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Salon Albert
"Wann geht es endlich los?" fragt ein Junge und tritt
ungeduldig mit dem Fuß an den Stuhl seines Vordermanns.
"Genau!", ruft auch ein kleines Mädchen, das sich
ganz nach vorne gesetzt hat. "Wenn die Qualle Albert nicht
bald kommt, gehe ich wieder!"
"Mir ist es so heiß", schreit ein blasses dunkelhaariges
Mädchen und wischt sich mit der Hand über die Stirn. "Kann
nicht mal jemand das Fenster öffnen?"
"Ja!" ruft ein anderer Junge mit einer Basecap auf dem
Kopf. "Hier ist es entsetzlich heiß!"
Palmina versucht das Fenster zu öffnen, aber es klemmt und
sie bekommt es nicht auf.
Plötzlich ist es allen furchtbar heiß.
Wo die Qualle nur bleibt?
"Ich habe eine Idee!" sagt das kleine Mädchen aus
der ersten Reihe. "Wir kühlen uns mit kalter Literatur
ab!"
"Pah!" meint das blasse Mädchen. "Was soll
das denn sein: Kalte Literatur?"
"So was gibt's nicht", sagt auch der ungeduldige Junge.
"Heiße Literatur gibt's auf jeden Fall", sagt Palmina.
"Meinst du etwa Liebesromane?" meint der Junge mit der
Basecap und verdreht die Augen.
Zwei Mädchen in der Ecke kichern.
"Bleib uns bloß damit vom Leib", sagt der ungeduldige
Junge. "Dann lieber Kriegsliteratur. Die ist auch heiß.
Zumindest was die ganzen Waffen und Bomben angeht."
"Wisst ihr, wie heiß eine Atombombe ist?" fragt
der Junge mit dem Basecap.
"Klar!" sagt der ungeduldige Junge. "Unermesslich!
Im Explosionszentrum hat die Atombombe mehrere Millionen Grad Celsius!
Wenn die auf dich fällt, bist du schneller verdampft als du
kucken kannst!"
"Ist die etwa heißer als ein Vulkan?" fragt Palmina.
"Viel heißer", sagt der Junge. "Die Glutströme
der Lava sind vielleicht nur 800 Grad heiß. Selbst die Hitze
des Erdinneren wird nur auf 4000 Grad Celsius geschätzt."
"Ich habe Durst!" meldet sich wieder das blasse Mädchen
zu Wort.
"Man müsste ein Bärtierchen sein", überlegt
Palmina. "Ich habe gelesen, dass Bärtierchen die größte
Hitze, den größten Druck, eine Menge Radioaktivität
und einfach alles aushalten. Die Tiere sind fast unsterblich!"
"Wir sind aber keine Bärtierchen", sagt das blasse
Mädchen. "Und ich komme fast um vor Durst!"
"Wir müssen über kalte Dinge reden", sagt Palmina.
"Über Eisbären, Kühlschränke, Tiefseefische
oder ..."
"Über kalte Literatur!" wiederholt das kleine Mädchen
ihren vorigen Gedanken.
Der ungeduldige Junge stöhnt.
"Wenn es keine kalte Literatur gibt, müssen wir uns eben
eine erfinden!" unterstützt Palmina das kleine Mädchen.
"Kalte Literatur müsste von kalten Gegenständen oder
Gegenden handeln ..."
"Oder kalten Menschen!" unterbricht das kleine Mädchen.
"Kennt ihr 'Das kalte Herz' von Wilhelm Hauff? Da verkauft
jemand dem Teufel sein Herz für Reichtum."
"Das ist doch altmodisch!" sagt der ungeduldige Junge.
"Den Teufel gibt es heute gar nicht mehr. Außerdem ist
der Teufel und seine Hölle eher heiß!"
"Menschen mit kalten Herzen gibt es immer!" verteidigt
sich das kleine Mädchen. "Und der Teufel ist doch nur
ein Synonym für das Böse. Und als solches ist er kalt
wie das Böse! Das Gute ist dagegen warm wie ein schlagendes
Herz!"
"Oder wie eine Bombe!" sagt der Junge mit der Basecap
sarkastisch.
"Ich will mich nicht über das Böse unterhalten",
sagt das blasse Mädchen. "Davon wird mein Mund nur noch
trockener. Gibt es nicht kalte Literatur, die einfach nur abkühlt?"
