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Salon Albert
Hallo Kinder,
seid ihr bereit für eine achtzigtägige Reise um die Welt?
Prima!
Dann packt schnell zwei wollene Nachthemden und drei paar Strümpfe
ein, sucht bei der bei der Bahn
eine Verbindung nach Venedig aus, und trefft euch dort mit dem Reiseschriftsteller
Helge Timmerberg
im Marco Polo:
In achtzig Tagen um die Welt
2. Kapitel: Venedig
Double Check im Karneval
[...] Hotelzimmer werden mit Liebe oder mit
Hass eingerichtet. Die mit Liebe eingerichteten sind auch nicht
immer ungefährlich, denn nicht alle Liebenden haben Geschmack.
Und nicht alle Hassenden sind geschmacklos. Das KGB-Zimmer zum Beispiel,
das ich gestern nacht in München hatte, das war Hass MIT Geschmack.
Weil das Bild in sich stimmte. Hass ohne Geschmack sieht dann so
aus wie das Zimmer 107 des "Marco Polo". Hier stimmt nichts
mehr. Der Raum ist lang, hoch und sehr, sehr schmal; er mutet eigentlich
wie die Hälfte oder, let's face it, wie das Drittel eines ehemals
großen und normal geschnittenen Zimmers an, durch das man
wahllos Mauern gezogen hat, um es dreifach zu vermieten. So ein
Schlauch ist, ich weiß, immer schwer einzurichten, selbst
mit gutem Willen. Man müsste es minimalistisch probieren, wenig
Möbel, schönes Holz, mönchsklausenhaft. Statt dessen
haben sie ihn über Jahre mit allem vollgemüllt, was woanders
im Wege stand. Sperrmüll, aber King-size. Mehr gestaut als
abgestellt. Feng-Shui ist kein Quatsch: Das bringt böse Stauenergien.
Und man kann sich dem nicht einmal durch einen Blick aus dem Fenster
entziehen, denn einen halben Meter hinter dem Fenster ist nur die
nächste Hauswand zu sehen. Mauern, Müll und keine gerade
Linie, die Ewigkeit suggeriert, kein sanfter Bogen, der harmonisiert,
kein Kreis, der Tiefe schafft. Sobald man dieses Zimmer betrifft,
ist Krieg.
Ich stelle meinen Rucksack ab und setze mich aufs Bett. Es gibt
Zimmer, die man mit Meditation umdrehen kann. Dieses nicht. Es gibt
Zimmer, die man mit Lesen vergessen kann. Dieses nicht. Hier geht
wieder nur eins: saufen, saufen, saufen. Irgendwo da draußen.
Egal was und so viel, dass ich sofort einschlafe, wenn ich nachher
wieder aufs Bett falle, aber nicht so viel, dass ich vorher noch
kotzen muss. Das ist ein guter Plan. [...]
"Wann sind wir endlich in Venedig?" fragt Palmina.
"Sind wir doch schon", sagt Robin. "In einem hässlichen
Hotelzimmer des 'Marco Polos'."
"Ach so", sagt Palmina. "Aber warum werfen wir dann
nicht einen Blick auf die Stadt?"
"Weil wir mit Helge Timmerberg verreisen", sagt Albert.
"Und der hat keine Lust auf Venedig, weil dort gerade Karneval
ist."
"Hm", macht Palmina. "Dann peilen wir eben die nächste
Station an."
"Das wäre dann Triest."
"Hört sich langweilig an", findet Emma. "Können
wir nicht nach Griechenland fliegen?"
"Doch", sagt Albert. "Allerdings nicht fliegenderweise.
Wir fahren mit Helge Timmerberg vom italienischen Brindisi mit dem
Schiff nach Patras."
"Wie schön!" ruft Lyra. "Die gleiche Strecke
bin ich auch schon mal gefahren. Da liegen kleine und große
Inseln in einem türkisblauen Meer. Und auf den Inseln kann
man Wälder und Wasserfälle erkennen. Ganz verzaubert sieht
das aus!"
