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Rossipottis 11 Uhr Termin

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Odysseus
Zwölfter Gesang

von Homer, nacherzählt von Gustav Schwab

Rossipotti: Odysseus ist ein griechischer Held, der nach dem trojanischen Krieg mit seinen Gefährten zehn Jahre lang im Mittelmeer umherirrte, bevor er endlich wieder zu seiner Heimatinsel Ithaka zurückfand. Die folgenden drei Abenteuer sind die letzten während seiner langen Irrfahrt.

Odysseus und die Sirenen

Das erste Abenteuer, das wir nach unserem zweiten Aufenthalt bei der Zauberin Kirke zu bestehen hatten, erwartete uns am Eiland der Sirenen. Dort wohnen Nymphen, die jedermann betören, der auf ihr Lied horcht. Am grünen Gestade sitzen sie und singen ihre Zauberweisen den Vorüberfahrenden zu. Wer sich aber zu ihnen hinüberlocken lässt, ist ein Kind des Todes; man sieht an ihrem Ufer des modernden Gebeins genug. Bei der Insel dieser verführerischen Frauen angekommen, hielt unser Schiff still, denn der Wind, der uns bisher gelinde vorangetrieben, hörte mit einem Male auf zu wehen, das Gewässer schimmerte wie ein Spiegel. Meine Begleiter bargen die Segel und setzten sich an die Ruder, um das Fahrzeug vorwärts zu bringen. Ich aber dachte an das Wort, das Kirke, die mir dies alles vorausgesagt, gesprochen hatte: "Wenn du an die Insel der Sirenen kommst, so verklebe die Ohren deiner Freunde mit Wachs, damit sie nicht hören; begehrst du selbst, ihr Lied zu vernehmen, so befiehl, dass man dich, an Händen und Füßen gefesselt, an den Mast binde. Je sehnlicher du flehst, dich zu befreien, desto fester sollen sie dich in Stricke schnüren!"
Daran dachte ich jetzt, zerschnitt eine große Wachsscheibe und knetete sie mit meinen Fingern; das weiche Wachs strich ich meinen Reisegenossen in die Ohren. Sie aber banden mich auf mein Geheiß aufrecht an den Mast; dann setzten sie sich wieder an die Ruder und trieben das Fahrzeug vorwärts. Als die Sirenen es heranschwimmen sahen, standen sie in der Gestalt reizender Mädchen am Ufer und begannen mit wundersüßer, heller Kehle ihren Gesang:

Komm besungener Odysseus, du großer Ruhm der Achaier!
Lenke dein Schiff ans Land, und horche unserer Stimme.
Denn hier steuerte noch keiner im schwarzen Schiffe vorüber,
Eh' er dem süßen Gesang aus unserm Munde gelauschet;
Und dann ging er von hinnen, vergnügt und weiser wie zuvor.
Uns ist alles bekannt, was ihr Argeier und Troer
Durch der Götter Verhängnis in Trojas Fluren geduldet:
Alles, was irgend geschieht auf der lebensschenkenden Erde!

So sangen sie. Mir schwoll das Herz vor Begierde, mehr zu vernehmen. Ich winkte meinen Begleitern mit dem Kopfe, mich loszubinden. Aber mit ihren tauben Ohren stürzten sie sich nur um so rascher aufs Ruder, und zwei von ihnen, Eurylochos und Perimedes, kamen herbei und legten mir, wie ich vorher befohlen hatte, stärkere Stricke an und schnürten auch die alten fester zusammen. Erst als wir glücklich vorübergesteuert und ganz aus dem Bereich der Sirenen waren, nahmen meine Freunde sich selbst das Wachs aus den Ohren und lösten mir die Fesslen. Ich dankte ihnen herzlich für ihre Beharrlichkeit.
Kaum waren wir eine Strecke weiter, als ich von ferne Wasserstaub und eine mächtige Brandung sah. Es war die Charybdis, ein täglich dreimal unter einem Fels hervorquellender und wieder zurückwallender Strudel, der jedes Fahrzeug verschlingt, das in seinen Rachen gerät. Meinen Begleitern glitten die Ruder vor Schrecken aus den Händen; ich selbst sprang von meinem Sitze auf, eilte durch das Schiff und sprach den Freunden, von Mann zu Mann gehen, Mut zu.
"Freunde", sagte ich, "wir sind ja keine Neulinge in Gefahren! Gehorcht mir alle. Bleibt fest auf euren Bänken und schlaget die Ruder in die Brandung! Zeus hilft uns gewiss durch schleunige Flucht aus dieser Not. Du aber, Steuermann, nimm alle deine Besinnung zusammen und lenke das Schiff durch Gischt und Brandung, so gut du kannst! Arbeite dich an den Fels hin, damit du nicht in den Strudel gerätst!"
So hatte ich die Freunde vor der Charybdis gewarnt, nach Kirkes Bericht. Aber von dem Ungeheuer Skylla, das gegenüber in einem Felsen wohnte, schwieg ich noch weislich; ich fürchtete, die Genossen würden die Ruder fahren lassen und sich am Schiffsboden zusammendrängen.
Einen anderen Rat, den Kirke mit auch gegeben, hatte ich vergessen. Sie hatte mir verboten, mich der Skylla zum Kampfe zu stellen. Ich hüllte mich in meine volle Rüstung und nahm zwei Speere in die Hand, um dem herankommenden Ungeheuer zu begegnen. Aber obgleich mir die Augen vom Umherschauen schmerzten, konnte mein Blick es doch nicht entdecken. So fuhr ich denn voll Angst in den immer enger werdenden Meeresschlund hinein.
Die Skylla hatte mir Kirke so geschildert: "Sie ist kein sterblicher Gegner, vielmehr ein unsterbliches Unheil. Tapferkeit vermag nichts gegen sie. Die einzige Rettung ist, ihr zu entfliehen! Sie wohnt der Charybdis gegenüber in einem Fels, der sein spitzes Haupt in die Wolken streckt, der ewig von dunklem Gewölk umfangen, von keinem Sonnenstrahl erleuchtet und ganz aus glatten Gesteine aufgetürmt ist. Mitten darin ist eine Höhle, schwarz wie die Nacht; in ihr haust die Skylla. Sie gibt ihre Gegenwart durch ein fürchterliches Bellen kund, das über die Flut herüberhallt. Zwölf unförmige Füße und sechs Schlangenhälse hat die Unholdin, auf jedem grinst ein scheußlicher Kopf mit drei dichten Reihen von Zähnen, die sie fletscht, ihre Opfer zu zermalmen. Ihr Leib ist in die Felskluft eingesenkt, ihre Häupter aber streckt sie schnappend aus dem Abgrunde hervor und fischt nach Robben, Delphinen und wohl auch größeren Tieren des Meeres. Noch nie hat ein Schiff ohne Verlust an ihr vorüber fahren können, immer hat sie mit jedem Maul einen Mann zwischen die Zähne genommen."
Dieses Bild hatte ich vor mir, aber ich spähte vergebens umher. Währenddessen waren wir mit unserem Fahrzeug ganz nahe an die Charybdis geraten, die mit gierigem Rachen das Meer einschlürfte und wieder ausspie. Sie brauste wie ein Kessel über dem Feuer, weißer Schaum flog empor, solange sie die Flut ausbrach; wenn sie dann die Wogen einschluckte, senkte sich das trübe Wassergemisch ganz in die Tiefe. Der Fels donnerte, man konnte in einem Wirbel von schwarzem Schlamm hinunterschauen. Während wir nun unsere Blicke mit starrem Entsetzen auf dieses Schauspiel richteten und unwillkürlich mit dem Schiffe zur Linken auswichen, waren wir der Skylla nahe gekommen!
Ihr Rachen schnappte auf einen Zug sechs meiner tapfersten Genossen vom Bord hinweg. Ich sah sie mit schwebenden Händen und Füßen zwischen den Zähnen des Ungeheuers hoch in die Lüften. Einen Augenblick darauf waren sie zermalmt.
So viel ich auf meiner Irrfahrt erduldet habe, ein jammervollerer Anblick wurde mir niemals zuteil!

