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Salon Albert
Hallo Kinder,
noch haben wir zwei Stunden Zeit, bis das nächste Jahr eingeläutet
wird. Noch schauen wir dem sich vollendenden Jahr zu und erinnern
uns an die Ereignisse, die uns das Jahr gebracht hat. Zum Beispiel
an die enorme Hitze im vorletzten Salon, die einigen von euch beinahe
Angst gemacht hat oder die aufregende Reise auf dem indischen Elefanten
mit Phileas Fogg und Passepartout.
Mit dem vergehenden Jahr streifen vor unserem inneren Auge auch
die weiter zurückliegenden Ereignisse im literarischen Salon
vorbei. Die durch die Stadt stampfenden Nashörner, die fliegenden
Bücher, der Mond über Manhatten oder John Franklin, der
mit seiner Mannschaft und seinem Schiff im ewigen Eis feststeckt.
Die Zeitmaschine geht immer schneller zurück und bald blicken
wir auf längst vergangene Ereignisse und Menschen, die wir
nie kennen gelernt haben. Wer zum Beispiel ist die junge Frau, mit
dem Leinenkleid und dem Wasserkrug auf dem Kopf? Oder mit wem kämpft
der Krieger in der Felljacke?
Wie jung sind wir im Vergleich zur Menschheitsgeschichte. Aber wie
alt im Vergleich zu allem Zukünftigen, das morgen erst beginnen
wird!
Doch zum Glück bleiben uns jetzt noch zwei Stunden Zeit, bevor
wir zu den Gestrigen gehören. Verwunschene Zeit, die das sterbende
Jahr bereits frei gegeben und nach der das kommende Jahr noch nicht
gegriffen hat. Schwebende Zeit, die nicht von Sekunden und Minuten,
sondern von Empfindungen und Erwartungen bestimmt wird. Ungezählte
Zeit, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eins sind."
Albert macht eine bedeutungsschwangere Pause, bevor er fortfährt:
"Ich denke, ihr wisst, was in solch verwunschenen Momenten
passiert?"
Die meisten Kinder schütteln die Köpfe. Was soll jetzt
schon passieren? Sicher, es ist zwei Stunden vor Silvester und die
Zeit bis zum Feuerwerk muss man irgendwie rumbringen. Zum Beispiel
im literarischen Salon mit Albert. Aber dass diese Zeit verwunschen
und den gewöhnlichen Lauf der Zeit sprengen soll? Wohl kaum!
Denn wenn es so wäre und in diesem Moment Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft wirklich eins wären, müssten alle Besucher
des Salons gleichzeitig als Babys, Erwachsene und Omas und Opas
hier sitzen. Und das ist offensichtlich nicht der Fall.
Palmina kennt die Qualle Albert im Unterschied zu den anderen Kindern
allerdings schon ziemlich lange und ahnt, dass er mit seiner Frage
irgendetwas im Schilde führt.
"Was geschieht denn in solchen Momenten?" fragt sie deshalb
gespannt.
Albert klopft auf ein Buch mit dem Titel Die
wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht und
sagt: "Jean Paul".
"Jean Paul?" sagt Palmina. "Ist das nicht dieser
große deutsche Schriftsteller, bei dem sich die Forscher nicht
einig sind, ob sie ihn der Klassik oder der Romantik zuordenen sollen?"
Albert nickt und sagt: "Für die Romantiker hatte er einen
zu kühlen Kopf, und es fiel ihm schwer, Natur und Kunst im
Ich zu verschmelzen. Für die Klassiker war er zu emotional,
zu psychologisierend, ironisch und skurril. Und er sprengte mit
seinen ausufernden Geschichten und Romanen die klassische Formen."
"Gut, gut", sagt Robin, ein Junge, der neben Palmina
sitzt, ungeduldig. "Auf jeden Fall ist er schon lange tot!"
