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Salon Albert
Hallo alle zusammen!
Es ist toll, euch wieder zu sehen! Wie ich
sehe, kommen mit jedem Mal mehr Zuhörer.
Wenn ihr das Intro gelesen habt, wisst ihr, dass es mir in der Sahara
eindeutig zu heiß und trocken ist. Um mich ein bisschen abzukühlen,
möchte ich euch deshalb heute einen Autoren vorstellen, der
über den großen Seefahrer und Entdecker John Franklin
ein Buch geschrieben hat. Der Autor heißt Sten Nadolny
und das Buch Die Entdeckung der Langsamkeit.
Obwohl der Titel etwas abschreckend klingt, zumindest wenn man Renn-
oder Weltraumfahrer ist, hatte das Buch bisher einen riesigen Erfolg.
Es wurde in alle Weltsprachen übersetzt und erhielt einige
Preise. Als es 1983 mit seiner Erstveröffentlichung für
Aufsehen sorgte, wollte plötzlich jeder zu den Langsamen gehören:
"Was, du läufst 100 Meter in 11 Sekunden? Spare dir die
11 Sekunden lieber für etwas Wichtigeres auf!"
Im Unterschied zu den Autoren, die ich euch
die letzten Male vorgestellt habe, lebt Sten Nadolny immer noch.
Er ist gerade mal 62 Jahre! Das ist gar nichts im Vergleich zu E.T.A.
Hoffmann, der heute 228 Jahre alt wäre. Trotzdem gehört
Nadolny vom Alter her natürlich eher eurer Großeltern-
als eurer eigenen Generation an. Die ersten drei Jahre seines Lebens
hat er immerhin noch die unruhige, chaotische und angstvolle Atmosphäre
des zweiten Weltkriegs mitbekommen. Danach erlebte er die entbehrungsreiche
Nachkriegszeit, dann die prallen Wirtschaftwunderjahre, bis er schließlich
mit euch im Jetzt angekommen ist.
Während ich euch das erzähle, fällt mir auf, dass
auch Nadolnys Seefahrer Franklin all dies erlebt hat: Chaos, Krieg,
Entbehrung und Reichtum.
Vielleicht interessierte sich Nadolny aus
diesem Grund für John Franklin und er hatte Lust, ein Buch
über ihn zu schreiben?
Vielleicht - und das entspricht nun eher der Meinung Nadolnys selbst
- ist es aber auch genau umgekehrt: Das noch ungeschriebene Buch
mit der Geschichte von John Franklin hat sich den Autor Sten Nadolny
ausgesucht, um von ihm geschrieben zu werden!
Das ist natürlich schwer zu verstehen. Wenn man ehrlich ist,
hört es sich auf den ersten Blick sogar wie ein unglaublicher
Quatsch an!
Zugegeben, auch auf den zweiten Blick kann man diese Logik erst
verstehen, wenn man die postmoderne Theorie, die hinter dieser Auffassung
steckt, ein bisschen kennt.
Eine Hauptthese der postmodernen Literaturtheorie besagt nämlich:
Der Autor ist tot. Es lebe der Text. Damit ist natürlich nicht
der reale Autor gemeint, sondern nur die Idee eines Autors, die
den Autor als originellen Schöpfer
der Texte darstellt.
Wichtig ist in der Postmoderne also nicht mehr der Autor, sondern
der konkrete Text, der Erzählstoff. Der Erzählstoff ist
natürlich je nach Zeit und Thema anders. Die Ereignisse der
Zeit prägen den Erzählstoff und das Thema wesentlich,
und der Autor schreibt es nur auf. Ob das der Autor X oder Y macht,
ist aus dieser Sicht völlig egal.
Vor diesem Hintergrund ist Nadolny
also zu verstehen, wenn er meint, dass der Erzählstoff den
Erzähler lenkt und nicht umgekehrt.
Warum Anhänger der Postmoderne überhaupt
auf die Idee gekommen sind, dass der kreative Autor tot ist, kann
ich euch hier nicht in zwei Sätzen erklären.
Ich kann euch nur so viel verraten: Wenn ihr euch für jemand
anderen als euch selbst haltet, seid ihr in der Postmoderne angekommen!
