[Diese Seite drucken]

Das geheime Buch

Anna Pop in der Elefantenhaut

Ein Märchen aus der neuesten Zeit

Annette Kautt

Fortsetzung: Teil 5

Wer nicht nur die kurze Zusammenfassung lesen möchte, sondern auch den Anfang des Buches, geht zurück zur ersten Rossipotti-Ausgabe .

Was bisher geschah:

Anna Pop ist ein neunjähriges Mädchen und hat eine seltsame Krankheit. Jede Nacht wächst ihr eine Elefantenhaut und droht sie zu erdrücken. Auf Wunsch der Eltern finden sich bei Pops schließlich mehrere Ärzte und ein Erbsenschwein ein, um Anna von ihrer nächtlichen Elefantenhaut zu heilen: Der Mampfende Schluck, die beiden Erzfeinde Betrüger Schorschi und Angeber-Luzi und Frau Schmittchen.
Doch der Mampfende Schluck verschwindet schon am ersten Tag auf mysteriöse Weise und auch die anderen Ärzte kümmern sich weniger um Anna als um ihre eigenen Vorlieben. In der ersten Zeit fühlen sich die meisten Hausbewohner deshalb recht wohl in der Gemeinschaft. Doch eines Tages stellt Angeber-Luzi eine unglaubliche Diagnose, die die Gemeinschaft aufwühlt: Anna ist angeblich kein Kind, sondern ein Elefant! Annas Eltern begreifen, dass sie dem Treiben der Ärzte nicht mehr tatenlos zusehen können, und so wird im Hause Pop ein Beschluss gefasst:

