von Carina Zacharias
Mitten im Nirgendwo, weitab von allen Städten und Straßen und so versteckt zwischen Hügeln und Wäldern, dass niemand je dorthin fand, stand einmal ein runder Turm. In diesem Turm wohnte ganz alleine ein Forscher namens Wendolin. Der ganze Turm war angefüllt mit wissenschaftlichen Geräten, Mikroskopen, Karten, Büchern und ähnlichen Dingen. Eine Wendeltreppe führt vom Keller bis ins Dach und in alle sieben Stockwerke.
Wendolin lebte schon so lange allein in seinem Turm, dass er gar nicht mehr wusste, wie lange schon. Im Grunde achtete er auch überhaupt nicht auf das Vergehen der Zeit. Und wenn man ihn gefragt hätte, wie alt er war, wüsste er darauf bestimmt keine bessere Antwort als der, dass er noch nicht besonders alt war, aber auch nicht mehr ganz jung.
Für Wendolin gab es nichts Schöneres, als Dinge zu erforschen. Tagein tagaus machte er nichts anderes. Darum wusste er auch sehr, sehr viel. Doch nie wusste er alles. Immer und immer fiel ihm noch etwas ein, das er noch nicht erforscht hatte: Zum Beispiel der Körperbau eines kleinen blauen Käfers, der eines Morgens über seine Fensterbank kletterte, oder wie Geschmäcker entstanden oder warum seine Socken immer an der gleichen Stelle Löcher bekamen oder warum Wolken mit dem Wind zogen oder, oder, oder … Die Liste war endlos und so wurde Wendolin nie langweilig.
Wahrscheinlich hätte er auf diese Weise bis an sein Lebensende weiter gelebt und geforscht, wenn nicht eines Tages alles anders gekommen wäre.
Es war ein ganz gewöhnlicher Abend und Wendolin betrachtete gerade eine Staubfluse mit einer ungewöhnlichen orangen Farbe unter seinem Mikroskop, als es auf einmal laut an der Tür klopfte. Wendolin schrak so sehr zusammen, dass er sich den Fuß am Tischbein stieß und die Staubfluse auf Nimmerwiedersehen davon wehte. „Na so was!“, rief er erschrocken. Er wollte schon glauben, dass er sich verhört hatte – denn bei ihm klopfte eigentlich nie jemand – da klopfte es erneut. Und zwar noch lauter und eindringlicher als zuvor.
„Na so was“, sagte Wendolin noch einmal. Dann stand er auf und humpelte mit seinem schmerzenden Fuß die Wendeltreppe hinab. „Ich komme ja schon!“, rief er.
Als er die Tür öffnete, stand eine kleine Frau vor ihm, die Sportsachen und Joggingschuhe trug und einen Rucksack auf dem Rücken hatte. „Na endlich!“, rief sie. „Ich dachte schon, es ist garkeiner Zuhause.“ Mit diesen Worten trat sie an Wendolin vorbei durch die Tür und sah sich mit großen Augen um. „Wohnen Sie hier? Das ist ja der Wahnsinn! Darf ich mich mal umsehen?“
Wendolin war so verdattert, dass er erst gar nicht antworten konnte. „Ich … äh …“, stotterte er. Dann erst merkte er, dass die Tür noch immer aufstand, und er schloss sie erst einmal sorgfältig.
Die unerwartete Besucherin wertete sein Stottern offenbar als Zustimmung. „Danke sehr!“, rief sie und stieg geschwind die Treppenstufen hoch. „Ich bin übrigens Tina. Und wer sind Sie?“
„Wen … Wendolin“, stotterte Wendolin und lief hinter Tina her. Die hatte bereits das erste Stockwerk erreicht, in dem Wendolins Labor untergebracht war. „Wahnsinn“, sagte sie schon wieder und betrachtete die vielen Flaschen, Gefäße, Flüssigkeiten und Chemikalien. Dabei ging sie mit beschwingten Schritten durch den Raum und Wendolin musste sich beeilen, um hinterher zu laufen und all die Gläser aufzufangen, die sie, ohne es zu merken, mit ihrem Rucksack von den Tischen fegte. „Was ist denn das hier? Und was das hier?“, fragte sie und deutete auf die verschiedensten Dinge. Wendolin erklärte ihr alles und sie hörte aufmerksam zu. „Ich verstehe“, sagte sie zum Beispiel und nickte. Und wenn sie nicht verstand, fragte sie nach. Dann auf einmal rief sie: „Und was ist oben?“ und verschwand im Treppenhaus – und Wendolin beeilte sich, um hinterherzukommen.
Wie ein Wirbelwind fegte Tina durch den Turm, sah sich alles an, stellte Fragen, lauschte Wendolins Erklärungen – und brachte ein furchtbares Chaos in Wendolins schöne Ordnung. Als sie schließlich in der Küche ankamen, war Wendolin völlig erschöpft.
„Ui, endlich gibt es etwas zu essen! Darf ich?“ Tina deutete auf den Teller mit Haferflockenkeksen, der auf dem Küchentisch stand. Wendolin nickte und sie stopfte sich einen ganzen Keks auf einmal in den Mund. „Mann, ist das lecker!“, sagte sie kauend und krümelte auf den sauberen Dielenboden. „Du musst wissen, dass ich mich verlaufen habe. Dabei kann ich mich eigentlich gar nicht ver laufen . Denn das ist alles, was ich mache, verstehst du? Laufen. Bin einfach mal vor die Tür gegangen und nicht wieder zurück und seitdem laufe ich. Musste mal raus aus allem, einfach in die Natur. Aber jetzt sind mir doch glatt die Vorräte ausgegangen! Und weit und breit keine Stadt zum Einkaufen. Dann hab ich diesen Turm entdeckt. Was für ein Glück, dass ich den gefunden habe! Ist das nicht Glück?“
Wendolin war so damit beschäftigt, mit einem feuchten Lappen die Krümel aufzuwischen, die Tina auf der Anrichte verteilte, dass er kaum richtig hingehört hatte. „Wie bitte?“, fragte er zerstreut.
„Ob das nicht Glück ist, habe ich gefragt!“ Tina hatte nun auch seinen selbst gekochten Tomatensaft entdeckt und trank in großen Schlucken aus der Glasflasche.
Wendolin hielt im Putzen inne und richtete sich auf. „Ist das Glück …“, wiederholte er murmelnd.
„Hm?“ Nun war es Tina, die ihn fragend ansah. Sie hatte einen ganz rot verschmierten Mund von dem Saft.
„Ich weiß nicht, ob das Glück ist“, sagte Wendolin. „Wenn ich so darüber nachdenke, weiß ich gar nicht so genau, was Glück überhaupt ist.“ Und noch während er das sagte, ergriff ihn ein wohl bekanntes Gefühl, das sich wie ein Kribbeln zuerst in seiner Magengegend und von dort aus im ganzen Körper von den Zehenspitzen bis zu den Haarwurzeln ausbreitete: Die Forscherlust hatte ihn gepackt! Denn wenn Wendolin etwas nicht wusste, dann musste er es sofort herausfinden. „Was ist denn Glück?“, fragte er Tina aufgeregt.
„Was Glück ist?“ Tina hatte den Saft ausgetrunken und begann, Wendolins Haferflockenkeksvorräte in ihrem Rucksack zu verstauen. „Was für eine Frage! Glück ist … Na, das kann man doch nicht beschreiben!“
„Aber ich will es erforschen!“, beharrte Wendolin. In seinem Eifer bemerkte er gar nicht, dass die Tomatensaftflasche umgekippt war und auf seinen Küchentisch tropfte.
„Aber Glück … das ist doch für jeden anders.“ Tina zog sich den Rucksack auf den Rücken und begann, die Wendeltreppe hinabzusteigen. „Vielen Dank für das leckere Essen!“, rief sie über die Schulter. „Aber ich muss weiter. Auf Wiedersehen!“
„Warte!“, Wendolin hechtete hinter ihr her, doch sie war unglaublich flink – vermutlich, weil sie so geübt war im Laufen. Sie war schon an der Tür, als Wendolin sie völlig außer Atem wieder einholte. „Aber“, keuchte er, „Was ist denn dann Glück für dich?“
Tina hatte bereits die Tür geöffnet und stand mit einem Bein im Freien. Doch bei seiner Frage hielt sie endlich inne. „Hmm“, machte sie und runzelte die Stirn. „Das Glück … für mich … Ich glaube … Das Laufen. Das ist für mich Glück.“ Sie lächelte ihm noch einmal zu, dann lief sie mit federnden Schritten davon und war kurz darauf hinter einem Hügel verschwunden.
