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Kulturtasche
Warum man mit Literatur
überall Freunde finden kann.
Die Kulturtasche im Gespräch mit Chus
López Vidal.
Warum es wichtig
ist, mit Puppen sprechen zu können.
Interview zwischen Helma Hörath und Ruth
Worzalla.
Interview mit Chus López
Vidal, Leiterin eines Kinder-Literatur-Salons in Berlin
Kulturtasche: Chus, du betreibst in Berlin das Babar's,
einen "internationalen Kiosk & Kinder-Literatur-Salon".
Was muss man sich darunter vorstellen?
Wir bezeichnen das Babar's als "Kiosk", weil wir
internationale Presse anbieten. Hier kann man also Zeitungen
und Zeitschriften aus Frankreich, England, Spanien und Italien
kaufen. Da wir unseren Kunden auch Getränke und Kuchen
anbieten, könnte man den Kiosk aber auch als Café
bezeichnen.
"Literatur-Salon" nennen wir uns, weil wir Lesungen
für Kinder organisieren und mit ihnen über philosophische
Themen wie zum Beispiel "Gott" oder "Träume"
reden. Da unser Publikum sehr international ist, machen wir
Lesungen in verschiedenen Sprachen. Hier in der Gegend gibt
es sehr viele zweisprachige Kindergärten. Viele Menschen
hier wollen, dass ihre Kinder mit zwei Sprachen aufwachsen
und wir möchten das unterstützen und ihre Internationalität
fördern.
Du möchtest also mit dem literarischen Salon einen
Geist fördern, der die einzelnen Ländergrenzen überschreitet?
Genau, das war meine Idee. Wir wollen damit schon bei kleinen
Kindern ab drei Jahren anfangen. Wir haben deshalb bereits
ein paar Lesungen in englisch gehabt, die für diese Altersgruppe
waren.
Möchtet ihr nur die Kinder erreichen, die bereits
durch ihr Elternhaus zweisprachig erzogen werden, oder auch
Kinder, die nur deutsch sprechen?
Auf jeden Fall wollen wir auch Kinder, die zu Hause nur deutsch
sprechen, miteinbeziehen. Das möchten die zweisprachigen
Kindergärten und Schulen übrigens auch. Sie laufen
alle nach dem europäischen Prinzip ab, dass die Hälfte
der Kinder deutschsprachig und die andere Hälfte fremdsprachig
ist. Wenn man also sein Kind in einer internationalen Kita
anmeldet, muss man selber nicht Muttersprachler sein.
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Vita
Chus López Vidal wurde 1963
in Quilós (León), Spanien geboren. Sie studierte
in Madrid Kunst und ist seit 1989 in Berlin als Künsterlin
tätig.
Sie macht Ausstellungen zu Themen wie Daheim in fremden
Welten (Karlsruhe 2001), 8 Künstler 8 Länder
(Berlin 2002), Die Traumsammlung (Berlin 2004) und
Me myself and I (Frankfurt 2005).
2005 eröffnete Chus einen "Internationalen Kiosk
& Kinder-Literatur-Salon" in Berlin, in dem sie Kindern
die Möglichkeit gibt, Literatur aus unterschiedlichen
Ländern kennen zu lernen.
Chus López Vidal hat einen Sohn
und lebt in Berlin.
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Das
Besondere an eurem Salon ist ja, dass ihr das internationale Denken
der Kinder über das Lesen von Literatur (und nicht etwa durch
politische Diskussionen) fördern möchtet.
Für mich ist die Literatur wie Kunst überhaupt international.
Du kannst in diesen Bereichen keine Grenzen ziehen. Künstler
und Schriftsteller lebten und leben meiner Meinung nach immer grenzenlos.
Literatur wird schnell übersetzt, es gibt das selbe Buch in
verschiedenen Sprachen. Ich denke, mit dem Übersetzen der Bücher
wird auch das andere Denken der jeweiligen Kultur ganz schnell mit
übersetzt. Wenn ich zum Beispiel einen italienischen Text lese,
der ins Deutsche übersetzt wurde, lese ich die Kultur des italienischen
Schriftstellers automatisch mit. Jeder hat Anna Karenina, Don Quichotte
oder Goethe gelesen und deshalb nehmen wir alle an einer ähnlichen
Kultur teil. Die Literatur ist für mich eine Form, Tore zu
öffnen und das Verständnis für andere Kulturen zu
fördern.
