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Kulturtasche
Interview mit Henry Koch, Komponist und
Gründer eines Fragmente-Salons
Vita
Henry Koch, geboren 1960 in Dresden,
studierte Komposition und war von 1986-1990 im Dresdner Zentrum
für zeitgenössische Musik tätig. Danach war er
freischaffend in London, Rotterdam und Berlin tätig. Er
komponiert für Solo-Instrumente und Orchester und ist an
Gemeinschaftsproduktionen mit Tänzern, Theater, Performances
beteiligt. Seit 1998 lebt und arbeitet Henry Koch in Berlin.
2006 hat er mit Freunden zusammen einen Fragmente-Salon gegründet.
Fotos: Rossipotti
Kulturtasche: Henry, vor einem Jahr hast
du zusammen mit Freunden und Bekannten einen "Fragmente-Salon"
gegründet, in dem ihr euch gegenseitig bruchstückhafte
Filme, Musikstücke und Textbeiträge zeigt. Wie seid ihr
dazu gekommen?
Die Idee dazu ist eigentlich nach einer Kurzfilmnacht entstanden.
Wir hatten da eine sehr schöne Kurzfilmnacht mit fünfzehn
kurzen Filmen. Da haben wir gedacht, wir könnten mal wieder
etwas zusammen machen. Und da jeder Sachen hat, die er nicht fertig
gekriegt oder in der Schublade liegen hat, oder bei denen er nicht
genau weiß, ob er sie überhaupt weiter machen möchte,
haben wir uns überlegt, dass wir uns diese Dinge eigentlich
mal gegenseitig zeigen könnten. Also wie nennt man solche Werke?
Nennen wir es mal Fragmente. Man hätte das natürlich auch
"Ausschnitte" oder "Unfertiges" nennen können,
aber wir haben uns für "Fragmente" entschieden. Und
dann haben wir Fragmente genau so definiert, dass die Objekte oder
Beiträge sich dadurch auszeichnen, dass sie eben nicht vollständig
sind.
Bevor ein Salon-Abend stattfindet, müssen dir die Teilnehmer ihre fragmentarischen Beiträge schicken. Bedeutet das, dass ihr euch vor Beiträgen nicht retten könnt?
Nein,
es ist genau umgekehrt. Beim ersten Mal hatten wir zu wenige Beiträge.
Die Kriterien, die wir angelegt haben, haben höchstens bewirkt,
dass sich einige Leute gar nicht getraut haben uns etwas zu schicken.
Und beim zweiten Mal habe ich die Beiträge deshalb vorher haben
wollen, um zu sehen, wie viel überhaupt reinkommt, damit ich
den Abend besser organisieren konnte. Es war etwas aufwändig,
die Leute zu mobilisieren und dann hatte ich Bedenken, einzelne
Beiträge, die nicht unseren Kriterien eines Fragments entsprachen,
wieder auszuladen und das Ganze wurde dann mehr zur offenen Bühne.
Wir hatten dann ungefähr fünfzehn Leute und anderthalb
Stunden Beiträge. Die einzelnen Beiträge waren also im
Schnitt ca. 10 Minuten lang.
Warum zeigt ihr euch eigentlich nicht fertige Werke? Es gibt doch auch viele fertigen Dinge, die in der Schublade liegen. Was war für euch der Reiz am Fragment?
Der Grund, Fragmente zu nehmen, war eigentlich der, dass es mitunter
ganz unerwartete Impulse gibt, um diese Sachen dann fertig zu machen.
Außerdem hat das nicht so etwas von: "Ich präsentiere
jetzt mein fertiges Werk", sondern man stellt einen Teil seiner
Arbeit vor. Das Anliegen ist, dass die Leute in Austausch miteinander
kommen. Einer braucht zum Beispiel noch eine Musik für sein
Lied, für das er nur den Text hat. Und es geht darum, einen
Einblick in die Arbeit des anderen zu kriegen.
Der Reiz am fragmentarischen Beitrag ist, glaube ich, dass er sich ehrlicher oder nackter präsentieren muss. Man kann sich dann schlechter hinter der Form oder dem, was ein fertiges Werk ausmacht, verstecken. Man kommt wirklich mit seinen Teilen an, die vielleicht auch noch gar keinen großen Sinn ergeben, präsentiert sie aber schon mal.
Das Unvollständige also als Mittel, um miteinander ins Gespräch zu kommen ... weil man an etwas Unfertiges besser andocken kann, es einen einbezieht in den Akt der Entstehung und einlädt zum Mitphantasieren?
Ja,
das kann man so sagen. Ich glaube, der spezielle Reiz am Fragment
ist auch der, dass der Teil für eine größere Geschichte
steht. Das hat wieder etwas mit sehen und verstecken zu tun.