Verwirrt und aufgewühlt schloss Wendolin die Tür und fuhr sich durch das strubblige Haar. Für ihn stand fest: Er musste herausfinden, was das Glück war. Doch wie erforschte man das Glück? Er hatte in seinem Leben schon fast alles erforscht: Tiere und Pflanzen, Wasser und Luft, historische Ereignisse und zukunftsweisende Technologien. Doch auf einmal wurde ihm klar, dass er bei dieser Forschungsfrage anders vorgehen musste als sonst. Es gab nur eine Möglichkeit, das Glück zu erforschen. Es gefiel ihm zwar nicht, doch er fand keinen Weg um diese Möglichkeit herum. „Ich muss irgendwohin, wo Menschen sind“, murmelte Wendolin laut vor sich hin. Und weil er keinen Moment länger damit warten konnte, seine Forschungsarbeit zu beginnen, machte er sich gleich auf den Weg.
Zunächst packte er alle Haferflockenkekse ein, die Tina noch übrig gelassen hatte, eine große Flasche Tomatensaft und alle wissenschaftlichen Geräte, die er brauchen könnte. Da er noch keine rechte Vorstellung davon hatte, wie er das Glück erforschen würde, packte er ziemlich viel ein – Thermometer und Gefäße, Pipetten und Notizblöcke, Bücher und Lupen und noch einiges mehr. Am Ende war seine Tasche riesengroß, vollgepackt und schwer und er konnte sie überhaupt nur noch mit Ach und Krach tragen. Wie gut, dass er nicht zu Fuß zu gehen brauchte!
Gleich neben der Eingangstür zu seinem Turm, mitten in den Gemüsebeeten, stand nämlich ein von ihm selbst gebautes Fahrzeug, dass er das Puffpaff getauft hatte, weil es beim Fahren lustige Geräusche machte, die wie Puff und Paff klangen. Er hätte es allerdings auch das Ratteldattel oder das Klipperklapper oder das Rumpelpumpel nennen können, denn das Gefährt machte allerhand merkwürdige Geräusche, während es fuhr. Außerdem schüttelte und rüttelte es ihn immer ordentlich durch. Doch Wendolin mochte es trotzdem. Es hatte schließlich auch einiges an Zeit und Forschungsarbeit gekostet, um es zu entwerfen und zu bauen! Es hatte fünf Räder an langen Stelzen und fuhr nicht mit Benzin, sondern mit Seifenwasser, weswegen es während der Fahrt die ganze Zeit schillernde Seifenblasen aus einem langen Rohr blies. Der Fahrersitz – ein ehemaliger Gartenstuhl – war recht hoch, über eine seitlich angebrachte Leiter jedoch gut zu erreichen und von einem rot-weiß gepunkteten Sonnenschirm beschattet.
Auf dieses Puffpaff also wuchtete Wendolin sein Gepäck, dann füllte er den Tank auf, kurbelte den Motor an, kletterte auf den Fahrersitz und fuhr los.
Euch ist vielleicht aufgefallen, dass es bereits Abend war, als Tina bei Wendolin hereinschneite. Nun, als Wendolin losfuhr, war die Sonne bereits untergegangen und die Landschaft lag dunkel unter einem endlos weiten Sternenhimmel. Wendolin jedoch war nicht müde, denn er hatte den Großteil des Tages geschlafen, wie es ihm zur Gewohnheit geworden war. So fuhr er und fuhr immer weiter über die hügeligen Wiesen, gefolgt von einer schwerelosen Spur im Mondlicht schillernder Seifenblasen. Es wäre wohl sehr friedlich gewesen, hätte das Puffpaff nicht solch einen fürchterlichen Lärm gemacht. Zwischendurch dachte er ein paarmal an Tina und hielt Ausschau nach ihr, doch er begegnete ihr nicht.
Als Wendolin schließlich ein paar Bauernhöfe und dann die ersten Häuser und Straßen erreichte, graute schon der Morgen. Die Menschen warfen Wendolin neugierige Blicke zu und sahen seinem ausgefallenen Fahrzeug verblüfft hinterher. Der merkte das jedoch gar nicht, parkte sein Puffpaff in einer Parklücke und wuchtete sich seine große Tasche auf die Schulter.
Während er sich ziellos auf den Weg machte, beschlich ihn ein leises Unbehagen. Sah man einmal von Tinas Besuch ab, war es sehr lange her, dass er das letzte Mal unter Menschen gewesen war. Wendolin war nie gut mit anderen Menschen klargekommen. Schon als Kind hatte er immer alles ganz genau wissen wollen. Immerzu hatte er alle Erwachsenen mit Fragen gelöchert und da diese oft keine Antwort wussten oder aber die Antworten ihnen unangenehm war, fanden sie das gar nicht schön. Später hatte Wendolin dann alles selbst untersucht und erforscht, was ihm in den Sinn kam. Doch oft gefiel den Leuten auch dann nicht, was er herausfand, und sie wollten es lieber gar nicht wissen. Als Wendolin schließlich alt genug war, war er in seinen Turm gezogen und lebte seitdem alleine.
Doch diese Gedanken schüttelte er jetzt ab. „Was ich brauche“, sagte er laut zu sich selbst, „sind Leute, die ich über das Glück befragen kann.“
In diesem Augenblick kam er an einem kleinen Café vorbei, das schmiedeeiserne Tische und Stühle auf dem Gehweg vor seiner gläsernen Fassade aufgebaut hatte. Nur ein einziger Gast saß dort: Ein sehr dicker Mann, dessen gewaltiger Bauch kaum unter das zierliche runde Tischchen passte. Auf dem Tisch stand ein Teller mit einem großen Stück Apfelkuchen und Schlagsahne. Einen Moment lang beobachtete Wendolin den Mann beim Essen. Die Kuchengabel sah in seinen großen Händen aus wie Puppenbesteck, das er mühelos zerbrechen könnte, doch er führte sie so gewandt und umsichtig vom Teller in den Mund, dass dies sicher nicht passieren würde. Er nahm nur ganz kleine Stücke auf die Gabel und die kaute er dann genießerisch und langsam, mit geschlossenen Augen. Auf einmal jedoch schien er Wendolins Blick zu bemerken, denn er schlug die Augen auf und sah ihn direkt an. Wendolin erschrak und wollte irgendetwas sagen, doch ihm fiel nichts Besseres ein, als mit piepsiger Stimme herauszurufen: „Sagen Sie, was ist für Sie das Glück?“
Ein überraschter Ausdruck erschien auf dem Gesicht des Mannes. „Das Glück?“, wiederholte er und schien zu überlegen. Dann lächelte er und deutete mit der Gabel auf die Reste seines Kuchenstücks. „Morgens in meinem Lieblingscafé zu sitzen und ein schönes Stück Apfelkuchen zu essen. Das ist für mich das Glück!“
„Interessant!“, rief Wendolin begeistert. Mit einem gewaltigen Poltern und Scheppern setzte er seine Tasche auf dem Boden ab und kramte darin herum. „Erlauben Sie?“, fragte er. Doch noch ehe der Mann antworten konnte, war Wendolin schon dabei, mit einem Lineal die Maße des Kuchenstückes auf dem Teller des Mannes zu bemessen, eine Skizze anzufertigen, das Stück auf eine kleine Waage zu legen, ein Thermometer hineinzustecken und allerhand andere Dinge damit anzustellen. Die ermittelten Werte trug er fein säuberlich in ein Notizbüchlein ein.
Der Mann sah ihm dabei ein paar Momente lang verdutzt zu, dann fing er auf einmal schallend an zu lachen. Er lachte so sehr, dass sein dicker Bauch, der direkt unter der Tischplatte klemmte, das ganze Tischlein zum Wackeln brachte und fast den Kuchen heruntergeworfen hätte. „Aber“ japste er „Was zum Teufel tun Sie denn da?!“
„Ich finde heraus, was das Glück ist“, erklärte Wendolin eingeschnappt. Er war sich nicht sicher, ob der Mann über ihn lachte und packte beleidigt all sein Sachen wieder in seine Tasche.
„Aber, aber“, sagte der Mann. Er hatte sich mittlerweile wieder beruhigt und schüttelte lächelnd den Kopf. „So finden Sie das nicht heraus. Einen Moment. Hilde!“ Er winkte einer Kellnerin, die gerade einen der Tische abwischte. „Bring dem Herrn hier doch bitte ein Stück von eurem Apfelkuchen. Mit einer ordentlichen Portion Sahne!“
Hilde nickte und verschwand im Café. Und ehe Wendolin sich versah, saß er schon am Nachbartisch und vor ihm stand ein großes Stück Apfelkuchen mit Sahne. Der Mann zwinkerte ihm zu und aß dann genauso genießerisch wie vorhin sein eigenes Stück weiter.