Ziel eures internationalen, literarischen Salons ist es also,
die Freundschaft zwischen den europäischen Ländern zu
fördern und andere Kulturen tolerieren zu lernen?
Ja, das ist ein Beitrag zur Toleranz. Und Toleranz ist, wie ich
denke, das Minimum für eine Freundschaft. Wenn man die Bereitschaft
hat, Schriftsteller aus anderen Ländern zu lesen, ist die Basis
zur Freundschaft schon einmal geschaffen. Wenn man zum Beispiel
Milan Kundera gelesen hat, wird man die Tschechei ganz anders bereisen
als davor. Man ist viel offener für das andere Land und viel
offener, sich mit der anderen Kultur anzufreunden.
Welchen Vorteil hat es eigentlich, wenn man über die Grenzen
hinweg Freundschaften pflegt?
Man
hat das Gefühl, so frei zu sein, dass man überall leben
kann. Ich habe zum Beispiel mein Heimatland Spanien, das mich geprägt
hat und auf das ich auch stolz bin, verlassen, um diese Freiheit
zu genießen. Ich finde es ganz wichtig für die Freiheit
des Denkens. Es geht darum, Ängste vor der anderen Kultur und
die Angst vor der Verschiedenheit abzubauen. Wenn man die andere
Kultur kennen gelernt hat und sieht, dass jede Kultur seine Macken
hat, werden Ängste abgebaut. Und dann ist man schon toleranter
geworden und denkt: "Ach, so schlimm sind die auch nicht. So
viele Unterschiede gibt es eigentlich doch gar nicht." Man
verliert die Angst, sich zu bewegen und dadurch ist man ein freierer
Mensch.
Es gibt ja auch diesen Fehler, dass man denkt, die Gesellschaft
ist unbeweglich und die jeweilige Tradition eines Landes ist geschlossen
und unveränderbar. Aber das stimmt nicht. Tradition ist ständig
in Bewegung und im Wechsel. Ich denke, wenn wir Einflüsse von
anderen Kulturen haben, sind wir auch kritischer uns selbst gegenüber.
Deutschland zum Beispiel grenzt an neun Nachbarländer, da kann
man nicht die Augen zumachen und sagen: "Wir sind hier nur
für uns." Da gibt es natürlich viele verschiedene
Einflüsse. Die eigene Tradition wird ständig mit anderen
Traditionen konfrontiert und in Frage gestellt, und wenn man das
ernst nimmt, darauf eingeht und seine Angst vor dem anderen fallen
lässt, gelingt es einem viel besser, produktiv mit Problemen
umzugehen und Lösungen zu erarbeiten.
Im Babar's werden Kindern ja vor allem Klassiker wie Leo Lionni,
Cervantes oder Michael Ende vorgelesen. Eignen sich deiner Meinung
nach vor allem Klassiker dazu, die jeweilige Ländergrenzen
zu überschreiten? Oder sind sie deshalb Klassiker geworden,
weil sie nicht nur in ihrem Herkunftsland gelesen werden?
Ich habe die Klassiker vor allem deshalb genommen, weil sie vielen
Leute bekannt sind. Wenn es um den kulturellen Austausch über
das Medium Buch geht, finde ich es ganz wichtig, dass sich in den
Büchern die anderen Kultur spiegelt. In spanischen Büchern
werden ganz andere Dinge gespiegelt, als wenn ich beispielsweise
Erich Kästner lese. Vielleicht wird in den Klassikern das jeweilige
Herkunftsland des Schriftstellers besonders gut gespiegelt. Aber
grundsätzlich ist das natürlich bei jedem Buch so, egal
ob es ein Klassiker ist oder nicht. Wichtig finde ich vor allem,
ein Buch in seiner Originalsprache zu lesen. Da liegt es nahe, mit
den Klassikern anzufangen.
