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Rossipottis Leibspeise
und andere Lieblingsbücher

 

Rossipottis Leibspeise

Lieblingsbuch

vorgestellt von Helma Hörath

 

* * *

Die ganze Welt

"Lass uns über die ganze Welt reden!" sagt Rossipotti und sieht mich erwartungsvoll an.

'Wie das?' denke ich. 'Ist er größenwahnsinnig geworden? Und was will er ausgerechnet heute mit diesem Thema?'

"Wo sollen wir anfangen?" bohrt Rossipotti weiter. "In der Mitte, am Ende oder sogar am Anfang?"

Ich presse meine Lippen zusammen und sage kein Sterbenswörtchen. Die ganze Welt von Anfang bis Ende? Ich mache mich doch nicht lächerlich!

"Soll ich einen Arzt rufen?" fragt Rossipotti. "Du siehst nicht besonders gut aus."

Ich schüttle energisch den Kopf.

"Dann muss ich das Buch wohl alleine vorstellen", sagt Rossipotti und blättert in einem dicken, bunten quadratischen Bilderbuch.

Buch? Welches Buch? Ich schiele Rossipotti über die Schulter.
Die einzelnen Bilder in dem Buch kommen mir irgendwie bekannt vor. Ich sehe ein knallgelbes Kornfeld, eine fotografierte Straße und tuschegezeichnete Autos auf einer Landkarte, farbkopierte Gummischnuller und Kinderpassfotos.
Und plötzlich macht es 'Klick' in meinem Kopf. Natürlich! Rossipotti will gar nicht die ganze Welt vorstellen, sondern nur 'Die ganze Welt'!

"Das Buch ist viel zu bekannt", sage ich möglichst beiläufig. "Das kennen schon alle!"

"Umso besser", sagt Rossipotti. "Dann müssen wir nicht lange erklären, dass das Buch nur aus Bildern und Ausschnitten besteht."

"Trotzdem könnten wir auch eines der Nachfolge-Bücher nehmen", beharre ich. "Zum Beispiel das Gartenbuch von den beiden, oder eins von diesen neu erschienen Fragment-Bilderbüchern von der ... na, wie hieß sie doch gleich?"

"Mir egal", sagt Rossipotti. "Wir nehmen sowieso 'Die ganze Welt'! Erstens finde ich das Gartenbuch etwas langweilig. Und zweitens kann ich es nicht leiden, wenn andere Ideen klauen und dabei so tun, als wären sie selbst auch von allein darauf gekommen."

"Ich verstehe", sage ich. "Meine Meinung zählt hier wieder mal nichts!"

"Dass ich nicht lache!" grunzt Rossipotti. "Erinnerst du dich nicht mehr daran, dass du in den letzten drei Ausgaben die meisten Titel aussuchen durftest?"

"Bruchstückhaft", sage ich.
Tatsächlich erinnere ich mich nur an Titel, die ich nicht vorstellen durfte.

"Na also!", sagt Rossipotti zufrieden. "Dann lass uns jetzt endlich über 'Die ganze Welt' reden!"

"Von mir aus", lenke ich ein. "Reden wir also über die vielen bunt aneinander gereihten Bilder und Bildausschnitte in der 'Ganzen Welt'."

"Sieh mal!" sagt Rossipotti und zeigt auf das aufgeschlagene Buch.
Auf der einen Seite sehe ich ein dreifarbiges Knüpfbild, dessen Muster einen Computer und eine Tastatur darstellt, auf der anderen Seite eine schwarz-weiß Zeichnung von einer Maus. "Denkst du, dass die beiden Bilder assoziativ oder zufällig miteinander verknüpft sind?"

"Sicher nicht zufällig", sage ich. "Beim Computer ist die Assoziation 'Maus' nicht weit."