Jetzt aber waren wir auch glücklich zwischen dem Strudel der Charybdis und dem Felsen der Skylla hindurch; die von der Sonne glänzende Insel Thrinakia lag vor uns. Schon auf dem Meere hörten wird das Gebrüll der heiligen Rinder des Sonnengottes und das Blöken seiner Schafe. Durch viel Unglück gewitzigt, dachte ich an die Warnung des Tiresias in der Unterwelt und kündigte den Genossen an, dass er und Kirke mich gemahnt hätten, die Insel des Helios zu meiden, weil uns dort das jämmerlichste Schicksal drohe.
"Du bist ein doch ein grausamer Mann, Odysseus!" sagte Eurylochos ärgerlich, "ganz von Stahl und ohne Gelenk im Nacken! Willst du im Ernst uns, die wir von Anstrengung und Ermüdung entkräftigt sind, missgönnen, einen Fuß ans Land zu setzen? Lass uns wenigstens diese eine finstere Nacht am Ufer verbringen, das so gastlich winkt!"
Als ich so heftigen Widerspruch erfuhr, merkte ich, dass ein feindseliger Gott Böses mit uns beschlossen hatte.
Ich sagte daher: "Eurylochos, es ist keine Kunst, mich, den einzelnen Mann, zu zwingen! Euer sind viele. So gebe ich euch nach. Aber einen heiligen Schwur müsst ihr mir ablegen, dem Sonnengott kein Rind oder auch nur ein Schaf abzuschlachten, wenn ihr seine Herden seht. Begnüge sich vielmehr jeder mit der Kost, mit der uns Kirke versorgt hat!"
Den Eid leisteten sie mir willig. Danach ließen wir das Fahrzeug in eine Bucht einlaufen, aus der sich süßes Wasser in die gesalzene Flut ergoss. Alle stiegen aus, und es währte nicht lange, so war das Nachtessen bereit.
Nach dem Mahle beweinten wir die Freunde, die von der Skylla verschlungen worden waren, aber mitten unter den Tränen überwältigte uns müde Seefahrer der Schlummer.
Es mochte noch ein Drittel der Nacht übrig sein, als Zeus einen schweren Sturm sandte, so dass wir mit der Morgenröte eilig unser Fahrzeug in eine Meeresgrotte brachten. Noch einmal warnte ich die Genossen davor, den Rindern etwas anzutun, denn bei dem ungestümen Wetter sah ich einen längeren Aufenthalt vor mir.
Auch blieben wir wirklich einen vollen Monat auf der Insel, weil beständig Südwind blies, der nur auf kurze Zeit mit Ostwinde abwechselte. Uns aber war einer wie der andere zuwider. Solange von Kirkes Vorrat noch Speise und Wein übrig war, hatte es ja auch keine Not. Als wir indes alle Nahrung aufgezehrt hatten und der Hunger sich einstellte, gingen meine Begleiter auf den Fisch- und Vogelfang aus.
Ich selbst machte einen Ausflug am Ufer entlang, ob mir kein Gott oder kein Sterblicher begegnete, der mir einen Ausweg anzeigte. Als ich weit genug von den Freunden entfernt war und mich ganz in der Einsamkeit sah, wusch ich in der Flut meine Hände, um sie rein empor strecken zu können, warf mich demütig auf die Knie und flehte zu allen Göttern um Rettung. Sie schickten mir einen wohltätigen Schlummer.
Während ich nun weg war, erhob sich Eurylochos unter meinen Leuten und gab ihnen eine verderblichen Rat.
"Hört mein Wort", sprach er, "zwar ist jeder Tod den Menschen schreckhaft, aber das entsetzlichste Geschick ist der Hungertod! Lasst uns einige Rinder des Helios den Göttern opfern und uns am übrigen Fleisch sättigen! Sind wir erst glücklich nach Ithaka gekommen, so werden wir Helios schon versöhnen und ihm herrliche Tempel bauen, auch Weihgeschenke darin aufstellen. Schickt er uns aber im Jähzorn einen Sturm zu und bohrt unser Schiff in den Grund - nun, so will ich lieber meinen Atem in die Fluten verhauchen, als auf dieser einsamen Insel jämmerlich verhungern!"
Seine Worte gefielen meinen Genossen. Gleich machten sie sich auf, trieben die besten Rinder von der Herde des Sonnengottes herbei und brachten sie unter flehendem Anruf den Überirdischen zum Opfer. Die reichlichen Überreste steckten sie an Spieße und eben setzten sie sich zum Mahle, als ich - dem die Götter den Schlaf wieder von den Augenlidern geschüttelt - herankam und von weitem witterte, was sich begeben hatte. Da jammerte ich zu den Wolken: "O Vater Zeus und ihr anderen Himmlischen, zum Fluche habt ihr mich in den Schlummer gesenkt! Was haben inzwischen meine Freunde begangen, während ich schlief!"
Als ich nun bei dem Schiffe und den Genossen angekommen war, fuhr ich sie an und schalt sie. Es war zu spät. Aber entsetzliche Wunderzeichen bezeugten den geschehenen Frevel: die Häute der geschlachteten Tiere krochen umher, als wären sie lebendig, und das Fleisch an den Spießen brüllte, wie Rinder zu brüllen pflegen!
Meine hungrigen Begleiter störten sich nicht dran. Sechs Tage hintereinander schmausten sie. Erst am siebten Tag, als alles Ungewitter vorüber schien, bestiegen wir das Schiff wieder und ruderten in die offene See hinaus.
Als wir das Land eben aus den Augen verloren hatten, breitete Zeus ein schwarzblaues Gewölk gerade über uns aus, das Meer uns zur Seite wurde immer dunkler. Plötzlich brach ein wütender Sturm aus Westen los, beide Taue des Mastbaumes zerrissen, so dass er splitternd zerbarst. Dann fuhr mit krachendem Donner ein Blitz auf das Schiff herab, dass es voll von Schwefeldampf schien. Meine Freunde stürzten aus dem Fahrzeug, zappelten um die Borde, wogten auf und versanken. Bald war ich ganz allein an Deck und irrte umher, bis die Planken auseinanderbrachen. Ich hatte die Besinnung nicht verloren und band mit einem ledernen Seil Mast und Kiel zusammen. Dann ließ ich mich in der Götter Namen von dem tobenden Sturme dahinschleudern.
Endlich hörte der Orkan zu wüten auf und der Westwind legte sich. Nach ihm erhob sich der Südwind, aber er versetzte mich in neue Angst. Denn nun war ich in Gefahr, der Skylla und Charybdis wieder zugetrieben zu werden. Wirklich geschah es so. Der Morgen dämmerte kaum, als ich der Skylla spitzen Säulenfels erkannte und die grässliche aus- und einsprudelnde Charybdis gegenüber erblickte. Sie verschlang auch, als ich ihr nahe kam, mit ihrem Strudel mein Floß. Ich selbst konnte die Äste eines vom Fels überhängenden Feigenbaumes ergreifen und hing wie eine Fledermaus in der freien Luft. So schwebte ich über der Charybdis, bis Mast und Kiel aus ihrem Schlund wieder hervorsprudelten. Diesen Augenblick wartete ich ab, war dann mit einem Sprung auf meinem alten Sitz und ruderte nun mit beiden Händen aus dem Wirbel fort. Dennoch wäre ich verloren gewesen, wenn die Gnade des Zeus meine Balken nicht von dem Felsen der Skylla abgelenkt und glücklich aus dem Schlund hinausgeschwemmt hätte.
Neun Tage trieb ich noch auf der See umher; in der zehnten Nacht brachten mich gnädige Götter endlich zur Insel Kalypsos, Ogygia.