Als Anna am folgenden Morgen zum Frühstück kam, erfuhr sie Folgendes: Nachdem sie gestern in die Küche gegangen war, hatten die anderen noch lange zusammengesessen und gemeinsam versucht, Ordnung in ihre Gedanken zu bekommen. Angeber-Luzi wurde extra nochmals aus seinem Zimmer geholt, damit er nachher nicht behaupten konnte, er sei übergangen worden.
Ergebnis dieser aufreibenden Unterhaltung war, dass jeder der Ärzte an einem festgesetzten Termin die Möglichkeit haben sollte, sein Können zur Schau zu stellen.
Angeber-Luzi wollte dann beweisen, dass Anna ein Elefant war, Frau Schmittchen dagegen, dass Angeber-Luzis Idee nur ein Produkt ihrer Wunschmethode war. Außerdem wollte sie Annas Krankheit als Trugbild oder Einbildung aller Hausbewohner entlarven. Und Betrüger-Schorschi wollte die Flupppuppe auftreiben und mit ihrer Hilfe sowohl Angeber-Luzi auffliegen lassen als auch Anna heilen. Ob Betrüger-Schorschi ebenfalls glaubte, dass Anna ein Elefant sei, war nicht aus ihm herauszubekommen.
Der entscheidende Wettkampf sollte an einen Sonntag in drei Wochen stattfinden. Alle drei Ärzte meinten, sich bis zu diesem Zeitpunkt soweit vorbereiten zu können, dass sie die anderen von der Richtigkeit ihrer Theorie überzeugen konnten.
Für Anna wurden die nächsten Wochen ungemütlich.
Angeber-Luzi wollte ständig irgendwelche Untersuchungen mit ihr anstellen. Da Annas Eltern sie gebeten hatten, Angeber-Luzis Anweisungen zu befolgen, musste sie stundenlang in seinem Zimmer auf einem Stuhl sitzen. Angeber-Luzi stand dann hinter einem Stativ und fotografierte jede ihrer Bewegungen. Wenn sie beispielsweise ihren Rücken krümmte, sagte er: "Das ist schon mal gar nicht so schlecht. Mach doch mal einen richtigen Buckel." Oder er maß ihre Haut mit einem Speckmesser. Das schien ihm allerdings nicht so zu gefallen, denn nach einigen Tagen hörte er damit wieder auf.
Diese täglichen Übungen wären schon schrecklich genug gewesen. Doch Angeber-Luzi durfte nun auch nachts neben Annas Bett sitzen. Frau Schmittchen und Anna hatten dagegen protestiert, doch Annas Eltern meinten, sie wollten Angeber-Luzi die Chance geben, den Irrsinn seiner Theorie noch vor dem Wettkampftag einzusehen. Frau Schmittchen war deshalb aus dem Zimmer ausgezogen und fühlte sich seither benachteiligt in ihren Wettkampfvorbereitungen.
Angeber-Luzi dagegen war hochzufrieden. Jede Nacht wartete er gierig, bis Annas Haut anfing zu wachsen. Mit seinen Händen griff er in die Falten und zog ungeduldig daran. Wenn sich Annas Haut dann im Zimmer türmte, schien er ganz in seinem Element. Mit gurrender, schmeichelnder Stimme versuchte er den Elefanten in Anna zu locken und ihn zum Bleiben zu bewegen.
Anna vernahm noch nie gehörte Laute. Ein balzendes "Uuuah-duuurah" leitete für gewöhnlich seine seltsamen Monologe ein. "Uuuah-duuuurah, gnöt-gnöt-gnöt, uuuduuu-uuuuduuu-rattelschnöt, lut, lut, gnöt, gnöt..." so ging es die ganze Nacht, und Anna konnte nicht einmal mehr vor sich hindösen.
Nach der fünften Nacht nahm sie sich fest vor, die Elefantenhaut loszuwerden. Koste es, was es wolle.
Auch tagsüber konnte sie Angeber-Luzis Nähe nicht mehr ertragen. So oft es ihr gelang, entwischte sie aus dem Haus und suchte beim Erbsenschwein Zuflucht. Doch schon bald hatte Angeber-Luzi ihr Versteck entdeckt. Und da seine wissenschaftliche Mission stärker war als sein Ekel vor dem Schwein, zerrte er sie immer häufiger aus der Hütte wieder zurück ins Haus.
"Deine Vorliebe für das Erbsenschwein bestätigt mir nur, dass du eigentlich ein Elefant bist", sagte Angeber-Luzi häufig zu ihr.
Anna hörte bei solchen Reden einfach weg.
Doch als Angeber-Luzi in der zweiten Woche vor dem Wettkampf sagte, dass ihm das Erbsenschwein an seinem großen Triumphtag noch sehr nützlich sein werde, bekam sie Angst.
Aufgeregt rannte sie bei der nächsten Gelegenheit zum Erbsenschwein und erzählte ihm, was Angeber-Luzi gesagt hatte.
"Ach, Anna", besänftigte sie das Erbsenschwein. "Der Angeber-Luzi. Was kann der mir schon anhaben? Nichts. Das einzige, was Erbsenschweine fürchten, sind Ohrwürmer. Und davon habe ich bereits mehr als genug."
"Aber vielleicht will er dich für irgendwelche boshaften Dinge missbrauchen?!" meinte Anna besorgt.
"Man kann nur den missbrauchen, der Angst hat. Glaube mir das", erwiderte das Erbsenschwein. "Und jetzt komm. Hinter der Hütte habe ich eine Überraschung für dich. Denk mal, auf meine alten Tage habe ich noch etwas ganz Neues angefangen!"
Freudig erregt lief das Erbsenschwein um die Hütte. Und tatsächlich: Aus der Erde ragten die kleinen, aber trotzdem bereits gut erkennbaren Blattspitzen eines Spinats!