Wendolin war ein bisschen ärgerlich, denn er wollte eigentlich keine Zeit verlieren und mit seiner Forschungsarbeit fortfahren. Doch der Kuchen roch so himmlisch, dass er nicht anders konnte, als eine Gabel zu probieren. Und dann vergaß er alles um sich herum: Den Mann, die Straße, das Café – beinahe vergaß er sogar den Grund, warum er hier war, so wunderbar war der Geschmack, der sich in seinem Mund ausbreitete. Der Kuchen kam frisch aus dem Ofen und die Sahne schmolz auf dem warmen Teig. Die Apfelstücke waren saftig und fruchtig, die Streusel knusprig und süß, der Boden weich und warm. Gabel um Gabel aß Wendolin das ganze Stück auf und als er fertig war, hätte er am liebsten direkt noch eines gegessen, wäre er dafür nicht viel zu satt gewesen. Als er jedoch der Bedienung winkte und zahlen wollte, sagte diese: „Der Herr Schlosser hat schon für Sie bezahlt.“ Überrascht sah Wendolin zum Nachbartisch, denn Herr Schlosser, das konnte nur der Mann von vorhin sein. Doch der Tisch war leer. Er musste gegangen sein, ohne dass Wendolin es gemerkt hatte.
Also zog Wendolin weiter, leicht gebeugt unter der schweren Last seiner Tasche. Er hatte das Gefühl, noch kein Stück voran gekommen zu sein bei der Erforschung des Glücks und so verschwendete er nicht viel Zeit. Direkt an der nächsten Straßenecke sah er einen Mann, der an eine Mauer gelehnt auf dem Boden saß und mit hängendem Kopf vor sich hin zu dösen schien. Als Wendolin näher kam, sah er, dass der Mann ziemlich schmutzige, kaputte Kleider trug und vor ihm ein Pappbecher mit etwas Kleingeld stand. Da wurde Wendolin klar, dass der Mann vermutlich kein Zuhause hatte und hier saß, damit die Menschen ihm ein wenig Geld in seinen Becher warfen.
Noch während Wendolin überlegte, ob er ihn wirklich befragen oder nicht doch lieber weiterschlafen lassen sollte, schlug der Mann die Augen auf und sah fragend zu ihm hoch. Er hatte lange, zottelige Haare und einen ebenso langen zotteligen Bart. In seinen Ohren, seinen Augenbrauen und seiner Nase steckten Ringe in allen Größen und Farben. „Was willst du?“, fragte er nicht gerade freundlich.
Wendolin räusperte sich. „Ich wollte Sie fragen, was für Sie das Glück ist“, antwortete er.
Der Mann runzelte die Stirn. „Echt jetzt?“. Argwöhnisch musterte er Wendolin von Kopf bis Fuß und runzelte die Stirn, als glaube er, von Wendolin veräppelt zu werden. Doch als dieser nur ernst nickte, veränderte sich der Gesichtsausdruck des Bettlers. Nickend wies er auf den Bordstein neben sich und sagte: „Setz dich, Kumpel.“
Kurz zögerte Wendolin. Dann jedoch gehorchte er, stellte die Tasche ab, setzte sich neben den Mann an die Mauer und streckte die Beine aus. Eine kleine Weile lang saßen sie so schweigend nebeneinander und sahen den vorbeigehenden Passanten zu. Wendolin fragte sich schon, ob der Mann wieder eingedöst war und ob er schon wieder unnötig Zeit verlor, da sagte der Obdachlose auf einmal: „Der Augenblick, wenn die Sonne hoch genug über die Häuser steigt, um mein Eckchen hier zu erreichen. Das ist das Glück.“
Er hatte gesprochen, ohne die Augen zu öffnen, den Kopf hinten an die Mauer gelehnt, das Gesicht in Richtung Himmel gewandt. Wendolin wartete, doch es kam keine weitere Erklärung. Dann sah er nach oben und erkannte, was der Mann gemeint hatte.
Über den Dächern der gegenüberliegenden Häuserzeile lugte langsam aber sicher die Sonne hervor und sandte ihre Strahlen hinab in die schmale Straße, in der sie saßen. Langsam, Minute um Minute, kletterte das Sonnenlicht die Mauer in ihrem Rücken hinunter, den Schatten verdrängend.
Wendolin hatte genug Zeit, um drei große Gläser mit Schraubverschluss aus seiner Tasche zu suchen. Doch als er sie unter die Sonnenstrahlen hielt, um sie darin einzufangen, passierte rein gar nichts. Er wurde nervös. Wenn er die Sonnenstrahlen mit in sein Labor nehmen konnte, musste er sie hier vor Ort untersuchen. Und zwar jetzt in diesem Moment! Doch wie? Hektisch kramte er in seiner Tasche und machte damit ziemlich viel Lärm, doch er fand einfach nicht das richtige …
„Mann, was machst du denn?“, fragte der Obdachlose genervt. „Du machst den Moment noch kaputt! Jetzt sei still und setz dich hin!“
Widerwillig gehorchte Wendolin, doch in Gedanken überlegte er fieberhaft weiter: Sollte er die Temperatur messen? Oder lieber ein paar Fotos schießen? Sollte er versuchen, die Strahlen mit seiner Keksdose einzufangen? Dann jedoch lenkte ihn etwas ab und er vergaß seine Grübeleien.
Es war das Gesicht des Bettlers, das ihn ablenkte. Der Mann saß noch immer genauso da wie vorher, mit einem Unterschied: Die Sonnenstrahlen hatten sein Gesicht erreicht und wanderten von seiner Stirn, über seine Nase bis hin zu seinem Kinn. Und mit der Wanderung des Sonnenlichts breitete sich auch ein Lächeln auf seinen Lippen aus. Es war zwar klein, das Lächeln, fast zu übersehen, doch Wendolins geübtem Forscherblick entging es nicht. Und er sah, wie schön es das ausgemergelte Gesicht des Bettlers machte. Wie glücklich.
Erst einen Moment später erreichten die Strahlen auch Wendolin, der etwas kleiner war. Zuerst blendeten sie ihn und er kniff die Augen zu, doch dann bemerkte er ihre wohltuende Wärme und entspannte sich vollkommen. Ihm war ganz schön kalt dabei geworden, so im Schatten auf dem nackten Bürgersteig zu sitzen, doch jetzt war ihm, als wärme die Sonne ihn von innen und außen. Er bemerkte gar nicht, wie sich auch auf seinem Gesicht ein kleines Lächeln ausbreitete.
Wendolin hätte ewig dort sitzen, die Wärme der Sonne genießen und an nichts denken können. Doch er hatte noch immer keine Probe des Glücks, die er untersuchen und analysieren konnte. Daher bedankte er sich, verabschiedete sich von dem Bettler und zog mitsamt seiner großen Tasche weiter.
Er ging immer der Nase nach und gelangte schließlich an einen großen Spielplatz. Zahllose Kinder tummelten sich auf Rutschen, Schaukeln und Klettergerüsten, schrien, lachten und weinten. Am Rand saßen die Eltern, passten auf und unterhielten sich. Wendolin am nächsten war eine junge Frau, die allein auf einer Parkbank saß und strickte. „Auf ein Neues“, dachte sich Wendolin und ging auf sie zu.
„Guten Tag!“, begrüßte er sie höflich. „Darf ich Sie etwas fragen? Ich möchte gerne wissen, was das Glück ist.“
Die junge Frau hörte auf, mit ihren Stricknadeln zu klappern, und sah ihn stirnrunzelnd an. Ehe sie antworten konnte, kam jedoch ein kleines Mädchen auf sie zugerannt, das aufgeregt rief: „Mama, Mama, hast du gesehen, wie hoch ich geschaukelt bin? Hast du gesehen wie hoch das war?!“
Da lachte die Frau, strich dem Mädchen übers Haar und sagte: „Klar hab ich das gesehen, mein Schatz.“ Schon drehte sich das Mädchen auf dem Absatz um und rannte wieder davon, um weiterzuspielen.