Die Odysee-Sage, nacherzählt von Gustav Schwab, gibt es in vielen Ausgaben.
Zum Beispiel:
Gustav Schwab: Sagen des klassischen Altertums. insel taschenbuch. Frankfurt a. Main 2001.
Den ins Deutsche übersetzten Originaltext findet ihr unter anderem hier:
Homer: Ilias/Odyssee, übersetzt von Johann Heinrich Voß. Insel Verlag. Frankfurt a. Main 1990.

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David und Goliat

1. Samuel 17-58,

Saul, der erste König der Isrealiten, hatte viele Feinde, die sein Volk ausplünderten: Die Moabiter, die Ammoniter, die Edomiter, die Könige Zobas, die Amalekiter, die Philister. Saul kämpfte gegen alle und gewann immer den Sieg. Nur den Krieg gegen die Philister konnte er nie endgültig für sich gewinnen. Denn die Philister waren die stärkste Macht der Küstenstädte und der fruchtbaren Ebene. Außerdem hatte Saul, einst vom Propheten Samuel zum König gesalbt, schon mehrmals gegen den Willen Gottes verstoßen und stand deshalb nicht mehr unter seinem Schutz.
Saul wurde deshalb schwermütig und zur Aufmunterung ließ er sich den Hirtenjungen und Harfenspieler David an seinen Hof holen.
Als nun wieder einmal die Philister ihre Heere zum Kampf sammelten und die Gegend zwischen Socho und Aseka belagerten, rüstete sich auch Saul mit seinen Soldaten zum Krieg. Da standen nun die Philister auf dem einem Berg und die Israeliten auf dem anderen Berg und waren nur durch ein Tal voneinander getrennt.
Doch bevor die beiden verfeindeten Kriegsheere aufeinander losgingen, trat plötzlich aus den Reihen der Philister ein riesengroßer Mann heraus. Der Mann hieß Goliat aus Gat und war fast drei Meter groß. Er hatte einen unzerstörbaren Helm auf dem Kopf und einen Schuppenpanzer um den Leib gegürtet, der über 80 Kilo wog. Außerdem hatte er unzerstörbare Beinschienen an und auf seiner Schulter trug er einen unzerstörbaren Wurfspieß. Allein die Spitze des Spießes wog fast zehn Kilo!
Dieser Riese trat also aus den Reihen und rief den Soldaten Sauls zu: "Dieses Mal werden nicht alle Philister gegen die Isrealiten kämpfen, sondern wir werden den Krieg im Zweikampf erledigen. Wählt also einen von euch aus, der zu mir kommen soll. Kann er gegen mich kämpfen und erschlägt er mich, so wollen wir eure Knechte sein; vermag ich aber über ihn zu siegen und erschlage ich ihn, so sollt ihr unsere Knechte sein und uns dienen. Gebt mir also einen Mann und lasst uns kämpfen!"
Als Saul und die Soldaten diese Rede hörten, entsetzten sie sich und fürchteten sich sehr. Sie konnten sich zu keiner Entscheidung durchringen und wurden deshalb von den Philistern weiter belagert.
Das hörte nun der Vater Davids, Isai. Außer David hatte er noch sechs andere Söhne und drei davon waren Soldaten unter Saul. Isai nahm Getreide, Brot und Käse und schickte David damit in das Lager. Als David am frühen Morgen mit den Lebensmitteln das Lager erreichte, sah er, dass sich beide Heere zum Kampf aufgestellt hatten, weil keiner der Israeliten gegen Goliat kämpfen wollte. Schlachtreihe gegen Schlachtreihe standen sie sich gegenüber und erhoben das Kriegsgeschrei.
Da ließ David sein Gepäck, das er bei sich trug, bei der Wache des Trosses, lief zum Heer zu seinen Brüdern und fragte sie, ob es ihnen gut gehe. Und während sie noch redeten, kam der Riese Goliat und forderte noch einmal die Israeliten heraus. Die Soldaten wichen erschrocken vor ihm zurück, aber David interessierte sich für den Kampf. Er fragte die umstehenden Soldaten, was man dem geben wird, der den Riesen erschlagen wird. Und man antwortete ihm: "Den will der König sehr reich machen und ihm seine Tochter geben."
Davids Brüder wurden zornig und meinten, er wolle nur angeben, aber David ging zu Saul und bot ihm den Kampf an.
"Du kannst nicht mit dem Philister Goliat kämpfen", sagte Saul. "Du bist viel zu jung und unerfahren. Goliat ist seit seiner Jugend ein Kämpfer!"
"Wenn ich die Schafe meines Vaters vor Löwen und Bären beschützen kann, werde ich wohl noch gegen diesen Riesen kämpfen können!" antwortete David. "Gott beschützt mich vor den wilden Tieren und er wird es auch vor Goliat tun!"
Diese Worte überzeugten Saul. Er ließ David eine Rüstung bringen, setzte ihm einen Helm auf den Kopf und legte ihm einen Panzer an. Außerdem versuchte David sich Sauls Schwert umzulegen. Doch als er damit nicht gehen konnte, weil es zu lang und zu schwer war, legte er es wieder ab und nahm seinen Hirtenstab in die Hand. Außerdem sammelte er fünf glatte Steine an einem Bach und tat sie in seine Hirtentasche. Dann nahm er seine Schleuder in die Hand und ging dem Riesen entgegen.
Als David auf Goliat zuging, verlachte der Riese den Jungen, weil er so klein war.
"Warum hast du einen Stecken dabei? Willst du mich damit wie einen Hund schlagen? Komm her zu mir, ich will dein Fleisch den Vögeln zum Fraß vorwerfen."
David ließ sich durch die Reden des Riesen nicht beeindrucken, sondern sagte: "Du kommst zu mir mit Schwert, Lanze und Spieß, ich aber komme zu dir im Namen des Herrn Zebaot, des Gottes der Heeres Israels, den du verhöhnt hast. Heute wird dich der Herr in meine Hand geben, dass ich dich erschlage und dir den Kopf abhaue. Ich werde deinen Leichnam und die Leichname des Heeres der Philister heute den Vögeln geben, damit endlich alle begreifen, dass Israel einen Gott hat. Und zwar einen Gott, der nicht durch Schwert und Spieß hilft."
Da ging der Riese Goliat auf David zu und auch David lief in Goliats Richtung. David griff in seine Tasche und holte einen Stein heraus. Mit seiner Steinschleuder warf er den Stein auf Goliat. Der Stein traf die Stirn des Riesen mit voller Wucht und Goliat fiel mit dem Gesicht wie tot auf die Erde. David ging zu dem Krieger und hieb ihm mit seinem eigenen Schwert den Kopf ab.
Als die Philister sahen, dass ein Junge ihren stärksten Kämpfer getötet hatte, flohen sie voller Angst. Aber die Israeliten verfolgten sie und töteten das ganze Heer.