Nachdem Anna auch beim Erbsenschwein nicht mehr sicher war, und es das Erbsenschwein zudem störte, dass Angeber-Luzi immer über seine Beete trampelte, wenn er Anna suchte, ging sie immer seltener zu ihm.
Statt dessen durchstöberte Anna jetzt das Haus nach Verstecken.
Tatsächlich entdeckte sie darin verschiedene Zimmer und Winkel, die sie zuvor noch nicht gekannt hatte. Das Haus war ihr bisher immer ein wenig gespenstisch erschienen, weshalb sie nie Lust gehabt hatte, es zu erkunden. In die beiden oberen Stockwerke fiel nur selten Licht, und die Dielenböden knarzten dort.
Außerdem war in einem der Räume ein Verwandter von Anna gestorben. In dem Zimmer im zweiten Stock am Ende des Flurs war ihr Großonkel Heinrich eines Morgens plötzlich tot im Bett gelegen. Das Bett war seither nicht mehr bezogen worden. Zumindest glaubte Anna das, weil seitlich auf der Bettdecke ein kleiner brauner Fleck zu sehen war.
Doch nun nahm Anna auf diese alten Geschichten keine Rücksicht mehr. Was ihr früher Angst eingeflößt hat, bot ihr nun Schutz vor Angeber-Luzi. Zudem entdeckte sie auf ihren Streifzügen lauter tolle Dinge. In einer Kammer unter einer der Treppen fand sie zum Beispiel eine Kiste mit alten, bauchigen Glasflaschen. Das Grün der Flaschen schimmerte geheimnisvoll und brachte Anna auf die Idee, Flaschenpostbriefe zu schreiben.
"SOS", schrieb sie auf einen Zettel. "Ich sitze auf einer Scholle im Nordmeer fest und erfriere, wenn mir nicht bald jemand ein paar rote Würste rüberbeamt."
"SOS", schrieb sie auf einen anderen Zettel. "Fremdes Flugobjekt gesehen. Allmenschen sind nicht grün, sondern gelb. Sie halten mich gefangen. Rettet mich."
Anna schrieb viele solcher Zettel, steckte sie dann in die unterschiedlichen Flaschen, verkorkte sie und ging mit ihnen zum Fluss. In hohem Bogen schmiss sie eine Flasche nach der anderen hinein. Eine wurde von einem Ast aufgehalten und verhakte sich im Gebüsch. Doch die anderen Flaschen trieben schnell flußabwärts. Fröhlich hüpfend ging Anna wieder nach Hause.
Ein anderes Mal entdeckte Anna sogar ein Zimmer, von dem aus man Frau Schmittchen in ihrem Zimmer beobachten konnte. Nachdem Angeber-Luzi Frau Schmittchen aus Annas Zimmer vertrieben hatte, hatte sie sich nämlich in einem kleinen Zimmer im zweiten Stock einquartiert. Außer ihr wohnte niemand mehr hier oben, und das schien ihr zu gefallen.
Als Anna nun einmal in das angrenzende Zimmer geschlüpft war, um Angeber-Luzi abzuschütteln, entdeckte sie in der zerrissenen Tapete ein münzgroßes Loch in der Mauer. Sie sah hindurch und sah direkt auf Frau Schmittchens Rücken. Frau Schmittchen hielt einen Spiegel in der Hand, in dem Anna ihr erregtes Gesicht erkennen konnte.
"Vermaledeiter!" rief sie. "Warum versteckst du dich? Aber ich werde es trotzdem schaffen, dich aus Angeber-Luzis Gedanken herauszubekommen. Elefant! Visualisiere dich!"
Anna fiel es sehr schwer, ein Lachen zu unterdrücken. Doch sie wollte von Frau Schmittchen nicht beim Lauschen ertappt werden. Ein Elefant sollte also im Spiegel erscheinen! Auch Frau Schmittchen schien an ihre Grenzen zu stoßen.
Doch Anna unterschätzte sie. Denn als sie das nächste Mal die Lust überkam, Frau Schmittchen zu beobachten, sprang Frau Schmittchen aufgeregt durch ihr Zimmer. Und in der Hand hielt sie tatsächlich einen Elefantenschwanz!
Betrüger-Schorschi schien in der Tat am wenigsten Fortschritte zu machen. Anna bedauerte das ein bisschen. Denn Betrüger-Schorschi war ihr mit seinen Fischen und Kochkünsten, ja selbst mit seiner Flupppuppenvorliebe wesentlich lieber als Angeber-Luzi. So schmerzte sie es ein wenig, zusehen zu müssen, mit welchem Eifer Betrüger-Schorschi ein riesengroßes, feinmaschiges Netz knüpfte, mit dem er die Flupppuppe einfangen wollte.
Die ersten Tage nach ihrer "Aussprache" und der Festlegung des Wettkampftermins, war Betrüger-Schorschi noch aufgeregt von einem Zimmer zum nächsten gelaufen. Er hatte gehofft, die Flupppuppe zu finden, die seiner Meinung nach von Angeber-Luzi gefangen gehalten wurde. Nachdem er jedoch eingesehen hatte, dass die Flupppuppe im ganzen Haus unauffindbar war, und Angeber-Luzi offensichtlich keinerlei Interesse an seiner Puppe hatte, versuchte er nun selbst, die Flupppuppe zu fangen.
Als er das Netz fertiggestellt hatte, stülpte er es wie einen Strumpf über das geöffnete Küchenfenster und legte in dessen Strumpfende köstliche Gemüsehäppchen. Seiner Meinung nach verschmähte die Flupppuppe Fleisch. Für Gemüse konnte sie dagegen sterben.
Es versteht sich von selbst, dass es Betrüger-Schorschi nicht gelang, die Flupppuppe in seine Falle zu locken. Die einzigen, die sich für sein Gemüse interessierten, waren ein paar ausgehungerte Fliegen.