Die Frau wandte sich erneut ihren Stricknadeln zu, als ihr Blick auf Wendolin fiel, den sie völlig vergessen zu haben schien. „Ach wissen Sie“, sagte sie jetzt, „das Lachen meines Kindes zu sehen. Das ist das Glück.“
„Ach, so ist das!“, rief Wendolin erfreut. Mit einem Griff holte er sein Geodreieck hervor, warf seine Tasche ab und lief hinter dem Mädchen her. „Entschuldigung!“, rief er. „Einen Moment bitte! Warte doch mal!“, denn er wollte das Lachen des Mädchens gerne ausmessen – und am besten noch auf Tonband aufnehmen. Doch er hatte nicht damit gerechnet, wie schnell die Kleine war! Wie der Wind hangelte sie sich Leitern entlang, rutschte Rutschen hinunter, kletterte Netze hoch, sprang über Springböcke und verschwand in Tunneln. Wendolin kraxelte völlig außer Atem hinterher, rutschte im Gras aus, verhedderte sich in Kletterseilen, stieß sich den Kopf an der Hangelleiter und blieb in der Rutsche stecken. Schließlich war er am Ende seiner Kräfte, ließ sich schweratmend mitten auf dem Spielplatz auf den Hosenboden fallen und blieb einfach sitzen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass nicht nur alle Kinder, sondern auch alle Eltern ihn ansahen – und herzhaft lachten. Er musste wohl ziemlich albern und komisch ausgesehen haben bei seiner Hetzjagd über den Spielplatz.
Das kleine Mädchen kam breit grinsend auf ihn zu und baute sich vor ihm auf. „Gewonnen!“, rief sie.
Wendolin kam ächzend auf die Beine. „Stimmt“, japste er.
Da grinste das Mädchen noch breiter und griff plötzlich nach seiner Hand. „Kommen Sie!“, sagte es und zog ihn hinter sich her. „Ich zeig Ihnen was!“
Zielstrebig hielt sie auf zwei Schaukeln zu, setzte sich selbst auf die eine und bedeutete ihm, sich auf die andere zu setzen. „Nun machen Sie schon!“, rief sie und nahm kräftig Schwung. „Na los!“
„Ist ja gut“, brummte Wendolin. „Ich mache ja schon.“ Das Mädchen lachte schallend, während er unbeholfen versuchte, ihre Bewegungen nachzumachen. Dann jedoch hatte er den Bogen raus und gemeinsam schwangen sie höher und immer höher …
„Jippiiiie!“, rief das Mädchen. Und Wendolin konnte nicht anders, als in ihr Lachen einzustimmen. Erde und Himmel drehten sich über und unter ihm, immer kräftiger schwang er vor und zurück und immer höher, bis er schließlich an einen Punkt ankam, an dem die Kette durchhing und sein Magen einen Satz machte, während er kurz die Schwerkraft zu besiegen schien. Er hatte das Gefühl, er könnte fliegen.
Erst als sich Wendolin schon von dem Mädchen namens Clara und ihrer Mutter verabschiedet hatte, fiel ihm ein, dass er ganz vergessen hatte, die Breite von Claras Lächeln zu messen oder ihr Lachen auf Band aufzunehmen.
Er hatte das Glück noch immer nicht gefunden, doch jetzt verließ es ihn vollkommen. Egal, wen er ansprach, alle Menschen warfen ihm nur misstrauische Blicke zu, schüttelten die Köpfe oder gingen einfach an ihm vorbei. Er fand zwar eine Horde Jungen auf einem Bolzplatz, die ihm erklärten, dass das wahre Glück das Schießen eines Tors in einem Fußballspiel war. Doch es gelang ihm nicht, die Geschwindigkeit des Balls vernünftig zu errechnen, weil alle so wild durcheinander liefen, und als sie ihn aufforderten, selbst einmal mitzuspielen, stellte er sich furchtbar ungeschickt an. Danach war er völlig verdreckt und so erschöpft und müde, dass er einfach auf einer Parkbank einschlief. Erst nach Stunden wachte er wieder auf – und konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, wo er seine Tasche mit all seinen Instrumenten gelassen hatte, geschweige denn das Puffpaff. Ratlos stand er am Straßenrand und kratzte sich den Kopf, während die Menschen an ihm vorbeiströmten, ohne ihn zu beachten.
In dem Moment hielt genau vor ihm ein Bus und ein einzelner Mann in einem feinen Anzug und mit einem Aktenkoffer stieg aus. Seine Augen waren die ganze Zeit auf ein großes Handy in seiner Hand fixiert, sodass er fast in Wendolin hineinlief.
„Hoppala“, rief der Mann erschrocken. „Entschuldigen Sie!“ Er sah fast genauso müde und erschöpft aus, wie Wendolin sich fühlte, allerdings war er sauberer und ordentlicher gekämmt.
„Macht nichts“, sagte Wendolin und fügte aus purer Verzweiflung hinzu: „Sagen Sie, was ist für Sie das Glück?“
„Das Glück?“ Der Mann schien überrascht. Doch dann breitete sich urplötzlich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus und er wirkte schon gar nicht mehr so ausgelaugt und müde. „Nach einem langen Arbeitstag nach Hause zu meiner Frau zu kommen. Das ist das Glück.“ Er nickte Wendolin noch einmal zu und ging mit beschwingten Schritten davon. Das Handy hatte er in die Jackentasche gesteckt.
Wendolin fragte sich grade entmutigt, wie um alles in der Welt er das bloß wissenschaftlich auswerten sollte, da fiel ihm auf, dass er genau in der Straße stand, in der er morgens sein Puffpaff geparkt hatte. Und tatsächlich, keine zehn Meter entfernt stand es noch immer in der Parklücke und wartete auf ihn. Wendolin konnte sich ein ironisches Lächeln nicht verkneifen: Manchmal musste man im Leben halt einfach mal Glück haben.
Während der Rückfahrt brach langsam die Nacht herein und tauchte die Landschaft um Wendolin einmal mehr in sternenklare Dunkelheit. Doch trotz der schönen lauen Sommernacht war Wendolin niedergeschlagen, denn er hatte keine Proben des Glücks bekommen, die er nun hätte untersuchen können. Dabei hatte er noch nie eine Forschungsfrage unbeantwortet gelassen! Sollte denn dies die erste sein?
Tief in Gedanken versunken kam Wendolin an seinem Turm an, stellte das Puffpaff im Gemüsebeet zwischen Tomaten und Karotten ab und stieg die Wendeltreppe hoch. Er war schon im vierten Stock, als ihm auffiel, dass etwas nicht stimmte. Da brannte Licht in seiner Küche. Und roch es etwa nach Feuer?!
In heilloser Panik stürzte Wendolin die letzten Treppenstufen hoch und stolperte durch die Küchentür, mitten hinein in eine Rauchwolke und eine prustende und hustende …
„Tina!“, rief Wendolin völlig entgeistert.
„Ha- hallo“, hustete Tina. Sie hielt ein Backblech in der einen Hand und versuchte mit der anderen erfolglos die Rauchwolke zu verscheuchen, die aus dem geöffneten Ofen hervorkam. „Ich … Ich hab Haferflockenkekse gebacken. Na ja, oder ich hab's zumindest versucht.“ Sie lächelte entschuldigend.
Wendolin war viel zu überrascht, um zu antworten. Seine sonst so saubere und ordentliche Küche sah aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen: Mit Teig verklebte Schüsseln, Löffel und Rührbesen lagen verteilt, Haferflocken zogen sich in einer Spur vom Vorratsschrank zum Tisch und zurück, über allem hing dichter Rauch und die Kekse auf dem Backblech waren schwarz und verbrannt.
Ungeschickt stellte Tina das Backblech ab und redete wie ein Wasserfall: „Also, ich kann ja verstehen, wenn du wütend bist, ehrlich! Ich gehe auch sofort, wenn du willst! Aber deine Kekse waren sooo lecker. Als ich sie aufhatte, musste ich einfach zurücklaufen und nach mehr fragen. Aber du warst nicht da. Und auch keine Kekse mehr. Dann hab ich das Rezept gefunden. Und ich dachte, du freust dich sicher, wenn ich dir neue backe! Aber um ehrlich zu sein, war ich noch nie gut im Backen. Und um ganz ehrlich zu sein, wollte ich nicht nur wegen der Kekse zurück, sondern auch, weil du so viele spannende Sachen erzählt hast und weil es solchen Spaß macht, dir zuzuhören! Und um ganz, ganz ehrlich zu sein, bin ich noch nie – noch nie! – seitdem ich laufe, irgendwo zweimal hin gelaufen und ich weiß eigentlich gar nicht so recht, was mich heute geritten hat …“ Sie holte tief Luft.
