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Rossipottis Leibspeise
und andere Lieblingsbücher

 

Rossipottis Leibspeise

Lieblingsbuch

vorgestellt von Helma Hörath

* * *

Der weiße Stein

"Wann legen wir endlich los?" frage ich Rossipotti ungeduldig.
Schon seit zwanzig Minuten sitzt er stumm auf seinem roten Samtsofa und schaut auf einen hohen Bücherstapel. Dabei wollten wir eigentlich besprechen, welche Bücher wir dieses Mal vorstellen.
"Du kannst dich mir gegenüber ruhig etwas respektvoller verhalten", nörgele ich weiter. "Immerhin bin ich deine Leibspeise. Leibspeisen lässt man nicht warten."
Da Rossipotti immer noch nicht reagiert, versuche ich es mit einen schmollenden Ton: "Oder bin ich etwa nicht mehr deine Leibspeise?"

"Natürlich bist du noch meine Leibspeise", sagt Rossipotti gedehnt und dreht den Kopf langsam in meine Richtung. "Aber ..."

"Was 'aber'?"

"Aber, aber ...", Rossipotti nimmt ein Buch vom Stapel, wiegt es in der Hand und sagt: "Das Thema 'Freundschaft'! Merkst du nicht, wie schwer es wiegt?"

Ich schüttle den Kopf. Was soll denn an dem Thema schwer sein?
Luftig, locker, puffig leicht, das ist das Thema! Man muss es nicht lange erklären, denn jeder weiß, was Freundschaft ist. Jeder hatte schon mal einen Freund oder eine Freundin. Und die meisten haben sogar mehrere.

"Es gibt nicht viele Themen, die so subjektiv sind wie dieses Thema", unterbricht Rossipotti meine Gedanken. "Wenn man von Freundschaft redet, meint man zwar, dass der andere sofort weiß, wovon man redet. Aber im Grunde haben wir alle eine ganz andere Vorstellung davon."

"Wohl kaum", sage ich. "Das Thema ist so objektiv, dass man wissenschaftliche Bücher darüber schreiben kann. Die Vorstellung davon, was gute Freunde sind, ändert sich zwar von Zeit zu Zeit, aber in jeder Gesellschaft gibt es eine konkrete Vorstellung davon, was Freunde auszeichnet. Mal ist es politische Partnerschaft, mal private Treue bis in den Tod, aber immer soll ein Freund jemand sein, auf den man sich verlassen und dem man vertrauen kann."

"Schon möglich", sagt Rossipotti. "Aber im Grunde ist das Thema so unfassbar wie ein weißer Stein."

"Ein weißer Stein?" frage ich irritiert. "Wieso denn das?"

"Man kann ihn ansehen, tasten, riechen und sich an ihm freuen. Man kann über sein Wesen nachdenken und spekulieren, aber im Grunde kann man sein eigentliches Rätsel nicht lösen."

Ich bin sprachlos. Hoffentlich entwickelt Rossipotti aus unserem schlichten Thema keine esoterische Theorie! Ich kann Esoterik nicht ausstehen. Diese Lehre ist unwissenschaftlich und deshalb auch nicht mit vernünftigen Argumenten zu diskutieren.

"Vor langer Zeit habe ich einmal einen Film gesehen, in dem sich zwei Freunde, ein Mädchen und ein Junge, als Zeichen ihrer Freundschaft immer einen weißen Stein hin- und her getauscht haben ", erklärt Rossipotti. "Ich habe zwar nur noch eine ganz verschwommene Erinnerung an den Film. Aber das Bild mit dem Stein ist mir noch gut im Gedächtnis. Freundschaft ist tatsächlich vor allem das: Sich gegenseitig weiße Steine tauschen."

Ich atme erleichtert auf. Ich kenne diesen Film und er ist zum Glück nicht esoterisch!
"Ich weiß, welchen Film du meinst", sage ich. "Sicher die Verfilmung von Gunnel Lindes Buch 'Der weiße Stein'."

"Buch?" horcht Rossipotti auf. "Die Geschichte gibt es in einem Buch?"
Plötzlich ist Rossipotti hellwach. "Dann musst du es vorstellen! Jetzt gleich! Ich höre dir sogar zu!"