Muss man die Sprache des anderen Landes sprechen können
und sich mit dessen Literatur auseinandergesetzt haben, um sich
mit ihm anfreunden zu können, oder gibt es deiner Meinung nach
so etwas wie die "Liebe auf den ersten Blick"?
Es
kann sein, dass es eine Liebe auf den ersten Blick gibt. Aber ich
glaube, danach muss man zusätzlich noch die Sprache, die Literatur
und auch die Geschichte des anderen Landes kennen lernen. Ich für
meinen Teil kann es mir nicht vorstellen, als Spanierin hier zu
leben, ohne die deutsche Kultur zu kennen. Zuerst kommt die Sprache
und dann die Auseinandersetzung mit der Kultur des anderen Landes.
Das ist sicher ganz wichtig. Das ist für mich also die Basis
eines besseren Kennenlernens. Man kann die Leute und ihre unterschiedlichen
Charaktere viel besser verstehen, wenn man ihre geschichtliche und
gesellschaftliche Herkunft kennt. Stell dir vor, du kommst nach
Spanien und dir gefällt es dort nur, weil du Flamenco wunderbar
findest. Dann hast du dein Leben lang einen blauäugigen Blick
auf Spanien, denn unser Land ist viel komplexer und vielfältiger
als Flamenco. In Spanien gibt es zum Beispiel eine Mischung aus
unterschiedlichen Religionen. Und unser Land wurde achthundert Jahre
arabisiert, das spiegelt sich nicht nur in der Sprache mit ihren
harten Lauten, sondern auch in dem Charakter, in der Esskultur,
in dem Aussehen der Spanier wieder. Ich finde es ganz wichtig, dass
man mehr über ein Land weiß als die Liebe auf den ersten
Blick.
Sind in dem Salon bereits über die Sprach-Grenzen hinweg
Freundschaften entstanden?
Ja, es haben sich hier schon viele kennen gelernt. Das finde ich
schon interessant. Viele sind neugierig, an einer Lesung teilzunehmen,
auch wenn sie die jeweilige Sprache nur ein bisschen kennen. Es
geht also nicht nur um die andere Sprache, sondern auch um den Kontakt
mit Leuten aus einer anderen Kultur. Die Kinder, die noch nicht
alleine hier her kommen, lernen sich natürlich in erster Linie
über die Eltern kennen. Aber insgesamt haben sich schon sehr
viele Leute getroffen. Mich rufen auch immer wieder Leute an und
sagen: "Hallo Chus, ich würde noch mal so gerne eine Lesung
auf französisch oder polnisch hören!"
Chus, vielen Dank für das Gespräch!
* * *
Interview mit Ruth Worzalla, Autorin des Buchs "... es
fehlte die Puppe. Meine Kindheitserlebnisse im Nazideutschland"
Helma Hörath: In Ihrem Buch "... es fehlte
die Puppe" beschreiben Sie mit Ihren Erinnerungen wahre
Begebenheiten aus Ihrer Kindheit im faschistischen Deutschland.
Das sind die Jahre zwischen 1933 und 1945. Ausgangspunkt ist
die Kinderfreundschaft zwischen Ihnen, der katholischen Ruth
Schreiber, und der jüdischen Ruth Neumann. Beide lebten
in Berlin, in der Neuen Jakobstraße. Sie trafen sich
regelmäßig zum Spielen auf dem Hof und dem Dachboden.
Gerade hier konnten sie sich Geheimnisse anvertrauen. So flüsterte
Ihnen eines Tages Ihre Freundin zu, dass ihre Familie versuchen
wird, ins Ausland zu kommen. Denn als Juden gingen sie in
Deutschland der schlimmsten Verfolgung entgegen. Aber die
Nachbarfamilie schaffte es nicht. Sie beide waren zwischen
neun und zehn Jahre alt, als sie durch den gewaltsamen Abtransport
der jüdischen Nachbarn auseinandergerissen, die Verbindung
zu ihrer jüdischen Freundin jäh und für immer
zerbrochen wurde.
Welche Rolle spielte in Ihrer Freundschaft das Anderssein?
Das Andersdenken? Das Judesein, das Christsein?