Wendolin sah sie an. Und grinste von einem Ohr bis zum anderen. „Tina“, sagte er, und sein Herz machte einen kleinen Satz dabei, „ich freue mich so, dass du zurückgekommen bist!“ Denn wenn er ehrlich war, hatte auch er es richtig schön gefunden, Tina von seinen Forschungen zu erzählen. Und wenn er ganz ehrlich war, hatte er noch nie eine so gute Zuhörerin gehabt. Und wenn er ganz, ganz ehrlich war, dann war es ein richtig schönes Gefühl, nicht mehr so allein zu sein. „Pass auf, wir backen sie nochmal zusammen.“
Gesagt, getan. Während Wendolin Tina zeigte, wie man die Haferflockenkekse backte, lachten und redeten sie die ganze Zeit. Tina erzählte von all den Orten, die sie schon gesehen hatte, seitdem sie durch die Welt lief, und Wendolin erzählte von seinem Tag in der Stadt. „Klingt, als hättest du eine Menge Spaß gehabt“, meinte Tina. Das machte Wendolin kurz nachdenklich. Er dachte an den Kuchen, an die Sonnenstrahlen, die Schaukeln und das Fußballspielen. Und insgeheim musste er ihr zustimmen: Ja, er hatte eine Menge Spaß gehabt.
Später saßen sie oben auf dem Dach des Turms, sahen durch Wendolins Teleskop auf die Sterne und aßen die warmen Haferflockenkekse. Plötzlich fragte Tina: „Sag mal, hast du es eigentlich herausgefunden? Was das Glück ist, meine ich.“
Wendolin sah in die Nacht hinaus. Er dachte daran, dass er Tina fragen könnte, ob sie nicht ein kleines Weilchen länger bei ihm im Turm bleiben wollte, und bei dem Gedanken wurde ihm ganz warm ums Herz. Er wandte den Kopf und erwiderte Tinas Blick.
„Ja. Ich denke, ich weiß jetzt, was das Glück ist.“
Denn das Glück, das wurde ihm jetzt klar, konnte man nicht messen, nicht analysieren oder in Marmeladengläsern einfangen. Es war für jeden anders und man wusste tief in seinem Inneren, wenn man es gefunden hatte.
* * *
Diese forsche Geschichte hat Carina Zacharias aus aktuellem Anlass geschrieben. Das ist wunderbar! Vielen Dank!
(Gerade so wieder erzählt wie ich sie gehört habe.)
von Mark Twain
Es war im Sommer, zur Dämmerstunde. Wir saßen alle unter dem Vordach des Landhauses; Tante Rahel in bescheidener Ehrerbietung etwas tiefer wie wir auf den Stufen, denn sie war unsere Magd und eine Farbige. Von hohem Wuchs und gewaltigem Körperbau, hatte sie trotz ihrer sechzig Jahre ihre alte Kraft bewahrt und ihr Augenlicht war noch ungeschwächt. Der braven, lustigen Seele war das Lachen so natürlich wie einem Vogel das Singen. Wie gewöhnlich nach beendetem Tagewerk stand sie auch jetzt wieder im Feuer, das heißt, sie wurde unbarmherzig geneckt und das machte ihr großes Vergnügen. Sie brach wieder und wieder in schallendes Gelächter aus und wenn sie keinen Atem mehr hatte, hielt sie ihren Kopf mit beiden Händen fest und schüttelte sich im Übermaß der Wonne und des Entzückens.
„Tante Rahel“, sagte ich zu ihr, als sie dies wieder einmal tat, „wie kommt es, dass du sechzig Jahre alt geworden bist und gar nichts Trauriges erlebt hast?“
Da war ihr Lachkrampf vorüber; sie schwieg einen Augenblick, sah über die Schulter nach mir hin und alle Fröhlichkeit war von ihr gewichen.
„Ist das Ihr Ernst, Mista Charles?“, fragte sie.
Das überraschte mich sehr und mir verging die scherzhafte Stimmung.
„Je nun“, entgegnete ich betroffen, „ich dachte – das heißt, ich meinte nur, – du könntest doch unmöglich jemals Kummer gehabt haben. Noch nie habe ich einen Seufzer von dir gehört, und wenn ich dich sehe, lachst du immer über's ganze Gesicht.“ Sie drehte sich jetzt vollends herum und sah mich mit großer Ernsthaftigkeit an.
„Ich – keinen Kummer? – Hören Sie Mista Charles, ich will alles erzählen und dann sagen Sie sich's selber. Ich bin geboren unter Sklaven, ganz da unten und weiß alle Dinge von die Sklaverei, weil ich selbst gewesen eine. Nun also, mein Alter – das heißt mein Mann – der war lieb und gut zu mir, wie Mista zu seiner eigenen Frau. Sieben Kinder wir haben gehabt und sie geliebt haben wie Mista liebt seine Kinder. Sie schwarz gewesen, aber uns' Herrgott können nicht machen Kinder so schwarz, daß ihre eigne Mutter sie nicht liebt und für nichts in der ganzen Welt hergeben will.
„Nun, Mista Charles, ich bin groß geworden im alten Virginien, aber meine Mutter, sie stammte aus Maryland. – Mein Seel', wenn die in Zorn geriet, das war schrecklich; sie konnte den Leuten den Pelz waschen, dass die Haare flogen. Wenn sie so recht im Harnisch war, dann hatte sie immer bloß ein Wort, das sie sagte. Sie reckte sich hoch in die Höhe, stemmte die Fäuste in die Seiten und sagte: ‚Na wartet, ich werd's euch lehren! Ihr denkt wohl, ich stamm' aus 'nem Bettelsack und wollt mich narren, ihr Lumpenpack? Ich bin von der ollen blauen Henne ihren Hühnchen, dass ihr's wisst!'– Sehen Sie, so nennen sich Leute, die in Maryland sind geboren und sind stolz darauf. Ja, ja, sie sagte das immer und ich vergess es mein Lebtag nicht, weil sie sagte es so oft und auch einmal, als mein kleiner Henry sich hatte ein Loch in den Kopf gefallen, gerade auf der Stirn und sein Handgelenk blutig gerissen – o schrecklich! Und die Nigger, sie kamen nicht gleich herbeigeflogen, das Kind zu helfen. Da war meine Mutter furchtbar böse und sie trat vor sie hin und sagte: ‚Na wartet ihr Nigger, ich werd's euch lehren! Ihr denkt wohl, ich stamm' aus 'nem Bettelsack und wollt mich narren, ihr Lumpenpack? Ich bin von der ollen blauen Henne ihren Hühnchen, dass ihr's wißt!' Dann trieb sie sie alle aus der Küche raus und verband das Kind selbst. Da hab' ich mir's angewöhnt und wenn der Ärger über mich kommt sag' ich auch das Wort von meine Mutter.
„Nu also, mit der Zeit, meine alte Missis sagt einmal, mit ihr wär' alles aus, sie muss verkaufen ihr Platz und alle Nigger. Wie ich aber höre, dass sie uns wollte verkaufen auf dem Markt in Richmond – o du meine Güte, der Schrecken! Ich wusste ja, was die Glocke geschlagen hat.“
(Tante Rahel war allmählich im Eifer ihrer Erzählung aufgestanden; ihre große Gestalt ragte jetzt über uns hinaus und hob sich schwarz und deutlich ab vom Sternenhimmel.)
„Sie legten uns in Ketten und stellten uns auf einen Tritt so hoch wie dies Vordach. Und die Leute standen herum, viele Haufen. Sie kamen da 'rauf und besahen uns von vorn und von hinten, sie drückten unsere Arme, machten uns stehen und gehen und sagten dann: der ist zu alt; der taugt nichts mehr. Der ist lahm. Der ist nicht viel wert. Und sie verkauften mein alter Mann und führten ihn weg. Dann fangen sie an und verkaufen meine Kinder und nehmen sie fort. Ich heule laut, aber der Mann sagt: Lass dein verdammtes Gewinsel und schlägt mich mit sein Hand auf den Mund. Wenn alle fort sind bis auf mein kleiner Henry, ich presse ihn ganz fest an meine Brust und trete hin und schrei: ‚den dürft ihr nicht nehmen, nein, nein, wer ihn anrührt den schlage ich tot.' Aber mein kleiner Henry, er flüstert mir ins Ohr: ‚Ich tu weglaufen, und dann arbeite ich und kaufe dich los.' Gott segne das Kind, es war immer so gut! – Und die Kerle, sie kommen und nehmen ihn, aber ich packe sie und reiße sie die Kleider vom Leibe und schlage sie mit meine Kette über den Kopf. Sie haben's mir tüchtig wiedergegeben, freilich – aber was kümmerte mich das!
