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Rossipottis Leibspeise
und andere Lieblingsbücher
Rossipottis Leibspeise:
Die Märchen der Brüder Grimm
illustriert von Nikolaus Heidelbach
"Es gibt zu viele Märchenbücher", sagt Rossipotti
und beißt in eine neue Bechstein-Ausgabe. "Wenn man zu
viele davon isst, bekommen sie einen schalen Geschmack."
"Es sagt niemand, dass du sie essen musst", werfe ich
ein.
"Doch", antwortet Rossipotti trotzig. "Als Herausgeber
einer Literaturzeitung kann ich es mir einfach nicht leisten, mit
dem Essen aufzuhören. Ich frage mich nur, warum Märchenbücher
in regelmäßigen Abständen den Markt geradezu überschwemmen.
In den 1980er Jahren hatten wir schon eine Flut an Märchenbüchern
aus der ganzen Welt und jetzt haben wir wieder eine Märchenschwemme."
"Kinder brauchen Märchen!" sage ich überzeugt.
"Vielleicht haben wir gerade eine Kinderschwemme und die vielen
Kinder brauchen viele Märchen?"
"Pah! Kinderschwemme!" sagt Rossipotti. "In Deutschland
leben zur Zeit so wenig Kinder wie noch nie! Wenn die Verlage wenigstens
neue Märchen veröffentlichen würden. Aber bei den
meisten Märchenbüchern bleibt der Text immer gleich und
nur die Bilder ändern sich. Wenn es schöne Bilder wären,
die die Märchen in ein neues Licht stellen würden, hätte
ich ja nichts dagegen. Aber die meisten Illustrationen reichen ja
von kitschig bis kitschig."
"So liebe ich dich, Rossipotti", sage ich. "Genusssüchtig
und verfressen, aber nie mit etwas zufrieden!"
"Du hast ein ganz falsches Bild von mir", sagt Rossipotti
und tätschelt seinen Bauch. "Hin und wieder schmecken
mir die Bücher ganz ausgezeichnet."
"Denkst du dabei gerade an die Grimm-Ausgabe, die Nikolaus
Heidelbach illustriert hat?" frage ich neugierig.
Rossipotti nickt und wischt sich ein paar Krümel von seinem
Maul. "Zum Glück hat Heidelbach auch noch H. Ch. Andersen
illustriert, das war ein wirklich guter Nachtisch! Stelle hier aber
bitte Grimms Märchen vor, denn im Unterschied zu seinen Andersen-Märchen
habe ich die Grimm-Ausgabe schon lange nicht mehr in einem Buchladen
gesehen."
Das stimmt. Ich habe die Heidelbach-Grimm-Märchen sogar noch
gar nie in einem Buchladen gesehen. Vielleicht lag es an den jeweiligen
Buchläden, vielleicht aber auch daran, dass Heidelbachs Umschlag-Gestaltung
weniger niedlich als andere Grimm-Ausgaben ist? Auf dem Umschlag
ist nämlich die unpopuläre Figur "Hans mein Igel"
aus dem gleichnamigen Märchen abgebildet.
Diese
unpopuläre Gestaltung zieht sich durch's ganze Buch und macht
es nicht zuletzt dadurch zu einem Geheimtipp. Zu den Original-Märchen
Texten der Grimms hat Heidelbach meistens nicht die erwartbaren
Szenen ausgesucht, sondern solche, die einen zwar schon immer interessierten,
bisher aber komischerweise kaum bebildert wurden. Bei Hänsel
und Gretel sieht man beispielsweise die Eltern, wie sie ohne ihre
Kinder den Wald verlassen, und bei Aschenputtel wie der Prinz mit
Aschenputtels Schuh traurig auf der Treppe sitzt. Gängige Bilder
entzieht Heidelbach dagegen dem Blick. Das Rotkäppchen wird
nur von hinten dargestellt und von Schneewittchen bekommt man im
Glassarg nur die Haare zu sehen.
Außerdem hat Heidelbach offensichtlich eine Vorliebe für
die dunklen Stellen im Märchen.
Seine Märchengestalten blicken zornig, listig oder mordlüstern
drein und geben den Texten eine Seite, die sie so ausdrücklich
gar nicht haben. Dadurch werden sie aber auch vielschichtig und
lebensnah. Totenschädel, Messer und glühende Kohlen verdeutlichen
zudem, dass im Märchen nur für manche am Ende alles gut
wird.
Märchen
der Brüder Grimm. Auswahl und Illustrationen von Nikolaus Heidelbach.
Beltz & Gelberg Weinheim und Basel 1995. 383 Seiten. (Originaltexte
der Brüder Grimm mit neuer Rechtschreibung.) Weitere Illustrationen
von Heidelbach könnt ihr euch beim 11
Uhr-Termin ansehen. Die Illustrationen wurden uns freundlicherweise
von Nikolaus Heidelbach und dem Verlag Beltz&Gelberg zur Verfügung
gestellt.
Meine afrikanischen Märchen
"Wenn du schon dabei bist, eine deutsche Volksmärchensammlung
vorzustellen", sagt Rossipotti, als ich mit dem Tippem aufhöre,
"kannst du auch gleich die afrikanische Volks-Märchensammlung
von dem ehemaligen südafrikanischen Präsidenten Nelson
Mandela vorstellen."