Ich bin überrumpelt von so viel Zuwendung. Rossipotti will mir zuhören! Hoffentlich sage ich jetzt nichts Falsches. Am besten erzähle ich alles der Reihe nach, das ist einfacher:

"Die Geschichte spielt in einem schwedischen Dorf. Das Mädchen Fia lebt mit ihrer Mutter in einer kleine Kammer in der großen Villa des Amtsrichters. Die Haushälterin Tante Malin macht den beiden das Leben zur Hölle. Und auch bei den Dorfkindern ist Fia nicht beliebt. Denn ihre Mutter ist Klavierlehrerin, ein sonderbar unpraktischer Beruf, finden die Kinder. Und so bleibt Fia oft nichts anderes übrig, als am Gartentor der Villa zu stehen und auf die Straße zu gucken. Auf der anderen Seite der Straße wohnt seit neuem Hampus, der Neffe des Schusterjungens. Er lebt bei den Schusters, seit seine Eltern tot sind, obwohl sein Onkel und seine Tante schon sechs eigene Kinder haben. Hampus denkt sich oft wilde Streiche aus und bekommt Schwierigkeiten mit der Dorfbevölkerung. Aus dem Grund muss die Schusterfamilie ständig umziehen. Hampus hatte bisher nie die Chance, Freunde zu finden und wurde deshalb immer noch wilder.
Doch eines schönen Sommertages sieht Hampus Fia am Tor stehen. Das Sonnenlicht wirft einen Lichtkringel auf ihr Gesicht und mit ihren schwarzen Locken sieht sie sehr hübsch aus. Fia findet dagegen Hampus aufregend wild ..."

"Halt, halt!" sagt Rossipotti und klappt das Maul auf. "Das muss eine andere Geschichte sein. Vielleicht ist deine dörfliche Liebesschnulze auch spannend, aber sicher nicht so spannend wie meine Freundschafts-Geschichte mit dem weißen Stein!"

"Meine Geschichte ist keine Liebeschnulze", sage ich und würde am liebsten mit den Zähnen knirschen. "Und wenn du mich nicht unterbrochen hättest, wäre ich jetzt schon an der Stelle mit dem weißen Stein!
Nachdem die beiden sich nämlich ein bisschen unterhalten und gegenseitig geneckt haben, kriegt Hampus Fias Faust zu fassen. Und - was glaubst du, was Fia in der Faust umklammert? Den weißen Stein natürlich! Hampus reißt ihr den Stein aus der Hand und wirft ihn in die Luft. Doch da wird Fia sehr wütend. Der Stein ist ihr Troststein und sie will ihn unbedingt wieder haben. Hampus gibt ihn ihr tatsächlich, und dann sehen ihn sich beide gemeinsam an: Der Stein ist glatt und rund und hat keinen einzigen schwarzen Fleck."

"O.k.", sagt Rossipotti, "in deiner Geschichte kommt tatsächlich auch ein weißer Stein vor. Trotzdem ist es nicht die gleiche Geschichte, die ich meine. Meine Geschichte ist viel geheimnisvoller. Ein Versteck in einem Lindenbaum und aufregende Taten spielen darin eine große Rolle."

"Du meinst sicher die Mutproben von Fideli und dem König der Gefahren."

"Hm?!"

"Fia und Hampus nennen sich gegenseitig so. Das ist viel aufregender. Außerdem machen die Namen sie mutig und stark."

"Für die Mutproben?"

"Ja!" sage ich und bin froh, dass sich Rossipotti endlich für meine Geschichte interessiert. "Nachdem Hampus mit Fia den weißen Stein genauer angesehen hat, würde er ihn auch gerne haben. Nicht nur, weil der Stein so schön ist, sondern weil er Fideli gehört. Und Fia würde den Stein gerne dem König der Gefahren ausleihen, damit er etwas von ihr hat und sie beide der Stein miteinander verbindet. Deshalb hat sie die Idee mit der Mutprobe: Wenn er der Kirchturmuhr ein Gesicht malen kann, bekommt er den Stein."

"Natürlich besteht er die Mutprobe!" sagt Rossipotti bestimmt.

"Ja", sage ich. "Und danach muss Fideli eine Mutprobe machen: Wenn sie es schafft, einen Tag lang nichts zu reden, bekommt sie den Stein wieder."