"Warum?" fragt Rossipotti. "Der Computer und die Maus sehen sich doch überhaupt nicht ähnlich! Glaubst du wirklich, dass die Macher des Buchs diese Bilder bewusst miteinander verknüpft haben? Oder bist es nicht viel mehr du als Betrachter, der die einzelnen Bilder miteinander verbindet?"

"Ist das denn wichtig?" frage ich.

"Nicht wirklich", gibt Rossipotti zu. "Denn egal wie das Buch entstanden ist, wir können auf jeden Fall feststellen: Du als Betrachter erträgst das Bruchstückhafte, Partikuläre nicht."

"Hm?"

"Es gelingt dir nicht, den Computer nur als Computer und die Maus nur als Maus wahrzunehmen", erklärt Rossipotti. "Bevor du es richtig bemerkst, hat dein Gehirn bereits die beiden Teile zusammen gefügt und einen Zusammenhang zwischen beiden hergestellt."

"Wie beruhigend", sage ich. "Die Vorstellung, einzelne Bilder oder Ausschnitte nicht einander zuordnen zu können, gefällt mir nämlich gar nicht."

"Das kommt dir jetzt nur so vor", sagt Rossipotti. "Aber wer weiß, auf welche sagenhafte Ideen du kommen würdest, wenn es dir gelingen würde, die einzelnen Dinge losgelöst von ihrem Kontext zu begreifen."

"Zu gar keinen", sage ich überzeugt. "Ich glaube nämlich nicht, dass wir dann noch miteinander kommunizieren könnten. Kommunikation ist ja nichts anderes, als Verbindungen herzustellen."

"Und was ist dann deiner Meinung nach die kommunikative Botschaft des Buchs?" fragt Rossipotti. "Sollen wir unser Augenmerk nun auf den Ausschnitt oder auf das Ganze richten?"

"Auf beides", versuche ich mich aus der Affäre zu ziehen, "Jeder Ausschnitt ist ganz, weil jeder Ausschnitt bereits in einem Zusammenhang steht und dieser Zusammenhang mitgedacht wird."

"So, so", sagt Rossipotti. "Und warum liefert uns das Buch dann nur Ausschnitte, wenn es insgeheim doch auf Ganzheit aus ist?"

"Weil einzelne Ausschnitte unsere Phantasie mehr anregen, als komplette Geschichten", sage ich.

"Wie klug du heute bist", sagt Rossipotti und grinst. "Nur schade, dass ich deine Ausführungen nicht verstehe. Ich kann nämlich partout keine Verbindung zwischen einem Computer und einer Maus herstellen!"

Katy Couprie/Antoine Louchardl: Die ganze Welt. Gerstenberg Verlag. Hildesheim 2001.

 

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Das kleine Museum

"Wenn es dir so schwer fällt, einzelne Dinge miteinander zu verbinden", nehme ich Rossipotti beim Wort, "könnten wir jetzt vielleicht das 'Kleine Museum' vorstellen. Da werden die Ausschnitte als Ausschnitte präsentiert und kein Mensch erwartet von dir eine assoziative Leistung."

"Das denkst auch nur du!" widerspricht Rossipotti. "Denn wenn ich unter dem Buchstaben 'A' ein Auge und unter 'F' einen einzelnen Finger sehe, überlege ich mir schon, ob die beiden Körperteile auf dem ursprünglichen, ganzen Bild zusammen gehören oder nicht. Außerdem kann ich sehr gut Zusammenhänge herstellen. Zum Beispiel den, dass du deshalb so schlau tust, weil du am liebsten meinen Posten übernehmen würdest!"

"Welchen Posten?" frage ich.

Rossipotti grunzt beleidigt.

Ich ziehe "Das kleine Museum" aus dem Regal und bemerke, dass es das gleiche Format wie "Die Ganze Welt" hat: etwa 15 cm lang und breit. Anscheinend das richtige Format, um Ausschnitte zu präsentieren. Die Harmonie des Quadrats im Kontrast zum unharmonischen Fragment.