"Stimmt", antwortet Albert, "Seit über hundertachtzig
Jahren. Jean Paul wurde 1763 als Johann Paul Friedrich Richter als
Sohn eines armen Dorfschulmeisters in Wunsiedel im Fichtelgebirge
geboren. Gestorben ist er 1825."
"Auf die genaue Jahreszahl kommt es doch heute nicht mehr
an", meint Robin. "Auf jeden Fall ist er zu tot, um uns
heute Nacht einen verzauberten Moment zu bescheren!"
"Wir werden sehen!" sagt Albert und schlägt das
dünne Buch auf.
Er sieht durch seine Brillengläser gedankenvoll auf die Kinder,
blubbert ein, zwei Blasen in seinem Glas und hebt an, etwas aus
dem Buch vorzulesen. Doch bevor das erste Wort über seine Lippen
kommt, öffnet sich die Tür zum Salon und eine gespenstische
Gruppe betritt das Zimmer!
An vorderster Stelle geht ein Junge, der in einen schwarzen Mantel
gewickelt ist und über dessen Bart ein auffallend roter Mund
glüht. Hinter ihm tritt ein kleiner, vielleicht zweijähriger
Junge, der sehr klug und ernst aussieht, durch die Tür. Neben
dem Junge geht ein älteres, weißverschleiertes Mädchen
mit einer rotweißgestreiften Rose in der Hand und einer goldenen
Kette um den Arm. In einigem Abstand folgen ihnen eine rotgeschminkte
Maske mit einer seitwärts gezogenen Nase und einer Schlafmütze
auf dem Kopf und ein mageres Wesen mit feuerrotem Kollet, einem
Sprachrohr und einem nackten Gebiss, das mit seinen zu kurzen Lippen
höhnisch grinst.
"Hilfe, was ist das?" flüstert Palmina ihrer Freundin
Maja ins Ohr.
Maja zuckt mit den Schultern. "Für Karneval ist es auf
jeden Fall noch zu früh."
"Sieht aus wie eine Gesellschaft aus dem Theater", mischt
sich Robin ein.
"Fragt sich nur, ob das Stück idealistisch oder grotesk
wird", meint Palmina.
"Psst!" sagt ein kleines Mädchen mit roten Zöpfen
und bunten Haarklammern. "Der Mann mit dem Sprachrohr möchte
etwas sagen!"
Tatsächlich, der furchterregend grinsende Mann hält das
Sprachrohr an den Mund und nuschelt irgendetwas hinein.
"Lauter!" ruft Leon, "ich verstehe kein Wort."
"Mein Name ist Pfeifenberger. Wir sind
die drei Propheten der Zeit und weissagen Ihm, mein Freund, so lange
bis das Jahrhundert dezembrisiert ist. Ich spreche zuerst."
"Wieso denn nur ihm?" piepst das kleine Mädchen.
"Warum nicht uns allen?"
"Was heißt 'dezembrisiert'?" fragt Leon dazwischen.
"Zu Ende gehen!" sagt Pfeiffenberger streng, "das
weiß doch jedes Kind!"
"Aber ihr könnt uns doch nicht so lange weissagen, bis
das Jahrhundert zu Ende geht!" ruft Leon entsetzt aus. "Das
würden wir ja noch in 91 Jahren hier sitzen!"
Der Mann, der Pfeifenberger heißt, schaut Leon missbilligend
an und sagt: "Der Ahnungslose sollte seine Unwissenheit verbergen
und nicht laut hinausposaunen! Das nächste Jahrhundert beginnt
in nicht weniger als zwei Stunden! Dann werden wir mit dem Jahr
1800 das 19. Jahrhundert einläuten."
Die Kinder sehen sich irritiert an. Machte Pfeifenberger einen
Witz? Oder war das hier wirklich alles nur Theater? Oder hinkte
er ihnen tatsächlich genau 209 Jahre hinterher?
"Darf ich nun mit meinen Phrophezeiungen beginnen?"