Der Termin für den Wettkampf rückte näher und näher. Während Frau Schmittchen dem Tag gelassen entgegenzublicken schien - und Anna konnte sich auch denken, warum - wurden Angeber-Luzi und Betrüger-Schorschi von Stunde zu Stunde gereizter.
Angeber-Luzi schob die Schuld auf Anna. Beim Frühstück, drei Tage vor dem Wettkampf, beklagte er sich bei ihren Eltern, dass sie sich meist irgendwo versteckt hielt. Unter diesen Umständen sei es ihm unmöglich, tagsüber seine Experimente durchzuführen. Und selbst nachts würde die Elefantenhaut seit ein paar Tagen nicht mehr so schön wachsen wie zuvor. Er wisse zwar nicht, was passiert sei, aber irgend etwas habe den Elefanten in Anna erschreckt. Um das herauszufinden, und um den Elefanten auch tagsüber sichtbar machen zu können, das heißt um seine Theorie beweisen zu können, brauche er unbedingt weitere Wochen der Forschung.
Angeber-Luzi forderte also die Verschiebung des Wettkampftages. Und er war sich ziemlich sicher, dass er in diesem Punkt ausnahmsweise von Betrüger-Schorschi unterstützt werden würde. Denn es war allen bekannt, dass auch Betrüger-Schorschi bisher noch keinen Erfolg erzielt hatte. Sein Antrag auf Aufschub schien Angeber-Luzi deshalb reine Formsache zu sein.
Doch wie erstaunt war er - und mit ihm auch die anderen - als Betrüger-Schorschi von einer Verlängerung der Forschungsarbeit nichts wissen wollte! Stolz, und so heiter wie schon lange nicht mehr, verkündete er, dass die Lösung des Rätsels in Sicht, und Anna so gut wie geheilt sei.
Als ihn die anderen halb staunend, halb zweifelnd anschauten, strich er mit den Händen seinen Haarflaum glatt und sagte ein wenig selbstgefällig: "Im Fisch liegt die Wahrheit."
"Das gilt nicht!" schrie Angeber-Luzi aufgebracht. Es war klar, dass ihm nun alle Felle davonschwammen. "Von Fischen war hier nie die Rede."
Er musste selbst bemerkt haben, wie lächerlich sein Argument war, denn er sank mutlos auf seinen Stuhl zurück und holte nicht einmal sein Telefon aus der Tasche.
Der Wettkampf sollte also wie abgemacht in drei Tagen stattfinden.
Angeber-Luzi war verzweifelt. Da war er so kurz davor, mit der Heilung einer seltenen, ja einzigartigen Krankheit in der ganzen Fachwelt Furore zu machen, und ein kleines Mädchen von neun Jahren verweigerte sich einfach seiner Therapie!
Da er nicht mehr viel zu verlieren, aber alles zu gewinnen hatte, wagte er nochmals einen Vorstoß: "Wenn der Wettkampf wirklich wie geplant stattfinden soll, muss ich Anna in den nächsten drei Tagen rund um die Uhr bei mir haben. Das ist sonst ein völlig ungerechter Wettbewerb."
"Darf ich Sie daran erinnern, dass Sie mich aus meinem Plüschsessel und aus dem Umfeld von Anna vertrieben haben?" sagte Frau Schmittchen leise, aber in außergewöhnlich scharfem Tonfall. "Von diesem Zeitpunkt an, musste ich auch ohne Versuchsobjekt auskommen."