"Du brauchst gar nicht zu meinen, dass du das Thema gepachtet hast. Nur weil du selbst schon zerlegt worden bist", unterbricht Rossipotti meine Betrachtungen. "Ich habe durchaus auch meine Erfahrung mit Fragmentierungen!"

"So?" frage ich neugierig. "Welche denn?"

Rossipotti sieht mich scheel an und sagt: "Das hat nichts mit Literatur zu tun, eher mit Biologie oder Medizin."

Ich habe so meinen Verdacht. Immerhin hat Rossipotti im brasilianischen Dschungel gelebt, bevor er hier her gekommen ist.

"Übrigens finde ich es erstaunlich", lenkt Rossipotti von seinen Erfahrungen ab, "dass in dem 'Kleinen Museum' wie in der 'Ganzen Welt' auch nur Bildausschnitte gezeigt werde, und trotzdem verfolgt es damit eine ganz andere Absicht."

"Stimmt", sage ich. "Es ist einfach nur ein schönes ABC-Bilderbuch, das Kindern über Bild-Ausschnitte Gemälde aus vielen Jahrhunderten näher bringen möchte."

"Ja", sagt Rossipotti und fährt fort: "Aber wie haben es die Macher des Buchs geschafft, dass die Ausschnitte untereinander nicht kommunizieren? Wenn ich zum Beispiel unter 'G' einen Gärtner sehe und auf der nächsten Seite einen Gesichtsausschnitt und wiederum danach eine nubische Giraffe, dann stehen die Bilder in meinem Kopf unvermittelt nebeneinander, ohne dass ich gleich eine Geschichte dazu entwickle. Wie ist das nur möglich?"

"Also ist es doch wichtig, ob die Macher eines Buchs die Ausschnitte assoziativ oder zufällig aneinanderreihen", nehme ich Rossipottis Gedanken von vorhin auf. "In der 'Ganzen Welt' haben Louchard und Couprie die Assoziationsketten schon vorgegeben und wir nehmen als Betrachter daran teil. Im Museumsbuch dagegen stehen die Ausschnitte nur wegen ihres Anfangsbuchstabens nebeneinander, also eher zufällig. Deshalb überlegen wir uns zwar, wie der Rest des Bildes aussehen könnte, aber nicht, wie die einzelnen Bilder untereinander verknüpft sein könnten."

"Wie beruhigend", sagt Rossipotti. "Stell dir vor, unser Verstand würde zwangsläufig alles miteinander verbinden! Was für ein komisches Konglomerat an merkwürdigen Verbindungen wir dann im Kopf hätten!"

"Das kommt dir jetzt nur so vor!" sage ich. "Aber wer weiß, auf welche sagenhafte Ideen wir kommen könnten, wenn wir zu allem immer eine Verbindung herstellen könnten!"

"Zu gar keinen", sagt Rossipotti überzeugt. "Ich glaube nämlich nicht, dass wir die einzelnen Dinge dann überhaupt noch erkennen könnten. Erkennen ist ja nichts anderes, als sich von den Dingen zu distanzieren und sie untereinander zu trennen und zu sortieren."

"Ähh", stutze ich plötzlich. "Irgendwie kommt mir dieser Gesprächsausschnitt so bekannt vor ... Haben wir diese Diskussion nicht schon vorhin geführt?"

"Nur mit anderen Vorzeichen", sagt Rossipotti. "Und wenn mich nicht alles täuscht, musst du jetzt zu mir sagen, dass ich heute unheimlich klug bin!"

"Ja wirklich", sage ich. "Nur schade, dass ich dich nicht verstehe, weil ich nicht weiß, wo du aufhörst und ich anfange!"

Alain Le Saux und Grégoire Solotareff (Bildauswahl): Das kleine Museum. Moritz Verlag. Frankfurt 1999.