Für unsere Kinderfreundschaft spielte das Anderssein,
das Andersdenken, das Judesein, das Christsein keine wichtige
Rolle. Wir spielten mit allen Kindern aus unserem Häuserblock
(Vorderhaus, Seitenflügel, Hinterhaus) auf unserem großen
Hof. Hopse, Kreiseln, "Wer fürchtet sich vorm schwarzen
Mann", "Himmel und Hölle". Mitunter warfen
uns Nachbarn eine meist in Zeitungspapier eingewickelte Leckerei
auf den Hof. Dann jagten wir alle danach. Niemand neidete
der Ruth etwas, weil sie eine Jüdin war. Wir dachten
gar nicht daran, dass Ruth eine Jüdin ist, sie war wie
wir.
Doch
wenn ich mit Ruth auf unserem Dachboden allein war, war die
Angst, die Hilflosigkeit, die Wut spürbar. Die Angst
gehörte zu unserem Alltag und nur im Spiel vergaßen
wir sie für eine Weile. Ich habe mit Ruth wenig über
mein Christsein gesprochen. Sie wusste, dass ich eine Christin
bin und am Sonntag in die Katholische Kirche gehe. Ich wusste,
dass sie als Jüdin am Sabbat (der 7. jüdische
Wochentag von Freitag- bis Samstagabend. An diesem Feiertag
dürfen gläubige Juden nicht arbeiten. Anm. der Red.)
mitunter in die Synagoge ging, bis es diese nicht mehr gab.
Für Ruths Familie war der Sabbat ein heiliger Tag, für
unsere Familie der Sonntag. Wir sprachen darüber, während
wir spielten.
Ich erinnere mich noch gut, wie sehr ich mich schämte,
als einmal die üble Hetze gegen Juden auch im Religionsunterricht
Thema war. Warum? Warum sollen auch wir Christen die Juden
verachten? Wenn Gott doch alle Menschen liebt!? Und als ich
von unserem Kaplan erfuhr, dass Christus auch ein Jude ist,
war meine Verwirrung perfekt.
Uns wurde im Religionsunterricht gelehrt, dass nur die Katholische
Kirche die allein seligmachende ist, und alle Menschen, die
nicht an Christus glauben, können nicht in den Himmel
kommen. Sogar auch nicht mein lieber Vati, weil er evangelisch
ist, Ruth schon gar nicht, weil sie Jüdin ist und viele
Menschen, die ich liebte, hatten keine Chance. Das konnte
ich nicht glauben. Ich war verunsichert. Und es tat weh, auch
weil es so viele glaubten.
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Vita
Ruth Worzalla wurde 1932 in Berlin
geboren. An dem Tag, als die Deutschen unter Hitler in Polen
einmarschierten und der Zweite Weltkrieg begann, wurde Ruth
eingeschult. Wegen des Kriegs wurde sie mit ihrer Familie
nach Schlesien evakuiert, floh dann von dort nach Bayern und
kehrte 1948 mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern nach Ostberlin
zurück.
In dem Buch "...es fehlte die
Puppe" schildert Ruth Worzalla die Freundschaft mit ihrer
jüdischen Freundin Ruth. Für die Geschichte "Shalom
Ruth", aus der das Buch entstand, erhielt die Autorin
1997 beim künstlerisch-literarischen Wettbewerb "Einander
begegnen" den 1. Preis der Landeszentrale für politische
Bildung Baden-Württemberg und Sachsen.
Seit 1961 lebt Ruth Worzalla
mit ihrem Ehemann im Raum Freibung. Seit dem Erscheinen ihres
Buchs liest Ruth Worzalla daraus Schulklassen vor und erzählt
Schülerinnen und Schülern aus ihrer Kindheit während
der NS-Diktatur.
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Sie beschreiben die Nazi-Zeit in Berlin sehr eindrucksvoll.
Mit allem für ein Kind Unverständlichem, mit allem Schrecklichen.
Trotzdem wird man von Ihrem Buch nicht niedergedrückt. Sie
erzählen auch von den alltäglichen Stunden im Kreise Ihrer
Familie, mit Sorgen, mit Fröhlichkeit, mit Geborgenheit. Und
doch: Sie konnten sich von Ihrer Freundin nicht verabschieden. Und
dann mussten Sie auch noch erkennen, dass Ruth ihre Puppe Esther
nicht im Arm hatte. Eigentlich eine Belanglosigkeit angesichts des
furchtbaren Vorgangs und doch war es so wichtig, dass Sie es bis
heute nicht vergaßen. Welche Rolle spielten die Puppen in
Ihrer Freundschaft - Esther für Ruth und Gilda für Sie?