"Patras können wir meiner Meinung nach überspringen",
sagt Albert ohne auf Lyra weiter einzugehen. "Patras gefällt
dem Autor zwar, aber er selbst sieht auch nur eine Straße
davon. Fahren wir also lieber gleich mit dem nächsten Schiff
weiter nach Kreta."
"Warum will er denn nach Kreta?" fragt Robin. "Sieht
er denn von der Insel mehr als von Patras?"
"Immerhin den alten Hafen von Chania und ein Hotelzimmer mit
wunderschönem Ausblick", sagt Albert. "Außerdem
schwelgt er hier in Erinnerungen an einen früheren Aufenthalt
und er hat einen bedeutungsvollen Traum von einem Gefängnis,
der ihm abrät, nach Ägypten weiter zu reisen: 'Geh nicht
nach Ägypten!'."
"Das hört sich spannend an", sagt Palmina. "Werden
wir in Ägypten von der Polizei verfolgt?"
"Nein, wir landen hier nur ganz kurz, um dann nach Indien
weiter zu reisen", antwortet Albert. "Das Gefängnis
war nur ein kribbeliges Gedankenspiel des Autors. Und der Grund
für den kurzen Aufenthalt in Ägypten."
"Gedankenspiele kann ich auch zu Hause haben!" mault
Kevin.
"Stimmt!" meint auch Emma. "Überhaupt passiert
bei dieser Reise weniger als bei meiner Oma auf dem Dorf!"
"Eine gute Gelegenheit, das erste Paar Socken zu wechseln!"
schlägt Albert vor. "In Bombay kann es nicht schaden,
saubere Füße zu haben."
Emma, Robin, Palmina, Kevin und Lyra wechseln erwartungsvoll ihre
Strümpfe und machen sich für den Abflug von Kairo über
Kuweit nach Indien bereit:
Albert drückt auf Google Earth und schon fliegen alle in Nullkommanix
von Kreta nach Ägypten und von dort über Kuweit weiter
nach Bombay.
"Indien", sagt Albert und blubbert verträumt in
seiner Flasche. "Das Mekka aller Sinnsuchenden!"
Palmina verdreht die Augen und Robin stöhnt.
"'Indien ist ein Gegenunsiversum, ein Parallelplanet, eine
Erde II, die schwer zu bereisen ist, weil man entweder von ihr abgestoßen
oder verschluckt wird. Mir ist beides oft passiert, und dieses Mal
sieht es nach Verschlucktwerden aus'", sagt Albert.
"Ich wusste gar nicht, dass du schon mal in Indien warst",
sagt Palmina.
"War ich auch nicht", sagt Albert. "Der Satz stammt
von Helge Timmerberg."
"Und wozu brauchen wir jetzt die sauberen Socken?" fragt
Lyra neugierig.
"Für den Guru, der Helge auf den richtigen Weg bringt!"
antwortet Albert. "Helge alias Tim sagt darüber zwar nichts,
aber ich denke trotzdem, dass sich beim Guru alle die Schuhe ausgezogen
haben."
"Was ist ein Guru überhaupt?" fragt Emma.
"Ein religiöser Lehrer der Hindus, Sikhs und Buddhisten",
sagt Albert. "Ein Guru ist jemand, der einem sagt, wie man
leben soll. Deshalb gehen heute auch viele Europäer oder Amerikaner
zu den Gurus, einfach um einen guten Rat von ihnen zu bekommen.
Am besten hört ihr euch Helge Timmerbergs Geschichte dazu an:
9. Kapitel Bombay II
Der Guru
[...] Der Guru sitzt in seinem Schaukelstuhl
und schaukelt. Er macht das energisch, er gibt richtig Gas. Er ist
sechsundachtzig, klein, dünn und zahnlos. Der eingefallene
Mund mildert die Strenge seines Cäsarengesichts. Seine schütteren
weißen Haare passen gut zu der weißen Baumwollhose und
dem überlangen, weißen indischen Hemd. Er schaukelt barfuß.
Morgenlicht fällt in den Raum, der angenehm temperiert ist.