 

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Die Elefantenwahrheit

"Wenn wir nicht aufpassen, streiten wir uns bald wie die blinden Wissenschaftler in Martin Baltscheits Buch 'Die Elefantenwahrheit'", sagt Rossipotti. "Ich begreife die Dinge vom Rüssel her und du vom Schwanz!"

"Das ist wieder mal typisch!" sage ich, "mir bleibt nur der Schwanz übrig!"

"Was hast du denn gegen Schwänze?" fragt Rossipotti und klappt sein Maul auf.

"Nichts!" sage ich wütend. "Ich habe gar nichts gegen Schwänze! Aber ich habe etwas dagegen, dass du dir immer die Sahne vom Kuchen nimmst und für mich nur die Krümel übrig bleiben!"

"Welche Sahne und welche Krümel?" fragt Rossipotti. "Ich rede von Rüssel und Schwanz!"

Ich rudere wild mit meinen Flossen. Bloß weg von hier! Rossipotti steht mir immer in der Sonne.

"Dann nehme ich eben den Schwanz!" sagt Rossipotti versöhnlich. Offensichtlich will er den Laden doch nicht alleine schmeißen. "Und du darfst dir aussuchen, ob du den Rüssel, die Ohren, das Bein oder den Rücken haben willst!"

"Ich nehme natürlich den Elefanten!" sage ich. "Was soll ich mit einem Rüssel oder einem Ohr?"

"Sehr schön", sagt Rossipotti. "Du spielst den Elefanten und ich alle fünf verbiesterten blinden Wissenschaftler zusammen."

Rossipotti setzt sich eine dunkle Sonnenbrille auf.

"Bist du soweit?" frage ich.

Rossipotti nickt. Er tapst mit seiner Brille durch den Raum und stolpert über mehrere Bücher.

"Wo bist du?" fragt er mit ausgestreckten Händen.

"Hier!"

Rossipotti kommt auf mich zu und greift mit der einen Hand nach mir.

"Was ist denn das?" fragt er. "Ich spüre einen Kaktus!"

Ich stöhne. Rossipotti hat mir beinahe eine Gräte ausgerissen!

"Auf dem Kaktus sitzt offensichtlich eine geschälte Litschi!" sagt Rossipotti und drückt mir seine Pranke ins Gesicht. "Und hier seitlich hast du so ein glitschiges, knittriges Papier kleben!"

"Jetzt reicht es mir aber!" sage ich. "Ich dachte, du wolltest Baltscheits 'Elefantenwahrheit' nachspielen."

"Tu ich doch gerade", sagt Rossipotti. "Ich bin erstaunt, welche Erkenntnisse mir das Spiel liefert."

"Aber in dem Buch tasten die Wissenschaftler doch einen Elefanten ab!", sage ich, "und halten den Schwanz für eine Klobürste und den Rüssel für einen Feuerwehrschlauch!"

"Na und?" sagt Rossipotti. "Es kommt doch nur auf das Ergebnis an. Und das heißt, dass man noch lange kein Elefant ist, bloß weil man die Einzelteile zusammen zählt!"

"Sondern ein Fisch!", sage ich überzeugt.

"Falsch!" sagt Rossiotti. "Ein mutierter Kaktus, an dem ein Taschentuch hängen geblieben ist."

"Weißt du was?" sage ich, "In dem Fall nehme ich doch lieber den Schwanz und du spielst den Elefanten!"

Martin Baltscheit: Die Elefantenwahrheit. Mit Illustrationen von Christoph Mett und Musik von Peter Riese (auf beigefügter CD). Kinderbuchverlag Wolff. Bad Soden am Taunus 2006.

* * *

Schwester

Ich sehe auf den Boden und seufze. Seit neuestem macht sich Rossipotti nicht einmal mehr die Mühe, die angefangenen Bücher zu stapeln, sondern verstreut sie auf dem ganzen Boden. Der Bücherteppich zieht sich schon beinahe bis zur Tür.

"Wenn du die Bücher nicht bald zu Ende isst oder aufräumst, haben wir bald keinen Platz mehr", sage ich.