Bibel: 1 Samuel 17-58, textlich leicht bearbeitet von Rossipotti.

 

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Brünhild

Aus: Das Nibelungenlied: 6. und 7. Abenteuer

Rossipotti: Das Nibelungenlied ist eine der ältesten deutschen Abenteuergeschichten. Das Lied, das auf mittelhochdeutsch eigentlich "Strophe" oder "Epos" bedeutet, ist nicht in Kapitel, sondern in "Aventiure" (Abenteuer) unterteilt. Einen eigentlichen Verfasser des Epos gibt es nicht, dafür viele Überlieferungen des Stoffes, die sich jeweils in einzelnen Motiven voneinander unterscheiden. Um 1200 n. Chr. wurde der Sagenstoff von einem anonymen Autor gestaltet und in mittelhochdeutschen Versen aufgeschrieben.
Ich habe euch die erste, berühmte Strophe auf mittelhochdeutsch mitgebracht. Lest sie einmal laut durch und lasst euch den fremden Klang auf der Zunge zergehen:

Uns ist in alten maeren    wunders vil geseit
Von helden lobebaeren,     von grozer arebeit,
von freuden, hochgeziten,  von weinen und von klagen,
von küener recken striten    muget ihr nun wunder hoeren sagen.

Auf hochdeutsch in der Übersetzung von Helmut Brackert heißt das:

In alten Geschichten wird uns vieles Wunderbare berichtet: von
ruhmreichen Helden, von hartem Streit, von glücklichen Tagen
und Festen, von Schmerz und Klage, vom Kampf tapferer Recken.
Davon könnt auch Ihr jetzt Wunderbares berichten hören.

War doch gar nicht so schwierig, oder?
Doch jetzt will ich euch nicht länger auf die Folter spannen und euch die Heldin Brünhild vorstellen, die im 6. und 7. Abenteuer des Nibelungenlieds die Hauptrolle spielt. Damit ihr die Geschichte besser lesen könnt, habe ich sie euch nicht in Reimen, sondern als Prosatext aufgeschrieben.