Durch die offenen Fenster kommt der Wind herein und zirkuliert.
Ein frischer, sauberer Wind vom Meer. Man kann es von hier sehen,
wenn man am richtigen Fenster steht. Acht Stockwerke unter uns hupen
die Straßen von Bombay. Etwa dreißig Leute sind heute
beim Guru. Die wenigsten von ihnen sind Inder. Sie sitzen auf Stühlen,
auf dem Boden, an der Wand. Wer eine Frage hat, setzt sich direkt
vor ihn und bekommt ein Mikrophon angesteckt, wie im Fernsehen.
Der Guru trägt auch eins am Hemd. Eine Videokamera läuft.
Die CD kann man mitnehmen.
"Wie heißt du?" fragt Ramesh.
"Tim", sage ich.
"Aha, Tim. Und du kommst aus ...?"
"Deutschland."
"Aha, Tim aus Deutschland. Und was kann ich für dich tun,
Tim?"
"Ich schreibe Reisebücher."
"Ich verstehe."
"Und jetzt bin ich gerade auf einer Weltreise."
"Ich verstehe."
"Und mein Problem ist, dass ich mich nicht entscheiden kann,
wie es weiter geht. Ob ich mit dem Zug oder mit dem Flieger nach
Kalkutta will."
Ramesh unterbricht abrupt sein Schaukeln und richtet sich ein wenig
auf.
"Und warum, Tim, glaubst du, das ich dir darauf eine Antwort
geben kann? Bin ich ein Reisebüro?"
Alle im Raum lachen, den Guru selbst schüttelt es vor Heiterkeit,
ich lache auch ein bisschen mit, obwohl mir nicht wirklich danach
zumute ist.
"Nein, Ramesh, es geht im Grunde nicht um Zug oder Flugzeug,
es geht nicht darum, wofür ich mich nicht entscheiden kann.
Es geht um das Nichtentscheidenkönnen an sich, als psychologische
Fehlfunktion oder als schwacher Charakterzug oder als Geburtsfehler,
ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich mich nie entscheiden
kann. In der Liebe, im Beruf, in allem eigentlich, und das bringt
extrem viele Probleme mit sich. Es ist ein Fluch in meinem Leben."
"Ich verstehe." Ramesh schaukelt wieder. "Also, Tim,
ich denke, dass es so etwas gibt. Es gibt Menschen, die sich nicht
entscheiden können. Und wenn das bei dir so ist, Tim, dann
ist das dein Weg. Dann ist das so von Gott gewollt, oder vom Urknall,
oder wie immer du die Quelle von allem Existierenden nennen willst.
Weißt du, was ich an deiner Stelle tun würde, Tim?"
Ramesh unterbricht wieder sein Schaukeln und richtet sich auf. Er
macht eine Handbewegung, die mir bekannt vorkommt. "Wenn ich
mich nicht entscheiden könnte, Tim, würde ich eine Münze
werfen. Denn niemand kann behaupten, dass Menschen, die es mit einer
Münze tun, weniger erfolgreich sind, als Menschen, die sich
auf traditionelle Weise entscheiden."
"Das ist klug!" sagt Kevin beeindruckt. "Ganz egal
wie wir uns entscheiden: Wir können nichts falsch machen!"
"Das ist dumm!" sagt Robin. "Denn wenn wir nichts
falsch machen können, können wir auch nichts richtig machen!"
"Wie auch immer", sagt Albert. "Für Helge oder
Tim war es auf jeden Fall eine große Offenbarung und
er kann jetzt unbekümmert nach Bangkok weiter reisen: Das Schicksal
kommt wie es kommt. Und deshalb entscheidet sich Helge Timmerberg
für den Flieger. Weil es bequemer und schneller als mit der
Bahn ist. Wir nehmen die noch schnellere Variante mit Google Earth."
Albert gibt in dem Suchfeld "Anfliegen" Bangkok ein und
die Bildschirm-Erde dreht sich von Bombay aus ein weiteres Stück
nach Osten. In Sekundenschnelle fliegen alle über den Indischen
Ozean nach Thailand.
