sich mit ihm vereinigt. Aber ihr Mann starb schon sehr früh. Seitdem trauert sie um ihn und lebt nur noch in der Erinnerung an ihren anderen Teil."

"Wie schrecklich!", fühlt Palmina mit. "Wie lebendig begraben."

"Selber schuld", sagt der Junge. "Warum sehnt sie sich auch nach einem anderen Teil? Das ist doch albern! Ich zum Beispiel fühle mich so wie ich bin vollständig. Ich sehne mich absolut nicht nach einem anderen Teil!"

"Sei froh", meint Albert ein wenig altklug. "Wenn du erst einmal jemandem so nah gekommen bist, dass du das Gefühl hast, mit ihm zu verschmelzen, wirst du die Sehnsucht danach nicht mehr los."

"Und warum will Kafka Tamura dann mit jemandem verschmelzen?" fragt der Junge. "Woher kennt er denn dieses Gefühl?"

"Von seinem Freund Krähe wahrscheinlich", sagt das Mädchen und zwinkert dem Jungen verschwörerisch zu.

"Nein, nicht von Krähe", sagt Albert. "Seine Mutter und seine Schwester haben ihn verlassen, als er vier Jahre alt war. Seither sehnt er sich nach der Vereinigung mit ihnen."

"Das ist Inzest", sagt der Junge knapp. "So etwas ist gar nicht erlaubt."

"Du verstehst überhaupt nicht, worum es geht", sagt Palmina. "Sicher geht es gar nicht um eine körperliche, sondern um eine seelische Vereinigung?!"

"Du verstehst überhaupt nicht, worum es geht", sagt das Mädchen. "Natürlich geht es auch um eine körperliche Vereinigung! Findest du jetzt wenigstens den Gedanken daran gruselig?"

Palmina überhört das Mädchen und fragt Albert: "Findet er denn seine Mutter wieder?"

"In gewisser Weise schon", antwortet Albert. "An einem fernen Ort, zwischen Phantasie, Erinnerung und Jenseits."

"Und was ist mit Kafka?" fragt Palmina weiter. "Bleibt er an diesem fernen Ort? Oder findet er wieder in die Realität zurück?"

"Ein Junge findet schon zurück", meint Albert rätselhaft, "Aber ich weiß nicht, ob es noch Kafka Tamura ist."

Haruki Murakami: Kafka am Strand. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Dumont Literatur und Kunst Verlag. Köln 2002. 637 Seiten.

 © Rossipotti No. 11, April 2006