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Salon Albert

 

Hallo Kinder!
Willkommen in meinem literarischen Salon!
Passend zum Thema "reale Welten" möchte ich euch dieses Mal einen Autor vorstellen, der keine Welten erfindet oder erdichtet, sondern nur Dinge aufschreibt, die es in der Realität gibt oder zumindest geben könnte.
Der Autor heißt Ernest Hemingway (1899-1961) und ist ein weltberühmter amerikanischer Autor realistischer Kurzgeschichten und Romane.

Natürlich gibt es viele Autoren, die realistische Texte schreiben. Die einen interessieren sich dabei für Politik und Gesellschaft, die anderen für Familiengeschichten, wieder andere für die Psyche des Menschen. Sie packen ihre Geschichten in Dramen, Romane, Kurzgeschichten, Novellen oder Satiren. Doch so unterschiedlich die einzelnen Ausführungen sind, so gemeinsam ist ihnen das Ziel, mit ihren Geschichten Wirklichkeit zu erfassen und anderen erkennbar zu machen. Wer realistische Texte schreibt, beschäftigt sich deshalb weniger mit Dingen, die abnormal, einzigartig oder unglaublich sind, als vielmehr mit Dingen, die allgemein erfahrbar sind. Nicht das Subjektive, sondern das Objektive rückt in den Blickpunkt der Betrachtung. Oder anders ausgedrückt: Das Subjektive interessiert nur als Beispiel einer allgemein erfahrbaren, also übertragbaren Erfahrung.

Nach dieser kleinen Einleitung kann ich euch jetzt erklären, warum ich mir unter den vielen Autoren realistischer Literatur ausgerechnet Ernest Hemingway ausgesucht habe. Weil Hemingway in seiner Vorliebe, nur realistische Dinge darzustellen, noch einen Schritt weiter geht als die meisten seiner Kollegen: Er will nicht nur realistische, allgemein erfahrbare Dinge darstellen, sondern er will diese Dinge auch noch so objektiv wie möglich beschreiben. Der Blick auf die Dinge soll also möglichst wenig durch seinen Betrachter oder Autor versperrt werden.
Wie schreibt Hemingway dann aber etwas auf? Ihr könnt euch das vorstellen wie beim Drehen eines Films. Hemingway nimmt eine Szene aus seiner Erinnerung, die er so ähnlich, wie er sie erlebt hat, einfangen will. Anstatt mit Kameras umstellt er diese Szene mit Buchstaben und bildet nur das ab, was unmittelbar sichtbar ist.

Was sieht man dann anschließend auf dem belichteten Papier? Man sieht zum Beispiel, wie Personen irgendwo miteinander sprechen oder schweigen, wie sie irgendetwas tun oder nicht tun. Was man auf dem Papier allerdings nicht sehen kann, sind Gefühle oder Gedanken der Personen.

Tatsächlich findet man bei Hemingway so gut wie nie Beschreibungen von Gefühlen. Und auch Gedanken von seinen Figuren oder Kommentare eines allwissenden Autors findet man selten und dann hauptsächlich da, wo sie für die Verknüpfung verschiedener Bilder oder Szenen unerlässlich sind.

Wahrscheinlich denkt ihr jetzt, dass Literatur, die nur das abbildet, was unmittelbar sichtbar ist, eher uninteressant ist. Die Gefahr besteht natürlich. Vor allem dann, wenn man so alltägliche Szenen beschreibt wie: "Mann geht zum Brötchenkaufen", "Kind läuft bei Grün über die Straße" oder "Frau putzt sich die Zähne". Aber selbst diese Szenen können plötzlich spannend werden, wenn man sie nur ein wenig ändert. Wenn man zum Beispiel das Kind nicht mehr bei Grün, sondern bei Rot über die Straße geht lässt, läuft dann nicht plötzlich ein viel aufregenderer Film ab?