„Nu also, mein Alter war fort und meine Kinder – meine ganzen sieben Kinder – und sechs davon ich habe nie wieder mit Augen gesehen bis zum heutigen Tag – zweiundzwanzig Jahr letzte Ostern. Mich kaufte ein Mann aus Newbern und bringt mich dorthin. Dann vergehen die Jahre und der Krieg kommt. Mein Massa war ein Oberst von die Konförderierte und ich Köchin in seine Familie. Wie aber die Unioner kommen und einnehmen die Stadt, sind sie alle fortgelaufen und mich allein gelassen haben mit die andern Nigger in Massas großes Haus. Nun die großen Offiziers von die Unioner sind eingezogen und haben mich gefragt, will ich kochen vor ihnen. ‚Na Herrje, freilich', sage ich ‚zu was wär' ich sonst da?'
„Das sind keine so kleine Offiziers gewesen, nein, von die allergrößten und wie die ihre Soldaten 'rumschwenken ließen! Der General sagt zu mir, ich soll das Kommando haben über die Küche und alle rausjagen, die sich mengen wollen in meinen Sachen. ‚Fürchte dich nur nicht,' sagt er, ‚du bist jetzt unter guten Freunden.'
„Na, ich denke bei mir, wenn mein kleiner Henry Gelegenheit gefunden zum fortlaufen, so ist er natürlich nach dem Norden. Und einen Tag gehe ich ins Wohnzimmer, wo die großen Offiziers sind, mache ein Knicks und fange an zu erzählen von mein kleiner Henry und sie hören meine traurige Geschichte zu, gerade als ob ich eine von die weiße Leut war. Und ich sage: ‚Weswegen ich komme, das ist, weil, wenn er ist fortgelaufen und nach dem Norden, wo die Herrens herkommen, sie ihn haben vielleicht gesehen und können mir sagen, wo ich ihn wieder finden soll. Er ist ganz klein und hat eine Narbe am linken Handgelenk und oben auf der Stirn.' Dann machten sie betrübte Gesichter und der General fragt: ‚Wie lange ist es her, seit man dir das Kind genommen hat?' Und ich sage: ‚Dreizehn Jahr'. ‚Dann ist er jetzt nicht mehr klein,' antwortet der General, ‚er ist ein Mann.'
„Daran hatt' ich vorher noch nie gedacht, er war für mich noch immer der kleine Junge, mir war nie eingefallen, dass er gewachsen und groß geworden sein muss. Aber nun verstand ich's. Keiner von den Offiziers war ihm begegnet und sie konnten mir nicht helfen. Aber die ganze Zeit, ohne dass ich's wusste, vor vielen Jahren, war mein Henry schon fort nach dem Norden und war ein Barbier, der für eigne Rechnung arbeiten tat. Wie aber der Krieg kam, da hat er gesagt: ‚Jetzt lass ich das Bartscheren sein und gehe meine alte Mutter zu suchen, wenn sie nicht schon tot ist.' So verkauft er sein Sach' und geht hin, wo sie Soldaten werben und verdingt sich als Bursche bei dem Oberst. Nun er marschiert überall mit durch alle Schlachten, seine alte Mutter zu finden, erst er war bei einem Offizier, dann bei dem andern, bis er ist gezogen durch den ganzen Süden. Aber von alledem wusst' ich nicht ein Sterbenswort. Wie sollt' ich's auch wissen?
„Nun, einen Abend hatten wir großen Soldatenball. Die Soldaten in Newbern wollten immerzu tanzen und jubeln und sie tanzten oft und oft in meine Küche, weil die ist so arg groß. Nun wissen Sie, mir gefiel das gar nicht, weil ich diente die Offiziers und es ärgerte mich zu sehen die gemeine Soldaten ihre Sprünge machen in meine Küche, Aber ich blieb immer dabei und sah nach dem Rechten und wenn sie trieben es zu arg und ich einen Zorn kriegte, dann 'raus mit sie aus meine Küche – hast du nicht gesehen!
„Also einmal – Freitag Abend – da kam ein ganzes Bataillon von das Nigger-Regiment, das die Wache hatte beim Haus – das Haus war das Hauptquartier, wissen Sie. Da kocht alles inwendig bei mir. Ich bin im hellen Zorn und warte nur darauf, dass sie was tun, dass ich könnte drunter hineinfahren. Und sie walzten und sprangen herum, heisahopsasa – und ich schwoll und schwoll vor Wut. Nicht lange, so kommt da ein junger Springinsfeld von Nigger dahergesegelt, den Arm um seine gelbe Tänzerin; die drehen und schwingen sich im Kreise, rund, rund, rund, dass einem ganz wirbelig wird, sie anzusehen. Und als sie dicht vor mir sind, da hopsen sie erst auf einem Fuß, dann auf dem andern und lachen über mein großes rotes Kopftuch und treiben ihren Spaß. Da fahre ich auf sie los und sage: ‚Macht, dass ihr fortkommt, ihr Gesindel!' Da wird das Gesicht von der junge Nigger auf einmal ernst, aber nur einen Augenblick, dann war er wieder lustig und lachte wie zuvor. Indem kommt eine ganze Bande Nigger herein, die, wo die Musik machen und immer so vornehm thun. Aber sobald sie das an dem Abend versuchen, fahre ich aus sie ein. Sie lachten und da wurde es noch ärger. Die andern Nigger fangen auch an zu lachen und nun war ich wie ein Feuerbrand. Ich reckte mich in die Höhe, so – gerade wie jetzt – fast bis an die Decke, stemmte die Fäuste in die Seite und sagte: ‚Na, wartet, ihr Nigger, ich werd's euch lehren. Ihr denkt wohl ich stamm' ans 'nem Bettelsack und wollt mich narren, ihr Lumpenpack? Ich bin von der ollen blauen Henne ihren Hühnchen, dass ihr's wisst!' Da stand der junge Mann stocksteif da, die Augen nach der Decke, als ob er was vergessen hätt' und sich nicht mehr erinnern könnt'. Ich aber gehe den Niggers zu Leibe, wie ein richtiger General und sie nehmen Reißaus und drängen nach der Thür. Und wie der junge Mann rausgeht, hör' ich, wie er zu einem andern Nigger sagt: ‚Jim, sagt er, geh' mal hin und sag' dem Hauptmann, ich würd' morgen früh um acht zur Hand sein; aber ich hab' was auf dem Herzen, schlafen kann ich heute Nacht nicht mehr, geh, lass mich allein.'
„Das war um ein Uhr in der Nacht, und wie es sieben Uhr schlug, war ich auf und hantierte herum, den Offiziers das Frühstück zu machen. Wie ich mich nun zum Ofen bücke – grade als wär' Ihr Fuß der Ofen – und die Türe aufmache mit meiner rechten Hand und sie zurückstoße – wie jetzt Ihren Fuß – und die Pfanne mit dem heißen Backwerk in der Hand halte und aufstehen will – da sehe ich ein schwarzes Gesicht sich vor meines hinschieben und mir in die Augen schauen – grade wie ich Sie jetzt ansehe – ich rühre mich nicht und gucke und gucke nur in einem fort – so – bis die Pfanne zu zittern anfängt – und auf einmal – da wusst' ich's. Die Pfanne liegt am Boden und ich packe ihn an der linken Hand, schiebe den Ärmel zurück – grade so, wie ich's mit Ihnen mache und dann kommt die Stirn an die Reihe und ich streiche sein Haar zurück, so – und ‚Junge' sag' ich, ‚wenn du nicht mein Henry bist, wie kommst du zu der Narbe am Handgelenk und der Schramme auf der Stirn? – Der Herrgott im Himmel sei gepriesen, ich habe meinen Herzensjungen wieder!'
Ja, ja, ich hab' Kummer gehabt – aber auch Freude, Mista Charles – auch Freude!“
* * *
Diese und noch andere Geschichten von Mark Twain findet ihr in dem Band:
Skizzenbuch. Mark Twains ausgewählte Humoristische Schriften. III. Band. Verlag von Robert Lutz. Stuttgart 1892.
von Dagmar Petrick
Wenn man Sönke fragt, was er mal werden will, sagt er: „Autobauer!“ Dann denkt er ein bisschen nach und er sagt: „Und Masseur auch!“ Und noch ein bisschen später fällt ihm ein, dass er auch die Umwelt schützen will, damit die Bäume atmen können und die Menschen gleich mit. Ja, das muss er unbedingt auch noch werden, ein Umweltschützer.