"Jetzt erinnere ich mich!" ruft Rossipotti. "Der Stein wandert zwischen den beiden hin und her und ihre Freundschaft wird immer stärker."

"Ja. Aber die Mutproben verwirren und ärgern die Erwachsenen. Und weil die beiden Angst haben, deswegen getrennt zu werden, essen sie gemeinsam giftige Pilze."

"Es ist tatsächlich die gleiche Geschichte wie im Film", sagt Rossipotti zufrieden. "Und deshalb weiß ich auch, dass die Pilze gar nicht wirklich giftig sind, sondern dass die beiden immer noch zusammen auf ihrer Linde sitzen. - Aber weißt du, was komisch ist? Auch wenn ich mich jetzt wieder an die Einzelheiten der Geschichte erinnere, das einzige, das wirklich zählt ist trotzdem nur der Stein!"

Gunnel Linde: Der weiße Stein. Aus dem Schwedischen von Birgitta Kicherer, mit Bildern von Kat Menschik. Gerstenberg Verlag. Hildesheim 2004 (die schwedische Originalausgabe erschien 1964). 196 Seiten.

* * *

Kleine Schritte

"Du hast mir einen echten Freundschaftsdienst erwiesen", sagt Rossipotti, als wir mit der ersten Buchbesprechung fertig sind. "Du hast es geschafft, dass ich keine Hemmungen mehr davor habe, über Freundschaft zu sprechen!"

Ich fühle mich geschmeichelt und bekomme einen roten Kopf.

"Man darf nicht den Anspruch haben, das ganze Thema auf einmal zu besprechen und seinem Geheimnis so kurz mal auf den Grund gehen zu können", erklärt mir Rossipotti. "Man muss einfach irgendwo anfangen und sehen, wo es einen hinführt."

"Und man muss einen Gedanken-Schritt nach dem anderen machen", füge ich hinzu. "Am besten kleine Schritte, damit man nicht stolpert."

"Der Spruch kommt mir bekannt vor", sagt Rossipotti und sieht mich belustigt an, "hast du den von Deo geklaut?"

"Deo? Was denn für ein Deo?"

"Na, der aus dem Buch 'Löcher' von Louis Sachar. Das Buch über das Jugendstraflager Camp Green Lake, in dem die Jungs von morgens bis abends Löcher in den Wüstensand buddeln müssen. - Ich denke, du hast es gelesen und warst begeistert davon?!"

"Stimmt", antworte ich und überlege. "Deo, das war der Typ, dem ein Skorpion unter die Achsel gekrochen ist. Aber an einen Kleine-Schritte-Spruch kann ich mich nicht erinnern."

"Kannst du auch nicht!", meint Rossipotti ohne mit der Wimper zu zucken. "Mir ist nämlich gerade eingefallen, dass der Spruch aus Sachars neuestem Buch 'Kleine Schritte' stammt. Ich habe es verwechselt, weil Deo da auch wieder mitspielt. Er hat sogar eine Hauptrolle. X-Ray ist übrigens auch wieder mit von der Partie."

"Ist das Buch so gut wie 'Löcher'?" frage ich gespannt. "Löcher" war wirklich einmalig.

"Finde ich nicht", meint Rossipotti. "Aber es ist trotzdem ein schönes Buch über Freundschaft. Ein bisschen rührselig, aber nicht kitschig, ein bisschen dick aufgetragen, aber im Kern doch irgendwie glaubhaft."

"Und sonst?"

"Sonst könntest du es eigentlich vorstellen", sagt Rossipotti. "Aus Freundschaft einem wirklich guten Autor gegenüber."

Rossipotti zieht ein schmales grünes Buch aus seinem Stapel und reicht es mir. Dann steht er auf, dehnt sich ein wenig und geht grüßend zur Tür hinaus.

Schade!
Rossipotti war heute so umgänglich, dass ich mich noch gerne länger mit ihm unterhalten hätte. Aber da es bald 11 Uhr ist, hat er natürlich Wichtigeres zu tun, als hier bei mir zu sitzen.