"Ich habe mir eine achtzigtägige Weltreise irgendwie
anders vorgestellt", sagt Palmina. "Hier ist jede einzelne
Station so schnell vorbei, als wäre sie nie dagewesen."
"Mmmh", macht Lyra. "Wie bei rotierenden Rädern,
die völlig ruhig aussehen."
"Heißt das, dass ihr lieber noch ein bisschen in Bombay
geblieben wärt?" fragt Albert.
Lyra und Palmina nicken.
"Dann lasst uns doch einen kurzen Abstecher zu Jules
Vernes Reisehelden Phileas Fogg und seinem Diener Passepartout
machen", schlägt Albert vor.
Er gibt bei Google Earth wieder Bombay an und erklärt während
des kurzen Rückflugs: "Im Unterschied zu Helge Timmerberg
hat es Phileas Fogg wirklich eilig. Denn er muss wegen einer Wette
die Erde in 80 Tagen umrunden. Wenn er es nicht schafft, verliert
er 20.000 Sterling, das ist die Hälfte seines Vermögens.
Außerdem sind in der Zeit, in der Phileas Fogg und Passepartout
unterwegs sind, nämlich Ende des 19. Jahrhunderts, die Verkehrsmittel
nicht so schnell und es gibt natürlich noch keine Flugzeuge."
Albert gibt in das Suchfeld "Allahabad" ein und sagt:
"Die beiden Reisenden haben auf ihrer Zugfahrt nach Kalutta
übrigens ziemlich Pech. Denn 50 km vor Allahabad hören
plötzlich die Schienen auf und sie müssen auf einem Elefanten
weiter durch den Dschungel reisen. Mit ihnen reist der Brigardegeneral
Sir Francis Cromarty und ein indischer Parse,
der den Elefanten führt. Als der Elefant unruhig wird,
versteckt der Parse den Elefanten und die Reisegesellschaft im Gebüsch
und kurz darauf werden alle Zeuge einer seltsamen Prozession."
Albert schlägt Jules Vernes Roman "In 80 Tagen um die
Welt" auf und liest:
12. Kapitel
In welchem sich Phileas Fogg und seine Gefährten quer durch
den indischen Dschungel wagen, und was sich daraus ergibt.
[...]
Der Prozession voran schritten mehrere Priester, die Mitren und
lange bestickte Gewänder trugen. Die nun folgenden Männer,
Frauen und Kinder psalmodierten eine Art Totenklage, welche in gleichmäßigen
Abständen von Tamtam- und Zimbelschlägen unterbrochen
wurde. Dahinter tauchte auf einem Wagen mit riesigen Rädern,
deren Speichen und Felgen ineinander geflochtene Schlangen darstellten,
eine abscheuliche Statue auf, die von einem doppelten Gespann prächtig
aufgeputzter Zebus gezogen wurde. Die Statue hatte vier Arme, einen
dunkelrot bemalten Rumpf, wilde Augen, wirres Haar, die Zunge baumelte
ihr aus dem Mund, die Lipppen waren mit Henna und Betel gefärbt.
Um den Hals trug sie ein Kette aus Totenköpfen, ihre Hüften
umschlang ein Gürtel aus abgeschlagenen Händen. Diese
Statue stand auf dem geköpften Leib eines Riesen.
Sir Francis Cromarty erkannte sie sofort.
"Die Göttin Kali", murmelte er, "die Göttin
der Liebe und des Todes!"
"Des Todes, da stimme ich zu - aber der Liebe? Nie und nimmer!"
meinte Passepartout. "So eine garstige Vettel!"
Der Parse bedeutete ihm zu schweigen.
Um die Statue tanzten mit wilden Gebärden unter krampfhaften
Zuckungen mehrere alte Fakire herum, zebraartig mit ockergelben
Streifen bemalt und von oben bis unten mit kreuzförmigen Schnitten
übersät, aus denen Blut tropfte - stumpfsinnige Fanatiker,
die sich bei großen Hindu-Zeremonien immer noch vor die Räder
des Dschagannath-Wagens warfen.