6. Abenteuer: Wie Gunther nach Island fuhr und um Brünhild warb:

Jenseits des Meeres lebte in einer Burg eine Königin, der keine gleichkam. Sie war unermesslich schön, aber außerdem war sie auch ungeheuer stark und konnte einen Stein unheimlich weit schleudern. Jedes Mal, wenn ein tapferer Held ihre Liebe gewinnen wollte, maß sie sich mit ihm im Speerwurf und zwei weiteren Wettkämpfen. Verlor er aber auch nur in einem Wettkampf, so hatte er sein Leben verwirkt.
Die Jungfrau hatte bereits unzählige solcher Wettkämpfe überstanden und unzählige Jünglinge waren ihretwegen in den Tod gegangen.
Eines Tages hörte König Gunther von der anderen Seite des Rheins von der starken und schönen Königin. Der Gedanke an sie ließ ihn nicht mehr los und er sagte: "Was auch immer mit mir geschehen mag, ich will den Fluss hinab bis ans Meer zu Brünhild segeln und aus Liebe zu ihr mein Leben aufs Spiel setzen. Wenn sie nicht meine Frau wird, so will ich es lieber verlieren."
Sein Freund, der berühmte Drachentöter Siegfried, riet ihm dringend davon ab: "Die Königin stellt so schreckliche Bedingungen, dass es den, der um ihre Liebe wirbt, teuer zu stehen kommt. Deshalb solltet ihr euch die Reise ein für allemal aus dem Kopf schlagen."
"Willst du mir helfen, edler Siegfried, die liebliche Jungfrau zu gewinnen?" fragte Gunther. "Wenn du meine Bitte erfüllst und Brünhild meine Liebste wird, dann werde ich auch für dich Ansehen und Leben einsetzen, wenn du es verlangst!"
Da antwortete Siegfried: "Gibst du mir deine Schwester, die schöne Kriemhild und edle Königin zur Frau, dann willige ich ein und will außerdem keinen Lohn für meine schwierige Aufgabe."
Gunther versprach Siegfried seine Schwester Kriemhild zur Frau, und beide beschworen das Versprechen durch einen Eid.
Siegfried nahm seinen Tarnmantel mit, den er bei früheren Abenteuern unter großen Gefahren einem Zwerg namens Alberich abgenommen hatte. Der Tarnmantel machte denjenigen, der ihn trug nicht nur unsichtbar, sondern gab ihm zu seiner eigenen Kraft noch die Kraft von zwölf Männern hinzu. Dieser Tarnmantel würde ihm bei der Erlangung Brünhilds sicher von großem Nutzen sein.
Mit den kostbarsten Kleidern, die Gunthers Schwester Kriemhild und ein paar andere Edelfräulein selbst angefertigt hatten, machten sie sich bald mit zwei weiteren Freunden, Hagen von Tronje und seinem Bruder Dankwart, mit dem Schiff rheinaufwärts auf die Reise. Bei ihrem Abschied weinte Kriemhild, weil sie Angst um ihren Bruder hatte und sie bat Siegfried, gut auf ihn aufzupassen. Ein starker Wind blähte ihre Segel und trieb das Schiff schnell voran. Bevor es Nacht wurde, waren sie schon zwanzig Meilen gefahren.
Am Morgen des zwölften Tages waren sie endlich in Brünhilds Land, Isenstein, angekommen. König Gunther war erstaunt, wie schön das Land war und wie viele Burgen es hier gab.
Unterdessen war ihr Schiff so nahe an die Burg herangekommen, dass der König nun oben in den Fenstern viele schöne Jungfrauen stehen sah. Siegfried fragte Gunther, welche er von den Jungfrauen am schönsten fände, und als Gunther eine im schneeweißen Kleid wählte, sagte Siegfried ihm, dass genau diese Brünhild war.
Brünhild war gespannt auf die Männer und ließ den herausgeputzten und mit Edelsteinen übersäten Freiern das Tor öffnen. Ihre Rüstungen und Waffen mussten sie allerdings abgeben, weil Gäste in der Burg keine Waffen tragen durften.
Brünhild war neugierig und fragte, wer die edlen Gäste wären. Nachdem ihr einer aus ihrem Gefolge erzählte, dass der Held Siegfried dabei wäre, sagte die Königin: "Nun bringt mir mein Gewand herbei! Wenn der starke Siegfried in mein Land gekommen ist und um meine Liebe wirbt, dann geht es ihm schlecht. Denn ich fürchte ihn nicht so sehr, als dass ich ohne Kampf seine Frau würde."
Nachdem man Brünhild in prachtvolle Kleider gehüllt hatte, ging sie mit hundert oder mehr schönen Mädchen, alle auf das Prächtigste geschmückt, den Helden entgegen. Außerdem begleiteten auch fünfhundert Recken den Zug. Im Unterschied zu ihren Gästen trugen sie Schwerter in den Händen.
Als Brünhild Siegfried sah, sagte sie: "Herr Siegfried, seid mir hier in meinem Land willkommen! Es wäre mir lieb zu wissen, was Ihr mit dieser Reise vorhabt!"