"Und darf ich Sie daran erinnern", fuhr Betrüger-Schorschi hämisch fort, "dass ich bisher ebenfalls ohne die Flupppuppe auskommen musste! Von unlauterem Wettbewerb kann also gar keine Rede sein. Im Gegenteil, seit Sie ohne Anna ihre Elefantenversuche machen müssen, ist der Wettbewerb erst wirklich gerecht."
Angeber-Luzi blickte Betrüger-Schorschi wütend an. "Dieser ganze Quatsch mit der Flupppuppe steht mir bis hier", schrie er und hielt seine rechte Hand über den Kopf. "Ich weiß zwar nicht, welcher hinterhältige Trick sich diesmal dahinter verbirgt, aber ich fürchte das Schlimmstes für Sie, Herr und Frau Pop."
Da Herr und Frau Pop nicht erkennbar reagierten, fuhr Angeber-Luzi fort: "Herr und Frau Pop, Sie haben mich in den letzten Monaten als seriösen Gesprächspartner kennengelernt. Erinnern Sie sich doch nur an die ganzen Katastrophen, die Ihnen Frau Schmittchen eingebrockt hat. Oder bedenken Sie die Geschichte von Betrüger-Schorschi mit der Flupppuppe. Hatten Sie mit mir jemals solchen Ärger? Nein! Denn ich arbeite ernsthaft und diskret. Meine Ergebnisse sind schlicht, aber unbezweifelbar.
In Annas Fall haben wir den ganz einfachen Sachverhalt, dass wir auf der einen Seite einen Elefanten haben und auf der anderen Seite ein Mädchen. Da die Verbindung beider Existenzweisen wie wir sehen äußerst schmerzhaft ist, kann also nicht die Synthese beider Hälften Sinn und Zweck einer Behandlung sein, sondern muss bewiesen werden, dass ein Teil davon gar nicht existiert, ja sogar noch nie existiert hat." Angeber-Luzi hielt in seinen Betrachtungen inne und fragte Annas Eltern: "Drücke ich mich nicht leicht und verständlich aus?"
Annas Eltern nickten.
"Und sind meine Schlussfolgerungen nicht logisch viel richtiger als dieses wirre Geschwätz von Betrüger-Schorschi und Frau Schmittchen?"
"Doch", erwiderte Frau Pop, "aber ..."
"Na sehen Sie", fuhr ihr Angeber-Luzi über den Mund, "und deshalb ist es ganz klar, dass Sie die Behandlung nicht diesen zwei Scharlatanen überlassen dürfen. Glauben Sie mir, ein Elefant als Tochter ist viel besser als es Ihnen jetzt vielleicht erscheint. Mit ein bisschen Übung könnte man ihn vielleicht schon in ein paar Jahren in die Schule schicken. Mit fünfzehn wäre er dann vielleicht soweit, dass..."
Annas Eltern hörten besser gar nicht hin, wie Angeber-Luzi ihnen ihr zukünftiges Leben ausmalte. Doch sie ließen ihn ausreden, da sie in den letzten drei Wochen gelernt hatten, dass er nicht von seiner fixen Idee abzubringen war.
Als er endlich ausgeredet hatte, lächelte ihn Annas Mutter nachsichtig an. Aber dann sagte sie bestimmt: "Sehr schön, Angeber-Luzi. Der Wettkampf findet dann wie abgesprochen am nächsten Sonntag statt. Wir werden ja sehen, wer recht behält. Sie oder wir."
Zornig leckte sich Angeber-Luzi über die Lippen: "Aber Sie haben wohl nicht zugehört! Ich bin es, der Anna heilen kann. Halten Sie zu mir, oder Sie treiben Ihre Tochter in den Abgrund!"
"Meine Tochter oder Ihren Elefanten?" fragte Frau Pop spitz. Dann erhob sie sich, nahm ein paar Teller auf den Arm und verließ das Esszimmer.