"Wir könnten doch eine Geschichte über einen Eisschrank
oder einen Roboter erfinden", sagt Palmina.
"Au ja!", sagt das blasse Mädchen. "Ich habe
auch schon eine Idee:
Es war einmal ein einsamer Menschen-Roboter.
Er saß auf einem Schrottplatz neben einer kaputten Mikrowelle
und einem Eisschrank. Er wusste nicht mehr, wie er hier hergekommen
war, weil er sicher schon über hundert Jahre hier saß,
und in dieser Zeit hatte er schon viele Geräte und Maschinen
kommen und gehen sehen ..."
"Wieso ist er denn so alt?" fragt der ungeduldige Junge.
"Weil er seit seiner Erfindung dort oben sitzt", erklärte
das blasse Mädchen. "Er ist einer der ersten Roboter und
sein Erfinder war mit ihm nicht zufrieden gewesen, weil er zwar
laufen und hüpfen, aber nicht sprechen konnte. Darum ist er
gleich auf dem Schrottplatz gelandet."
"Jetzt mache ich die Geschichte weiter", sagt Palmina:
"Wenn es den Roboter fror, wärmte
ihn die Mikrowelle, wenn es ihm zu heiß wurde, konnte er sich
an dem Eisschrank abkühlen. Doch obwohl es ihm relativ gut
ging, fühlte er, dass ihm irgendetwas fehlte. 'Ach!', dachte
er öfters, 'es muss eine Wärme geben, die wärmer
als eine Mikrowelle und kälter als ein Eisschrank ist. Wenn
ich doch nur ein einziges Mal den Schrottplatz verlassen und mich
hinter dem Zaun umsehen könnte!"
"Eines Tages hörte der Roboter
wie sich zwei Krähen, die auf einem alten Fernseher saßen,
unterhielten", fuhr das kleine Mädchen
fort. "Die eine Krähe sagte: 'Das Leben ist nicht
mehr das, was es einmal war. Die Welt ist zu einem kalten Schrottplatz
geworden. Überall werden Bäume abgeholzt und Maschinen
hingestellt. Die Luft ist von Kabeln, hohen Stahlmasten und gläsernen
Scheiben durchschnitten und neulich stürzte sich meine Nichte
beinahe zu Tode, als sie gegen eine dieser riesigen, motorisierten
Windräder prallte. 'Ja', meinte auch die andere Krähe
'du hast ganz recht! Die Welt ist kalt und unliebsam geworden. Die
Bauwerke und Maschinen der Menschen bestimmen unser Leben, wir selbst
haben keinen Platz mehr in der Natur, und umgekehrt ist uns die
Natur fremd geworden ... "
"Hört hört", mischte
sich da der Kühlschrank ein", erzählte
nun der Junge mit der Basecap die Geschichte weiter. "Ihr
Krähen versteht nichts von der Welt! Ihr vernebelt sie mit
eurem Geschwätz und erkennt die Realität nicht an. Die
Welt ist kalt und dieses Wissen müssen wir uns zunutze machen!
Das Eis, nicht Sommer und Sonnenschein, ist unser Lehrmeister!'
'Es stimmt, was der Kühlschrank sagt', meinte jetzt auch der
Fernseher. 'In meinem langen Leben habe ich die ganze Welt gesehen.
Wenn ihr im Leben etwas erreichen wollt, dürft ihr euch nicht
mit romantischen oder idealistischen Ideen aufhalten, sondern müsst
der harten, kalten Realität ins Auge sehen. Nur dann könnt
ihr sie mitgestalten und euch die Welt untertan machen! ..."
"Oh", platzt da plötzlich eine bekannte Stimme mitten
in die Geschichte. "Wie ich sehe, seid ihr schon dabei, das
'Lob der Kälte' zu singen!"
"Welches Lob der Kälte?" fragt der Junge mit dem
Basecap irritiert und drehte sich um.
Hinter ihm gluckert die Qualle Albert in ihrer Flasche und zwinkerte
ihm verschwörerisch zu.
"Auf den Gletschern der Moderne ein Leben auf eigene Faust
wagen", rezitiert Albert.
"Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst", sagt der
Junge.