Dahinter folgten einige Brahmanen in ihren prunkvolln orientalischen
Gewändern. Sie schleppten eine Frau mit sich, die sich kaum
auf den Beinen halten konnte.
Diese war noch sehr jung, weiß wie eine Europäerin. Kopf,
Hals, Schultern, Ohren, Arme, Hände und Zehen waren mit Juwelen,
Halsbändern, Armreifen, Broschen und Ringen überladen.
Unter einer goldbestickten Tunika, von dünnem Musselin bedeckt,
zeichnete sich ihre Gestalt ab.
Wächter mit blanken Säbeln und langen damaszierten Pistolen
im Gürtel trugen hinter dieser jungen Frau - welch grauenvoller
Kontrast! - einen Toten auf einer Sänfte einher.
Es war der Leichnam eines alten Mannes, in die kostbare Kleidung
eines Radschas gehüllt. Wie im Leben trug er einen perlenverzierten
Turban, ein Gewand aus golddurchwirkter Seide und einen diamantenbesetzten
Kaschmirgürtel, in dem die prächtigen Waffen eines indischen
Fürsten steckten.
Den Schluss des Zuges bildeten etliche Musikanten und eine Nachhut
aus Fantikern, deren Gekreisch bisweilen sogar den ohrenbetäubenen
Lärm der Instrumente übertönte.
Sir Francis Cromarty betrachtete all diesen Pomp mit sonderbar trauriger
Miene und sagte zum Führer gewandt:
"Ein Satti!"
Der Parse nickte und legte den Finger auf die Lippen. Die große
Prozession wälzte sich langsam unter den Bäumen dahin,
und bald waren die letzten Reihen in den Tiefen des Waldes verschwunden.
Nach und nach verhallten die Gesänge. Ein paar Mal drang noch
aus der Ferne Geschrei herüber, dann folgte auf den ganzen
Tumult wieder tiefe Stille.
Phileas Fogg hatte Sir Francis Cromartys Bemerkung gehört und
fragte gleich nachdem die Prozession verschwunden war: "Was
ist das, ein Satti?"
"Ein Satti, Mr. Fogg", antwortete der Brigadegeneral,
"ist ein Menschenopfer, aber ein freiwilliges. Die junge Frau,
die Sie soeben gesehen haben, wird morgen früh kurz nach Tagesanbruch
verbrannt."
"Ha, diese Schurken!" rief Passepartout, der einen Aufschrei
der Empörung nicht unterdrücken konnte.
"Und der Leichnam?" fragte Mr. Fogg.
"Das ist der Leichnam des Fürsten, ihres Gatten",
erwiderte der Führer. "Er war ein unabhängiger Radscha
im Bundelkhand."
[...]
Der Führer hatte dem Bericht des Brigadegenerals kopfschüttelnd
zugehört und sagte jetzt:
"Die Opferung morgen früh bei Sonnenaufgang findet nicht
freiwillig statt."
"Woher wollen Sie das wissen?"
"Das ist im ganzen Bundelkhand bekannt!", erwiderte der
Führer.
"Aber die Unglückliche schien keinen Widerstand zu leisten",
bemerkte Sir Francis Cromarty.
"Weil man sie mit Haschisch und Opium betäubt hat",
erklärte der Führer.
"Und wohin bringt man sie jetzt?"
"In die Pagode von Pilladschi, zwei Meilen von hier. Dort muss
sie die Nacht verbringen und auf ihre Todesstunde warten."
"Und wann soll die Opferung stattfinden?"
"Morgen, bei Tagesanbruch."
[...]
"Und wenn wir diese Frau retten würden?"
"Diese Frau retten? Aber Mr. Fogg!" rief der Brigadegeneral.
"Ich habe noch 12 Stunden Vorsprung. Die könnte ich dafür
nehmen."
"Sie an! Sie hören auf die Stimme Ihres Herzens!"
rief Sir Francis Cromarty.
"Manchmal", erwiderte Phileas Fogg schlicht. "Wenn
ich Zeit dazu habe."