Ich sehe mir das grüne Buch genauer an und enträtsel auf dem Cover eine Ticket-Karte. Sie scheint für ein Show von irgendeiner Kaira De Leon in der Lonestar Arena in Austin zu sein.
Komisch. Was haben X-Ray und Deo mit Showkarten zu tun?
Ich schlage das Buch auf und sehe Deo mit einer Schaufel in einem Garten stehen und Löcher in den Boden buddeln!
Oh nein, nicht schon wieder, denke ich.
Doch als ich weiter lese, erfahre ich, dass Deo jetzt freiwillig Löcher buddelt, und zwar für Geld. Von seiner Sozialarbeiterin hat er nämlich gelernt, dass man mit kleinen Schritten schneller vorwärts kommt als mit großen. Das hört sich unlogisch an, aber Deo nimmt den Rat trotzdem ernst. Und deshalb nimmt er sich seine ersten fünf kleine Schritte vor: 1. Er will den High-School-Abschluss machen. 2. Sich einen Job suchen. 3. Alles Geld auf die Seite legen. 4. Sich aus Situationen heraushalten, die aus dem Ruder laufen könnten. Und 5. Den Namen Deo loswerden.
Kein Wunder, dass Rossipotti das Buch nicht so prickelnd findet, denke ich. Die Punkte sind ein echtes Einschlafprogramm. Wenn Deo mit den Punkten wirklich ernst macht, hört das Buch auf, bevor es begonnen hat.
Da Rossipotti möchte, dass ich das Buch vorstelle, muss ich es natürlich trotzdem weiter lesen.
Zum Glück taucht schon zwei Seiten später X-Ray auf und überredet Deo Punkt 3 und 4 auf später zu verschieben. Deo soll ihm fast sein ganzes gespartes Geld geben, damit er im Vorverkauf Karten für ein Konzert für den Shootingstar Kaira DeLeon kaufen kann, um sie ein paar Tage später gewinnbringend wieder zu verkaufen.
Deo kann seinem Freund X-Ray die Bitte nicht abschlagen und das Buch wird jetzt so spannend, dass ich es schnell alleine weiter lesen muss!
Ich melde mich dann wieder bei euch, wenn ich fertig bin ...

... So jetzt habe ich das Buch gelesen. Rossipotti hatte Recht damit, dass in der Geschichte ein bisschen dick aufgetragen wird. Deo wird der Geliebte von Kaira DeLeon und sogar in einen Mordanschlag verwickelt. Und rührselig ist es auch. Deo hat eine behinderte Freundin, für die er sechshundert Dollar in den Sand setzt, weil er eine der Konzertkarten nicht verkauft, sondern lieber ihr gibt.
Trotzdem hat mir das Buch gefallen. Erstens weil Deo die fünf Schritte nicht einhält und trotzdem nicht wieder im Straflager landet, zweitens, weil alles anders kommt, als man denkt. Und drittens, weil die Geschichte von der Idee getragen wird, dass einem nichts wirklich passiert, wenn man nicht aus Raffgier und Größenwahn, sondern aus wirklicher Freundschaft handelt.

Louis Sachar: Kleine Schritte. Aus dem amerikanischen Englisch von Werner Löcher-Lawrence. Berlin Verlag / Bloomsbury. Berlin 2006. 255 Seiten.

* * *

Die wundersame Reise von Edward Tulane

"Es gibt nicht viele, die so schreiben wie Kate Di Camillo", sagt Rossipotti.
Er ist gerade vom 11 Uhr-Termin zurück gekommen und sitzt jetzt wieder auf seinem roten Sofa. "Sie spielt mit phantastischen Elementen ohne deshalb Fantasy-Romane zu schreiben und lässt Tiere fühlen und sprechen wie Menschen, ohne fabelartige Geschichten zu produzieren. Ihre Romane passen in keine der gängigen Schubladen und wurden wohl nicht geschrieben, um irgendeine Zielgruppe zu erreichen, sondern einfach nur deshalb, weil sie der Autorin am Herzen liegen."

"Finde ich nicht", widerspreche ich. "Ich kann schon eine Schublade erkennen. Die Schublade der Moral. Die Guten sind gut, weil es ihnen gut geht und die Bösen sind böse, weil sie nichts Besseres erfahren haben."