Und wenn er schließlich gar nicht mehr weiß, was er werden will, weil es zu viel ist, was er werden will, geht er zu Mama und fragt sie, was er werden soll. Dann sieht sie ihn an und sagt: „Ich möchte, dass du glücklich wirst!“
Das ist eine Antwort von der Sorte, bei der Sönke schummrig wird im Kopf. Jetzt versteht er gar nichts mehr.
„Glücklich?“, fragt er.
Denn was, bitteschön, ist Glücklichsein für ein Beruf? Kann man damit Geld verdienen? Und wie kann man es werden?
„Ja“, sagt Mama, „ich wünsche dir, dass du dein Glück findest!“
Ahhh, denkt Sönke da. Glücklichsein kann er vielleicht nicht lernen, wie man einen Beruf lernt. Aber das Glück kann er anscheinend suchen. Und weil er Mama lieb hat, sehr sogar, fängt er jetzt gleich mit der Suche an.
Es ist aber gar nicht so einfach, Zuhause nach dem Glück zu suchen, wo alles immer schon da ist und so vertraut. Die Katze schnurrt im Wohnzimmer auf dem Sofakissen. Die Bücher drängeln sich im Regal. Die immer durstigen Blumen welken auf den Fensterbrettern.
Sönke geht in sein Zimmer und denkt nach.
Er stiert aus dem Fenster.
Und plötzlich hat er eine Idee.
Vorigen Herbst ist Sönke in die Schule gekommen und das Lesen hat er schon gelernt. Da kennt er einen Ort, wo das Glück wahrscheinlich steckt.
Sönke schlägt im LEXIKON nach. Das hat er zu Weihnachten geschenkt bekommen. Es funkelt noch ganz neu, die Seiten sind noch nicht zerknittert und völlig ohne Eselsohren. Und als der Zweitklässler, der er inzwischen ist, geht es mit dem Nachschlagen auch ganz flott. Aber zwischen Globus und Glühbirne, wo das Glück nach den Regeln der Rechtschreibung und den sechsundzwanzig Buchstaben, aus denen das Alphabet besteht, doch stecken müsste, findet Sönke nichts. Zumindest findet er kein Glück.
Als sie mittags über Mamas Nudeln sitzen, legt Sönke die Gabel weg. „Mama?“, fragt er, „was ist denn nun das Glück?“
„Glück ist“, sagt Mama und sie lächelt Sönke an, „wenn ich in deine blauen Augen sehe.“
„Ahaaaa“, sagt Sönke da und er dehnt die Buchstaben, als wären sie aus Kaugummi. Gaaaanz lang. Und er überlegt, weil er immer viel überlegt: Wenn es stimmt, was Mama eben gesagt hat, ist das Glück nichts für ihn. Schließlich kann er nicht in seine eigenen Augen sehen!
Sönke springt vom Stuhl auf und stürmt in den Flur. Dort hängt, groß von der Decke bis zum Boden, neben der Garderobe, von der die Jacken baumeln, ein Spiegel.
„Sönke, was machst du da?“, ruft Mama und klappert mit dem Teller.
„Ich schaue mich an!“, ruft Sönke.
Und richtig: Sönke schaut sich an. Er schaut sich in die Augen. Und seine Augen schauen zurück. Sie sind, ohne jeden Zweifel, blau.
DAS soll das Glück sein?, überlegt Sönke. Dass ich blaue Augen habe? Und dass andere meine blauen Augen sehen?
Sönke schleicht zu Mama zurück an den Esstisch. Er schiebt sich eine Nudel in den Mund und kaut darauf herum. Und dann piekst er eine neue Nudel auf und kaut auch auf der herum. Als er die Nudel endlich runtergeschluckt hat, fragt Sönke: „Wie weiß ich, dass ich glücklich bin, Mama?“
Nun denkt Mama doch ein wenig nach. Sie legt ihre Gabel weg, auf der noch eine Nudel steckt. Jetzt schaut sie nicht in Sönkes blaue Augen, die sie glücklich machen. Jetzt sieht sie an Sönke vorbei zum Fenster hinaus, wo ein paar Wolken vorbeisegeln. Ein bisschen grau sehen die Wolken aus, als würde es gleich zu regnen anfangen.
„Ich weiß nicht genau“, sagt Mama und jetzt schaut sie Sönke wieder an. „Steckt es im Bauch? Oder sitzt es im Kopf?“
Und sie denkt noch ein bisschen nach, und dann sagt sie: „Im Bauch spürst du das Glück, aber ich glaube, im Kopf fängt es an.“
Das klingt ein bisschen wie Mathematik, denkt Sönke. Im Matheunterricht muss er nämlich auch immer viel mit dem Kopf machen.
Zahlen zusammenzählen.
Zahlen voneinander abziehen.
Sie teilen.
Sie vervielfachen.
Sönke mag Mathe. Es gefällt ihm, wenn er die Zahlen voneinander abzieht und wieder aneinander klebt – und all das geht, obwohl sie es in der Schule meistens auf dem Papier machen, schließlich auch im Kopf.
Morgen wird er seine Mathelehrerin nach dem Glück fragen, beschließt Sönke, denn Sönkes Mathelehrerin rechnet viel und deshalb weiß sie sicher eine Menge über das Glück.
Sönke mag seine Mathelehrerin. Sie heißt Frau Ehrlich. Sie ist eine nette Lehrerin. Aber ehe Sönke an diesem Abend ins Bett kriecht, kramt er noch ein leeres Schulheft aus dem Ranzen und schreibt in seiner krakeligen Jungenschrift:
Ich heiße Sönke. Ich suche das Glück.
Was ich über das Glück weiß:
1. Glück fühlt sich gut an.
2. Glück ist, wenn Mama in meine blauen Augen sieht.
3. Glück beginnt im Kopf.
4. Oder im Bauch.
Am anderen Morgen in der Mathestunde, gleich nachdem sie ihre Hefte aufs Pult gelegt haben, hebt Sönke die Hand. Sich Melden nennt sich das.
„Ja“, sagt Frau Ehrlich. „Hast du eine Frage, Sönke?“
„Was bitte ist das Glück?“, fragt Sönke. „Wo finde ich es? Und wie weiß ich, dass ich glücklich bin?“
Frau Ehrlich guckt Sönke an, und für einen Augenblick sieht sie so aus, als wüsste sie nicht, was sie sagen soll.
„Das hat jetzt aber nichts mit Mathematik zu tun!“, sagt sie.
Sönke lässt den Arm wieder sinken. „Ach so.“ Sönke ist enttäuscht. Aber hat Mama nicht gesagt, dass das Glück im Kopf anfängt?
Er meldet sich wieder.
„Was gibt es denn noch?“, fragt Frau Ehrlich,
„Aber im Kopf fängt es an“, sagt Sönke. „Wie in Mathe. Mathe fängt doch auch im Kopf an, nicht wahr?“
Das muss Frau Ehrlich zugeben. „Ja, schon“, sagt sie, „und ich glaube, es würde mich glücklich machen, wenn du die Zahlen zusammenrechnest, die ich auf die Tafel schreibe.“
Als Sönke nach der Schule nach Hause kommt, kritzelt er wieder in sein Heft, noch vor dem Mittagessen:
5. Glück ist, wenn ich Zahlen zusammenrechne.
Sönke sieht sich an, was er schon geschrieben hat.
1. Glück fühlt sich gut an.
2. Glück ist, wenn Mama in meine blauen Augen sieht.
3. Glück beginnt im Kopf.
4. Oder im Bauch.
5. Glück ist, wenn ich Zahlen zusammenrechne.
Aber dann denkt er: Es ist immer das Glück von anderen.
Mama ist glücklich, wenn sie in meine blauen Augen sieht.
Frau Ehrlich ist glücklich, wenn ich Zahlen für sie zusammenrechne.
Aber Mama will ja, dass ich glücklich werde.
Der nächste Tag ist ein Samstag. Da ist keine Schule und Sönke darf beim Bäcker Brötchen holen. Weil er schon prima mit Geld umgehen kann, macht er das alleine. Sönke kauft zwei Schrippen für Papa, ein Brötchen mit vielen Körnern für Mama und für sich selbst ein Rosinenbrötchen und ein Milchhörnchen noch dazu. Das kaut er, wenn er alles nach Hause schleppt, als Wegzehrung .
Im Laden vor ihm wartet schon die alte Frau Kaufmann. Sie ist so alt, dass sie ganz gebeugt dort steht und Sönke sich immer wundert, warum sie noch nicht umgefallen ist. „Wir wachsen alle in die Erde“, sagt sie, wenn sie Sönke sieht. Das klingt seltsam, aber sie lacht dabei, deshalb ist es vielleicht nicht schlimm. Die alte Frau Kaufmann kauft nur ein einziges Brötchen, aber das kauft sie jeden Samstag.