Albert schlägt das Buch zu, nimmt seine Brille ab und reibt
sich die Augen.
"Du kannst doch nicht einfach aufhören zu lesen!"
sagt Kevin. "Nicht jetzt, wo unsere Reise endlich spannend
wird!"
"Erfundene Romanhelden können einfach aufregendere Abenteuer
erleben als reale!" stimmt Lyra Kevin zu. "In echt würde
sich niemand trauen, die Frau zu retten!"
"Für phantastische Geschichten stimmt das sicher",
sagt Albert. Er klopft auf Jules Vernes Buch und sagt: "Aber
nicht für realistische Reiseromane."
"Jules Verne ist doch einer der ersten Science Fiction Schriftsteller",
meint Lyra. "Dann wird seine Geschichte um Phileas Fogg und
Passepartout doch kein realistischer Reiseroman sein!"
"Eigentlich schon", sagt Albert. "Denn Jules Verne
wollte zumindest in diesem Roman möglichst nahe an der Wirklichkeit
bleiben. Wenn man den ganzen Roman kennt, merkt man auch, wie er
sich bemühte, die Landschaft und die unterschiedlichen Völker
möglichst wirklichkeitsgetreu wieder zu geben."
"Obwohl er in den meisten Ländern nie gewesen ist?"
fragt Palmina. "Wie realistisch kann denn das Buch sein, wenn
er das meiste nur recherchiert und angelesen hat?"
"Ziemlich", sagt Robin überzeugt. "Wie wir
uns heute mit Satellitenbildern von Google Earth oder Videoeinsprengseln
von You tube um die ganze Welt beamen, umrundete Jules Verne die
Welt mit Hilfe von Zeitungen und Büchern. So betrachtet war
Jules Verne nicht nur einer der ersten Science Fiction Autoren,
sondern auch einer der ersten modernen Medienreisenden."
"Und sein Held Phileas Fogg war einer der ersten modernen
Touristen", fährt Albert Robins Gedanken fort. "Wie
die meisten Pauschaltouristen heute lässt Phileas Fogg nämlich
die einzelnen Länder nur wie einen Film an sich vorbeirauschen,
ohne große Empfindungen und Erlebnisse."
"Ich denke, er hat es furchtbar eilig?" wirft Emma ein.
"Dann war er doch sicher sehr nervös und immer in der
Angst, etwas könnte seine Wette gefährden? Und war Reisen
damals nicht insgesamt viel gefährlicher und damit auch aufregender
als heute?"
"Das ist nur eine Frage der Wahrnehmung", meint Albert.
"So wie sich heute viele Touristen selbst noch dann sicher
fühlen, wenn sie in ein Krisengebiet reisen oder im Dschungel
mit dem Boot einem Krokodil vor die Schnauze fahren, so hat auch
Phileas Fogg überhaupt keine Bedenken, dass ihm irgendetwas
zustoßen oder er gar seine Wette verlieren könnte. Jules
Verne beschreibt ihn als jemanden, der so viel Gefühle wie
ein Uhrwerk hat. Im Unterschied zu den Touristen heute hält
er es allerdings nicht einmal für nötig, sich selbst oder
anderen Emotionen vorzuspielen. Nein, ein Phileas Fogg geht nicht
an Deck seines Luxusdampfers, um sich die Meerluft um die Nase wehen
zu lassen oder vorbeiziehende Küsten zu bewundern, sondern
zieht es vor, die Strecke im Restaurant abzusitzen!"
"Dann ist Jules Vernes Roman also noch langweiliger als Helge
Timmerbergs Reisetagebuch?" fragt Kevin enttäuscht. "Und
du hast uns bereits die spannendste Stelle daraus vorgelesen?"
"Nicht ganz", sagt Albert. "Noch haben sie die Witwe
des Radschas nicht befreit, noch ist Passepartout nicht in Japan
verloren gegangen und noch haben sie nicht den Indianerüberfall
in Amerika überstanden. Aber insgesamt hat Phileas Fogg tatsächlich
nichts anderes im Sinn, als pünktlich seine Mahlzeiten zu bekommen,
mit anderen Reisenden Whist zu spielen und alle paar Tage frische
Socken anzuziehen. - A propos! Zeit für einen Sockenwechsel.