Doch jetzt will ich euch nicht länger
mit meinen Vorträgen verwirren und lese euch deshalb lieber
schnell einen Auszug aus dem Roman Die Entdeckung der Langsamkeit
vor. Und zwar beginne ich ganz vorne, am Anfang des ersten Teils
"John Franklins Jugend":
Das Dorf
John Franklin war schon zehn Jahre alt und
noch immer so langsam, dass er keinen Ball fangen konnte. Er hielt
für die anderen die Schnur. Vom tiefsten Ast des Baums reichte
sie herüber bis in seine empor gestreckte Hand. Er hielt sie
so gut wie der Baum, er senkte den Arm nicht vor dem Ende des Spiels.
Als Schnurhalter war er geeignet wie kein anderes Kind in Spilsby
oder sogar in Lincolnshire. Aus dem Fenster des Rathauses sah der
Schreiber herüber. Sein Blick schien anerkennend.
Vielleicht war in ganz England keiner, der eine Stunde und länger
nur stehen und eine Schnur halten konnte. Er stand so ruhig wie
ein Grabkreuz, ragte wie ein Denkmal.
"Wie eine Vogelscheuche!" sagte Tom Barker.
Dem Spiel konnte John nicht folgen, also nicht Schiedsrichter sein.
Es sah nicht genau, wann der Ball die Erde berührte. Er wusste
nicht, ob es wirklich der Ball war, was gerade einer fing, oder
ob der, bei dem er landete, ihn fing oder nur die Hände hinhielt.
Er beobachtete Tom Barker. Wie ging denn das Fangen? Wenn Tom den
Ball längst nicht mehr hatte, wusste John: das Entscheidende
hatte er wieder nicht gesehen. Fangen, das würde nie einer
besser können als Tom, der sah alles in einer Sekunde und bewegte
sich ganz ohne Stocken, fehlerlos.
Jetzt hatte John eine Schliere im Auge.
Blickte er zum Kamin des Hotels, dann saß sie in dessen oberstem
Fenster. Stellte er den Blick aufs Fensterkreuz ein, dann rutschte
sie herunter auf das Hotelschild. So zuckte sie vor seinem Blick
her immer weiter nach unten, folgte aber höhnisch wieder hinauf,
wenn er in den Himmel sah.
Morgen würden sie zum Pferdemarkt nach Horncastle fahren, er
fing schon an sich zu freuen, er kannte die Fahrt. Wenn die Kutsche
aus dem Dorf fuhr, flimmerte erst die Kirchhofsmauer vorbei, dann
kamen die Hütten des Armenlandes Ing Ming, davor Frauen ohne
Hüte, nur mit Kopftüchern. Die Hunde waren dort mager,
bei den Menschen sah man es nicht, die hatten etwas an.
Sherard würde vor der Tür stehen und winken. Später
dann das Gehöft mit der rosenbewachsenen Wand und dem Kettenhund,
der seine eigene Hütte hinter sich herschleifte...(Albert
legt das Buch kurz aus der Hand,
um einen Schluck Wasser zu trinken und fährt dann an einer
anderen Stelle fort zu lesen.)
"Tranfunzel", hörte John sagen. Tom Barker stand
vor ihm, beobachte ihn durch halbgeschlossene Augen und zeigte Zähne.
"Lass ihn!" rief der kleine Sherard dem schnellen Tom
zu, "der kann doch nicht wütend werden!" Aber das
wollte Tom eben herausfinden. John hielt die Schnur wie zuvor und
sah Tom ratlos ins Auge. Der redete nun mehrere Sätze, so rasch,
dass kein Wort zu verstehen war. "Verstehe nicht", sagte
John. Tom deutete auf Johns Ohr, und weil er schon so nahe dran
war, packte er es und zog am Ohrläppchen. "Was soll ich?"
fragte John. Wieder viele Worte. Dann war Tom weg, John versuchte
sich umzudrehen, obwohl ihn jemand festhielt. "Lass doch die
Schnur los!" rief Sherard. "Ist der blöd!" schrieen
die anderen. Jetzt traf der schwere Ball gegen Johns Kniekehlen.
Er fiel um wie eine zu steil gestellte Leiter, erst langsam und
dann mit Wucht. Von der Hüfte und vom Ellenbogen her breitete
sich Schmerz aus. Tom stand wieder da, nachsichtig lächelnd.