"Ach so", sagt Albert ein wenig enttäuscht. "Ich
habe gedacht, du hättest die anderen schon in die Kälte-Gedanken
der Avantgarde der 1920er eingeweiht. Damals fand man es nämlich
chic, Kunst mit Kälte zu assoziieren. Kälte stand für
Erwachen aus überheizten bürgerlichen Stuben, für
Loslösung von Tradtionen, für Innovation, Klarheit und
Mobilität. Hitze oder Wärme dagegen für Verschlafenheit,
Schwärmerei und verworrenes Denken. Ein bekannter Autor und
Befürworter der Kälte war beispielsweise Bert Brecht."
"Brecht hatte also die gleiche Idee wie der Kühlschrank
in unserer Geschichte", überlegt das kleine Mädchen.
"Das ist doch verdreht", sagt das blasse Mädchen.
"Mit Kälte assoziiert man doch viel mehr Starre und Tod
als Mobilität und Innovation."
"Das kommt eben auf den Standpunkt der Betrachtung an",
antwortet Albert. "Hitze kann auch lähmend und erstickend
sein."
"Stimmt", sagt das blasse Mädchen. "Ich ersticke
gleich und das Fenster lässt sich nicht öffnen!"
"Dann habe ich ja genau das Richtige für euch mitgebracht:
Ein Stück kalte Literatur von Gao
Xingjian. Der Autor ist 1940 in China geboren, lebt aber
schon seit 1987 in Paris. Wegen der Hitze hier im Raum mache ich
jetzt aber lieber keine große Einleitung zu Gao
Xingjian, sondern lese euch lieber sofort einen Ausschnitt
aus der kalten Geschichte 'Auf dem Meer'
aus dem gleichnamigen Erzählband vor."
"Mir läuft schon das Wasser im Mund zusammen", sagt
das blasse Mädchen und schnappt nach Luft wie ein Fisch.
"Kann ich?" fragt Albert.
Alle nicken und freuen sich auf eine kühle Brise vom Meer.
"[...] Am frühen Morgen bei Ebbe
ist das Meer sehr still. Du drehtest dich um und schwammst auf dem
Rücken. Es war äußerst angenehm, nur ganz leicht
Hände und Füße bewegen zu müssen und den Körper
vom Wasser tragen zu lassen. Die Tiefe des Meeres lockte. Die Sonne
blendete die Augen und du blicktest mit blinzelnden Augen in den
azurblauen Himmel. Ein paar weiße Wolken schwebten in der
Luft und lösten sich vor deinen Augen wieder auf. Dein Körper
schaukelte in den Wellen des Meeres und du betrachtest den allmählichen
Auflösungsprozess der weißen Wolken. Du fühltest
dich außerordentlich wohl. Du bemerktest die extreme Tiefe
des blauen Himmels, der die weißen Wolken verschlang, und
dir fiel auf, dass er immer blauer wurde. Ganz am Ende wurde der
Himmel blaugrau und hatte dort wieder ungefähr die Farbe des
Meeres. Das Meer wiederum trug ein Blau, das ein wenig Grün
hindurchschimmern ließ, und war realer und kraftvoller in
der Weise wie es dich trug. Eine Welle kam angerollt und überspülte
dein Gesicht mit Meerwasser.
Du spucktest das salzige Meerwasser aus und verschlucktest dich
ein bisschen. Du drehtest dich um und bewegtest dich auf die Welle
zu, die sich glatt wie Seide aufrollte. Das Wasser reichte dir hier
ganz offensichtlich schon längst über den Kopf. Du hobst
deinen Kopf hoch, prustetest das Wasser aus und schautest um dich.
Die Frauen und Männer, die sich eben noch auf der seichten,
gelbtrüben Sandbank getummelt hatten, waren wieder ans Ufer
zurückgekehrt. Alles sah ganz winzig aus. Auch ihre fetten
Bäuche und Brüste konnte man gar nicht mehr genau erkennen.
Du spürtest den Wind über dem Meer, kühl und herzerfrischend.
Weiter vorne sahst du ein kleines Holzboot, hinter dem Boot schwammen
Markierungen von Schutznetzen gegen Haifische. Als du von einer
anrollenden Welle emporgehoben wurdest, hüpften diese schwarz-grauen
Markierungen auf der Wasseroberfläche auf und ab.