"Bei Despereaux ist das vielleicht so", sagt Rossipotti. "Aber bei Edward Tulane nicht. Der Porzellan-Hase Edward Tulane hat alles, was man sich wünschen kann. Er hat handgenähte Seidenanzüge, modische Schuhe aus feinstem Leder und eine goldene Taschenuhr. Außerdem liebt ihn seine Besitzerin, die zehnjährige Abilene, über alles. Aber trotzdem ist der Hase gefühllos und eingebildet. Umgekehrt gibt es Figuren in dem Buch, die fast nur Schlechtes erfahren haben, und trotzdem voller Liebe sind. Denk nur an Bryce, der in ärmsten Verhältnissen mit einem ständig betrunkenen Vater aufwächst, und der sich trotzdem voller Liebe um seine todkranke kleine Schwester kümmert. "

"Dann haben wir eben die moralische Schublade der Liebe!" sage ich. "Man braucht nur zu lieben und schon ist man ein guter Mensch. Umgekehrt sind Menschen ohne Liebe kalt und böse."

"Na und?" fragt Rossipotti. "Hast du ein Problem damit?"

"Eigentlich nicht", antworte ich, "Ich glaube nur nicht, dass es Menschen ohne Liebe gibt. Jeder liebt irgendjemanden. Umgekehrt glaube ich auch nicht, dass es jemanden gibt, der immer nur lieb, hilfreich und gut ist. Ich denke, dass es viele Schattierungen zwischen Liebe und Hass gibt. Mehr Schattierungen als in Kate Di Camillos Romanen."

"Ich bin erstaunt, dass du heute eine so eigenständige Meinung hast!" sagt Rossipotti. "Ich könnte dich beinahe mit mir verwechseln!"

"Und du bist heute auf Kuschelkurs!" erwidere ich. "Das Thema scheint dich weich gespült zu haben."

"Ach was", sagt Rossipotti. "Ich finde nur, dass man manchmal seinen Verstand ausschalten muss, um ein Buch genießen zu können. 'Edward Tulane' ist zwar nicht so hinreißend wie 'Despereaux', aber es ist trotzdem ein Buch, das man Kindern mit gutem Gewissen empfehlen kann."

"Ich soll es also vorstellen?" frage ich.

Rossipotti nickt, und ich mache mich ans Tippen des Klappentextes:

"Es war einmal ein Hase aus Porzellan, den ein kleines Mädchen sehr lieb hatte. Auf einer Seereise ging er über Bord und wurde von einem Fischer gerettet. Es war einmal ein Hase, der immer wieder verloren ging und immer wieder Freunde fand, geliebt wurde und lernte, selbst zu lieben. Es war einmal ein Hase, der seinen Weg nach Hause fand."

"Was machst du denn da?" fragt mich Rossipotti.
Er ist unbemerkt von mir hinter mich getreten und hat mir beim Tippen zugesehen.

"Ich tippe den Klappentext des Buchs."

"Aber warum denn das?" fragt mich Rossipotti entsetzt. "Du sollst dir selbst etwas zu dem Buch überlegen, dir eine unabhängige Meinung bilden!"

"Ich dachte, ich solle meinen Verstand ausschalten", sage ich. "Außerdem finde ich, dass in dem Text alles drin steht. Mehr braucht man über das Buch nicht zu wissen."

"Und was ist mir Bryce?" fragt Rossipotti.

"Den hast du doch vorher schon erwähnt."

"Und was ist mit all den anderen? Mit Abilene, der Fischersfrau Nellie, dem Landstreicher Bull und der alten Puppe im Porzellanladen?"

"Finden sich alle in dem Wort 'Freunde' wieder", sage ich selbstbewusst. "Und mehr sollten wir den Kindern doch nicht verraten, oder?"

Kate Di Camillo: Die wundersame Reise von Edward Tulane. Deutsch von Siggi Seuß, mit Bildern von Bagram Ibatoulline. Cecile Dressler Verlag. Hamburg 2006. 137 Seiten.
Sehr zu Empfehlen ist auch die vollständige Lesung des Buchs von Stefan Kurt. Er gibt den einzelnen Figuren so viel Wärme, dass man beinahe mit allen von ihnen befreundet sein möchte:
Kate di Camillo: Die wundersame Reise von Edward Tulane. Deutsch von Siggi Seuß, vorgelesen von Stefan Kurt. Vollständige Lesung mit Musik. 2 CDs. Gesamtlaufzeit: 2 Std. 12 Minuten. Beltz & Gelberg Hörbuch/Hörcompany. Weinheim/Hamburg 2005.

