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Rossipottis Leibspeise
und andere Lieblingsbücher
Rossipottis Leibspeise:
Lieblingsbuch:
Die phantastische Reise von Annis Augen,
den Stoffpuppen und dem Kapitän
"Das ist eines der schönsten Bücher, die ich kenne",
schwärmt Rossipotti und hält ein dickes Buch mit hellgelbem
Umschlag hoch. "Es ist phantastisch, traurig, fröhlich,
abenteuerlich und es überrascht einen immer wieder mit ungeheuerlichen
Wendungen!"
"Um was geht es denn in dem Buch?" frage ich neugierig.
"Wenn ich das wüßte!" erwidert Rossipotti und
schaut gedankenvoll aus dem Fenster.
"Du weißt nicht mehr, um was es geht und behauptest trotzdem,
dass es dir gefällt?" rufe ich überrascht aus. "Das
gibt's ja gar nicht!"
"Natürlich gibt es das!" grunzt Rossipotti ein wenig
beleidigt. "Bei mir ist das sogar fast immer so! Ich lese ein
Buch, wohne in ihm, sauge die Atmosphäre ein und weiß
dann ziemlich genau, ob ich mich darin wohlfühle oder nicht.
Dieses Wissen vergesse ich auch nicht. Was ich vergesse, sind dagegen
die Details. Wer wann warum wohin gegangen ist."
"Aber das sind doch nicht die Details, sondern das Wesentliche
eines Buchs!" rufe ich erstaunt aus.
"Du musst dir das vorstellen wie bei einem Besuch bei anderen
Leuten", klärt mich Rossipotti geduldig auf. "Wenn
du dort in der fremden Wohnung bist, ist es einigermaßen wichtig,
auf welchen Stuhl du dich setzt, wo das Klo ist oder wie das Licht
angeht. Wenn du wieder zu Hause bist, ist das aber völlig egal.
Das einzige was dir in Erinnerung bleibt, ist die Atmosphäre
der Wohnung und nicht die einzelne Anordung der Möbelstücke."
"Ich weiß nicht warum", meine ich, "aber irgendwie
kommt mir dein Vergleich unpassend vor."
"Wenn es dich beruhigt", sagt Rossipotti zu mir und reibt
sich am linken Auge, "ein Bisschen habe ich von dem Buch schon
noch behalten: Es handelt von dem Mädchen Anni, das als Baby
von ihrem Vater in einem kleine Korb im Waisenhaus abgegeben wurde.
Das einzige, was er zu ihr in den Korb gelegt hat, ist eine Kapitäns-Stoffpuppe.
Der Stoff-Kapitän ist in den kommenden Jahren Annis einziger
Freund, und als sie ihn eines Tages repariert und flickt und ihm
dabei eine lange Nadel in den Kopf stößt, wird er lebendig
und beginnt zu wachsen. Als er groß genug ist, fliehen sie
gemeinsam aus dem Waisenhaus, um Annis Vater zu suchen. Eine abenteuerliche
Reise mit dem Schiff beginnt, bei der immer wieder Menschen in Puppen
und Puppen in Menschen verwandelt werden."
"Und wer ist die 'Schlimme Schwester'?" frage ich Rossipotti.
Ich habe mir nämlich in der Zwischenzeit das Buch geschnappt
und ein wenig darin herumgeblättert.
"Schlimme Schwester?" fragt mich Rossipotti irritiert.
"Ah ja", sagt er schließlich, nachdem er eine Weile
nachgedacht hat, "die Schlimme Schwester verfolgt Anni und
den Kapitän wegen irgendetwas. Entweder sie will Geld oder
verhindern, dass Anni ihren Vater wiederfindet. Ich weiß es
nicht mehr genau. Auf jeden Fall spukt sie durch das ganze Buch
und sorgt für Spannung und Aufregung!"
"Und sonst?"
"Nichts sonst!" sagt Rossipotti überzeugt. "Dieses
Buch ist toll und ich kann es nur wärmstens empfehlen!"
Richard Kennedy: Die phantastische Reise von
Annis Augen, den Stoffpuppen und dem Kapitän. Aus dem Englischen
von Sybil Gräfin Schönfeldt. Verlag Carl Ueberreuter.
Wien 1987. 371 Seiten. (Das Buch gibt es leider nicht mehr neu,
sondern nur noch über (Internet-)Antiquariate zu kaufen. Zum
Glück gibt es das Buch aber auch in vielen Bibliotheken.)
Ein Auge für Farben
"Wir brauchen ein Buch über Afrika", stellt Rossipotti
fest, nachdem wir "Annis Augen" zur Seite gelegt haben.