Die Welle schlug gegen das Seitenteil des Bootes. Das konnte man
ganz genau und klar hören. Der Wind schien die lärmenden
Stimmen vom weit entfernten Strand weggefegt zu haben, denn es ließ
sich nichts mehr vernehmen außer der weißen rollenden
Gischt der Meereswogen und dem hellen Klatschen des Wassers gegen
die Seitenwand des Bootes. Du schwammst etwas näher an die
mossbedeckte Schiffseite heran. Das Holzboot hatte immerhin die
aufgewühlte Meereswelle aufhalten können und war gar nicht
so klein.
Du tastetest den glitschigen Bootskörper ab. Am Bootsende hing
ein Stahlseil herab, daran hieltest du dich fest, um auszuruhen."
[...]
"Wahrscheinlich kommt jetzt gleich ein Hai und frisst dir
ein Bein ab!", sagt der ungeduldige Junge zu dem kleinen Mädchen.
"Wieso denn mir?" sagt das kleine Mädchen unberührt
zu dem Jungen. "'Du', nicht 'ich', bist doch gemeint!"
"Quatsch!" sagt das blasse Mädchen. "Jeder
von uns ist gemeint. 'Du' sagt der Autor zu uns. Und deshalb bin
ich mir auch ziemlich sicher, dass in dem Boot eine Leiche liegt!
Eine kalte Leiche, die uns zu Tode erschrecken soll."
"Das wäre viel zu einfach", meint Palmina. "Einfach
nur eine Leiche in die Geschichte zu packen und schon ist die Geschichte
kalt."
"Ach", sagt das blasse Mädchen schnippisch. "Und
wodurch wird die Geschichte deiner Meinung nach kalt?"
"Sie ist es doch bereits!" sagt Palmina überzeugt.
"Allein schon diese distanzierte Perspektive. Ein fremdes 'Du'
erlebt die ganze Geschichte. Und dieses 'Du' schwimmt dann auch
noch alleine im Meer und hält sich an einem verlassenen Boot
fest. Die ganze Geschichte handelt von Isolation, Einsamkeit und
der Abtrennung von anderen menschlichen Wesen. Sie ist so kalt,
dass ich auch ohne eine Leiche beinahe Gänsehaut bekomme."
"Das 'Du' befindet sich an einem Ort, wo es nicht einmal mehr
die Brüste der Frauen erkennen kann", wirft der Junge
mit dem Basecap dazwischen und lacht.
"Die Perspektive hat doch nichts mit Fremde und Isolation
zu tun", überhört das blasse Mädchen den Jungen.
"Im Gegenteil. Wenn ich die Perspektive ernst nehme, heißt
'Du' 'ich'! Gibt es etwas Näheres für mich als mich selbst?"
"Und wenn schon", argumentiert Palmina. "Selbst
wenn mit dem 'Du' jede Leserin und jeder Leser gemeint ist, dann
heißt das nichts anderes, als dass wir alle einsam und abgetrennt
auf dem Meer herumschwimmen!"
Das blasse Mädchen schaut die Qualle Albert fragend an. Offensichtlich
will sie von Albert eine Entscheidung darüber haben, ob Palmina
oder sie selbst in dem Punkt recht haben.
Aber die Qualle entzieht sich der Aufforderung, sieht statt dessen
den ungeduldigen Jungen direkt an und sagt:
"Sehen wir, wie die Geschichte weiter geht: Du hängst
also an dem Stahlseil. Plötzlich erschreckt dich ein merkwürdiges
Geräusch. Du befürchtest, dass es ein Seewolf ist, weil
sich das Aufheulen wie von einer wilden Bestie anhört ..."
"Sag ich doch!" sagt der ungeduldige Junge. "Haifisch
oder Seewolf - wo ist da der Unterschied?"
"Psst!" macht Albert und flüstert: "Obwohl
du nicht an Seewölfe glaubst, bist du dir nicht sicher, ob
es nicht vielleicht doch welche gibt. Du ziehst dich an dem Seil
nach oben und versuchst aus dieser etwas erhöhten Position
einen Überblick zu bekommen. Aber du siehst nichts. Die Wellen
kräuseln sich wie immer, kein Wesen weit und breit. Und plötzlich
packt dich die Angst. Die Angst vor dem Meer. Bevor du zurück
schwimmen willst, möchtest du dich aber erst beruhigen. Du
greifst nach dem Bootsrand und kletterst mit großer Anstrengung
in das Boot ..."
"Zur Leiche!" flüstert das blasse Mädchen aufgeregt.
