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Kulturtasche

Interview mit Herrn Winter, (Macher der kalten Jahreszeit)

Herr Winter
Foto: Rossipotti

Vita

Herr Winter wurde vor vielen Millionen Jahren geboren. Eltern und Geburtsort sind unbekannt. Herr Winter war Meisterschüler von Frau Sonne und schloss sein Studium mit der ersten großen Eiszeit ab. Bekannt ist der Winter vor allem auf der Nordhalbkugel. Obwohl er noch keine nennenswerten Preise bekommen hat, ist er sehr berühmt. Geschätzt wird er vor allem wegen seiner kunstvollen Verzierung der Landschaft in weiße, einzigartige Gebilde. Während er früher vor allem wegen seiner Härte und Kälte kritisiert wurde, gerät er heute im Gegenteil häufig wegen seiner fehlenden Kälte und Durchsetzungkraft immer wieder in Kritik.
Herr Winter hat keine Kinder und lebt zurück gezogen am Nordpol.

Frau Frühling
Foto: Rossipotti

Kulturtasche: Herr Winter, Sie sind einer der vier Jahreszeitenmacher Frühling, Sommer, Herbst und Winter und selbst für die kalte Jahreszeit zuständig. Wie wird man Jahreszeitenmacher?

Das ist kein Amt, das man erwerben kann. Man muss hinein geboren werden. Ich bin schon vor vielen, vielen tausend Jahren als Winter zur Welt gekommen. Aber fragen Sie mich nicht, wie. An meine Kindheit kann ich mich nicht erinnern.

Heißt das auch, dass sie ein Waisenkind waren und Ihre Eltern nie kennen gelernt haben?

Leider ja. Aus unserer engen Familie sind nur meine beiden Cousinen Frühling und Herbst, und mein Cousin Sommer übrig geblieben.

Sind denn Frühling und Herbst nicht auch Männer? Immerhin heißt es der Frühling und der Herbst?

Pah! Als wir zur Welt gekommen sind, gab es Ihre Sprache noch nicht einmal! Abgesehen davon sind wir eigentlich weder männlich noch weiblich, sondern neutral. Aber wenn Sie Frühling oder Herbst begegnen würden, bin ich mir ziemlich sicher, dass Sie beide für Frauen halten würden.

Warum denn das?

Sie haben einen anderen Charme als Winter und Sommer. Sie sind weniger direkt und draufgängerisch, eher zarter oder milder. Dafür aber auch sehr schwatzhaft.

Und Sie sind also eine eher draufgängerische Jahreszeit?

In meinen jungen Jahren war ich das auf jeden Fall! Im Moment habe ich allerdings mehr Lust, sanftere Töne anzuschlagen. Denn ich frage mich, welchen Sinn es macht, wenn ich alle mit meiner Kälte und meinem Eis ärgere? Das, was mir in meinen jungen Jahren als äußerst sinnvoll vorkam, erscheint mir heute also eher fragwürdig.
Allerdings zweifle ich immer noch, welches der wirklich richtige Weg für mich ist. Aus dem Grund schicke ich den Menschen neben Regen und Plusgraden auch immer wieder Schnee und Eis.

Bei Menschen würde man sagen: Sie haben eine Midlife Crisis (Mittlebenskrise).

Ich glaube nicht, dass es das ist. Ich glaube eher, dass ich mich der Zeit anpasse oder menschlich ausgedrückt: mit der Mode gehe. Denn ist es zur Zeit nicht modern, die Jahreszeiten zu durchmischen? Fliegen nicht die Menschen im Winter in den Sommer und im Sommer in den Winter? Heizen Sie im Winter ihre Räume nicht heißer auf als im Sommer? Und kühlen sie sie im Sommer nicht weiter hinab, als sie es im Winter aushalten würden? Welchen Sinn macht da meine Kälte? Da passe ich mich doch lieber dem Geschmack der Menschen an und werde wärmer! Das spart wenigstens Energie! Auch meine, denn ich habe keinen Lust mehr, mich den Gegenbenheiten entgegen zu stemmen!

Halt, halt! Sie vergessen die Natur! Die warmen Winter der letzten Jahre haben das ganze Ökosystem durcheinander gebracht. Wir haben plötzlich mit Insekten und Pflanzen zu kämpfen, die aus wärmeren Ländern kommen und sich hier auf einmal heimisch fühlen ...

Ah, wie schön! Da können Sie sich alle an einer wachsenden Vielfalt freuen!

Leider wird unser Biosystem dadurch nicht in erster Linie vielfältiger, sondern zum Teil auch einseitiger. Denn die fremden Tiere und Pflanzen, die bei uns keine natürlichen Feinde haben, breiten sich hier oft ungehindert aus und zerstören heimische Lebewesen.

Da kann ich Sie beruhigen: Selbst wenn es jetzt zu Verschiebungen im Ökosystem kommen wird, spielt das langfristig keine Rolle. In ein paar hundert Jahren hat sich das alles von selbst wieder eingependelt.