Mir selber gefällt das Fragmentarische einfach gut. Ich komme
jetzt mal mit dem Beispiel aus der Musik. Es gibt zum Beispiel eine
ganze Menge Platten, Gruppen und Titel, die sind schon alle irgendwie
ziemlich klasse. Aber dann gibt es auf bestimmten Platten so ganz
kleine, kurze Stücke, die sind dann wie eingestreut, zehn Sekunden
lang. Da kommt noch mal was wie aus einer ganz anderen Welt. Aber
das kommt nicht so "hier bin ich!", sondern so "hey,
weg bin ich wieder!" Das nimmt einen mit und öffnet so
Räume, die man nur ahnen kann, aber in die man sich nicht wirklich
begeben kann.
Du bist selbst auch Komponist. Werden in der modernen Musik
nicht häufig nur noch Fragmente komponiert und der Musiker
muss sie dann selbst zu einem Ganzen zusammenfügen?
Da gibt es eigentlich zwei Trends. Der eine ist, dass der Komponist sich hinsetzt und alles ganz genau vorgibt, so dass der Musiker eine genaue Anweisung hat, was er zu spielen hat und was nicht. Das ist zum Beispiel bei Symphonieorchestern so. Dann ist die Notation ungenau. Im Laufe der Zeit ist die Notation aber immer präziser geworden. Das liegt daran, dass die technischen Möglichkeiten immer komplexer werden.
Umgekehrt
gibt es aber auch den Trend, dass man die Notation stark reduziert
und dadurch den Spielern mehr Freiheit gibt. Dann kann es natürlich
sein, dass das Stück sich anders anhört, als es sich der
Komponist selbst vorgestellt hat.
Bei meinem ersten Stück, das ich für klassische Instrumente
und klassisches Orchester geschrieben habe, habe ich bemerkt, dass
sich das Stück zwar genauso anhört, wie ich es geschrieben
habe, aber ganz anders, als ich es mir vorgestellt habe ...
Diese fragmentarische oder reduzierte Notation nennt man übrigens
"graphische Notation". Da ging es darum, dass man mit
musikalischen Bildern aus der musikalischen Symbolik andere Bilder
geschaffen hat, die dann wiederum Assoziationen bei den Musikern
auslösen und ihnen ein großes Maß an Freiheit geben
sollten. Das war eine Zeit lang wie ein eigene Richtung. Interessanterweise
entstand diese Richtung gleichzeitig mit Free Jazz, beides mit dem
Ziel aus der Corsage der Form rauszukommen. Alles, was man an Harmonie,
Tonarten, später auch die Rhythmik von Bach bis zur Romantik
gekannt hat, wurde da über den Haufen geworfen, um auf einem
bestimmten Gebiet weiter zu kommen.
Du
empfindest also das Brechen von Formen als fragmentarisch?
Es öffnet auf jeden Fall die Strukturen und verleiht mehr
Freiheit. Und dann öffnet sich ein Feld, das man zuerst einmal
gar nicht abdecken kann und man sich fragen muss, wo will ich jetzt
eigentlich hin? Wie belege ich jetzt eigentlich diese Ecke dann
kommt ein anderer und belegt eine andere Ecke und so wird das Feld
allmählich abgegrast. Aber eigentlich ist dieses Feld, weil
es nicht mehr begrenzt ist, unendlich groß. Und dieses Feld
lässt sich dann wieder nur ausschnittsweise abbilden.
Steckt da eine „Philosophie des Fragments“ dahinter?
Nein.
Ich bohre jetzt trotzdem mal weiter: Was wäre für dich das perfekte Fragment?
Im herkömmlichen Sinne sind Fragmente ja Dinge, die nur fragmentarisch
überliefert sind. Also sie zeichnen sich eigentlich meistens
dadurch aus, dass fast nichts mehr da ist oder nur ein kleines Stück
und fast keinen Zusammenhang mehr haben. Aus einem hundert Seiten
langen Buch gibt es vielleicht noch drei herausgerissene Notizzettel,
wo das Werk bis zur Unkenntlichkeit reduziert ist ...
Das perfekte Fragment ist für dich also etwas, wenn es dem Betrachter nicht mehr gelingt, einen Zusammenhang herzustellen?
Ja,
so etwas ist offensichtlich dafür geeignet, kreativ zu werden.
Es muss ja einen Grund geben, warum dieses Ding da ist und man hat
Lust, das herauszukriegen. Umberto Eco thematisiert das auch in
dem "Foucaultschen Pendel". Da geht es um eine handschriftliche
Notiz, die sie irgendwo gefunden haben, und die sie für irgendeinen
konspirativen Text des Tempelordens halten. In diesen Text interpretieren
sie alles mögliche hinein und erstellen sogar ein Computerprogramm,
das ihnen neue, mögliche Verknüpfungen errechnen soll.
Tatsächlich kommen sie so wirklich auf die Spur von dem Orden.