"Psst!" sagt Albert nochmals. Dann schlägt er das
Buch auf und liest ein paar Seiten nach der vorigen Stelle weiter:
"Und er, dieser Kerl, lag alle viere
von sich gestreckt mit dem Gesicht nach oben am Bug des Bootes und
beobachtete dich, wie du plötzlich regungslos verharrtest.
Du setztest dich am Heck nieder und verschnauftest. Und er gegenüber
beobachtete dich auch noch dabei - nein, er sah über dich hinaus,
er beobachtete den Himmel. Du warst für ihn überhaupt
nicht anwesend. Ja, so ein Typ war das eben. Es gab natürlich
auch keine Veranlassung, ihn zu grüßen, sonst hattest
du ihn ja auch nie gegrüßt. Er stand auf, wippte ein
bisschen mit dem Schaukeln des Bootskörpers, drehte sich um,
spreizte die Beine auseinander, stellte sich an den Bug und stemmte
die Arme in die Hüften. [...]
Als du nun ebenso aufstandst, schaukelte das Boot so heftig, dass
du in der Hüfte abknicken und dich am Bootsrand abstützen
musstest. Dieser Kerl hatte schon gelernt, sich allein auf dem Boot
zu bewegen, und behielt das Gleichgewicht. Unwillkürlich empfands
du Bewunderung für ihn, Bewunderung für diese Arroganz
und diesen Blick seiner Augen, in dem Menschen keinen Platz hatten.
"Ah - ah - ah."
Der Wind trug seine Stimme wieder zurück. Dann hatte dieser
Kerl nur Stimmübungen gemacht, verdammt, das hätte man
sich ja denken können."
"Ah - ah."
Seine Stimme erlosch im Meereswind. Breitbeinig, die Hände
in die Hüften gestemmt, stand er frei am Bootsbug und war bis
auf seine eng am Hintern klebende Badehose schwarzgebrannt, wie
ein Schlammfisch.
"Ah - ah - ah."
Man könnte meinen, er sänge, doch traf er keinen Ton und
hatte auch keinen Text. Wissen die Götter, was er da sang -
er war schon wirklich ein komischer Kauz. Bestimmt hatte er Depressionen
und großen Kummer, wovon nur kein Mensch wusste, und konnte
all dies nur dem großen Meer mitteilen, aber mit keinem Menschen
darüber sprechen. Daher wolltest du ihn nun doch begrüßen
und mit ihm ein paar freundliche Worte wechseln. Er war bestimmt
schon sehr lange so depressiv und brauchte doch Kontakt zu irgendjemand.
"Hallo!", sprachst du ihn an.
Er stand am Bug, rührte sich nicht und starrte weiterhin konzentriert
auf das Meer.
"Ha - lo!" riefst du ihm mit lauter Stimme zu.
Er wandte sich um und schaute dich an. Gerade als du ihn ansprechen
wolltest, drehte er sich zurück und stand wieder unbewegt da.
[...]"
Albert klappt das Buch zu und sieht die Zuhörer
an.
"Du kannst jetzt doch nicht einfach aufhören!" ruft
Palmina empört. "Die Hauptsache kommt sicher erst noch!"
"Wer ist denn dieser Kerl aus dem Boot?" fragt das kleine
Mädchen. "Offensichtlich kennt das 'Du' den anderen schon."
"Stimmt", sagt Albert. "Die beiden sind Kollegen,
die vom Betrieb einen Urlaub bewilligt bekommen haben. Obwohl sie
zusammen arbeiten, haben sie in den vielen Jahren kaum ein Wort
miteinander gewechselt und begrüßen sich höchstens
mit einem Kopfnicken. Aber jetzt treffen sie sich plötzlich
abseits jeder Zivilisation in dem Boot und müssen miteinander
kommunizieren."
"Müssen sie gar nicht", sagt der Junge mit dem Basecap.
"Dieses 'Du' könnte doch einfach wieder ins Wasser springen
und ans Ufer zurückschwimmen."
"Stimmt", sagt Albert. "Aber irgendetwas hält
es an der Begegnung fest."
"Die Ignoranz des anderen", sagt Palmina. "Es ist
fasziniert von der Kälte des anderen."
"Reagiert denn der Kollege wirklich nicht auf den Gruß?"
fragt das kleine Mädchen.
"Ah - ah", macht die Qualle und verzieht ihren kleinen,
schmalen Mund zu einem breiten freundlichen Lächeln.