Halblaut sagte er, ohne den Blick von John abzuwenden, etwas zu
den anderen, wieder mit dem Wort "schläft". John
brachte sich wieder in die Höhe, die Schnur immer noch in der
empor gestreckten Hand, daran wollte er nichts ändern. Vielleicht
stellte sich die vorige Lage wie durch ein Wunder wieder her, und
was dann, wenn er die Schnur hatte sinken lassen. Die Kinder kicherten
und lachten, es klang wie Federvieh. "Hau ihm mal eine rein,
dann wacht er auf!" "Der tut nichts, der glotzt nur."
Dazwischen stand immer irgendwo Tom Barker und sah unter den gesenkten
Wimpern hervor. John musste seine Augen weit aufreißen, um
alles im Blick zu behalten, denn der andere wechselte ständig
den Standort. Behaglich war das nicht, aber weglaufen wäre
feige gewesen, auch konnte er gar nicht rennen, und außerdem
hatte er nicht die geringste Angst. Schlagen konnte er Tom aber
nicht. Blieb also nur übrig, ihm nachzugehen. Ein Mädchen
rief: "Wann lässt der endlich die Schnur los?" Sherard
versuchte Tom festzuhalten, aber er war zu klein und zu schwach.
Während John das noch zu sehen meinte, zog ihn jemand von hinten
an den Haaren. Wie war Tom dorthin gekommen, da fehlte schon wieder
ein Stück Zeit. Er drehte sich um, stolperte, und auf einmal
lagen sie alle beide am Boden, denn Tom war mit dem Bein in die
Schnur verheddert, und die hielt John jetzt wieder fest. Tom wandte
sich um und stieß John die Faust gegen den Mund, kam wieder
frei und tauchte weg. John fühlte, dass in der oberen Zahnreihe
einer wackelte. Das war der Friede nicht! Er tappte energisch hinter
Tom her wie eine ferngelenkte Puppe. Nutzlos fuhrwerkte er mit den
Armen, als wolle er den Feind nicht schlagen, sondern fortwedeln.
Einmal hielt ihm Tom das Gesicht richtig hin mit höhnischer
Miene, aber Johns Hand blieb in der Luft stehen wie gelähmt,
wie das Denkmal einer Ohrfeige. "Der blutet ja!" "Geh
doch nach Hause, John!" Den Kindern wurde es peinlich. Auch
Shrerard mischte sich wieder ein: "Der kann sich doch nicht
richtig wehren!" John ging weiter hinter Tom her und angelte
nach ihm, aber ohne Überzeugung. Sie waren vielleicht nicht
alle gegen ihn auch wenn sie lachten und gespannt zusahen, aber
einen Moment lang konnte John nicht mehr einsehen, warum die Gesichter
von Menschen so aussahen: fletschende Zähne, seltsam geweitete
Nasenlöcher, auf- und zuklappende Augenlider, und einer wollte
immer noch lauter sein als der andere. "John ist wie eine Hobelbank",
rief einer, vielleicht Scherard, "wenn er einen packt, dann
hält er ihn fest!" Aber eine Hobelbank kriegt keinen der
sich dünn macht. Es wurde langweilig.
Tom ging einfach weg, hoheitsvoll und nicht zu rasch, von John gefolgt,
soweit die Schnur reichte. Dann gingen die anderen. Sherard sagte
noch tröstend: "Tom hat Angst gekriegt!"
Die Nase war verkrustet und schmerzte. Zwischen Daumen und Zeigefinger
hielt er den Milchzahn, nach dem die Zunge in der Lücke noch
vergebens tastete. Der Kittel war blutig. "Guten Tag, Mr. Walker!"
Der alte Walker war längst vorüber, als John das herausbrachte."
Albert klappt das Buch zu und schaut in die
Runde. Niemand sagt etwas.
Erst nach einer Weile seufzt Palmina: "Ich
stelle mir Johns Leben schrecklich vor! So in der Welt zu stehen
und nichts zu begreifen. Das ist wie
in einem Alptraum, wenn man die Augen nicht öffnen kann, obwohl
einer einen verfolgt. Und es war 1983 wirklich chic, so langsam
zu sein?"
"Na ja. Das nicht gerade", gibt
Albert zu. "Sicher wollte niemand so sein wie John Franklin
als er jung war. Aber später wurde er immerhin ein weltberühmter
Seefahrer und Entdecker!"
"Was hat er denn entdeckt?" fragt
Palmina vorwitzig. "Die Langsamkeit?"