 

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Lieblingsbuch

vorgestellt von Helma Hörath

Freundschaft, Freundschaft, heiliges Band

Als mir Rossipotti vor ein paar Wochen sagte, dass der Titel der nächsten Ausgabe "Freundschaft" wäre, dachte ich: Tolles Thema! Da werde ich gar keine Schwierigkeiten haben. Das Manuskript kann ich gleich anfangen und noch heute beenden. Ich war glücklich. Und im nächsten Augenblick stürzte ich in eine tiefe Grube, angefüllt mit Freundschaftsgeschichten, bis zum obersten Rand. Also, du merkst schon, ich fiel nicht, sondern ich musste mich durchboxen, musste sozusagen Wassertreten machen, um weiter atmen zu können.
Ich stand vor meinem Bücherregal und zog hier ein Buch heraus und dort noch eins und eins aus dem untersten und eins aus dem obersten Fach. Die Bücher türmten sich auf meinem Tisch und mit ihnen die Fragen: Soll ich dich auf Geschichten aufmerksam machen, die schon deine großen Geschwister, deine Eltern oder vielleicht sogar deine Großeltern gern gelesen haben? Zum Beispiel Tom Sawyer und Huckleberry Finn oder Tosho und Tamiki oder Pünktchen und Anton oder Dorothy, der Scheuch, der Eiserne Holzfäller und der feige Löwe oder Lillebror und Karlsson oder Nils Holgerson und die Wildgänse, Madita und Pims, oder Harry und ...
Oder soll ich in den Buchladen gehen, um nach ganz neuen Büchern zum Thema Freundschaft zu schauen? Soll ich über Freundschaften zwischen Menschen und Tieren, zwischen unterschiedlichen Tieren, sozusagen zwischen Jägern und Gejagten, sprechen? Zwischen Jungen und Mädchen? Zwischen Alten und Jungen? Soll ich über Geschichten von ganz ungewöhnlichen Freunden schreiben?
Fragen über Fragen. Ich überlegte und überlegte, fand tagelang keine endgültige Antwort. Doch jetzt muss ich das Manuskript abliefern. Rossipotti wartet.
Also, ich beginne jetzt einfach mit dem Schreiben. Mal sehen, in welche Richtung mich das riesige, in allen Farben des Regenbogens leuchtende Knäuel mit Freundschaftsgeschichten führt. Ich löse den Faden und stoße die Kugel an und sie rollt und rollt und rollt bis sie mitten im Himalaya-Gebirge nicht mehr weiter kann ...

Der Yeti in Berlin

Es ist früher Morgen. Der Yeti, der Schneemensch, sitzt in seiner Höhle und verspeist mit großem Appetit ein Stück Yakbraten. Dabei murmelt er immer wieder: "Ich bin gespannt, was heute passiert!"
Da taucht sein Freund, der Schneeleopard, auf und schaut ganz betrübt drein. Der Yeti will wissen, was los ist. Und Leo berichtet, was die Schneeeule ihm gerade erzählt hat: Sie war eine Zeit lang in einer großen Stadt gewesen, die Menschen nennen sie Berlin. Sie war nicht freiwillig dort geblieben, denn sie war in einem Käfig eingesperrt. Dort hatte sie die Gespräche der Zoobesucher mit angehört. Und die behaupteten, dass es Leos Freund, den Yeti, gar nicht geben würde!
Dann, als für einen Moment die Käfigtür offen stand, entwischte die Eule. Gestern war sie gerade wieder im Himalaya angekommen und musste die erlauschte Neuigkeit sofort brühwarm dem Schneeleoparden auftischen.
Zuerst lacht der Yeti über so eine Dummheit. Dann ärgert er sich so sehr, dass er Felsbrocken durch die Gegend wirft und die Berge zum Zittern bringt. Und als er sich wieder etwas beruhigt hat, beschließt er, diesen dummen Berlinern zu beweisen, wie sehr es ihn gibt!
Mit List und Tücke und auch Zufall schafft er es bis zum Flugplatz und gelangt auch wirklich bis nach Berlin. Dort freundet er sich mit dem blinden Jungen Merlin an, der dem riesigen Schneemenschen hilft, sich in der großen Stadt zurecht zu finden ...
Wer weiß, wie die Geschichte ohne Merlin ausgegangen wäre? So aber prasselt irgendwann das Feuer im Kamin der Himalaya-Höhle wieder, der Yeti beißt mit Genuss in den leckeren Braten, trinkt in großen Schlucken vom Eiswasser und schnieft leise beim Einschlafen: "Heiliger Himalaya!"
Was der Yeti mit seinem Freund Merlin in Berlin erlebt, ja, das musst du alleine lesen.