Nach zwei Dritteln des Buchs kommt irgendwann die Frau von einem
der Protagonisten ins Spiel und deutet diesen Zettel auf einmal
ganz anders. Nämlich ganz einfach nur als einen Auftrag an
eine Wäscherei! Das Verrückte daran ist, und was ich auch
wirklich klasse finde, dass das, was die sich da ausgesponnen haben,
wirklich real und physisch wahrnehmbar wird! Wenn man nur richtig
will, kann man in einen Zettel alles mögliche hineinlegen und
das dann auch belegen.
Das perfekte Fragment ist für dich also auch etwas, wo alle Betrachter mit ihrer Deutung gleichzeitig Recht haben? Die Unendlichkeit der Deutungsmöglichkeit des Fragments ...
Eigentlich schon.
Insofern ist das Fragment eigentlich vor allem auch für seine Rezipienten oder seine Betrachter interessant?
Das glaube ich, ja.
Gut.
Damit sind wir bei uns selbst als Betrachter des Fragments angelangt.
Im Unterschied zu den Zeitgenossen Michelangelos, Mozarts und Goethes,
fühlen wir uns als moderne Betrachter vor einem Werk mit Ecken,
Brüchen und Auslassungen wahrscheinlich insgesamt wohler als
vor einem Werk, das Ganzheit und Objektivität propagiert. Ist
es nicht so, dass heute das Fragment die adäquate Ausdrucksform
der Kunst ist? Oder anders gefragt: Nehmen wir heute sogar das Fragment
nicht vielleicht sogar als Ganzes wahr?
Das ist eine gute Frage. Daran kann man gleich eine zweite anhängen: Nimmt man das Ganze nicht sowieso nur fragmentarisch wahr?
Da braucht man nur die Nachrichten zu nehmen. Zum Beispiel die Informationen über Politik. Was weiß ich denn da? Da habe ich hier ein bisschen gehört und da ein bisschen. Selbst wenn man sich in eines der Themen mehr hineinarbeiten würde, wüsste man noch lange nicht, wie alles miteinander zusammenhängt. Und trotzdem – und das finde ich wiederum spannend – macht man sich aus diesem Ganzen doch ein Bild, weil die Dinge, auch wenn sie weit auseinander liegen oder weit voneinander entfernt passieren, doch irgendwie miteinander zusammen hängen.
Vielleicht ist man gar nicht fähig, das Fragment als Fragment wahrzunehmen ...
Man
nimmt die einzelnen Splitter immer in einem Kontext auf.
Allerdings: Wenn man zum Beispiel den Fernseher anmacht
und ein Typ oder eine Frau redet zehn Sekunden und ich schalte dann
gleich wieder aus, dann kann man das wahrscheinlich nicht zuordnen,
sondern nimmt es nur als Fragment wahr. Allerdings nur, wenn der
Inhalt nicht signifikant war.
Das führt natürlich zu der spannenden Frage,
was man überhaupt von dem ganzen Zeug behält. Im realen
Leben sieht man die Dinge ja schon in ihren Zusammenhängen,
selbst wenn ich jetzt hier ein Foto mache, habe ich, der ich hier
sitze, habe das Bild, das um mich herum ist, quasi komplett. Die
Fragmentierung geht wahrscheinlich erst in dem Moment los, wo man
Wirklichkeit abbildet.
Womit wir wieder bei der Kunst angelangt sind. Denkst du,
dass es eine bestimmte künstlerische Gattung gibt, die besonders
fragmentarisch ist?
Hm.
Das Bild, dadurch dass es einen Rahmen hat, ist einfach ein Fragment
dessen, was derjenige sieht. Ich glaube aber, dass man mit Worten
ganz anders arbeiten kann, man kann einen sehr großen Ausschnitt
wählen, einen realen oder nicht realen. Als Beispiel nehme
ich jetzt mal den "Herr der Ringe", obwohl das jetzt schon
sehr abgelatscht ist. Aber Tolkien hat in seiner Phantasie mit Worten
eine ganze Welt erschaffen. Da gibt es ja ganze Wörterbücher
und Landkarten dazu, also eigentlich hat er eine komplette Welt
erschaffen. Gedichte und Erinnerungszettel sind natürlich fragmentarischer.
Aber ob das jetzt am Genre liegt?
Am Schluss eines Interviews frage ich meine Gesprächspartner gerne, welches Projekt sie in Zukunft planen. Heute frage ich mal anders: Welche Zukunft hat das Fragment?
Das Fragment hat eine wichtige, bleibende Funktion: Es zeigt die
Vielfalt außerhalb der gesteckten Rahmen und verführt
dazu, diese zu überschreiten um nachzuschauen, was auf der
anderen Seite existiert. Bleibt neugierig!
Lieber Henry, vielen Dank für das Gespräch!
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