"Wenn wir hier schon Urlaub machen, müssen wir wenigstens
ein Buch über Afrika vorstellen."
"Nimm doch den Roman von Betty King!" schlage ich vor.
"Betty King? Wer ist das denn? - Nein, mir fällt ein
viel besserer Autor ein: Norman Silver. Und zwar nehmen wir nicht
sein Buch 'Kein Tiger in Afrika', weil es zur Hälfte in England
spielt und auch viel zu bekannt ist, sondern 'Ein Auge für
Farben'."
"Dafür erzählt sein erster Roman 'Kein Tiger in
Afrika' aber viel mehr von Afrika als sein zweiter Roman 'Ein Auge
für Farben'."
"Das stimmt", gibt Rossipotti zu. "Aber eigentlich
ist es gerade interessant zu sehen, dass das Leben eines weißen
Jungen in Südafrika gar nicht so anders ist als bei uns in
Europa. In Silvers erstem Roman werden die Unterschiede zwischen
Südafrika und England hervorgehoben. In seinem zweiten Roman
bekommt man die Unterschiede eher zwischen den Zeilen mit. Man braucht
ein Auge für die feinen Unterschiede zwischen den Lebensarten
oder 'ein Auge für Farben', wenn man den Roman tiefergehend
verstehen will."
"Gut!" sage ich, "ich stelle also Norman Silvers
zweiten Roman vor.
Norman Silver ist übrigens ein glänzender Erzähler.
In knappen Sätzen konzentriert er sich immer auf das Wesentliche
und langweilt nicht mit irgendwelchen ausgiebigen Betrachtungen.
Das Wesentliche für Silvers Romanheld Basil ist beispielsweise,
dass das Tutti-Frutti-Eis mit Mandelsoße am besten schmeckt,
dass man gutaussehende Nachbarsmädchen nicht mit Messerkunstücken
beeindrucken kann, und dass sein jüngerer Bruder Iwan schrecklich
ist, weil er ihn immer bei seinen Eltern anschwärzt.
Je älter Basil allerdings wird, umso mehr verschiebt sich das
Wesentliche seiner Welt: Die Gleichaltrige Hester wird plötzlich
zur Farbigen erklärt und fliegt von der Schule für Weiße,
sein Vater reißt seine Hütte ein, die er mit Hilfe eines
Farbigen zusammen gebaut hat, und er darf nicht mit der Tochter
eines weißen, nationalistischen Buren zusammensein, weil Basil
Schwarzen und Farbigen gegenüber angeblich zu freundlich gesinnt
ist.
Bevor er die zwei parallel existierenden Wirklichkeiten, die der
Schwarzen einerseits und die der Weißen andererseits, nicht
mehr erträgt, erfindet er seine Rolle neu: Er wechselt wie
ein Chamäleon je nach Situation die Farben und bewegt seine
Augen völlig unabhängig voneinander. So kann er mit dem
einen Auge sehen, dass Menschen in Uniformen andere Menschen zusammenschlagen,
während er mit dem anderen Leute sieht, die gerade Kricket
oder Rugby zusammen spielen.
Wie ihr seht, handelt es sich hier also um einen durchaus ausgewogenen
Roman, und es ist klar, dass es eigentlich nicht nur um Farbige
und Weiße im Besonderen geht, sondern um Aus- und Abgrenzung
im Allgemeinen.
Das alles ist zwar mit einem kleinen, besserwisserischen Touch erzählt.
Da die Episoden aber locker, assoziativ verknüpft sind und
die Entwicklung Basils vom naiven Kind zum reflektierten, mehräugigen
Erwachsenen nicht stringent, auf ein didaktisches Ziel hin erzählt
wird, haut einen der Touch nicht um, sondern bringt einen viel mehr
zum Nachdenken."
Norman Silver: Ein Auge für Farben. Aus
dem Englischen von Susanne Koppe. Beltz&Gelberg Verlag. Weinheim
und Basel 1993. 173 Seiten.
Lionboy. Die Entführung
"Na endlich!" sage ich zu Rossipotti, als er fast am
Ende unseres Urlaubs zu mir kommt, und mir das Buch "Lionboy"
in die Flosse drückt. "Soll ich es vorstellen?"
Rossipotti zuckt mit den Schultern und sagt: "Ja, stell es
vor. Ich fand es streckenweise zwar ungeheuer langweilig, aber vielleicht
lag es daran, dass es für mich hier in Afrika spannendere Dinge
zu tun gibt, als Bücher zu lesen."