Oder wollt ihr lieber eines eurer wollenen Nachthemden anziehen?"
Robin und Lyra entscheiden sich für die Nachthemden, die anderen
Kinder begnügen sich mit einem zweiten paar Socken.
"Dann würde ich vorschlagen, dass wir wieder mit Helge
Timmerberg weiter reisen?"
Die Kinder nicken.
"Weil wir in Indien so viel Zeit verloren haben, überspringen
wir Bangkok, Hongkong und Shanghai und fliegen direkt nach Tokio
in Japan."
Albert gibt bei Google Earth "Tokio" ein, klappt Helge
Timmerbergs Buch auf und liest:
15. Kapitel: Die Bar der Zen-coholics
[...] Obwohl am nächsten Tag Sunshine
City und der Rest von Tokio natürlich wieder voller Menschen
sind, vergeht das Gefühl, mutterseelenallein zu sein, überhaupt
nicht. Es wird stärker. Und ist bald das alles dominierende
Reiseerlebnis. Niemand auf der Straße nimmt Notiz von mir,
niemand will mich ansehen, und wenn sich trotzdem zufällig
mal die Blicke kreuzen, erschrecken die Leute sich. Ich komme mir
vor wie ein Virus in ihrem Programm. Was ist hier los? Die Chinesen
würden sagen, das ist allerfeinstes Yin-Yang; im Zentrum der
japanischen Höflichkeit lauere eiskalte Ignoranz. Aber die
Chinesen sind parteiisch. Japan hat sie zweimal überfallen
und unvorstellbare Kriegsverbrechen bergangen. Ich glaube nicht,
dass es Ignoranz ist; ich glaube, sie haben einfach nur Angst, angesprochen
zu werden und ihr Gesicht zu verlieren, weil sei kein Englisch sprechen.
Jeder, den ich nach dem Weg zu U-Bahn fragen will, schüttelt
den Kopf, sagt "hihi" und beschleunigt seine Schritte.
Hinzu kommt, dass sie mich auch nicht sonderlich interessieren.
Nichts an ihnen scheint echt zu sein. Alles ist Kopie, trotz ihrer
Markentreue. Sie tragen Louis Vuitton, Boss und Armani wie eine
Verkleidung und haben über die Jahre vergessen, wen sie verkleiden.
Wer sie sind. So kommt's mir vor, aber ich weiß noch nicht,
ob es stimmt. Merkwürdig ist auch, dass jeder zweite Jugendliche
wie eine fleischgewordene Comicfigur aussieht: grüne Vogelkämme
statt Frisuren, totgeschminkte Augen und Kettenkrawatten. [...]
Meine Beine bringen mich zur Bar der Zen-coholics. Ich spüre
es schon beim Reinkommen: Hier ist was los. Hier geht die Post ab.
Hier sitzen ein paar supereinsame Gestalten kerzengerade an der
Theke und starren geradeaus. Ein Barhocker zwischen ihnen ist noch
frei. Während ich mich setze, überlege ich, ob ich gleich
wieder aufstehen soll, denn ich fühle, wie ich in einem depressiven
Kraftfeld Platz nehme. Von rechts und links wabert mich Extremautismus
an. Das kann ins Auge gehen, aber weil mir einfällt, dass man
als Schreiber auch mal was wagen muss, bleibe ich sitzen. Die Bar
ist teuer und geschmackvoll, doch sehr streng eingerichtet. Keine
Musik. Das Licht ist meditativ. Und die Flaschen stehen wie ein
Heer von Samurai vor den Spiegeln. Alle Gäste tragen dunkle
Anzüge, nur die Frau neben mit sitzt im Kostüm da. Am
besten gebügelt ist der Barkeeper. Hose, Weste, weißes
Hemd, Manschette, dazu ein kurzgestutzter Silberbart und die Aura
eines Kriegers. Die Konzentration, mit der er uns abfüllt,
ist rituell. Er serviert mir das Getränk mit einer Bewegung,
die ich kenne, aber in diesem Umfeld nicht vermutet habe. Zuerst
stellt er mein Glas auf seiner Seite der Theke ab. Er atmet ein,
baut sich auf, beim Ausatmen schiebt er es mir rüber, stoppt
kurz und bringt es dann mit einem finalen Schub in die endgültige
Position. Das ist Karate, sage ich. Nein, sagt er, Aikido. Dasselbe
macht der Barkeeper mit dem Wasser und dem Aschenbecher. Und natürlich
steht die Dreierformation millimetergenau auf Linie, und die Abstände
dazwischen scheinen ebenfalls exakt vermessen zu sein. Ich trinke
und halte es wie die anderen Gäse: Ich reihe das Glas immer
wieder genau in die Formation ein. Wenn ich der Meinung bin, dass
sie nicht mehr stimmt, korrigiere ich. Das mache ich automatisch.
