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Rossipottis 11 Uhr Termin
Die Schildbürger
Volksbuch von 1598
Ein Krebs vor dem Gericht
Eines Tages geriet ein Krebs nach Schilda. Niemand hätte sagen
können, woher er kam, und keiner wusste, was er bei den Schildbürgern
wollte. Die Schildbürger hatten noch nie so ein Tier gesehen und
erschraken sehr, als sie bemerkten, dass es so viele Füße hatte
und vor- und rückwärts gehen konnte. Sie läuteten mit der Kirchenglocke
Sturm, und die Gemeinde versammelte sich um das unheimliche Tier.
Sie rieten und rätselten hin und her und hätten zu gerne gewusst,
wen sie vor sich hatten.
"Vielleicht ist es ein Schneider", sagte der Bürgermeister, "denn
wozu hätte er sonst zwei Scheren?"
Um das zu ergründen, holten die Schildbürger ein Stück Tuch, setzten
den Krebs darauf und riefen: "Wenn du ein Schneider bist, dann schneide
mir eine Jacke zu! Mit weiten Ärmeln und einem neumodischen Halsausschnitt!"
Wo nun das Tier entlang krebste, schnitt ihm einer mit der Schere
nach, denn die Schildbürger hofften, dass der Krebs ihnen einen
tollen Schnitt entwerfe. Aber der Krebs kroch so unsinnig hin- und
her, dass das Tuch am Ende ganz zerschnitten war und zu nichts mehr
zu gebrauchen.
"Mein schönes, teures Tuch!" rief der Schildbürger, dem das Tuch
gehört hatte. "Der Kerl hat uns angeführt! Er ist gar kein Schneider!
Ich verklage ihn wegen Sachbeschädigung!"
Da sich die Schildbürger nun betrogen sahen, rief einer seinen
Sohn herbei, der angeblich viel gesehen und erfahren hatte, weil
er einmal drei Tage lang vor der Stadtmauer herum spaziert war.
Der Junge sah sich das Tier an und wusste weder, wie er es anpacken
sollte, noch wo es seinen Kopf hatte. "Bei den vielen Wunderdingen,
die ich unterwegs gesehen habe, ist mir so etwas nicht vorgekommen.
Wenn ich dennoch sagen soll, was es für ein Tier ist, so gibt mir
mein hoher Verstand ein: Wenn es nicht einen Taube oder ein Storch
ist, dann ist es gewiss ein Hirsch. Eins von den dreien muss es
bestimmt sein."
Nun wussten die Schildbürger freilich genau so viel wie zuvor.
Als einer den Krebs angreifen wollte, zwickte der ihn mit der Schere
so kräftig, dass er laut um Hilfe rief und schrie:
"Jetzt weiß ich, was das ist: Es ist ein Mörder, ein Mörder!"
Nun endlich schritt der Bürgermeister ein: "Erst ruiniert er das
teure Tuch und nun stellt sich heraus, dass er ein Mörder ist -
das kann ich als Stadtoberhaupt nicht dulden! Morgen machen wir
ihm den Prozess!"
So geschah es auch. Der Krebs wurde in einer förmlichen Sitzung
vom Richter der mutwilligen Sachbeschädigung und des versuchten
Mords angeklagt. Augenzeugen berichteten unter Eid, was sich am
Vortage zugetragen hatte. Der amtlich bestellte Verteidiger konnte
kein entlastendes Material beibringen. So zog sich der hohe Gerichtshof
zur Urteilsfindung kurz zurück und verkündete anschließend folgenden
harten, aber gerechten Spruch: "Der Delinquent gilt in beiden Punkten
der Anklage als überführt. Mildernde Umstände kommen um so weniger
in Betracht, als der Angeklagte nicht ortsansässig ist und die ihm
gewährte Gastfreundschaft übel vergolten hat. Deshalb wird er zum
Tod durch Ertrinken verurteilt!"
Noch am Nachmittag trug der Gerichtsdiener den Krebs in einem Korb
zum See hinaus und warf ihn ins Wasser. Ganz Schilda nahm an der
Hinrichtung teil. Den Frauen standen die Tränen in den Augen. "Es
hilft nichts", sagte der Bürgermeister. "Strafe muss sein."
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