Die Kinder nicken unentschlossen und Pfeifenberger fängt an:
"In der künftigen Zeit wird freie
Reflexion und spielende Phantasie regieren, keine kindischen Gefühle;
man wird keinen Namens- und Geburts- und Neujahrstag mehr feiern
und kein Ende des Jahrhunderts, weil man nicht weiß; wenn
es schließet, ob bei dem ersten Viertel- oder letzten Glockenschlage,
oder ob bei dem Ausgehen, oder bei dem Anlangen des Schalles; und
weil in jeder Minute 100 Jahre zu Ende sind. Auch wird die Erde,
eh' sie verwittert, noch oft von anno 1 datieren - die Juden und
Priester werden aufhören, und die Völker, die Weiber,
die Neger, und die Liebe frei werden ..."
"Neger sagt man nicht!" platzt
das kleine Mädchen dazwischen. "Das heißt Schwarzer!"
"Der hat sowieso eine völlig veraltete Sprache",
findet Robin. "Selbst im Theater spricht heute kein Mensch
mehr so!"
"Ist das dann womöglich tatsächlich kein Theaterstück?"
fragt Palmina und schaudert bei dem Gedanken, dass die Gestalten
echt sein könnten.
"Natürlich ist das kein Theater, und wir sind keine Schauspieler",
hustet Pfeifenberger in sein Sprachrohr und wiederholt seine vorigen
Worte. "Wir sind die drei Propheten der
Zeit und weissagen Ihm, mein Freund, so lange bis das Jahrhundert
dezembrisiert ist."
"Von wegen Prophezeiung", sagt
Maja. "Die Schwarzen, die Frauen und die Liebe sind schon lange
frei! Zumindest hier."
"Dagegen feiern wir unseren Geburtstag und den Neujahrstag
209 Jahre nach Ihrer Zeitangabe immer noch!" sagt Robin. "Ihre
Prophezeiungen sind also entweder veraltet oder falsch!"
Pfeifenberger sieht Robin und das Mädchen böse an und
faucht:
"Seit wann dürfen Kinder Erwachsenen widersprechen? Und
noch dazu mit einem solchen Unsinn! Wenn ihr nicht rechnen könnt
und wisst, dass zwischen 1799 und 1800 nur ein Jahr vergeht, schweigt
still!"
"Ihre Rechnung stimmt sicher", sagt Robin. "Aber
unsere auch. Denn morgen schreiben wir nicht das Jahr 1800, sondern
2009!"
Pfeifenberger wird bleich und das entstellte Grinsen sieht entsetzlicher
aus als zuvor. Er dreht sich fragend zur Maske um.
Die Maske zuckt mit den Schultern und sagt:
"Wenn die große Uhr der Marienkirche
zu Lübeck nicht mehr zu brauchen sein wird, weil sie gar zu
oft umgestellet worden, und weil auch der Mond schon anders umläuft
als sie - [...] Wenn die bittere Zeit dagewesen ist, wo Menschliebe
in keinem Herzen mehr war, außer in denen der Hunde - [...]
Wenn wegen der entsetzlichen Bevölkerung alle Dörfer sich
zu Städten ausgebauet und die großen Städte mit
den Toren aneinander stoßen [...]- Wenn endlich, weil durch
ewiges Graben und Münzen das Geld schon lange zu spartischem
Eisengeld abgewertet worden, nur Perlen die kleine Münze sind
und Juwelen die große [...] - Wenn die Mode die höchsten
Verlängerungen und Verkürzungen (bis zur Nationalkleidung
der Menschheit, der Nacktheit) und jede Versetzung durchgespielt
[...] Wenn das letzte wilde Volk aus seiner Puter-Eierschale ausgekrochen,
und zwar schneller als das erste, weil alle zahme an der Schale
hackten [...] Wenn dann der ganze Globus schreibt, der Nord- und
Südpol Autor ist und jede Insel Autorin [...] Wenn man die
Wolken so richtig, wie kürzere Sonnenfinsternisse prophezeien
kann [...] Wenn Flotten von Luftschiffen über der Erde ziehen
und die Zeit alle ihre griechischen Futura durchkonjugiert - Wenn
alles unzählige Male dagewesen, ein Gottesacker auf dem andern
liegt, die alte runzlichte graue Menschheit ein Jahrtausend nach
dem anderen vergessen und nur noch, wie andere Greise, sich ihrer
schönen Jugendzeiten in Griechenland und Rom erinnert und der
ewige Jude, der Planet doch noch immer läuft - sag an, o bleicher
Jüngling, wenn schlägt es in der Ewigkeit 12 Uhr und die
Geisterstunde der Erderscheinungen ist vorbei?"