"Warum hat es dich denn nicht in den Bann gezogen?" frage
ich Rossipotti verwundert. Ich bin es nicht gewohnt, von ihm so
lasche Antworten zu bekommen. Vielleicht macht ihm die Hitze auf
Dauer doch zu schaffen und er bekommt deshalb sein Maul nicht mehr
so richtig auf?
"Ach die ganze Geschichte interessiert mich eben nicht",
reißt mich Rossipotti aus meinen Gedanken. "Held der
Geschichte ist der Junge Charlie. Er spricht die Katzensprache 'Katz'
und kann sich mit allen katzenartigen Tieren unterhalten. Diese
Gabe wird für ihn besonders wichtig, als seine Eltern, beide
Wissenschaftler, wegen eines Asthma-Heilmittels von einer undefinierbaren
Vereinigung entführt werden. Die will verhindern, dass das
Mittel auf den Markt kommt. Weil Charlie 'Katz' spricht, und die
Katzen aller Länder seltsamerweise über die Entführung
seiner Eltern informiert sind, erfährt er bald, dass sie von
England aus zuerst nach Paris und dann nach Venedig verschleppt
wurden...."
"Würde dir das Buch besser gefallen, wenn er 'Krokodil'
sprechen würde?" unterbreche ich Rossipotti.
"Krokodil?" fragt Rossipotti irritiert. "So was
gibt's doch gar nicht! Hast du noch nicht bemerkt, dass wir uns
auf menschisch unterhalten? Aber wo war ich stehen geblieben? -
Ach ja, Charlie reist seinen Eltern hinterher und lernt auf dem
Zirkusschiff 'Circe' fünf Löwen kennen. Sie machen einen
Deal aus: Die Löwen helfen Charlie, seine Eltern aus den Klauen
der Entführer zu reißen. Und Charlie soll im Gegenzug
die Löwen aus dem Zirkus befreien und sie nach Afrika bringen.
- Das war's eigentlich schon.
Na, wie gefällt dir dieser Plot? Wenn du mich fragst, ist diese
ganze Katzengeschichte kitschiger Quatsch. Warum sollen sich Katzen,
die nicht menschisch sprechen, für die Belange von Menschen
interessieren, selbst wenn das menschliche Asthma auch irgendetwas
mit Katzenallergie zu tun hat?
Außerdem ist die Geschichte nicht gut erzählt. Sie spielt
irgendwann in der Zukunft, in einer Zeit, in der man nur noch mit
Sondererlaubnis Auto fahren darf, die Bilder und Szenen wirken allerdings
eher wie aus dem Mittelalter und sind insgesamt sehr ungenau beschrieben.
Außer dem Zirkusschiff wirkt die Umgebung sehr blass oder
wie ein überbelichtetes Foto. Ich konnte mich auf jeden Fall
nicht besonders gut in den Roman hineinversetzen.
Das Ganze erinnert übrigens stark an die Geschichte 'Das Geheimnis
der verschwundenen Schriftrolle' von Mills. Da können die unheimlich
klugen, mäusekleinen aber menschenähnlichen Heureka die
Mäusesprache. Genau wie bei 'Lionboy', wo es eine Geheimnis
umwitterte Verbrechervereinigung gibt, kämpfen auch die Heureka
gegen irgendwelche Bösen. Man weiß zwar bei beiden Büchern
bis zum Schluss nicht so genau, worum es eigentlich geht, aber vielleicht
reicht es ja, wenn die Autoren darüber informiert sind."
"Beide Bücher sind ja auch nur der jeweils erste Teil
einer Trilogie!" wende ich ein. "Sicher klären sich
die Dinge in den Fortsetzungen auf."
"Das mag schon sein", antwortet Rossipotti. "Aber
die werde ich bestimmt nicht lesen."
"Und warum soll ich dann das Buch überhaupt vorstellen?"
rufe ich erstaunt aus.
"Weil ich ein Krokodil bin und Krokodile kein Asthma haben!"
sagt Rossipotti und lacht. "Vielleicht habe ich in dem Roman
etwas übersehen!" Dann klappt er sein Maul zu und legt
sich auf seiner Sandbank zurecht. Für mich das sichere Zeichen,
dass er nicht mehr gestört werden will.
Was soll ich aber nach so einer Einleitung schreiben? Mir bleibt
wohl nichts anderes übrig, als die Augen zuzumachen und durchzurennen.
Also: Das, was Rossipotti insgesamt am Roman gestört hat, nämlich,
dass er einfach nicht gut erzählt ist und die Bilder nicht
stimmig sind, kann man auch als Vorteil ansehen.