"Tatsächlich!" antwortet Albert
erstaunt. "Du bist wirklich klug, Palmina! John Franklin hat
wirklich die Langsamkeit entdeckt. Oder besser gesagt: Er hat entdeckt,
dass er sich mit seiner eigenen Langsamkeit abfinden muss. Dass
er sie zu seinem ganz persönlichen Prinzip machen muss, wenn
er überleben und erfolgreich sein will."
"Das mag für ihn selbst ja stimmen.
Aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass die andern ihn
deshalb plötzlich nicht mehr so lahm und begriffsstutzig empfunden
haben."
"Ich lese am besten noch ein Stück
aus dem Buch vor. Vielleicht verstehst du dann besser, warum man
mit Langsamkeit auch ans Ziel kommen kann."
Albert blättert ein bisschen im Roman
herum, räuspert sich und liest schließlich weiter:
"...John fing das Bild eines hellen,
fremden Stiefels auf, der plötzlich hereinfuhr und Halt fand,
eine schnelle, bedrohliche Bewegung, über der John, weil das
Bild in ihm stehen blieb, alle weiteren Vorgänge nicht erfasste.
Sein Kopf dachte automatisch: Wir zeigen es ihnen!, denn dies war
die Situation, an die er gedacht hatte, als er dem Satz zum erstenmal
begegnet war. Das nächste, was er sah, war der geöffnete
Mund ebendieses Mannes und seine, Johns, Daumen an dessen Hals.
Irgendein Zufall hatte den anderen zum Unterliegen gebracht, jetzt
konnte er ihn fassen, er!
Wenn John einen gepackt hatte, gab es kein Entkommen. Nun sah er
an der unteren Peripherie seines Blicks die Pistole auftauchen.
Das lähmte sofort. Er sah gar nicht hin, behielt lieber seine
starken Daumen im Auge, als könnte er ihnen damit den Sieg
über die Pistole erzwingen, die sich, nicht zu leugnen, auf
seine Brust richtete. Im Kopf begann sich eine einzige Sorge gegen
alle anderen durchzusetzen, sie wuchs und wuchs. Sie hielt keinerlei
Grenzen ein, sie explodierte: der konnte sofort abdrücken und
ihn töten, dass er sterben musste oder langsam brandig zugrunde
ging. Das war jetzt da, kein Ausweichen möglich. Es stand bevor
und war nicht abzuwandeln. Ganz klar fühlte John plötzlich,
wo sein Herz saß, wie jeder, der weiß, dass der Tod
perfekte Sache ist. Warum konnte er nicht die Pistole wegschlagen
oder sich zur Seite werfen? Unerfindlich, aber er konnte nicht!
Er hatte den da an der Kehle und dachte nur, dass einer, der erstickt
ist, keine Pistole mehr abfeuert. Dass aber einer, der noch nicht
erstickt ist, sondern am Ersticken, weil ihn ein anderer würgt,
die Pistole erst recht abfeuert, ja, das wollte John vielleicht
denken, konnte aber nicht, denn hier stellte sich sein Gehirn bereits
tot. Lebendig blieb nur die Vorstellung, durch fortgesetztes äußerstes
Würgen jener Kehle die Gefahr zu bannen. Der andere schoss
immer noch nicht.
Es war ein Mann, für einen Soldaten alt, bestimmt über
vierzig. John hatte noch nie auf jemandem gekniet, noch nie auf
jemanden heruntergesehen, der sein Vater hätte sein können.
Die Kehle war warm, die Haut weich. John hatte noch nie einen Menschen
so lange angefasst. Jetzt war das Chaos wirklich da, die Schlacht
innerhalb seines Körpers. Denn die Nerven, die zu seinen Fingern
gehörten, fühlten während des Zudrückens ein
Entsetzen über diese Wärme und Weichheit. Sie fühlten,
wie die Kehle - schnurrte! Sie vibrierte, zart und elend, ein tief
elendes Schnurren. Die Hände waren entsetzt, aber der Kopf,
der die Erniedrigung des Getötetwerdens fürchtete, dieser
Verräterkopf, der dabei noch falsch dachte, tat, als verstünde
er nichts.
Die Pistole fiel herunter, die Beine hörten auf zu treten,
der Mann rührte sich nicht mehr. Schusswunde an der Schulter,
helles Blut."