"Mandela und die Grimms haben nun wirklich nichts miteinander
gemeinsam", werfe ich ein. "Die Grimms haben jahrzehntelang
damit zugebracht, mündliche Überlieferungen aufzuschreiben
und zu sammeln, während Mandela nur seine Lieblingsmärchen,
die ohnehin schon irgendwo aufgeschrieben sind, zusammengestellt
hat."
"Du sollst doch auch nicht Mandela mit den Grimms vergleichen,
sondern einfach nur die Volksmärchen vorstellen, die er in
einem Buch zusammengestellt hat."
"In Mandelas Buch findet man aber nicht nur Volksmärchen,
sondern auch einige Kunstmärchen von afrikanischen Autoren!"
"Warum bist du denn plötzlich so rechthaberisch?"
fragt mich Rossipotti und sieht mich belustigt an. "Außerdem
gibt es auch bei den Grimms Märchen, bei denen man davon ausgeht,
dass sie ursprünglich nicht vom Volk, sondern von einem Autor
erzählt wurden. 'Jorinde und Joringel' zum Beispiel soll von
einem gewissen Heinrich Stilling geschrieben worden sein. Es gibt
sogar die Meinung, dass es das Volksmärchen als solches gar
nicht gibt, und alle Märchen auf eine Person zurückzuführen
sind."
"Jetzt bist du aber rechthaberisch!" sage ich. "Weißt
du was? Am besten stellst du das Buch selbst vor!"
Rossipotti kann sich ruhig auch einmal um seine Lieblingsbücher
kümmern, während ich ein literarisches Schläfchen
mache.
Da Fische, wie ihr sicher wisst, beim Schlafen ihre Augen nicht
schließen können, kann ich allerdings genau sehen, was
Rossipotti in den Computer tippt:
'Meine afrikanischen Märchen' ist endlich mal ein Buch, in
dem nicht nur Menschenmärchen, sondern vor allem auch Tiermärchen
versammelt sind. Im europäischen Raum heißen Tiergeschichten
ja immer gleich "Fabel" und haben weniger mit den Tieren
selbst zu tun, als mit menschlichen Eigenschaften und Schwächen.
Sie strotzen nur so von erzieherischen Hintergedanken und sind fade
zu lesen. Die afrikanischen Tiermärchen dagegen, die Mandela
ausgewählt hat, zeigen die enge Verbundenheit zwischen Mensch
und Tier und sind dadurch sehr lebendig. Sie atmen den Staub der
Erde und bebildern eindrucksvoll den Kampf ums Überleben:
"Vor langer langer Zeit als Kaggen die Tiere schuf, gab es
auf der Erde keine Quellen, keine Flüsse oder Wasserlöcher.
Alles, was die Tiere zu trinken hatten, war das Blut der anderen,
und so fraßen sie sich gegenseitig das Fleisch von den Knochen.
Ja, das waren die blutigen Zeiten, und niemand konnte seines Lebens
sicher sein."
Ganz nebenbei wird das Märchen dann zum Schöpfungsmythos,
der erklärt, wie in Afrika Wasser und Pflanzen entstanden sind
und warum es trotzdem noch wilde Tiere gibt: Denn Löwe, Leopard,
Schakal und Wolf, Wildkatze und Eule wollten einfach weiterhin lieber
Blut und Fleisch als Pflanzen fressen und so schlichen sich sich
von den anderen Tieren davon und kommen seither immer dann wieder
aus ihren Schlupflöchern heraus, wenn sie Hunger haben.
Natürlich hat Mandela auch Märchen ausgesucht, in denen
Menschen die Hauptrolle spielen. Aber egal, ob Tier- oder Menschenmärchen,
sie alle schildern unterschiedliche Weisen, das Leben zu meistern:
Der Hlakanya besiegt den Stärkeren durch List, eine Frau erlöst
ihren siebenköpfigen Schlangenmann durch Ausdauer, und die
geltungssüchtige, aber lächerliche Gottesanbeterin gewinnt
durch die Einsicht, dass sie den Mond nicht fangen kann, wieder
ihre Würde zurück.
Wirklich gut finde ich, dass jeder in den Märchen, egal welchen
Weg er einschlägt, akzeptiert wird. Selbst dem Hasen, der wegen
seines Egoismus den Tod, statt das Leben auf die Welt bringt, kann
man nicht wirklich böse sein. Von dieser Toleranz gegenüber
anderen könnten sich die europäischen Märchen wirklich
eine Scheibe abschneiden.
Komisch finde ich allerdings, dass ausgerechnet das Krokodil ausschließlich
als gefährliches Tier auftaucht.
Aber ich will ja nicht nachtragend sein. Krokodile sind eben nicht
jedermanns Geschmack!
Nelson Mandela: Meine afrikanischen Lieblingsmärchen.
Mit Illustrationen von unterschiedlichen Künstlern. Verlag
C.H. Beck. München 2004. 288 Seiten.