Ruth und ich spielten mit unseren Puppen Familie. "Vater,
Mutter, Kind" nannten wir das Spiel. Wir vergaßen im
Spiel die Wirklichkeit. Unsere Puppenkinder lachten und weinten
mit uns, wir schimpften mit ihnen, trösteten sie und lobten
sie. Wir spielten eine heile Welt, in der es keine Trennung zwischen
den Religionen oder Rassen gab. Doch die Wirklichkeit war eine andere,
ganz andere, eine grausame todbringende.
Für uns waren die Puppen lebendig, für meine Freundin,
die Jüdin Ruth, die Puppe Esther und für mich die Puppe
Gilda. Es gab ja keine Erwachsenen mehr, mit denen wir über
alles hätten reden, denen wir unsere Ängste, Sorgen und
Nöte anvertrauen konnten. Die waren selbst hilflos und voller
Angst, das spürten wir. Was sollten sie uns sagen? Die Wahrheit
war gefährlich. Wie leicht konnten wir Kinder uns verplappern,
dass wir Hitler nicht mögen und den Krieg schon gar nicht.
Für solche Äußerungen konnte man ins KZ kommen.
Unsere Puppen hörten geduldig zu und schwiegen. Wir konnten
unsere Puppe in die Arme nehmen und uns bei ihr ausweinen, sie streicheln,
liebkosen. Und für einen Moment fühlten wir uns getröstet.
Für mich war die Puppe lebendig, eine Verbündete. Sie
war da, wenn ich ihr meine Not anvertrauen wollte. Und die Puppe
Esther war auch eine Vertraute für Ruth. Wie tief ihr Schmerz
war, als sie ihre Puppe und alles, was ihr lieb und vertraut war,
verlassen musste und Schreckliches ahnend in die Ungewissheit getrieben
wurde, vermag ich nicht zu beschreiben. Ich konnte es auch nie zu
Ende denken .
Die Puppen waren für unsere Freundschaft wichtig. Im Spiel
mit ihnen entwickelten sich Gespräche, die befreiend waren
und wir konnten besser unsere Gefühle ausdrücken. Nach
der gewaltsamen Trennung von Ruth war meine Puppe Gilda noch mehr
meine alleinige Vertraute.
Erst viel später nach dem Zweiten Weltkrieg konnten Sie
erahnen, welches Schicksal die jüdischen Nachbarn, darunter
auch Ihre beste Freundin, erleiden mussten. Sie sahen in einem Film
die schockierenden Bilder, die im Vernichtungslager Auschwitz aufgenommen
wurden. Das liegt weit zurück. Für viele ist das alles
in grauer Vorzeit geschehen. Nun gibt es aber auch heute Kinder
und Jugendliche, die ähnliches erlebt haben, die Flucht und
Vertreibung durchgemacht haben. Kinder aus Kosovo zum Beispiel.
Bei uns leben sie in Frieden. Aber die Erinnerung kann man nicht
ausknipsen wie die Wohnzimmerlampe. Die Bilder im Kopf bleiben und
sie rumoren im Herzen.
Was würden Sie den jungen Leserinnen und Lesern von Rossipotti
raten, die mit solchen Kindern zusammentreffen?
Viele der Kinder und Jugendlichen, die Flucht und Vertreibung erlebt
haben, haben eine kranke Seele. Das Schwerste ist das Verlassen
der Heimat. Aus der Geborgenheit herausgerissen, mussten sie Vertrautes
aufgeben, das Haus, in dem sie lebten, die Wohnung, die Schule,
die Kirche, ja auch den Friedhof, auf dem Verwandte und Freunde
ruhen. Auch das Umfeld, die Straßen, die Plätze, die
Landschaft, all' das, was ein Zuhause zur Heimat macht, das mussten
sie zurück lassen. In der Erinnerung kommen schreckliche Bilder
hoch - an Krieg, Zerstörung , Tod. Viele haben mit ansehen
müssen, wie Verwandte und Freunde umgebracht, ihr Zuhause zerstört,
Frauen geschändet wurden. Als Ausweg blieb die Flucht in ein
unbekanntes Land mit einer anderen Kultur, anderen Lebensgewohnheiten,
fremden Menschen, einer fremden Sprache.