"Ach Gott (sagte der Knabe sonderbar-klug), das Leben ist lang,
aber die Zeit ist kurz, sie hat nichts als Augenblicke - Alle Uhren
gehen sehr!" (wobei er eine herauszog und ansah, auf der sieben
übereinander stehene Zeiger unten rückten, liefen und
oben pfeilschnell flogen); "O die große Uhr rasselt schon
und schlägt das Jahrhundert aus - dann fliegt die weiße
Taube sehr anmutig durch die Sterne und die Toten des Jahrhunderts
ziehen getrost."
"Was für ein
sentimentaler Schwulst!" sagt
Leon. "Kommt, wir gehen."
Die Kinder drehen sich um, doch da tritt ihnen die Maske in den
Weg: "Bleibt! Oder wollt ihr mit der Sieben-Uhr ins zeitlose
Weltall geschleudert werden?"
Pfeifenberger grinst die Kinder höhnisch an und sagt:
"Jetzt schlägt unsere, nicht eure Stunde! Die Sieben-Uhr
ist der Beweis! Sie irrt sich nicht! Die Uhr schlägt das Jahrhundert
aus!"
Er streckt die schwindelnd ineinander laufende Uhr den Kindern
entgegen und Robin nimmt sie und hält sie neben seine digitale
Armbanduhr.
"Was?" ruft Robin aus. "Wie ist das möglich?
Meine Uhr zeigt plötzlich das Datum 1799 an!"
Palmina, Maja und Leon laufen zu Robin. Tatsächlich: Die Uhrzeit
ist mit 11 Uhr 30 zwar dieselbe, aber das Datum am unteren Rand
der Digitaluhr hat sich auf 1799 umgestellt! Was hat das zu bedeuten?
Wer sind die Gestalten? Zauberer? Zeitverdreher?
Den Kindern wird es mulmig zumute. Sie sehen sich nach der wundersamen
Gesellschaft um und erschrecken. Zu der grauslichen, phantastischen
Gesellschaft gesellen sich immer neue, vermummte Gestalten hinzu.
Sie alle starren auf ihre Uhren. Pfeifenberger knetet plötzlich
Herzen aus Brot und füttert einen schwarzen Hund.
Die Kinder sind stumm vor Erstaunen. Die Qualle Albert blubbert
dagegen ruhig in ihrem Glas. Die Augen halb geschlossen, man könnte
beinahe glauben, sie wäre über ihrem Buch eingeschlafen.