Hemigway selbst hatte ohnehin keine Probleme damit, spannende Szenen für seine Geschichten zu finden. Denn als Boxer, Großwildjäger, Angler, Kriegsberichterstatter, Reporter und Liebhaber spanischer Stierkämpfe bekam er ständig interessante Bilder für seine Texte geliefert.
Stellt euch vor, während der 62 Jahre, die er lebte, wurde er als freiwilliger Soldat im ersten Weltkrieg verwundet, überlebte einen schweren Autounfall und zwei Flugzeugabstürze, steuerte im zweiten Weltkrieg ein U-Boot, heiratete vier Mal und hatte drei Kinder. Er reiste durch Afrika, Europa und den Nahen Osten und bekam mehrere wichtige Preise, darunter den Nobelpreis.
Ihr seht, der Stoff reicht für mehrere Bücher aus! Natürlich hat Hemingway seine Erlebnisse nicht genau so aufgeschrieben, wie er sie erlebt hat, sondern die Szenen ein wenig verändert und umgestellt. Denn er hat ja keine Tagebücher, sondern richtige Geschichten geschrieben. Trotzdem handeln die meisten der Geschichten von Stierkämpfern, Jägern, Anglern, Boxern, Kriegern und Frauen.

Für euch habe ich jetzt eine Geschichte ausgesucht, in der ein Stierkämpfer die Hauptrolle spielt. Manuel ist eigentlich zu alt und ungeschickt, um weiter in der Arena gegen Stiere zu kämpfen. Doch da er sich keinen anderen Beruf vorstellen kann und dringend Geld braucht, nimmt er die Herausforderung immer wieder an:

 

Der Unbesiegte

[...] Manuel schritt vorwärts auf dem harten Sand, als der Stier gegen die Umzäunung anbollerte. Ein kurzer Blick zeigte ihm, dass Zurito seinen Schimmel dicht an die barrera ritt, ungefähr um ein Viertel des Arenarundes nach links. Manuel hielt die capa dicht vor sich, eine Falte in jeder Hand, und rief dem Stier zu: "Huh! Huh!" Der Stier machte kehrt, schien, als er aufs Geratewohl angriff, gegen die Umzäunung zu streifen und stieß in die capa, als Manuel zur Seite trat und mit dem Angriff des Stiers auf dem Absatz drehte und die capa genau vor seinen Hörnern schwang. Als er den Schwung beendete, stand er dem Stier wieder gegenüber und hielt die capa in derselben Position dicht vor seinem Körper und drehte wieder, als der Stier von neuem angriff. Bei jeder Wendung brüllte die Menge.
Viermal drehte er sich so mit dem Stier, hob die capa, so dass sie sich voll aufblähte, und jedes Mal nahm er den Stier zu neuem Angriff herum. Dann ..."

"Halt, halt!" ruft Palmina dazwischen. "Das ist ja nicht zum Aushalten! Ich habe immer gedacht beim Stierkampf geht es um Leben um Tod. Bei Hemingway hört sich das aber wie eine trockene Berichterstattung an und nicht wie eine spannende Erzählung!"

"Du hast mich ja nicht weiterlesen lassen", sagt Albert ein wenig pikiert. "Die Gefahr und die Todesnähe werden schon auch noch dargestellt."

"Das glaube ich dir gerne", sagt Palmina, "Nur muss man sich davor wahrscheinlich noch zehn Seiten anhören, wer wann aus welcher Ecke hervorkommt und seine capa schwingt."

"Seit wann bist du denn so blutdürstig?" fragt Albert verwundert. "Ich habe immer gedacht, dass dir kluge Literatur gefällt."

"Es ist doch nicht klug, den Hergang so detailliert zu beschreiben, dass man vor lauter einzelnen Beobachtungen den Zusammenhang aus den Augen verliert."

"Hemingway möchte den Kampf möglichst wirklichkeitsnah beschreiben. Der Leser soll selbst entscheiden, wann er die Augen schließt."

"Die Beschreibung ist doch nicht wirklichkeitsnah", ruft Palmina empört. "Glaubst du wirklich, dass ein Stierkampf so langweilig wie Hemingways Beschreibung davon ist?"

"Keine Ahnung", antwortet Albert. "Ich bin eine Qualle. Woher soll ich wissen, wie spannend ein Stierkampf für Menschen ist? Mir kamen die Beobachtungen Hemingways bisher immer plausibel vor."