"Du hast Recht", sagt Rossipotti. "Aber die Seite 20 ist in letzter Zeit wie verhext."

"Welche Seite 20?" frage ich verwundert.

"Na alle Seiten 20!" sagt Rossipotti. "Ich schaffe fast kein Buch mehr länger als die Seite 20 zu lesen."

"Vielleicht liegt es gar nicht an der Seite 20", sage ich. "Vielleicht findest du die Seiten davor so langweilig, dass du nicht weiter als Seite 19 kommst?"

"Daran mag ich gar nicht denken", sagt Rossipotti. "Stell dir die Schlagzeile vor: Literatur-Krokodil hat Geschmack an Büchern verloren! Ich wäre von einem Tag auf den anderen ruiniert. Nein, nein, es muss an der verhexten 20 liegen!"

"Dann reiß die Seite 20 doch einfach aus", schlage ich vor.

"Habe ich schon probiert!" wimmert Rossipotti. "Aber dann geht der Zauber auf die 21 über."

Dazu fällt mir nichts ein.

"Aber weißt du, was das Schlimmste daran ist?" fährt Rossipotti fort. "Dass ich lauter Anfänge von Geschichten im Kopf habe und nicht weiß, wie sie weiter gehen! Zum Beispiel die Geschichte von einem Hut, in den jemand Eierschalen legt, oder von einem Bären in Sizilien, der seinen Sohn verloren hat, oder von einem Jungen, dessen Eltern eine Zeitreise machen ... "

"Hast du in den letzten Monaten denn kein einziges Buch zu Ende gelesen?" frage ich ehrlich erstaunt.

"Doch", sagt Rossipotti. "Ein Buch habe ich tatsächlich von vorne bis hinten gelesen. Es war so spannend, dass ich die Seite 20 völlig vergessen hatte!"

"War das zufällig 'Mord in Kanton'?"

"Wie kommst du denn darauf?" Rossipotti sieht mich befremdlich an. "Nein, das war 'Schwester' von Jon Fosse!"

"Prima", sage ich. "Der fragmentierte Blick des kleinen Jungen passt wie geschmiert zu unserem Thema. Lass uns dieses Buch vorstellen. "

"Geht es dir nur um den Blick oder hat es dir auch gefallen?" fragt Rossipotti.

"Beides!" sage ich. "Vor allem habe ich zum ersten Mal verstanden, warum Menschenkinder immer so viel Scherereien mit ihren Eltern haben. Ihr Wahrnehmungssystem funktioniert einfach noch anders als das von Erwachsenen. Bei uns Fischen ist das übrigens nicht so. Wir haben schon als Kaviar den gleichen Blick auf die Dinge wie als ausgewachsene Fische."

"Da wird mir manches klarer", sagt Rossipotti. "Trotzdem habe ich den Eindruck, dass das Buch bei dir gut aufgehoben ist. Wie wäre es, wenn du es vorstellst, während ich ein paar Bücher aufräume?"

Dagegen habe ich nichts einzuwenden. Obwohl, einfach ist es nicht, das Buch vorzustellen. Man muss ziemlich aufpassen, es mit seinen Worten nicht kaputt zu trampeln. Denn in Fosses 'Schwester' spielen Worte hauptsächlich eine zerstörerische Rolle. Sie versperren den Blick des vierjährigen Jungen auf das Wesentliche, den Augenblick, das kurze Glück im Morgengrauen zwischen langen Grashalmen und Wolkenfäden. Von der Mutter ausgesprochen, verbieten sie dem Jungen, im Schlafanzug zum Ufer zu gehen oder vor dem schrecklichen, stinkenden Grasmäher auf die Straße zu fliehen. Und je mehr die Mutter versucht, ihn mit Worten zu drohen, umso weniger versteht er deren Bedeutung und umso mehr schrumpft seine von ihm wahrgenommene Umgebung auf noch kleinere Ausschnitte zusammen ... Doch zum Glück gibt es da noch die ein Jahre jüngere Schwester. Denn "Schwester" klingt gut und lässt ihn hoffen, nicht ganz so allein zu sein, wie ihn die Erwachsenen glauben lassen.