Dazu muss man allerdings wissen, dass das Buch nicht eine Person,
sondern ein Mädchen zusammen mit seiner Mutter geschrieben
hat. Die beiden haben sich dann das Pseudonym "Zizou Corder"
gegeben. Viele Ideen stammen also von der 10-jährigen Isabel
und erklären vielleicht, warum die Lust am Erzählen im
Vordergrund steht und nicht die Qualität der Schilderung. Im
Gegensatz zu Rossipotti finde ich es allerdings durchaus charmant.
Man spürt so richtig das "und dann" der Geschichte.
Mutter und Tochter erzählen sich assoziativ eine Geschichte,
sie führt irgendwohin "und dann" kommt in großer
Not plötzlich ein Zirkusschiff vorbei, "und dann"
erscheint aus heiterem Himmel ein König und hilft "und
dann"... ja, dann ist das Buch zu Ende und man muss auf den
nächsten Teil der Trilogie warten.
Zizou Corder: Lionboy. Die Entführung. Aus
dem Englischen von Sophie Zeitz. Carl
Hanser Verlag. München Wien 2004. 341 S.
Lieblingsbuch:
Mein liebes Selbst
vorgestellt von Meike Haas
Pflegemütter stellt man sich unangenehm vor, und was sie für "pädagogisch
wertvoll" halten eher langweilig. Aber Zions Pflegemutter - das
muss man zugeben - hat eine wirklich sehr gute Idee. Denn sie legt
fest, dass Zion ein Tagebuch führen muss. Dazu hat er keine Lust
- und genau das ist das Gute: Denn viele Leute, die gerne Tagebuch
schreiben, denken daran, dass es später vielleicht doch jemand liest.
Deshalb schildern sie alles ein bisschen so, dass sie selbst gut
dabei wegkommen. Oder sie tüfteln so lange an den Formulierungen
herum, dass alles gestelzt wirkt und gar nicht mehr so, wie es wirklich
war. Bei Zion ist das nicht so. Weil er kein Tagebuch schreiben
will und er deshalb wütend ist, denkt er nicht lange nach, sondern
schreibt alles direkt so auf, wie es ihm in den Sinn kommt. Sein
Text klingt so, als säße man bei ihm im Kopf und hörte seine Gedanken:
Mit wem er sich prügeln will und warum er Sehnsucht hat nach dem
Armenviertel, aus dem er kommt. Wie es war, als ihn die Sozialarbeiterin
in die Stadt Haifa zu der vornehmen Pflegefamilie brachte und was
er von seinem Vater, dem Bankräuber, hält.
Das ist spannend und lustig und manchmal auch sehr traurig. Schließlich
hätte Zion auch gern eigene Eltern, die sich richtig um ihn kümmern.
Frau Scharoni, seine Pflegemutter, findet er zwar ganz in Ordnung
- schließlich schlägt sie nicht - aber so richtig zum lieb haben
eignet sie sich nicht. Das wird auch so bleiben. Denn Zions Geschichte
hat kein richtiges Happy-End. Auch wenn sich seine Lage - das muss
man schon zugeben - sehr bessert, weil er ein Mädchen findet, dem
er Briefe schreiben kann, die so ehrlich sind wie sein Tagebuch.
Da ist dann sogar Frau Scharoni einverstanden, dass er mit dem Tagebuch-Schreiben
aufhört: Briefe sind in ihren Augen pädagogisch genauso wertvoll.
Für uns Leser ist es allerdings schade, dass Zion kein Tagebuch
mehr schreibt. Denn jetzt ist das Buch aus. Genau genommen hört
das Buch natürlich nicht auf, weil Zion neuerdings Briefe schreibt,
sondern weil die Schriftstellerin Galila Ron-Feder den Stift aus
der Hand gelegt hat. Dieser Unterschied ist einerseits zwar völlig
uninteressant. Denn man denkt ja nicht an die Schriftstellerin,
während man das Buch liest, sondern an Zion. Andererseits hat der
Unterschied eine große Bedeutung: Denn ich empfehle euch das Buch
"Mein liebes Selbst" genau deshalb, weil ich es ganz beeindruckend
finde, dass da eine erwachsene Frau eine Geschichte geschrieben
hat, die sich so anfühlt, als säße man mitten in den Gedanken eines
zehnjährigen Jungen! Galila Ron-Feder hat übrigens schon viele Kinderbücher
geschrieben, lebt in Israel und schreibt auf hebräisch. Übersetzt
hat das Buch Mirjam Pressler, die ihr vielleicht kennt, weil sie
viele deutsche Kinderbücher geschrieben hat.
Galila Ron-Feder: Mein liebes Selbst. Aus dem
Hebräischen von Mirjam Pressler.
Beltz&Gelberg Verlag. Weinheim 1996. 129 S.
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