Plötzlich fängt eine ferne Glocke an zu läuten und
der Junge mit dem roten Mund fängt an zu reden:
"Es gibt einmal einen letzten Menschen
- er wird auf einem Berg unter dem Äquator stehen und herabschauen
auf die Wasser, welche die weite Erde überziehen - festes Eis
glänzet an den Polen herauf - der Mond und die Sonne hängen
ausgebreitet und tief und nur blutig über der kleinen Erde,
wie zwei trübe feindliche Augen oder Kometen - das aufgetürmte
Gewölbe strömet eilig durch den Himmel, und stürzt
sich ins Meer und fährt wieder empor, und nur der Blitz schwebt
mit glühenden Flügeln zwischen Himmel und Meer und scheidet
sie - Schau auf zum Himmel, letzter Mensch! Auf deiner Erde ist
schon alles vergangen - deine großen Ströme ruhen aufgelöset
im Meere.-"
[..] Schwacher Sterblicher! der du vor allem zitterst, was älter
wird als du, höre weiter! Auch die Sonnen der Milchstraße
ergreifen endlich einander feindlich und umschlingen sich kämpfend
zu einer Riesenschlange und eine chaotische Welt aus Welten arbeitet
brennend und flutend - Aber im unendlichen Himmel hängt ihre
schwarze und feurige Gewitterwolke nur unbemerkt und klein, weit
über und unter ihr schimmern die Sterne friedlich in ihren
tausend Milchstraßen. - Vernimm weiter, Erschrockener! In
der Ewigkeit kommt ein Tag, wo auch alle diese Straßen und
weißen Wölkchen sich verfinstern und wo in der weiten
Unermesslichkeit nur Gewitterwolken ziehen aus Sonnen gemacht und
wo es dämmert in der ganzen Schöpfung ...
Dann ist Gott noch; er steht licht in der Nacht, seine Sonne zog
die Sonnenwolken auf, seine Sonne zerteilt sie wieder - und dann
ist wieder Tag. Und nun sprich nicht mehr von der kleinen Vergangenheit
der kleinen Erde. [...] Letzter Mensch, denke nicht nach über
die lange Welt vor und nach dir; im Universum gibts kein Alter -
die Ewigkeit ist jung - sinke in die Welle, wenn sie kommt, sie
versiegt, und nicht du!"
Der edle Jüngling hatte vor Entzückung die Augen geschlossen
und der Schnee seines Angsichtes war zu Glanz geworden. Plötzlich
änderte sich alles in der überirdischen Minute, der Knabe
rief schreckhaft: "es wird 12 Uhr, meine Zeiger stehen!"
"Es stimmt!" ruft Robin erstaunt.
"Auch meine Uhr zeigt Mitternacht! Wie konnte die Zeit so schnell
vergehen?"
"Ich will aber nicht ins 19. Jahrhundert!"
ruft das kleine Mädchen plötzlich. "Ich will wieder
nach Hause!"
Keiner hört auf das kleine Mädchen.
Palmina, Leon, Maja und Robin laufen zum Fenster und sehen zu, wie
der kleine Junge und das Mädchen in einem Luftschiff auf und
davon segeln. Sterne fallen in ihr Schiff und sie wirft Rosen auf
die Kinder hinab. Palmina versucht eine Rose zu greifen, doch sie
löst sich vor ihren Händen in Luft auf.
Das kleine Mädchen versteckt sich unter einem Stuhl und beobachtet
von hier aus das Geistertreiben. Die Maske und Pfeiffenberger gehen
quer durch den Raum, die vermummten Gestalten laufen wahllos durcheinander,
der Jüngling entflieht durch die Dunkelheit der Nacht. Die
Glocken schlagen immer lauter und mit jedem Schlag werden die Gestalten
blasser und durchscheinender.
Endlich ist der letzte Glockenschlag verklungen und mit ihm die
gespenstischen Figuren.
Das kleine Mädchen kriecht unter dem Tisch hervor und fragt
Robin ängstlich:
"Ist der Spuk vorbei?"
"Sie sind weg!" sagt Maja. "Außerdem waren
sie nicht gefährlich! Sie haben uns nur die Zukunft voher gesagt."
"Von wegen!" sagt Leon. "Die Prophezeiungen kannst
du doch den Hasen geben."
"Immerhin haben sie dem Universum Unsterblichkeit verheißen!"
sagt Palmina.
"Mir wäre eine Stulle Wurst lieber!" sagt Leon.
"Mich interssiert eigentlich nur, welches Datum deine Uhr
zeigt, Robin", sagt das kleine Mädchen. "Sind wir
immer noch im 19. Jahrhundert?"
"Nein!" sagt Robin erstaunt. "Jetzt zeigt sie tatsächlich
wieder den 31.12.2008 an! Und zwar erst 23 Uhr 40! Dabei haben wir
doch eben schon die Mitternachts-Glocken gehört!"