Die Kinder lachen. Sie haben Albert noch nie lächeln sehen
und es sieht irgendwie komisch aus.
"Ah - ah", macht Albert wieder und blickt geistesabwesend
durch das Glas seiner Flasche.
"Hallo Albert!" sagt der ungeduldige Junge. "Alles
o.k. mit dir?"
"Ah - ih - oh - eh - uh", singt Albert laut und falsch,
aber voller Inbrunst.
"Ha - lo, hallo", sagt Palmina und klopft an die Flasche.
"Ah - ih - ah - ha- ya."
Albert hört nicht auf zu singen. Er singt dem Wasser in seiner
Flasche ein Liedchen, den umstehenden Kindern, den Bäumen hinter
den Fensterscheiben.
Die Kinder folgen seinem Blick und sehen weit entfernt über
dem Baumwipfel im Himmel die Kondensstreifen eines Flugzeugs, winzig
wie ein kleines Spielzeug. Albert hebt beide Arme in die Höhe
und winkt ihm einen Gruß zu. Dazu singt er unmusikalische,
textlose Lieder.
Die Kinder sehen gebannt auf Albert und fragen sich, inwieweit Alberts
sonderbares Benehmen etwas mit der Geschichte zu tun haben könnte.
"Das ist der Funke, der die Geschichte erwärmt",
sagt Palmina plötzlich.
Die Kinder drehen sich zu ihr um und sehen sie fragend an.
"Findet ihr nicht, dass wir uns über die komischen Laute
Alberts mehr Gedanken machen, als wenn er uns weiter die Geschichte
vorlesen würde?"
Die Kinder nicken.
"Und genau das macht wahrscheinlich auch den Zauber der Begegnung
in der Geschichte aus", versucht Palmina zu erklären:
"Diese absurde, vorsprachliche Kommunikation zwischen den Kollegen
geht viel tiefer als es eine banale Erwiderung des Grußes
getan hätte!"
"Also handelt die Geschichte doch eher von Wärme und
Nähe als von Kälte und Distanz?" denkt das blasse
Mädchen laut.
"Warum liest uns Albert dann die Geschichte als ein Stück
'kalter Literatur' vor?" fragt der ungeduldige Junge.
"Weil der Autor Gao Xingjian seine Geschichten selbst so bezeichnet",
schaltet sich die Qualle Albert unvermittelt wieder in die Diskussion
ein.
Das Lächeln aus ihrem Gesicht ist ganz verschwunden und nichts
deutet darauf hin, dass sie sich in den letzten fünf Minuten
anders verhalten hätte als sonst.
"Er findet seine eigenen Texte kalt?" fragt das blasse
Mädchen verwundert. "Warum wärmt er sie dann nicht
ein bisschen auf?"
"Weil er mit Kälte nichts Schlechtes assoziiert",
erklärt Albert. "Ihn rettet die Kälte vor dem Ersticken
durch die Gesellschaft. Kalte Literatur ist für ihn eine Literatur
der Flucht, um sein Leben zu retten, eine selbstlose, eine nutzlose
Literatur. Eine warme, kuschlige Literatur dagegen, die den Markt
oder eine politische Stimmung bedient, ist ihm ein Greuel."
"Womit wir wieder bei der Isolation und der Abtrennung von
der Gesellschaft sind", sagt Palmina. "Und dem 'Du' das
ein fremdes ist."
"Ein 'Du', das eigentlich 'Ich' ist", korrigiert das
kleine Mädchen.
"Auf jeden Fall gibt es kein wärmendes 'Wir'!" sagt
Palmina.
"Jetzt verstehe ich gar nichts mehr!" sagt der ungeduldige
Junge. "Geht es Gao Xingjian jetzt um Nähe oder Distanz?
Und ist die Geschichte 'Auf dem Meer' heiß oder kalt?"
"Ah - Ah - ih - oh - eh - uh / Ah - ih - ah - ha- ya",
singt Albert zur Antwort und dreht sich auf die andere Seite.
Und damit ist der literarische Salon für dieses Mal offensichtlich
beendet!
* * *
Gao Xingjian: Auf dem Meer. In: Auf dem Meer.
Erzählungen. Aus dem Chinesischen von Natascha Vittinghoff.
Fischer Taschenbuch Verlag. Frankfurt am Main 2000.
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