Ein Märchen ist ein Märchen
ist ein Märchen
"Was hälst du von dem Buch 'Ein Märchen ist ein
Märchen ist ein Märchen'?" fragt mich Rossipotti.
Ich antworte nicht. Rossipotti soll sich ein bisschen um mich bemühen.
"Bist du etwa immer noch beleidigt wegen der Lappalie vorhin?"
Ich schweige weiter.
"Du könntest beinahe eine tragische Gestalt in einem afrikanischen
Märchen abgeben", sagt Rossipotti. "Du erinnerst
mich ganz an das Xhosa-Mädchen, das ihre Sprache verloren hat,
weil es über einen Topf gestolpert ist."
"Du verwechselst da etwas", platzt es aus mir heraus.
"Nicht das Mädchen, sondern eine böse alte Frau ist
über einen Topf gestolpert, weil den das Mädchen nicht
weggeräumt hat. Deshalb hat die alte Frau das Mädchen
zur Sprachlosigkeit verflucht."
"Immerhin ist es der alten Frau gerade gelungen, dich wieder
zum Sprechen zu bringen", freut sich Rossipotti. "Wie
gefällt dir denn jetzt das Buch von Marjaleena Lembcke?"
"Hm", mache ich unschlüssig. "Es ist nicht
das Mitreißendste, was ich je gelesen habe, aber es ist wohl
gut genug, um hier vorgestellt zu werden."
"Das finde ich auch", stimmt mir Rossipotti zu. "Abgesehen
davon, dass es eher wie die Nacherzählung seiner eigenen Geschichte
als wie ein spannend geschriebenes Buch wirkt, finde ich es eigentlich
ganz pfiffig. Es denkt über das Schreiben von Märchen
nach und ist gleichzeitig selbst ein Märchen. Solche Märchenbücher
sind selten und daher etwas Besonderes. Du stellst es also vor?"
Ich nicke und wundere mich, dass Rossipotti mich fragt,
ob ich das Buch vorstellen will. So etwas ist noch nie vorgekommen
und lässt mich hoffen, dass er in Zukunft etwas mehr Rücksicht
auf mich nimmt!
Doch nun zum Buch: Wie der Titel schon vermuten lässt, ist
"Ein Märchen ist ein Märchen ist ein Märchen"
eine Geschichte, die ineinander verschachtelt ist.
Die erste Schachtel ist sozusagen die Rahmenhandlung. Sie beginnt,
wie viele Märchen beginnen: Es waren einmal ein König
und eine Königin. Sie lebten in einem großen Schloss
und hatten eine schöne Tochter. Sie saßen gerne bei einem
ausgiebigen Frühstück zusammen, bei dem die Mutter regelmäßig
zu spät kam, und ...
Ja, was 'und'? Viel mehr ist dem Schriftsteller des Märchens
nämlich nicht eingefallen und so hat die Autorin in die Schachtel
mit dem Märchenanfang oder der Rahmenhandlung eine kleinere
Schachtel mit einer neuen Geschichte gestellt. Diese geht so: Nach
dem x.-ten Frühstück hat die königliche Familie keine
Lust mehr zu warten, bis ihr Märchen endlich eine Fortsetzung
findet. Sie nimmt ihr Schicksal selbst in die Hand und verlässt
das Schloss und ihre ermüdende, immer wiederkehrende Geschichte.
Mutig und tatendurstig wandert sie in die reale Welt, um den Schriftsteller
zu suchen. Dort allerdings erkennt sie schnell, wie mit Märchenfiguren
und anderen Romangestalten, die in keinem fertig geschriebenen Buch
stehen, umgesprungen wird: Sie werden ignoriert oder überhaupt
nicht wahrgenommen. Damit das nicht so bleibt, schließen sie
sich zusammen und erfinden ihre eigenen Abenteuer.
Damit kommt eine dritte Schachtel ins Spiel, in die die beiden anderen
Schachteln hineingesteckt werden. Diese große Schachtel braucht
die Autorin, um die Binnen-Geschichte aus der kleineren Schachtel
unter einen Hut mit der Rahmenhandlung aus der größeren
Schachtel zu bringen. In der dritten Schachtel erfährt der
Schriftsteller der halbfertigen Geschichten nun, dass seine Figuren
heimatlos in der Gegend herumirren. Er versammelt sie um sich, hört,
was sie alles erlebt und erlitten haben, und hat jetzt endlich genug
Stoff, um das Märchen zu Ende zu schreiben. Er holt eine noch
größere Schachtel, in die alle anderen Schachteln hineinpassen,
und schreibt mit leichten Abwandlungen das ganze Schachtelmärchen
auf.
Da es ihm allerdings wieder nicht gelingt, das Märchen ganz
zu Ende zu schreiben, frage ich mich, ob die Autorin die Schachtel
für die Geschichte des Schriftstellers verloren hat, oder ob
sie womöglich selbst in einer Schachtel sitzt und nicht heraus
kann?
Marjaleena Lembcke/Sybille Hein (Illustrationen):
Ein Märchen ist ein Märchen ist ein Märchen. NP Buchverlag.
St. Pölten/Wien/Linz 2004. 125
Seiten.
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