Anna war glücklich. Morgen war der Wettkampftag und die lange Zeit des Wartens endlich vorbei.
Worauf sie wartete? So genau konnte Anna das nicht sagen. Darauf vielleicht, dass am morgigen Tag die Elefantenhaut tatsächlich für immer verschwinden würde? Wenn Anna ehrlich war, glaubte sie daran nicht so recht.
Aber immerhin: Wenn auch ihre Nacht-Haut nicht verschwinden würde, die drei Ärzte müssten doch wenigstens trotzdem fortgehen? Denn hatten sie in diesem Fall nicht eindeutig ihre Unfähigkeit bewiesen und deshalb keinen Grund mehr, bei ihnen zu bleiben?
Ein wenig seltsam erschien es Anna schon, dass Pops wahrscheinlich bereits nächste Woche wieder eine ganz normale Familie sein würden. Ohne Betrüger-Schorschi, Angeber-Luzi und Frau Schmittchen. Sobald die Ärzte weg waren, durfte Anna sicher wieder in die Schule gehen. Ohnehin durfte sie dann wieder viel mehr tun. Sie musste sich nicht mehr den ganzen Tag vor Angeber-Luzi verstecken, sondern konnte das machen, wozu sie Lust hatte. (Sie könnte zum Beispiel mit ihren Freundinnen die Leiter zum Baumhaus fertig bauen.) Außerdem musste sie keine Rücksicht mehr auf Betrüger-Schorschis Flupppuppenmelancholie nehmen und sich auch keine stundenlangen Debatten mehr am Tisch mit anhören. Endlich würden ihre Eltern mal ihr, Anna, und nicht irgendwelchen Ärzten zuhören.
Frau Schmittchen würde Anna vielleicht doch ein bisschen vermissen. Seit sie im zweiten Stock wohnte, störte sie Anna kaum noch. Und immerhin hatte Frau Schmittchen viele lustige Einfälle.
Aber insgesamt war es Anna doch lieber, wenn alle drei Ärzte das Haus verließen. Sicher würde sie sich dann viel gesünder fühlen.
Außerdem würde sie das Haus für sich alleine haben. Wovor sie früher Angst gehabt hatte, schreckte sie nicht mehr, sondern gefiel ihr mittlerweile gut. In den letzten Wochen hatte sie das Haus wie ihre Westentasche kennengelernt. Der zweite Stock war jetzt ihre Kajüte, in der sie wilde Reisen in ferne Länder unternahm. Ein schräges Dachfenster war ihre Luke, durch die sie das Meer und den Himmel beobachten konnte. Häufig spielte sie, dass sie blinder Passagier einer Handelsflotte oder Gefangene eines Piratenschiffs war. Über ihr, an Deck des Schiffs polterten die Piraten, während sie im Bauch die Karotten für ihre Peiniger schälen mußte und sich nebenbei einen Plan für ihrer Befreiung ausdachte.
Besonders das Poltern der Piraten konnte sich Anna immer sehr gut vorstellen. Manchmal war es ihr geradezu unheimlich, wie echt sich das Fußgetrappel der Seeräuber anhörte. Denn sie konnte es wirklich hören.
Heute, am Tag vor dem Wettkampf, dachte Anna, wäre eigentlich die Gelegenheit, an Deck ihres Schiffes zu gehen. Erstens konnte sie so die mühsame Zeit des Wartens besser überbrücken. Und zweitens fühlte sie sich heute mutig genug, um ihren lange vorbereitenen Befreiungsplan in die Tat umzusetzen.
Der Plan sah vor, dass sie zuerst unbemerkt die Dachbodentüre, das heißt die Türe, die zum Deck ihres Schiffs führte, öffnete und denjenigen Piraten, der dort gerade Wache hielt, überrumpelte. Dazu wollte sie ihm von hinten einen Kartoffelsack überstülpen und ihn mit einem Seil fesseln. Das übrige würde dann ein Kinderspiel sein. Mit dem Säbel des ersten gefangenen Piraten würde sie die anderen ohne irgendwelche Probleme überwältigen und sie zur Aufgabe zwingen. Wenn alle Piraten gefesselt waren, würde sie ihnen die Alternative vorschlagen, den Haien zum Fraß vorgeworfen zu werden oder ihr lieber bedingungslos zu Diensten zu stehen.
War dies alles geregelt, wollte sie Kurs auf Batsimba nehmen. In Batsimba wohnte ein wunderschöner Prinz, der aber leider arm wie eine Kirchenmaus war. Sie selbst hatte dann aber den Schatz der Piraten, weshalb er sie sicher sofort heiraten wollte. Sie würde sich eine Blumenkette um den Hals hängen und ihr Gesicht bunt bemalen. Bis tief in die Nacht würde sie mit ihrem Prinzen tanzen!
Entschlossen holte sich Anna einen leeren Kartoffelsack und ein dickes Seil aus dem Keller.
Dann stand sie wieder im Bauch ihres Schiffes und ging auf die Dachbodentüre zu. Mit mulmigem Gefühl stand sie vor der Türe und getraute sie sich nicht zu öffnen.
Was, wenn ihr Plan misslang? Würden die Piraten dann sie fesseln und zu den Haien ins Meer werfen?
Anna lauschte an der Tür. Es war alles still. Die Piraten schienen ihren Mittagsschlaf zu machen. Der Moment zum Kapern des Schiffes war also mehr als günstig.
Beherzt drückte Anna die Türklinke hinunter und machte sich bereit zum Kampf. Mit der einen Hand schwang sie den Kartoffelsack über ihrem Kopf, mit der anderen Hand riss sie ruckartig die Türe auf.
Doch alles lief verkehrt!
Denn anders als in Annas Plan stand der Pirat nicht direkt neben der Türe. Und außerdem war er auch viel zu groß für einen Kartoffelsack. Mindestens fünfmal so groß hätte der Kartoffelsack sein müssen, um ihn über den Körper dieses Piraten stülpen zu können. Und mit dem Rücken zur Tür stand er sowieso nicht. Ganz im Gegenteil: Der Pirat stand ihr gegenüber und starrte sie an...

Ende Teil 5.

Fortsetzung und letzter Teil von Anna Pop folgt in der nächsten Rossipotti-Ausgabe

 

 

 © Rossipotti No. 5, Oktober 2004