"Alles, was ich daraus sehen kann",
sagt Palmina triumphierend, "ist, dass er inzwischen das Töten
gelernt hat. Aber das ist kein Erfolg. Das ist sogar ganz im Gegenteil
ein Misserfolg!"
"Das stimmt", meint Albert: "Das
hat er sogar selbst so gesehen und jahrelang darunter gelitten.
Aber er hat immerhin gelernt sich zu verteidigen. Er hat inzwischen
gelernt, die meisten Dinge, die in kurzer Zeit um ihn herum passiert
sind, einfach auszublenden und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
John nennt das seinen starren Blick."
"Das war nicht sein starrer Blick. Das
war Zufall, dass er den anderen erwischt hat. Das hast du selbst
vorgelesen."
"Du willst es einfach nicht wahrhaben,
dass er seine Langsamkeit zu gebrauchen lernt."
"Und dir gelingt es nicht, mich mit
den vorgelesenen Auszügen zu überzeugen! Lese mir die
richtigen Textstellen vor und ich werde noch einmal über dein
Prinzip Langsamkeit nachdenken."
Albert schaut etwas säuerlich. Er ist
es zwar gewohnt, dass Palmina anderer Meinung ist als er. Aber dass
Palmina ihn für unfähig hält, die richtigen Stellen
aus dem Buch vorzulesen, findet er doch etwas ungehörig.
Er blättert ausgiebig in seinem Buch, trinkt einen Schluck
Wasser, rückt seine Brille zurecht und sagt dann: Ich lese
euch jetzt eine Stelle vor, in der John Franklin bereits Kapitän
ist und mit drei Schiffen zum Nordpol aufgebrochen ist. Das Schiff
"Dorothea" droht im Packeis zerdrückt zu werden.
Die Textstelle erzählt, wie er das Schiff und die Mannschaft
durch seine Langsamkeit rettet:
"Wie konnte man
der Dorothea helfen? Erst einmal hinaufkommen über die
Glaswände! Der erste sprang von der vorderen Bramrah auf die
Eiskante hinüber, Spink natürlich, laut lachend. Er schlug
eine Talje an, mit der Menschen Gerät, loses Tauwerk und vor
allem das gesamte Ankertau der Trent hinaufgehievt werden
konnten. John Franklin hatte wieder einen Plan, daran gab es keinen
Zweifel. Niemand hielt es für nötig, irgendwelche Fragen
zu stellen. Nur Beechey, der beim Schiff bleiben musste, sagte kurz:
"Viel Glück, Sir! Ich wette, Sie kriegen alle aus dem
Wrack." "Aber nein", antwortete John, "wir kriegen
das Schiff in Sicherheit. Hundert Schritte vor ihrem Bug ist eine
Einfahrt wie die unsrige." Back hatte zugehört: "Woher
wissen Sie das?"
"Sir. Ich werde mit Sir angeredet", antwortete John betont
langsam. "Die Einfahrt habe ich gesehen."
Eine halbe Stunde kämpften sie sich über
die zerklüfteten Hochfläche des Eises, dann waren sie
auf der Klippe über der Dorothea. Tief unten wälzte
sie sich noch immer gegen die Eiswand, längst umgeben von den
Trümmern ihrer Rahe und Spieren und eines ihrer
Boote - wie viele mochten bereits umgekommen sein?
In großer Eile wurde das Ende des Ankertaus zur Dorothea
gefiert und einige Zeit später ein Widerlager rund um die mächtige
Kuppe jenseits der Fjords ins Eis gehackt. Gut, dass Buchan rasch
verstand. Die Ankerseile wurden zu einem verspleißt, am Fuß
des Fockmastes belegt und droben im Eis durch die Führung des
Widerlagers gezogen. Der Sturm ließ etwas nach, aber die Dünung
war furchtbar wie zuvor.
Fünfundzwanzig Mann standen in den vorgehackten Trittlöchern
und stemmten sich ins Seil. Das Schiff rührte sich kaum von
der Stelle. Allenfalls zollweise. John teilte zwei Schichten ein
und zog die Uhr aus der Tasche. Jede Gruppe schuftete zehn Minuten,
dann war die andere dran. Wer das Seil losließ, sank um wie
bewusstlos, einige erbrachen sich. Vermutlich wurde das Schiff durch
das einströmende Wasser immer schwerer. John ließ alles
vorbereiten, um die Überlebenden vom Wrack zu holen, und die
erschöpfte Mannschaft fand, man sollte lieber gleich damit
anfangen.