Jon Fosse: Schwester. Deutsch von Hinrich Schmidt-Henkel. Bajazzo Verlag. Zürich 2006.

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Unser Haus

Rossipotti sitzt auf seinem roten Sofa und überlegt, ob er lieber in ein Wimmelbilderbuch oder in eine Sprüchesammlung hinein beißen soll.
Palmina streckt ihren Kopf durch die Tür und sagt, dass sie endlich das fehlende Puzzleteil gefunden hat, auf dem der Name unseres Gastes steht: Flavina.
Die Qualle Albert schickt mir eine SMS-Botschaft: Tagebuchnotizen von Jochen Schmidt in Atomschutzbunker entdeckt.
Die Kulturtasche frischt gerade ihr Make up auf und Pudding Wackel versucht seit heute morgen wieder richtig in Form zu kommen.
Alles in allem ist es bei uns also richtig gemütlich.
Zeit, zum Entspannen und sich zu fragen, was andere Leute eigentlich so treiben. Da ich mein Fernglas an Rollo verliehen habe und meine Internet-Verbindung heute sehr langsam ist, schlage ich Antje von Stemms Klapp-Bilderbuch "Unser Haus" auf. Da habe ich gleich sechs Wohneinheiten auf einen Blick neben- und untereinander und kann den Hausbewohnern sogar einzeln einen ganzen Tag lang in ihre verschiedene Zimmer folgen. Zum Beispiel kann ich bei den streitenden Kindern vorbeischauen, oder bei dem auf einem Spielzeugauto ausrutschenden Mann, der eine Geburtstagstorte in der Hand hält. Oder dem Designer-Ehepärchen im Erdgeschoss, die ein wenig gelangweilt durch den Tag gehen, einen Besuch abstatten. Die schreiende Frau mit Turban, die vor einer Maus Angst hat, lass ich mal links liegen, zu klischeehaft ...
Aber oh, was sehe ich denn in der Wohnung nebenan? Ausgerechnet die ist bei dem Kindergeburtstag eingeladen? Das hätte ich ja nicht gedacht, mal sehen, was sie dem Kind als Geschenk mitgebracht hat ...
Am Schluss habe ich mir doch alle Wohnungen angesehen. Die Frau mit Turban war eine Opernsängerin, und in der WG wohte ein Typ, der das ganze Zimmer voller Pflanzen hat.
Am besten hat es mir aber beim Kapitän im obersten Stock links gefallen. In seiner Wohnung steht ein Schiff und in seiner Badewanne schwimmt eine echte Wassernixe! Ich glaube, bei dem schaue ich gleich mal vorbei!
Tschüß! Und viele Grüße an Rossipotti!

Antje von Stemm: Unser Haus. cbj Verlagsgruppe Randomhouse. München 2005.

 

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Lieblingsbuch

vorgestellt von Helma Hörath

Fragmentarisch ...

... wird diesmal mein Lesetipp sein und bleiben. Aber vielleicht - oder ganz sicher - ist er es eigentlich immer. Denn fragmentarisch ist abgeleitet von dem Hauptwort Fragment. Dieses wiederum taucht im 16. Jahrhundert zum ersten Mal in der deutschen Sprache auf und ist abgeleitet von dem Lateinischen frangere = brechen. Ein "fragmentum" oder Fragment ist also ein Bruchstü ck, ein Überrest, etwas Unvollendetes, ein Stückchen von einem großen Ganzen.