Das andere Land ist keine Ersatzheimat. Die Erinnerungen sitzen
tief und schmerzen. Damit diese gewaltsam entwurzelten Kinder und
Jugendlichen wieder wurzeln können, so etwas wie ein Zuhausesein
empfinden, sind Menschen von Nöten, die ihnen verständnisvoll
begegnen, sich ihrer annehmen, mit ihnen sprechen, insbesondere
aber ihnen zuhören, wenn sie zum Sprechen bereit und in der
Lage sind. Es kann jedoch sein, dass sie sich zurückziehen
und schweigen. Das Erlebte hat ihnen die Sprache verschlagen. --
Geduld, Geduld, Geduld. -
Ich hatte ein Erlebnis, das ich nicht vergessen werde. Ich las an
einer Schule für zwei siebente und eine achte Klasse im geräumigen
Musikraum aus einem meiner Manuskripte. Auch die Klassenlehrer und
der Schulleiter waren anwesend. Ich las die Geschichte 'Shalom Ruth'
und spürte, wie aufmerksam und betroffen die Zuhörer folgten.
Dann Stille - bis sich ein Mädchen zu Wort meldete und Fragen
stellte. Das Mädchen meldete sich wieder und wieder, andere
Schüler hatten nur eine geringe Chance Fragen zu stellen. Schließlich
musste ein Ende sein. Sogleich kam das Mädchen zu mir und sagte:
"Ich heiße Marina und komme aus Bosnien. Ich habe auch
viel Schlimmes erlebt und möchte am liebsten darüber schreiben,
aber ich kann das nicht."
Ich ermutigte das Mädchen, es mit dem Schreiben zu versuchen.
Es verabschiedete sich: "Ich schreibe Ihnen erst einmal einen
Brief, aber ich mache viele Fehler." Ich sagte ihr zum Abschied,
dass ich mich sehr auf ihren Brief freuen würde.
Ihr Lehrer stand neben mir, er schien mir erregt zu sein: "Wissen
Sie, Marina hat heute das erste Mal gesprochen, das erste Mal nach
ungefähr zweieinhalb Jahren. Marina hat in ihrer Heimat Schreckliches
erlebt. Das hat ihr die Sprache verschlagen. Sie hat noch nie gesprochen.
Während des Unterrichts sitzt sie nur stumm da. Nichts half,
auch eine Therapie löste das Mädchen nicht aus der Erstarrung.
Und heute, nach Ihrer Lesung hat sie das erste Mal gesprochen."
Das schreckliche Erleben hat Marina die Sprache verschlagen. Mein
Sprechen über schreckliche Ereignisse gab ihr die Sprache zurück.
Den versprochenen Brief bekam ich. Jetzt konnte ich die Verweigerung
verstehen.
Miteinander reden können über das, was war, das Schreckliche
beim Namen nennen, das befreit. Das Miteinander schafft Verbundenheit
und Anerkennung. Auch miteinander Spaß haben, zum Beispiel
bei Spiel und Sport, miteinander Hausaufgaben machen, miteinander
nach Lösungen für Probleme suchen. Miteinander reden,
reden, reden ... Auch Fragen, z.B. "wie war das bei euch?"
sind wichtig, und wenn Tränen kommen, das Weinen zulassen.
Eine Umarmung tröstet und ermutigt oft mehr als viele Worte.
Karl Jaspers, ein deutscher Philosoph und Schriftsteller sagt: "Heimat
ist überall, da , wo ich verstehe und verstanden werde."
Besser lässt sich das nicht ausdrücken.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Ruth Worzalla: ... es fehlte die Puppe. Meine
Kindheitserlebnisse im Nazideutschland - Facetten aus der Zeit 1939-1945.
Waldkircher Verlagsgesellschaft. 1999.
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