Will Gmehling: Der Yeti in Berlin. Mit Illustrationen von Markus Grolik. OMNIBUS Verlag. München 2005.

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So ist das nämlich mit Vicky

Wieder rollt das Freundschaftsknäuel. Als es bei Vicky und Nele ankommt, ist jedes Flöckchen vom Himalaya-Schnee geschmolzen. Und doch, auch hier trifft es auf ein scheinbar ungleiches Paar. Denn eigentlich passen Nele Wagner und Lodovica Capaldi, genannt Vicky, gar nicht zueinander, das meinen zumindest die Außenstehenden.
Nele ist neun Jahre alt und 1,35 m groß. Sie trägt meist Jeans und Turnschuhe, macht immer alle Schularbeiten, worauf ihre Mutter auch peinlich genau achtet, sie ist schließlich Lehrerin. Nele hat Blockflötenunterricht. Sie übt freiwillig. Das ist aber auch das einzige, was sie freiwillig macht. Wenn sie groß ist, dann will sie Querflöte im Orchester spielen oder Malerin oder Zahnärztin, am allerliebsten aber Reiterin werden.
Vicky ist neuneinhalb, einen ganzen Kopf kleiner als Nele und dick und rosig. Ihre Eltern betreiben eine Pizzeria. Vicky trägt meist Rüschenkleider und Lackschuhe. Wenn sich die beiden Mädchen im Hort treffen, dann tauschen sie sofort ihre Kleidung, und du kannst dir bestimmt vorstellen, wie lustig das dann aussieht.
Dann stehen die Sommerferien vor der Tür. Doch Herr Capaldi ist zu seinem kranken Vater nach Italien gefahren, Frau Capaldi muss die Gaststätte betreiben und Vicky wird die ganze Zeit in der kleinen Wohnung vor dem Fernsehapparat sitzen.
Wagners wollen dagegen nach Spanien. Nele meint, dass Vicky doch mit ihnen fahren könnte. Nach langem Hin und Her sind die Eltern von beiden Mädchen einverstanden und die Fahrt geht los. In Spanien lernt Nele ihre Freundin aber erst so richtig kennen. Denn grundsätzlich macht das Mädchen alles anders, als es die Wagners gewohnt sind.
Und dann muss Vicky auch noch während des Urlaubs zur Blinddarmoperation ins Krankenhaus. Dort spricht sie mit Kindern und Krankenschwestern ganz perfekt Karamäisch. Echt wahr!
Wenn du genauer wissen willst, warum die Ferien der Wagners so turbulent wurden, dann empfehle ich dir, unbedingt dieses Buch zu lesen.

Dagmar Chidolue: So ist das nämlich mit Vicky. Mit lllustrationen von Rotraut Susanne Berner. Beltz & Gelberg Verlag. Weinheim und Basel 2001.

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Fußball, Freunde, große Träume

Hörst du auch das Gejohle und das Gekreische? Es sind Geräusche, als sei da hinten ein Fußballspiel im Gange. Beim Näherkommen fällt mir zuerst dieser seltsame Ball auf.
Ach nein, das ist ja gar kein Fußball, das ist ja das Freundschaftsknäuel. Es fliegt gerade zwischen Ronny und Patrick hin und her. Beide müssen sich ein Zimmer in einem Sportinternat teilen. Beide wollen Profisportler werden. Für Ronny ist alles noch ganz neu auf der Sportschule. Er wollte ein Zimmer für sich alleine. Am liebsten hätte er sich wieder umgedreht und wäre sofort wieder nach Hause gefahren. Aber der Vater ist schon weg. Und dann schafft er es auch gleich am ersten Tag, sich Feinde unter den älteren Jungen zu machen. Er tappt in eine Falle und steht am Ende als Dieb und Lügner da. Sogar Patrick weiß nicht, ob er ihm glauben kann, obwohl er doch eigentlich sein Freund ist.
Ob sich die Freundschaft zwischen den beiden Jungen bewährt, wie Ronny sich die Achtung von Ramona erringen kann und vieles mehr vom turbulenten Internatsabenteuer beschreibt Ulli Schubert in diesem spannenden Buch.