Jetzt kramt sie in ihrem Geldbeutel nach dem Geld. Da purzeln ihr die Münzen aus der Hand. Sie hopsen über die Fliesen und rollen unter die Ablage, auf der die Kundinnen ihre Handtaschen abstellen.
Sönke bückt sich und hilft, das Geld aufzusammeln. Das geht ganz rasch. Sönke ist klein und wendig, und er findet jeden einzelnen Groschen, den er der alten Frau Kaufmann reicht.
Bis in die hinterste Ecke sind die Geldstücke gepurzelt. Ganz hinten in einer Ritze steckt noch eine Münze, ein funkelndes Zweieurostück. Auch das reicht Sönke jetzt der alten Frau Kaufmann, die es ihm abnimmt und Sönke anstrahlt: „Da habe ich aber Glück gehabt, dass ich dich getroffen habe, junger Mann!“
Und weil sie sich so freut, kauft sie Sönke einen mit Marmelade gefüllten Pfannkuchen; den mag Sönke ganz besonders gerne.
Zuhause, noch vor dem Frühstück, kramt Sönke wieder sein Schulheft hervor. Die Liste ist inzwischen schon recht lang. Sönke schreibt:
6. Glück ist, wenn man einen jungen Mann trifft.
Aber wie er da selbst glücklich werden soll, weiß er trotzdem nicht. Er kann sich doch schlecht selbst treffen mitten auf der Straße! Wie sollte das gehen?
„Hallo, Sönke! Gut, dass ich dich treffe!“ „Ja, Sönke, wunderbar!“
Nein, das geht gar nicht.
Beim Frühstück knabbert Sönke lustlos an seinem Rosinenbrötchen. Sönke hat den Pfannkuchen von der alten Frau
Kaufmann
verputzt und das Milchhörnchen noch dazu. Deshalb ist er längst pappsatt.
Außerdem denkt Sönke nach.
Papa, der es gewöhnt ist, dass Sönke sonst viel plappert, guckt Mama fragend an.
Mama erklärt es ihm.
„Sönke sucht das Glück“, sagt sie. „Er weiß nicht, wo er es finden soll!“
„Ach so“, ruft Papa. „Das ist einfach. Dafür brauchst du nur so eine tolle Frau wie deine Mutter. Das ist Glück!“
Sönke schreibt es gleich in sein Heft.
7. Glück ist eine tolle Frau. Wie Mama.
Aber komisch ist es schon. Wo das Glück doch auch ein junger Mann ist.
Am Nachmittag besuchen sie den Onkel Theo.
Onkel Theo ist Musiker. Er hat eine Tuba. Manchmal, wenn Sönke ihn besucht, spielt er ihm was vor auf seinem Instrument.
Das macht er heute auch.
Es klingt lustig, wenn Onkel Theo Tuba spielt – als würden kleine Korken aus einer Sektflasche ploppen.
Als Onkel Theo einmal Luft holt, klopft Sönke ihm auf die Schulter.
„Onkel Theo“, fragt er, „wo finde ich das Glück?“
Der Onkel grinst. „Glück ist, wenn aus meiner Tuba tiefe Töne kommen!“
Und er bläst es Sönke vor. Plopp, plopp, plopp.
Die Tuba ist groß und wiegt so schwer, dass Sönke sie nicht alleine hochheben kann. Tubaspieler will Sönke nicht werden.
Sönke will überhaupt kein Instrument spielen. Aber glücklich werden will er schon.
Deshalb schreibt er auch Onkel Theos Antwort in das Heft.
8. Das Glück steckt in einer Tuba.
Es ist nicht ganz richtig. Onkel Theo hat gesagt, dass das Glück aus seiner Tuba kommt . Man muss es wohl hervorkramen.
Ob es auch geht, wenn Sönke selbst Plopp! macht, als wäre er eine Tuba?
Sönke schnalzt mit der Zunge.
Er ploppt.
Plopp.
Plopp.
Plopp.
Und er stellt sich vor, wie er Autobauer wird und Autos repariert und dabei ploppt.
Und wie er Masseur wird und die Leute massiert und dabei ploppt.
Und wie er Umweltschützer wird und die Bäume schützt und dabei ploppt. Plopp. Plopp. Plopp.
Sönke seufzt. Nur die Bäume werden es verstehen, denkt er. Alle anderen, die Autobesitzer und die Menschen mit den Rückenschmerzen, werden sich an die Stirn tippen und nicht mehr zu ihm kommen mit ihren kaputten Autos und ihren kaputten Rücken, weil sie ihn für vollkommen bescheuert halten. Und wie soll er da nur glücklich werden, ganz ohne Kundschaft?
Am Sonntag besuchen sie die Oma.
Die Oma ist Sönkes letzte Hoffnung.
Sönke mag den Satz von der letzten Hoffnung. Er klingt so herrlich aufgeregt. Sönke hat den Satz mal in einem Film gehört, den Papa abends geschaut hat, als Sönke längst im Bett sein sollte.
„Das ist unsere letzte Hoffnung“, hat einer der Männer in dem Film geknurrt, und dann sind sie alle losgerannt, und Sönke weiß nicht, wie es weiterging, weil Papa ihn entdeckt und zurück ins Bett geschickt hat.
Die Oma ist schon alt. Sie hat schon viel erlebt und ist deshalb grau und weise. Jedenfalls behauptet Sönkes Mama das.
Und außerdem backt die Oma immer Kuchen.
Schokoladenkirschkuchen. Den mag Sönke am liebsten.
Nach dem Kuchenessen spielen Sönke und die Oma Maumau.
„Mau“, sagt die Oma und lacht. Sie freut sich, weil sie gleich gewinnt.
„Du, Oma“, sagt Sönke. „Mama will, dass ich glücklich werde!“
Da lässt die Oma die Karte sinken. „Das ist aber schön, dass du glücklich werden sollst!“
„Ja, schon“, sagt Sönke, „aber ich weiß nicht, wie das geht.“
„Meistens ist das Glück längst da“, murmelt die Oma, „aber manchmal dauert es lange Zeit, bis wir es entdecken.“
Und sie schließt die Augen und denkt an etwas, das Sönke jetzt nicht sehen kann. Vielleicht denkt sie an den Opa, der im letzten Jahr gestorben ist. An den denkt sie ziemlich oft, wie sie Sönke mal verraten hat.
„Du meinst, das Glück ist schon da und ich merke es bloß nicht?“ Sönke ist ganz aufgeregt, als hätte er jetzt eine wirklich gute Idee, eine, die ihm weiterhilft.
Die Oma macht die Augen wieder auf. „Genau!“, sagt sie, „du hast es erfasst. Darauf kannst du stolz sein!“ Und sie legt die letzte Karte ab. „Maumau!“, sagt sie, „ich habe gewonnen!“
Zuhause schreibt Sönke gleich in sein Heft:
9. und letzter Punkt, weil ich heute meine Suche nach dem Glück beende.
Das habe ich herausgefunden:
Das Glück ist längst da. Ich habe es nur noch nicht entdeckt, weil das lange Zeit braucht. Aber das macht nichts, weil ich Zeit habe.
Dann geht er zu Mama und Papa, die schon mit dem Abendessen auf ihn warten. Mama hat wieder Nudeln gekocht, so wie neulich, als Sönke die Suche nach dem Glück begonnen hat.
Sie mampfen ihre Nudeln. Und während sie ihre Nudeln mampfen, trifft Sönke eine Entscheidung.
Sönke beschließt, Autobauer zu werden.
Oder Masseur.
Oder vielleicht doch lieber Umweltschützer.
So genau weiß er das nicht. Aber es ist auch nicht so wichtig.
Wichtig ist, dass er ein glücklicher Autobauer wird.
Oder ein glücklicher Masseur.
Oder ein glücklicher Umweltschützer.
Das erzählt Sönke jetzt seinen Eltern.
„Was für eine gute Idee!“, ruft Papa.
Und Mama sagt: „Es ist sogar eine sehr gute Idee.“
Danach schmausen sie weiter ihre Nudeln. Und manchmal sehen sie dabei zum Fenster hinaus und die Wolken, die dort vorbeisegeln, leuchten heute flammend blau – von Regen kann nicht die Rede sein.
* * *
Diese weise Geschichte hat Dagmar Petrick extra für Rossipotti geschrieben. Das ist fabelhaft! Vielen Dank!