"Der edle Recke neben mir ist mein Herr und er ist aus einem rheinischen Königsgeschlecht. Wir sind hier hergekommen, deine Hand zu erringen, denn er verlangt dich zur Frau, egal, welche Folgen dieser Wunsch auch immer für ihn haben mag!"
"Wenn er dein Lehensherr ist und du nur sein Lehensmann, dann werde ich, falls er die vorgeschriebenen Kampfspiele zu bestehen wagt und darin Sieger bleibt, seine Frau. Wenn ich aber gewinne, dann geht es Euch allen ans Leben!"
Da sagte Hagen von Tronje: "Herrin, lasst und doch die Bedingungen für Eure heiklen Kampfspiele kennen lernen. Er traut es sich schon zu, eine so schöne Jungfrau für sich zu gewinnen."
"Er muss den Stein werfen, ihn dann im Sprung erreichen und außerdem den Speer mit mir um die Wette werfen. Übereilt Euch also nicht; denn Ihr könntet hier Euer ganzes Ansehen und Euer Leben verlieren. Bedenkt es daher sehr gründlich!"
König Gunter sagte: "Königin, nun setzt die Regeln fest, wie Ihr wollt. Selbst wenn es noch schwieriger wäre, aus Verlangen nach Eurer Schönheit würde ich alles erfüllen. Wenn Ihr nicht meine Frau werdet, dann will ich meinen Kopf verlieren!"
Als die Königin seine Worte vernommen hatte, gab sie Befehl, die Kampfspiele so schnell wie möglich in die Wege zu leiten. Sie ließ sich für den Kampf eine treffliche Rüstung, einen Brustpanzer aus rotem Gold und einen guten Schild bringen.
Unterdessen war der schöne Siegfried, ohne dass es jemand bemerkt hatte, in das Schiff zurück gegangen, wo er seinen Tarnmantel versteckt hatte. Er schlüpfte sogleich hinein und war nun für niemanden mehr sichtbar. So eilte er zurück.
Der Ring, in dem das Kampfspiel ausgeführt und von vielen tapferen Recken beobachtet werden sollte, war bereits abgesteckt: Alle Helden sah man Waffen tragen. Sie hatten die Aufgabe, Zeugnis zu geben, wer als Sieger aus dem Kampfspiel hervorginge.
Der Schild Brünhilds war so groß und schwer, dass es vier Männer nur mit Mühen herantragen konnten. Aber für Brünhild selbst war es nicht zu schwer.
Als der starke Hagen sah, wie der Schild hereingetragen wurde, sagte er mit finsterem Blick: "Was nun, König Gunther? Mit uns ist es wohl aus! Die Frau, um deren Liebe Ihr werbt, ist die Braut des Teufels!"
Und wie schwer und scharf erst der Speer Brünhilds war! Drei Männer konnten ihn nur unter der Aufbietung aller ihrer Kräfte herbei bringen. Da wurde Gunther doch unruhig. Er dachte bei sich: "Wie könnte sich hier selbst der Teufel aus der Schlinge ziehen? Wäre ich zu Hause und mein Leben nicht in Gefahr, ich würde Brünhild bis zum Jüngsten Tag mit meiner Liebeswerbung verschonen."
Auch Dankwart wurde es beim diesem Anblick Angst und Bange: "Warum haben wir nur die Fahrt an diesen Hof unternommen?! Auf welch schändliche Weise verlieren wir hier unser Leben, wenn uns in diesem Land die Frauen umbringen! Wenn mein Bruder Hagen und ich wenigstens unsere Schwerter in der Hand hätten, wären Brünhild und ihre Männer sicher weitaus weniger überheblich!"
"Ja!" meinte auch Hagen von Tronje, "hätten wir unsere Rüstungen und unsere Schwerter, würden wir dieses Land gewiss als freie Männer verlassen. Dann würde der prahlerische Hochmut dieser Jungfrau gedämpft."
Die edle Jungfrau hörte, was der Held sprach; lächelnd sagte sie über die Schulter hinweg: "Da Hagen sich so tapfer vorkommt, so bringt ihnen nur ihre Rüstungen und gebt den Recken ihre scharfen Waffen wieder in die Hand!"
Als sie nun auf Brünhilds Befehl hin ihre Schwerter zurückerhalten hatten, da errötete der tapfere Dankwart vor Freude.
"Nun mögen die Kampfspiele sein, wie sie wollen!" sagte der tapfere Mann. "Gunther wird jedenfalls Sieger bleiben, da wir unsere Waffen bei uns haben."
Doch Brünhilds Stärke zeigte sich nun deutlich. Man brachte einen schweren Stein für sie in den Ring. Der war groß und ungeschlacht, riesig und rund. Zwölf tapfere, starke Helden trugen ihn nur mit Mühe. Den pflegte sie immer dann zu schleudern, wenn sie ihren Speer geworfen hatte. Nun verloren Gunther, Hagen und Dankwart all ihr Selbstvertrauen. "Gnade uns Gott!" sagte Hagen. "Was hat der König nur für eine Liebste! Die sollte lieber in der Hölle die Braut des Satans sein!"