Und es ergibt automatisch Sinn. Es geht um Harmonie und die ihr
innewohnende Kraft, und es geht darum, immer wieder die Balance
herzustellen, wenn man alleine trinkt. Darum sitzen hier alle kerzengerade,
darum macht hier keiner ein blödes Gesicht, obwohl alle geschieden,
überarbeitet und unglücklich sind. Die Frau neben mir,
die in dem Businesskostüm, stöhnt manchmal ganz kurz auf,
und wahrscheinlich ist es auch nur ein Seufzen, aber das ist wirklich
alles, was hier an Kontrollverlust passiert.
Ich bin zufrieden. Ich habe die Samurai gefunden. Sie lehren mich,
dem Unglück aufrecht ins Auge zu sehen und den Blick schweigend
zu ertragen. [...]
"Oh", sagt Lyra. "Zum Glück habe ich ein Wollhemd
an!"
"Ja, ziemlich kalt die Textpassage!" sagt Robin.
"Nicht gerade zum Aufwärmen", stimmt Kevin zu. "Es
wird Zeit für ein Überlebenstraining bei Juan."
Er packt seine Strümpfe und die Wollsachen in eine Tasche und
verlässt den Raum.
"Und ich habe gleich einen Termin", sagt Emma.
Sie zieht ihre Strümpfe aus und legt sie ordentlich nebeneinander.
"Wenn das so ist, gehe ich auch", sagt Palmina.
"Und was wird aus unserer Reise?" fragt Albert entsetzt.
"Wir haben doch erst die Hälfte des Wegs zurück gelegt!"
"Was kann nach Japan und den modernen Samurai denn noch kommen?"
fragt Robin. "Begegnung mit dem Nichts?"
"Ganz im Gegenteil!" ruft Albert. "Das pralle Leben!
Farben, Formen, Gerüche. Mexiko City."
"Und das nach Japan?" fragt Lyra. "Dann steige ich
auch aus. Meine Aura ist noch auf konzentrierte Distanz eingestellt.
Da kann ich nicht nach Mexiko City."
"Und was wird aus meiner Wette?" fragt Albert.
"Welche Wette?" fragt Robin.
"Ich habe mit Rossipotti um einen Schokopudding gewettet,
dass ihr 80 Tage mitreist!"
"Wie unrealistisch", sagt Emma.
"Wie fahrlässig!" sagt Robin.
"Wie schade", sagt Lyra.
"Wie seltsam", sagt Palmina. "Hättest du dir
nicht denken können, dass es für uns viel abenteuerlicher
ist, unterwegs auszusteigen, als bis zum Schluss auf den ausgetretenen
Spuren von Jules Verne und Helge Timmerberg zu reisen?"
"Tut uns leid, Albert", sagt Robin. "Aber deinen
Schokopudding hast du offensichtlich an Rossipotti verloren!"
* * *
Helge Timmerberg: In 80 Tagen um die Welt. Rowohlt
Berlin Verlag. Berlin 2008.
Jules Verne: In 80 Tagen um die Welt. Deutscher
Taschenbuch Verlag. München 2003.
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