"Schon zwei Stunden!" keuchte Kirby mit fahlem Gesicht.
"Wir müssen sie aufgeben."
"Er hat kein Zeitgefühl!" keuchte Reid zurück.
Wenn er Atem gehabt hätte, hätte er noch mehr gesagt.
Eine Stunde später konnte er auch den ersten Satz nur noch
denken, reden war keinem mehr möglich. Die ganze Zeit zog John
mit am Seil, obwohl es sich für einen Offizier nicht schickte.
Aber ihn fror an seinem nackten Arm.
Mit einem Mal kam das Schiff! Länge um Länge schob es
unter der Klippe weiter voran. Jetzt ließ Buchan vorn die
Segel klarmachen und, als die Dorothea vor der Lücke
lag, entfalten. Mühsam schlurfte die halbzerschlagenen Brigg
in die Einfahrt, einem vollgesogenen Schwamm ähnlicher als
einem Schiff Seiner Majestät.
Gerettet! Ein einziges Boot verloren, aber zwei Schiffe gerettet
und alle Mann wohlauf.
Back ging zu John Franklin und sagte: "Sir, ich bitte Sie um
Entschuldigung. Wir verdanken Ihnen das Leben."
"Ich glaube, jetzt verstehe ich, was
du meinst", sagte Palmina nachdenklich, als Albert das Buch
zuschlägt. "Schnelligkeit hat auch etwas mit Ungeduld
zu tun. Wenn etwas nicht klappt, gibt man auf oder rennt in die
falsche Richtung."
"Hm!" stimmt Albert zu. "Man
will sich gar nicht auf die Dinge einlassen. Man rennt und rennt
und merkt gar nicht, dass man dabei vieles übersieht. Wenn
einem dann später etwas fehlt, muss man den Weg nochmals zurückgehen
und hat im Vergleich zum Langsamen überhaupt keine Zeit gespart!
Manchmal ist der Schnelle langsamer am Ziel als der Lahme!"
"Das erinnert mich an Momo von
Michael Ende. Zu Meister Hora kommt man auch umso schneller, je
langsamer man geht. Deshalb ist auch Meister Horas Schildkröte
immer am Schnellsten bei ihm."
"Eine schnelle Schildkröte gibt
es auch in der Sage vom Wettrennen zwischen Achill und der Schildkröte",
fügt Albert hinzu: "Achill, der schnellste Läufer
der Welt, gibt der Schildkröte einen Vorsprung. Sie laufen
zur gleichen Zeit los, aber als Achill am Startpunkt der Schildkröte
antrifft, ist sie schon wieder bei einem neuen Punkt angelangt.
Er läuft nun wieder zum neuen Punkt, aber die Schildkröte
ist schon wieder weitergekrochen. So geht es immer weiter und Achill
holt sie nie ein."
"Selbst die Schildkröte will demnach
schneller sein als Achill!" stellt Palmina nüchtern fest.
"Es geht den Langsamen also gar nicht um die Entdeckung der
Langsamkeit, sondern um die Umkehrung des Begriffs! Was vorher schnell
war, soll plötzlich langsam und das Langsame schnell sein."
"So habe ich es noch gar nicht gesehen!"
ruft Albert verblüfft aus. "Aber man kann es tatsächlich
auch so auffassen."
"Man kann es nicht, man muss es so
auffassen!" sagt Palmina überzeugt: "Und in diesem
Fall ist es auch klar, warum Nadolnys Leser zu den Langsamen gehören
wollten: Sie wollten einfach die Ersten sein, die nach John Franklin
und seinem Autor Sten Nadolny die Langsamkeit entdeckten!"
***
Die Auszüge aus Sten Nadolnys Buch "Die Entdeckung der
Langsamkeit" durfte Rossipotti
mit der freundlichen Genehmigung Sten Nadolnys ins Netz stellen.
Die Auszüge findet ihr in dem abenteuerlichen Roman:
Sten Nadolny: Die Entdeckung der Langsamkeit. R. Piper &
Co. Verlag. München 1983.
Wenn ihr Lust habt, könnt euch das Buch übrigens beinahe
druckfrisch kaufen. Es ist im Mai 2004 wieder neuerschienen.
355 Seiten.
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