An ihren blendend weißen Armen krempelte sie die Ärmel auf, fasste dann mit kräftiger Hand den Schild und schwang den Speer hoch empor. Nun konnte der Kampf beginnen. Gunther fürchtete sich vor Brünhilds Feindschaft. Und wäre ihm Siegfried nicht zu Hilfe gekommen, dann hätte sie dem König das Leben genommen. Heimlich trat er zu ihm und berührte seine Hand. Doch Gunther erkannte Siegfried nicht, sondern erschrak: "Was hat mich da berührt?"
"Ich bin es, Siegfried, dein lieber Freund", beruhigte ihn Siegfried. "Du brauchst vor der Königin keine Angst zu haben. Gib den Schild aus deinen Händen und lass mich ihn tragen. Und achte genau auf das, was ich dir jetzt sage: Mach du die Bewegungen, ich werde die Taten verrichten."
Als Gunther Siefried an der Stimme erkannte, freute er sich sehr.
"Nun halte meine Zauberkünste geheim! Niemandem darfst du davon erzählen. Dann kann die Königin nicht den Ruhm erlangen, den sie sich von einem Sieg über dich erhofft. Sieh nur, wie sie ohne jede Angst vor dir steht!"
Und schon schleuderte die schöne Jungfrau ihren Speer mit aller Kraft gegen den neuen, großen und breiten Schild, den Siegfried in seinen Händen trug. Funken sprühte der Stahl, als ob der Wind sie empor wirbelte. Die Schneide des mächtigen Speeres drang durch den Schild hindurch, und beide Kämpfer, so kraftvoll sie auch waren, strauchelten von der Wucht des Schusses. Ja, wäre nicht der Tarnmantel gewesen, dann hätten sie beide ihr Leben lassen müssen! Dem tapferen Siegfried schoss das Blut aus dem Mund.
Doch sogleich sprang der kraftvolle Mann vor, nahm den Speer, den sie durch seinen Schild hindurch geschossen hatte und warf ihn auf sie zurück. Da er die schöne Jungfrau durch seinen Schuss nicht verletzten wollte, drehte er den Speer mit seiner Schneide nach hinten und traf mit dem Schaft so heftig auf ihre Rüstung, dass sie von dem Schuss laut erdröhnte. Siegfried hatte den Speer mit solcher Macht geworfen, dass Brünhild trotz all ihrer Kraft der Wucht des Anpralls nicht standhalten konnte. In der Tat, der König Gunther hätte einen solchen Wurf niemals vollführen können.
Die schöne Brünhild sprang schnell wieder auf: "Gunther, edler Ritter, für diesen Schuss danke ich dir!" Sie glaubte natürlich, er selbst hätte so kraftvoll geworfen; doch es war ein weit kräftigerer Held, der sie heimlich zu Fall gebracht hatte.
Wütend eilte jetzt die edle, mutige Jungfrau zum Stein, hob ihn empor, schleuderte ihn mit kraftvoller Hand weithin über das Feld und sprang dann noch hinter dem Wurf her, so dass ihre Rüstung laut erklirrte. Der Stein war über zwanzig Meter weit entfernt zur Erde gefallen, doch die schöne Jungfrau überholte den Wurf noch mit ihrem Sprung.
Nun ging Siegfried an die Stelle, an der der Stein lag, Gunther bewegte den Stein, aber es war Siegfried, der Held, der ihn warf. Siegfried warf den Stein nicht nur weiter, er übertraf auf noch Brünhilds Sprung. Infolge seiner magischen Künste hatte er überdies noch Kraft, im Sprung König Gunther mit sich zu tragen. Der Sprung war vollführt, der Stein lag nun am Boden. Da sah man niemand anders als Gunther, den Helden. Die schöne Brünhild wurde rot vor Zorn.
Siegfried hatten den König Gunther vor dem sicheren Tod bewahrt.
Als sie sah, dass der Held unversehrt am Ende des Ringes stand, da rief sie mit lauter Stimme ihrem Hofgesinde zu: "Ihr Verwandten und Gefolgsleute, kommt sogleich herbei! Ihr sollt jetzt alle dem König Gunther untertan sein."
Da legten die tapferen Helden die Waffen aus der Hand und viele kraftvolle Männer beugten vor Gunther, dem mächtigen König aus dem Burgundenlande, die Knie. Sie waren der Meinung, er hätte die Kampfspiele aus eigenen Kraft gewonnen,.
Huldvoll verneigte er sich vor Brünhild; ja, er hatte wirklich vorbildliche Manieren. Dann nahm die edle Jungfrau ihn bei der Hand und übergab ihm zur Freude des kühnen, tapferen Hagen ihre Herrschaft.
Brünhild lud den edlen Ritter ein, sie in ihren weiträumigen Palast zu begleiten. Als er der Einladung nachgekommen war, diente man ihm nur noch eifriger. Selbst Hagen und Dankwart freuten sich über diese Beflissenheit.
Siegfried hatte seinen Tarnmantel wieder ausgezogen und auf dem Schiff gut versteckt. In kluger Verstellung sagte er zu König Gunther: "Herr, worauf wartet Ihr denn noch? Warum beginnt Ihr nicht mit den vielen Wettkämpfen, die Euch die Königin auferlegt hat? Zeigt uns doch nun bald, wie die aussehen!"