So sind die Bücher, die ich für dich gelesen haben, immer nur Einzelstücke aus einer Reihe von zahlreichen ähnlichen Büchern, die sich gerade mit dem ausgesuchten Thema beschäftigen. Wollte ich ein Gesamtbild dieser Bücherwelt zeichnen, müsste ich zu allen etwas sagen. Und sicherlich merkst du, dass das ein Auftrag wäre, den wohl niemand erfüllen könnte. Denn meist wird solch eine Aufgabe nicht nur vom Thema, sondern auch von der Bearbeitungszeit und von dem Platz für einen Artikel in einer Zeitung, in einer Rubrik bei Rossipotti bestimmt. Der Mensch ist auch nur in der Lage, eine bestimmte Anzahl von Tagesstunden wach zu bleiben, dann muss er - ob er will oder nicht - dann muss er schlafen. Ansonsten wird er krank. Also, ein fragmentarisches Arbeiten ist eine wichtige Methode, um eine Auswahl zu treffen und sich so ein Thema zu erschließen.

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Gedankenspiele

Aber auch die Kenntnisse der Menschheit von der Welt sind immer nur Fragmente. Dabei spielen Fragen zu allem, was den Menschen umgibt, was auch in deiner Nähe abläuft, eine ganz wichtige Rolle. Wie man sich fragend mit dem Leben beschäftigen kann, das zeigt dir die schwedische Philosophin Liza Haglund in ihrem Buch "Gedankenspiele, Philosophie für Kinder". Philosophieren heißt, über etwas nachzudenken. Fragen zu stellen und den Dingen auf den Grund zu gehen. Nichts als gegeben hinzunehmen. Innezuhalten und noch einmal nachzudenken. Liza Haglund beschäftigt sich mit der Sprache und den Wörtern, mit der Gerechtigkeit, mit der Wahrheit, mit Schein oder Wirklichkeit, mit der Moral, mit dem Sinn des Lebens, mit der Zeit und dem Universum ...

Hoffentlich habe ich dich mit dieser Aufzählung nicht abgeschreckt. Es ist kein Schulbuch. Und doch ist es ein Lehrbuch. Dieses Buch zeigt Fragen auf, gibt Antworten, aber lässt auch viel Raum, eigene Gedanken durchzuspielen, eigene Antworten zu finden und sich mit Freunden und in der Familie mit diesen Lebensfragen zu beschäftigen. Locker und leicht geschrieben, ist es trotzdem inhaltsreich und interessant. Viele anschauliche Beispiele gestatten es dir, spielend und ohne große Anstrengung aus deiner alltäglichen Umwelt in den Kosmos der philosophischen Gedankenwelt zu springen. Übrigens, Denken ist anstrengend, macht aber auch viel Spaß. Gemeinsam denken ist nicht so anstrengend, macht aber noch viel mehr Spaß .

Liza Haglund: Gedanken-Spiele. Philosophie für Kinder. Aus dem Schwedischen von Knut Krüger, illustriert von Don-Oliver Matthies. Omnibus-Verlag. München 2007.

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Zeitdetektive

Der Begriff der Zeit ist so ein Fragment-Begriff. Das, was uns die Zeit bringen wird, das wissen wir nicht. Das, was vor unserer Lebenszeit war, kennen wir nur aus Erzählungen unserer Eltern und Großeltern, die das berichten, was sie wiederum erlebt, gelernt und von ihren Eltern erfahren haben. Dann sind da natürlich auch Bücher, alte und neue. Aber auch dort wird immer nur ein Steinchen aus dem großen Mosaikbild geboten. Und mit jedem Steinchen, das wir finden und in die richtige Stelle des Bildes einsetzen, erschließen sich uns neue Einblicke und so immer mehr Erkenntnisse. Wir erkennen weitere Bilder, die uns vorher verschlossen waren und deren Ausmaße wir mitbestimmen. Auch du und ich, wir hinterlassen Ein-drücke in diesem Weltenbild.

