Geschichte des Kamishibais

Kamishibai in Japan

In Japan hat das Erzählen mit Bildern eine lange Tradition. Schon im 10. Jahrhundert erzählten buddhistische Mönche und Nonnen lehrreiche Bildergeschichten. Die Bilder hingen an der Wand oder wurden, nach chinesischem Vorbild, von Bildrollen abgerollt. Oft kreisten diese Geschichten um Helden, die in Abenteuer verwickelt waren.


In der Edo-Periode (1600-1886) gab es Guckkästen, in denen Stabpuppen vor Bildhintergründen bewegt wurden. Mit Hilfe von Musik wurden dann Klatsch und Tratsch-Geschichten oder bekannte Kabuki-Theaterstücke nachgespielt.
Kabuki ist eine in Japan sehr beliebte Theaterform, in der eine Geschichte mit Gesang, Tanz und Pantomime vermischt wird. Die maskenhaft weiß geschminkten Schauspieler führen dabei in prächtigen Kostümen mit überzeichneten Posen historische Geschichten auf, die meistens von Samurais handeln.


Eine direkte Vorform des Kamishibais entwickelte sich Anfang des 20. Jahrhunderts.

Auf dickes Papier gemalte Figuren, die beliebte Helden und Posen des Kabuki-Theaters darstellten, wurden in einem Kasten mit Stäben bewegt. Weil es ein Theater (shibai) mit Puppen aus Papier (kami) war, wurde es Papiertheater, kami-shibai, genannt.

Die ersten Stücke wurden in einem Zelt aufgeführt, mit Klanghölzern oder Gongs begleitet und es wurde Eintritt verlangt.


Weil es für die Kamishibai-Erzähler aber bald zu teuer war, die Miete für das Zelt zu bezahlen, verlagerten sie ihre Kunst auf die Straße. Statt Eintrittsgelder von den Passanten zu verlangen, verkauften sie vor dem Spiel Süßigkeiten, um sich so über Wasser halten zu können. Je spannender oder unterhaltsamer sie ihre Stücke erzählten, umso wahrscheinlicher war es, dass sie viele Süßigkeiten verkauften.



Das Kamishibai, wie wir es heute kennen, wurde in den späten 1920er Jahren direkt aus dem Papierpuppen-Theater entwickelt. Da es für einen einzigen Erzähler auf die Dauer zu kompliziert war, gleichzeitig mehrere Papierpuppen zu führen, Klanghölzer oder Gongs zu bedienen und die verschiedenen Rollen mit unterschiedlichen Stimmen zu spielen, wurden die Stabpuppen durch Bilder ersetzt, die nun nur noch aus dem Kasten gezogen werden mussten.
Zuerst wurden die Kästen über der Schulter getragen und bei der Vorstellung auf einem Stativ befestigt, später auf dem Gepäckträger eines Fahrrads befestigt.


Die Hochphase des Kamishibais war zwischen 1929 und 1950. Wie in Deutschland war diese Zeit auch in Japan stark durch Wirtschaftskrise und eine aggressive, nationalistische Politik, die in den 2. Weltkrieg mündete, geprägt. Viele Menschen wurden arbeitslos und einige von ihnen wurden aus der Not heraus Kamishibai-Spieler.

Thematisch wurden nun viele Geschichten nicht mehr vom Kabuki-Theater, sondern vom Stummfilm bestimmt. Sehr häufig wurden Abenteuer, Drama und Comicgeschichten erzählt. Die Geschichten hatten oft mehrere Folgen, wobei jede Folge mit 10 Bildkarten erzählt wurde. Häufig wurden Quiz eingebaut, womit die Zuschauer in die Handlung integriert wurden und Süßigkeiten gewinnen konnten. Ende 1931 gab es allein in Tokyo 2000 Erzähler, in Japan etwa 30000 und man geht davon aus, dass in seinen Hochphasen ca. 5 Millionen Kinder und Erwachsene täglich den verschiedenen Kamishibais zusahen.


Ende 1940 kam der Fernseher in die japanischen Wohnungen, der „denki kamishibai“ (elektronisches Kamishibai) genannt wurde. Das war der Anfang vom Ende der Kamishibais auf den Straßen.

Auch wenn das Fernsehen technisch viel aufwändigere Geschichten erzählen konnte, ging doch auch etwas verloren: die Stimmung vor Ort und der direkte Austausch zwischen Erzählerinnen und Erzähler und dem Publikum.

Heute lebt das Kamishibai vor allem in japanischen Kindergärten und Schulen weiter, um Kinder beim Lesen und Schreiben zu helfen, ihre Freude am Erfinden von Geschichten zu unterstützen und sie über das gemeinsame Erleben von Geschichten zusammen zu bringen.


Geschichte des Kamishibais in Deutschland

In Deutschland wurde man auf das Kamishibai aufmerksam, nachdem es in den 1970er Jahren auf der Internationale Kinderbuchmesse in Bologna vorgestellt wurde. Im Unterschied zu Japan interessierten sich hier deshalb von Anfang an Vermittlerinnen und Vermittler von Literatur für das Erzähltheater. Das Medium schien sehr gut geeignet, um einem größeren Publikum Bilderbücher vorzulesen oder zu erzählen und Kinder dadurch ans Lesen und Schreiben von Geschichten heran zu führen.

Zu der Zeit waren allerdings gerade Dia-Projektoren beliebt, mit denen man Bilder an die Wand werfen und so Geschichten als Bilderbuchkino erzählen konnte. Wahrscheinlich wurden deshalb Kamishibais damals nur vereinzelt eingesetzt.


Im Vergleich zum Kamishibai hat die Dia-Schau allerdings mehrere Nachteile:
Zum einen braucht man neben dem Projektor einen abgedunkelten Raum. Zum anderen kann man dafür nicht einfach selbst gemalte Bilder verwenden, sondern muss diese zuerst abfotografieren und auf Dia-Größe verkleinern. Beim Kamishibai kann man dagegen ganz leicht Bilder in Originalgröße präsentieren.

Wahrscheinlich sind das wichtige Gründe, warum das Kamishibai gegen Ende des letzten Jahrhundert bei Vermittlerinnen und Vermittlern von Literatur immer beliebter wurde.
Im Unterschied zur japanischen Kamishibai-Tradition wurde das Erzähltheater in Deutschland von Anfang an in Innenräumen gespielt. Und statt auf ein Fahrrad, wurde und wird es auf einen Tisch gestellt und davor das Publikum versammelt.


Spätestens seit den 2000er Jahren nutzen immer mehr Illustrator*innen, Autor*innen, Schauspieler*innen, Bibliothekar*innen, Religionspädago*innen und allgemein Literaturvermittler*innen Kamishibais in Vorführungen, Workshops und zur Lese- und Schreibförderung. Zum einen erzählen sie selbst auf diese Weise Geschichten. Zum anderen leiten sie Kinder an, selbst kreativ zu werden und eigene Geschichten zu entwickeln, zu malen und danach dem Publikum vorzustellen.
Seit 2011 bietet die Büchereizentrale in Schleswig-Holstein einen besonderen Verleih-Service für Kamishibai-Bildkarten an. Rund 80 Büchereien setzen die Materialien seither in der Praxis ein.