Gut, vielleicht haben Sie hier Recht. Aber was passiert, wenn Sie die nächsten Jahre Ihre Jahreszeit weiterhin so warm oder sogar noch wärmer machen? Werden dann nicht die Pole abschmelzen und dadurch schließlich die ganzen Erdteile überschwemmt werden? Schon jetzt steigt der Meeresspiegel gefährlich an und setzt allmählich ganze Inseln unter Wasser.

Herr Sommer
Foto: Rossipotti

Sie tun ja gerade so, als ob ich an der Misere des Klimawandels Schuld wäre! Dabei haben die Menschen das alles ganz alleine eingebrockt! Sie, nicht ich, haben die Atmosphäre der Erde mit ihren giftigen Gasen angegriffen!
Wie sollt ich als kleine Jahreszeit die riesige Sonne auch davon abhalten können, nicht stärker durch die immer dünner werdende Ozonschicht zu scheinen? Und wie soll ich verhindern, dass die Erde sich immer weiter erwärmt, wenn ihr sie wie ein Ofen aufheizt?
Wenn ich mich nach tausend Jahren langer Arbeit mal ein paar Jahre ausruhe und den Menschen ein freundlicheres Gesicht zeige, dann bewirke ich vielleicht, dass weniger geheizt werden muss und weniger Leute erfrieren, aber ganz sicher nicht, dass die Polkappen abschmelzen!

Tut mir leid, ich wollte Sie nicht angreifen. Mir waren wohl die Zusammenhänge nicht so klar. Ich dachte, wenn nur der Winter wieder so kalt werden würde wie früher, wäre unser Problem mit dem Klimawandel gelöst.

Pah! Übrigens hängt selbst das Winterwetter absolut nicht nur von mir alleine ab! Neben mir tragen auch noch meine anderen Verwandten dazu bei. Und damit meine ich nicht in erster Linie meine Cousinen und Cousins, sondern beispielsweise meinen Großneffen Golfstrom, ohne den der Winter hier so kalt wie in Sibierien wäre. Unser aller Wetter ist außerdem abhängig von meinen Großverwandten Trocken- und Regenzeit, und vor allem vom Großonkel Wind, der je nach Region beispielsweise Monsun, Taifun oder Passat heißt. Doch obwohl wir die Großwetterlage machen, sind wir trotzdem nicht allein diejenigen, die das Klima beherrschen. Das macht zum Großteil die Sonne, und auch der Mond. Und seit neuester Zeit mischt leider auch ihr Menschen mit. Doch wie man sieht, verstehen die Menschen gar nichts davon. Alles, was sie zustande bringen, ist, die Polkappen abzuschmelzen!

Welchen Rat können Sie uns als alter, erfahrener Jahreszeitenmacher denn geben?

Lasst einfach die Finger davon!

Leider stecken sie ja schon mittendrin! Was können wir in der jetzigen Situation tun?

Keine Ahnung. Ich bin ein Jahreszeitenmacher und kein Klimaforscher. Als Jahreszeitenmacher weiß ich zwar genau, wie ich die einzelnen Wetterstufen zusammen mischen muss, um einen harten, milden oder gemischten Winter hinzubekommen. Ich weiß aber nicht, was ich tun muss, wenn mir die einzelnen Zutaten fehlen. Genau das ist aber vielleicht bald der Fall.

Bedeutet das, dass Sie dann selbst, wenn sie wöllten, keinen Winter mehr machen können?

Ja, zumindest so lange nicht, bis sich die Natur vom menschlichen Eingriff erholt hat. Das Beste wäre wirklich, die Menschen würden sich aus dem Wettermachen raushalten.

Frau Herbst
Foto: Rossipotti

Glauben Sie, dass es dem Klima etwas nützt, wenn die Menschen mehr CO2 einsparen? Zumindest die Menschen glauben an den Zusammenhang zwischen Klimawandel und CO2-Verbrauch.

Aus meiner Perspektive fühlt es sich so an, als ob die Atmosphäre immer zäher und klebriger werden würde. Es wird für mich immer schwieriger, aus dieser zähen Masse einen klaren Winter zu komponieren. Wenn nun das, was die Masse zäh und klebrig macht, tatsächlich CO2 heißt, dann müssen die Menschen wirklich CO2 einsparen. Tun sie es nicht, weiß ich nicht, ob es in Zukunft überhaupt noch irgend ein klar erkennbares Wetter geben wird. Denn auch alle meine Verwandten klagen natürlich über dieses klebrige Etwas in der Atmosphäre.

Kehren wir zum Schluss wieder zu einem erfreulicheren Thema zurück, dem Winter. Welchen Winter haben Sie denn dieses Jahr für uns vorbereitet? Eher mild oder eher hart?

Das wird nicht verraten. Ein bisschen Geheimnis muss schließlich sein.

Lieber Herr Winter, wir danken Ihnen für das aufschlussreiche Gespräch!

                                                                                                                                                                                                                                                 

 © Rossipotti No. 26, Jan. 2013