Ulli Schubert: Fußball, Freunde, große Träume. Mit Bildern von Bettina Gotzen-Beek. Arena-Taschenbuch-Verlag. Würzburg 2006.

 

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Was ich vergessen habe

Die Füße der Kicker schieben mein Knäuel mit den unendlich vielen bunten Freundschaftsgeschichten hin und her. Es kullert hierher und dorthin, manchmal bleibt ein Stück vom Faden hängen und es rollt sich etwas ab, zieht den Faden als Schlage hinter sich her und mit der nächsten Drehung verschwindet das Ende wieder auf der Kugel. Endlich steigt sie als Kerze hoch in den blauen Himmel.
Platsch!
Da landet sie doch mitten in einem großen Aschenbecher, der auf einem Ständer steht. Der Ständer befindet sich in einem Haus und dieses wiederum in unserem Nachbarland Holland. Elmer zeigt Soscha gerade, wie sein Opa in dem Ding die Asche von seinen Zigarren verschwinden lassen konnte. Und beim Reden ist es Elmer auf einmal, als würde ihm der Zigarrenrauch in die Nase steigen, obwohl sein Opa doch schon lange nicht mehr bei ihnen wohnt.
Soscha ist noch immer die Neue an der Schule. Als sie das erste Mal in die Klasse kam, suchte sie sich sofort den leeren Platz neben Elmer aus und meinte dabei auch noch laut und deutlich, dass sie dort sitzen wollte, weil sie ihn nett finden würde.
Ja, sie ist schon ein wenig verrückt, diese Soscha, verrückt und nett und sagt ihm einfach so, dass sie ihn mag. Und sie kann Fußball spielen. Auch wenn Elmer ihretwegen dauernd rot werden muss, ist er gern mit ihr zusammen. Ja, manchmal meint er, er würde sie schon lange kennen. Es ist, als habe Soscha ein Licht in seinem Leben angeknipst. Und dieses Licht hilft ihm gemeinsam mit seiner Freundin, ein Familiengeheimnis zu entdecken und Elmers Opa aus seinem Dämmerzustand, in dem er seine Tage im Altenheim versitzt, ein klein wenig zurückzuholen.
Die Geschichte von Soscha, deren Familie aus Polen in die Niederlande gekommen ist, und Elmer, der seinen Vater nie kennen gelernt hat und mit seiner Mutter alleine lebt, ist sehr einfühlsam geschrieben und gleichzeitig auch richtig spannend. Zum Beispiel kannst du von Soscha erfahren, wie man einen Freundschaftstest machen kann: "Komm, wir machen eine Prüfung. Eine Prüfung in 'Du und Ich'. Du schreibst auf, was du von mir weißt, und umgekehrt. Essen können wir später. Zehn Minuten ab jetzt."
Übrigens können das Buch auch deine Eltern lesen. Denn auch wenn es im Regal mit Kinderbüchern steht, so ist es meiner Meinung nach eine Geschichte für die ganze Familie.

Edward van de Vendel: Was ich vergessen habe. Carlsen Verlag. Hamburg 2004.

So, und jetzt beide Hände auf! Hast du es? Na was schon! Das Knäuel mit den Freundschaftsgeschichten! Jetzt kannst du Faden für Faden abwickeln, um daraus ein buntes Freundschaftsband zu knüpfen.
Oder du wickelst deine Freundschaftsgeschichten dazu, damit die Kugel immer größer und dicker wird. Natürlich kannst du das eine oder andere Erlebnis mit deinen Freunden auch aufschreiben und an Rossipotti schicken.
Darüber freuen würde sich ganz besonders

Deine Helma

 
 
 © Rossipotti No. 11, April 2006