Der kluge Siegfried tat, als ob er von nichts wüsste.
Da sagte die Königin: "Wie kann das angehen, Herr Siegfried, dass Ihr nichts von den Wettkämpfen bemerkt habt, die Gunther hier mit seiner eigenen Hand ausgeführt hat?"
Auf diese Frage antwortete ihr Hagen, der Held aus dem Burgundenland: "Herrin, als Ihr uns so auf die Folter gespannt habt und der König vom Rhein dann doch in den Wettkämpfen Sieger bleib, da war Siegfried, der treffliche Held, unten beim Schiff. Daher weiß er noch nichts von den Ereignissen."
"Welch freudige Botschaft!" sagte der Held Siegfried, "dass Eure stolze Selbstsicherheit endlich einmal zu Fall gebracht ist und jemand lebt, der Euch bezwingen kann. Nun wird Euch wohl nichts anderes übrig bleiben, edle Jungfrau, als uns von hier an den Rhein zu begleiten."
"Jetzt noch nicht!" sagte die schöne Jungfrau. "Meine Verwandten und Gefolgsleute müssen erst einmal vorfahren. Ich kann nicht so ohne weiteres mein Land verlassen."
Da ließ sie nach allen Richtungen hin Boten ausreiten und bat ihre Freunde, Verwandten und Gefolgsleute, unverzüglich nach Isenstein zu kommen. Tagaus, tagein kamen sie nun von morgens früh bis abends spät in Scharen zu Burg Brünhilds geritten.
"Teufel auch!" sagte Hagen, "worauf haben wir uns da eingelassen? Nur zu unserem eigenen Verderben warten wir hier auf die Leute der schönen Brünhild! Wenn sie sich nun mit ihrer ganzen Streitmacht hier versammelt, dann bringt uns die edle Jungfrau auf jeden Fall in eine beängstigende Lage."
"Das werde ich verhindern", sagte der starke Siegfried. "Ich werde in dieses Land Hilfe holen, hervorragende Helden, von denen Ihr noch niemals etwas gehört habt."
"Bleibt aber nicht zu lange fort!" sagte König Gunther. "Nicht dass uns etwas in Eurer Abwesenheit passiert!"
"In kurzer Zeit bin ich wieder da. Sagt Brünhild nur, Ihr selbst hättet mich in einer Mission fortgeschickt."
Siegfried fuhr aber mit dem Schiff in Windeseile zum Land der Nibelungen, wo sein großer Schatz verborgen lag. Siegfried hatte vor einiger Zeit den wunderbaren Schatz des verstorbenen Königs Nibelung erworben, als er von dessen Söhnen in ihrem Erbstreit um Rat gefragt worden war. Die Söhne waren mit Siegfrieds Teilungsvorschlag nicht zufrieden gewesen, waren deshalb auf ihn losgegangen und von ihm erschlagen worden. Vorausschauend hatte Siegfried im voraus von ihnen als Lohn für die Erbteilung das Schwert der Nibelungen, Balmung, verlangt, und genau damit hatte er sie und ihr riesisches Gefolge dann kurz darauf erschlagen. Dem Zwergen Alberich, der den Schatz in einem unsichtbar machenden Tarnmantel bewachte, konnte er diesen abnehmen und ihn dann fesseln. Alberich musste hinfort als Kämmerer den Hort für Siegfried bewachen.
Jetzt befahl Siegfried dem Zwergen Alberich dreitausend Gefolgsleute der Nibelungen zusammen zu rufen und sie mit Siegfried zurück nach Isenstein, in Brünhildes Reich, fahren zu lassen.
Als Brünhilde die dreitausend edlen Recken neben Siegfried sah, wusste sie, dass sie mit König Gunther ins Burgundenland reisen musste. Nachdem sie viele ihrer Schätze unter ihren Leuten verteilen ließ, und ihrem Onkel als Verwalter ihr Land anvertraut hatte, rüstete sie sich mit zweitausend Mann zur Abfahrt.
Sechsunandachtzig Damen und etwa hundert Mädchen von erlesener Schönheit nahm sie zu ihrer Bgeleitung mit. Die aber, die zu Hause bleiben mussten, vergossen heiße Tränen. Brünhild küsste ihre nächsten Verwandten zum Abschied und nach einem formgemäßen Abschied gelangten sie aufs hohe Meer. Nie wieder kehrte Frau Brünhild ins Land ihrer Väter zurück.

 

Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung. Übertragen von Helmut Brackert. Fischer Taschenbuch Verlag. Frankfurt a. Main 1992.
Für euch gekürzt und bearbeitet von
Rossipotti.

* * *

Rossipotti: Brünhilds Geschichte ist hier noch nicht zu Ende, allerdings ihre Zeit als Heldin. In Burgund versucht sie sich noch einmal gegen König Gunther zu behaupten, wird aber wieder durch Siegfrieds zauberische List entmachtet. Als sie später durch Kriemhild von der List erfährt, bleibt ihr als gebrochener Heldin am Ende nichts anderes übrig, als sich durch einen heimtückischen Mord an Siegfried zu rächen und sich selbst umzubringen.

 © Rossipotti No. 18, Juli 2008