Ach, nun bin ich schon wieder beim Philosophieren und eigentlich wollte ich dir doch das nächste Buch vorstellen. In ihm sind die Zeitdetektive Julian, Kim und Leon auf der Spur der Wikinger. Nur an einer ganz bestimmten und nur wenigen Menschen bekannten Stelle in der Bibliothek des Benediktinerklosters St. Bartholomäus gibt es die Möglichkeit, in jede Zeitebene der menschlichen Geschichte einzusteigen. Diesmal haben sich die drei Kinder für die Wikinger entschieden, denn sie müssen über diese Geschichtsepoche einen Aufsatz schreiben und bemerken, dass sie eigentlich nicht genug über dieses Volk wissen, um auch nur etwas aufs Papier zu bringen.

Im Buch wird nicht nur das Leben der Wikinger beleuchtet, sondern es ist ein spannender Krimi aus der Zeit der Krieger auf den Drachenbooten.

Dieser Titel ist das siebente Buch aus der Reihe "Die Zeitdetektive". In dieser Reihe findest u.a. auch eine spannende Reise zu den Pharaonen, in das Rom des Jahres 80 nach Christus und an das Grab des großen Mongolenführers Dschingis Khan.

Fabian Lenk: Die Zeitdetektive. Der Schatz der Wikinger. Illustriert von Almud Kunert. Ravensburger. Ravensburg 2006.

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Lea & Luca - Das Tor zur Wahrheit

Wahrheit ist schon wieder so ein philosophischer Begriff. Jahrhundertelang suchten Wissenschaftler vergeblich nach der absoluten Wahrheit. Was ist Wahrheit?

Eine Antwort auf diese Frage suchen Lea und Luca, zuerst getrennt und in unterschiedlichen Welten, dann gemeinsam auf der sagenumwobenen Insel, die mit einem Fluch belegt ist. In Yleumonia, in der diese Geschichte überwiegend spielt, mischen sich Ist-Welt und Ander-Welt, Realität und Fantastik, Alltagsleben und Traum.
Lea und Luca haben ihre Probleme. Sie werden von Gleichaltrigen und fremden Erwachsenen abgelehnt, was sie unter anderem auf ihre unterschiedlich farbigen Augen zurückführen. Sie sind etwas Besonderes und mit magischen Kräften ausgerüstet, um die Drachenritter zu besiegen. Zu dieser Erkenntnis kommen sie aber erst nach einem langen Weg. Dabei müssen sie lernen, ihre übersinnlichen Fähigkeiten auszubilden, ihre Kräfte richtig einzusetzen, falsche von echten Freunden zu unterscheiden und mutig den dunkelsten Verlockungen zu widerstehen. Mehr von dem abenteuerlichen Inhalt will ich gar nicht verraten. Du musst das alleine lesen.

Diese Geschichte ist nur ein Fragment, unvollendet, denn es gibt nur den ersten Band. Noch immer warten alle, denen das Buch gefallen hat, auf die Fortsetzung. Unter ihnen bin auch ich. Überall, wo ich eine Minuten warten musste, holte ich das Buch heraus und las. Es ist so spannend, dass ich manche Seiten und Kapitel überblätterte, um endlich den Schluss zu erfahren. Dieser aber bleibt offen. Vielleicht wollte Martin Grothe, der Autor, das gerade, um die Leser zur eigenen Fantasie anzuregen. Ich jedenfalls beginne gerade wieder mit dem Buch, um jetzt endlich Seite für Seite zu lesen. Und vielleicht habe ich dann Glück und der zweite Band erscheint gerade. Und wenn nicht, dann träumen wir beide uns gemeinsam einen Schluss dieser Geschichte, der den Anfang zu einer neuen Geschichte bildet.

Das wünscht sich Helma

Martin Grothe: Lea & Luca - Das Tor zur Wahrheit - Band 1: Der Fluch der sagenumwobenen Insel. Illustrationen von Angelika Schimmack. Frieling Verlag. Berlin 2006.

 

 
 © Rossipotti No. 15, Mai 2007