"Du hast deine Uhr heimlich verstellt!" sagt Palmina.
"Hab ich nicht!" sagt Robin. "Wann hätte ich
das denn tun sollen? Und vor allem warum?"
"Dann haben wir uns vorhin das falsche Datum und das Glockenläuten
wahrscheinlich nur eingebildet!" sagt Leon.
"Hauptsache wir sind wieder in unserer Zeit!" sagt das
kleine Mädchen erleichtert.
"Aber wie konnten die Propheten überhaupt zu uns kommen?"
fragt Maja nachdenklich. "Und wieso haben sie sich einfach
in Luft aufgelöst?"
"Das war feinstes Universalkino!" sagt Robin. "Ich
habe mal gelesen, dass es zumindest theoretisch möglich ist,
dass man die ganze, wirkliche Weltgeschichte als Film sehen kann!"
"Wie denn das?" fragt Palmina neugierig.
"Wenn wir auf einem fremden Stern wären und dort den
Lichtstrahl sehen könnten, der von der Erde dorthin gelangt,
dann würden wir die Weltgeschichte als Kino anschauen können."
"Hast du das in einem Science-Fiction Buch gelesen?"
fragt Palmina.
"Nein", sagt Robin. "Das habe ich in einem Artikel
über Albert Einstein gelesen."
"Angeber!" sagt Leon. "Albert Einstein ist doch
viel zu schwierig für dich!"
"Stimmt!" gibt Robin zu. "Aber immerhin habe ich
so viel verstanden, dass nach Einsteins 'Relativitätstheorie'
die Zeit für jeden unterschiedlich schnell vergeht, und dass
das davon abhängig ist, wie schnell oder wie langsam man sich
bewegt."
"Und weil sich die Gestalten aus dem 18. Jahrhundert heute
Nacht viel schneller als wir bewegt haben, sind sie plötzlich
bei uns im Salon gelandet", stellt Leon fest. "Hört
sich irgendwie logisch an."
"Nicht die Gestalten haben sich schnell bewegt, sondern das
Licht muss durch irgendwelche Raumkrümmung für einen gewissen
Zeitraum direkt aus dem 18. Jahrhundert durch unser Fenster gestrahlt
haben!" sagt Robin. "Zumindest verstehe ich so Einsteins
Theorie."
"Wer ist denn dieser Einstein?" fragt das kleine Mädchen.
"Das war ein weltberühmtert Physiker, der unter anderem
herausgefunden hat, dass Zeit ein relativer Begriff ist", schaltet
sich die Qualle Albert plötzlich wieder in das Gespräch
ein. "Aber ich glaube nicht, dass man unseren Besuch heute
wirklich mit Einsteins Relativitätstheorie erklären kann."
"Warum denn nicht?"
"Weil wir auf der Erde keine Lichtstrahlen aus vergangenen
Jahrhunderten sehen können", sagt Albert. "Und da
wir weder auf einem fremden Stern sitzen und von dort aus ins 18.
Jahrhundert blicken, noch die wundersame Gesellschaft vorhin die
Möglichkeit hatte mit einer rasenden Zeitmaschine zu uns zu
fahren, müssen wir uns das Phänomen anders erklären."
"Womit dann?" fragt Robin.
"Mit Jean Paul", sagt Albert, "und mit den verwunschenen
Momenten zwischen den Jahren!
Übrigens: Wenn es mich nicht täuscht, läutet die
Uhr gerade zum zweiten Mal das neue Jahr ein! Und deshalb wünsche
ich Euch jetzt allen ein doppelt langes, glückliches und kreatives
Jahr 2009!"
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Die grün markierten Textstellen
sind Auszüge aus:
Jean Paul: Die wunderbare Gesellschaft in der
Neujahrsnacht. Insel Verlag. Frankfurt am Main / Leipzig 1998.
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