Palmina schweigt. Sie möchte Albert nicht beleidigen.

Albert fährt deshalb fort: "Außerdem gibt es bei Hemingway Stellen, da wachsen die beobachteten Details zu einer solchen Größe, dass sie ein starkes eigenes Bild entwickeln."

"Ach, wirklich?" sagt Palmina und schnaubt ein wenig. "Kaum vorstellbar."

"Ich wundere mich ehrlich gesagt, was du gegen den armen Hemingway hast", meint Albert. "Ich lese dir eine harmlose Stelle vor und du explodierst beinahe."

"Vielleicht war die Stelle zu harmlos", sagt Palmina. "Lies doch bitte mal eine Stelle mit einem dieser starken Details vor!"

Albert schlägt das Buch wieder auf und sagt: "Also gut. Ich lese jetzt den Schluss der Geschichte vor. Manuel ist inzwischen schwer verwundet und liegt bei den Ärzten auf dem Operationstisch:

[...] "Ich war in guter Form", sagte Manuel schwach. "Ich war in glänzender Form."
Retana sah Zurito an und ging auf die Tür zu.
"Ich bleibe hier, bei ihm", sagte Zurito.
Retana zuckte die Achseln.
Manuel öffnete die Augen und sah Zurito an.
"War ich nicht wirklich in guter Form, Manos?" fragte er, um Zustimmung bittend.
"Doch", sagte Zurito, "in glänzender Form."
Der Assistenz des Arztes legte Manuel die Maske übers Gesicht, und er atmete tief ein. Zurito stand unbeholfen daneben und sah zu."

Albert schaut Palmina erwartungsvoll an: "Und?"

"Was 'und'?" fragt Palmina. "Sieht so aus, als ob das letzte Stündlein von diesem Manuel geschlagen hätte."

"Ist das nicht prima?" sagte Albert. "Ich lese dir ein paar Zeilen vor, und schon weißt du, um was es geht. 'Zurito stand unbeholfen daneben und sah zu.' Mehr braucht man nicht zu wissen, um zu sehen, dass es Manuel wirklich schlecht geht. Außerdem kann man daran auch das ganze Verhältnis zwischen Zurito und Manuel erkennen. Zurito ist Manuel zwar gewogen, aber auch nicht so sehr, dass ihm die Verletzung ernsthaft nahe gehen würde. Und dann dieser Retana. 'Retana zuckte die Achseln.' Das ist eigentlich ein einziges Detail. Aber dieses Detail 'Achselzucken' sagt alles über Retana aus: Dass ihm der Mensch Manuel ganz egal ist, und dass ihm auch Zurito und seine Zuneigung zu Manuel egal ist, dass ihm eigentlich alles egal ist, was ihn nicht selbst unmittelbar betrifft. Siehst du jetzt, dass diese beobachteten Details eine unglaubliche Macht bekommen können?"

"Ja, ja", sagt Palmina. "Ich gebe zu, die Details in dieser Passage sind wirklich klasse! Ich frage mich nur, ob man Hemingway wegen dieser paar Beobachtungen lesen soll?"

"Es gibt natürlich noch mehr gute Details in anderen Geschichten" sagt Albert und klingt jetzt ein bisschen besserwisserisch. Er rückt seine Brille zurecht und trinkt einen Schluck. Dann sagt er: "Außerdem gibt es auch ganze Geschichten, die einfach spannend sind. Eine davon ist zum Beispiel das 'Indianerlager'. Darin besucht Nick mit Onkel George und seinem Vater, der Arzt ist, ein Indianerlager. Hemingway begleitete übrigens seinen Vater, der ebenfalls Arzt war, auch öfters in Indianerlager. Aber das tut eigentlich nichts zur Sache.
In dieser Geschichte kommt Nick also zusammen mit seinem Vater und Onkel George in das Lager. In einer der Hütten liegt eine junge Indianerin und versucht seit zwei Tagen ein Kind zu bekommen. Die alten Indianerfrauen helfen ihr, die Männer sitzen rauchend im Dunkeln. Gerade als Nick mit seinem Vater, Onkel George und zwei Indianern die Blockhütte betritt, schreit die Frau. Sie liegt unter einem dicken Federbett in der unteren Bettkoje. Ihr Kopf ist zur Seite gedreht. Oben, in der anderen Bettkoje liegt ihr Mann und raucht eine Pfeife. Er hat sich vor drei Tagen mit der Axt böse in den Fuß gehackt. In der Stube riecht es sehr schlecht.
Das ist also die Situation, als Nick mit seinem Vater die Hütte betritt, und jetzt lese ich dir ein Stück daraus vor:

Indianerlager

[...] Nicks Vater ließ Wasser auf den Herd stellen und sprach, während es heiß wurde, mit Nick.
"Nick", sagte er, "die Frau bekommt ein Kind."
"Ich weiß", sagte Nick.
"Du weißt nichts", sagte sein Vater. "Hör zu. Was sie jetzt durchmacht, nennt man Wehen. Das Kind will geboren werden, und sie will, dass es geboren wird. Alle ihre Muskeln arbeiten, um das Kind zu gebären. Das geschieht, wenn sie schreit."
"Ach so", sagte Nick.
Gerade in dem Augenblick schrie die Frau auf.
"O Daddy, kannst du ihr nicht irgendwas geben, damit sie aufhört zu schreien?" fragte Nick.
"Nein", sagte sein Vater. "ich habe kein Betäubungsmittel. Aber ihr Schreien ist unwichtig. Ich höre es gar nicht, weil es unwichtig ist."
Der Ehemann in der oberen Koje rollte hinüber zur Wand."

"Wie geht es denn weiter?" fragt Palmina gespannt.

"Ich denke, dich langweilt Hemingway?" sagt Albert und schmatzt ein wenig mit den Lippen. "Aber ich kann dich beruhigen: Das Kind kommt gesund auf die Welt und die Mutter überlebt die Geburt."

"Ach", sagt Palmina ein wenig enttäuscht. "Und sonst passiert nichts?"

"Das ist doch schon eine ganze Menge", sagt Albert. "Aber ich will mal sehen, was ich für dich tun kann." Er blättert ein wenig in den Seiten und liest weiter:

"Muss wohl noch einen Blick auf den stolzen Vater werfen. Gewöhnlich leiden die bei diesen kleinen Angelegenheiten am meisten", sagt der Doktor. "Ich muss sagen, der hier hat sich nicht sehr angestellt."
Er zog dem Indianer die Decke vom Kopf. Seine Hand war nass. Er stieg auf die Kante der unteren Bettkoje, mit der Lampe in der Hand, und sah hinein. Der Indianer lag mit dem Gesicht zur Wand. Sein Hals war durchschnitten, von einem Ohr zum anderen. Das Blut war, wo sein Körper die Bettkoje niederdrückte, zu einer Lache zusammengeflossen. Der Kopf ruhte auf dem linken Arm. Das offene Rasiermesser lag mit der Schneide nach oben zwischen den Decken.
"George, nimm Nick raus", sagte der Doktor.
Das war überflüssig. Nick konnte von der Küchentür aus, wo er stand, genau sehen, was in der oberern Koje vorging, als sein Vater, der in einer Hand die Lampe hielt, den Kopf des Indianers zurücklegte.
Es fing gerade an zu dämmern, als sie den Holzfällerweg zurück zum See gingen.
"Tut mir schrecklich leid, Nickie, dass ich dich mitgenommen habe", sagte sein Vater. Verschwunden war die gehobene Stimmung, die der Operation gefolgt war. "Scheußlich, dass du das mitmachen musstest."
"Müssen Frauen immer so viel ausstehen, um Kinder zu bekommen?" fragte Nick.
"Nein, das war ganz, ganz außergewöhnlich."
"Warum hat er sich denn umgebracht, Daddy?"
"Ich weiß nicht, Nick. Wahrscheinlich konnte er es nicht aushalten."
"Bringen sich viele Männer um, Daddy?"
"Nicht sehr viele, Nick."
"Und Frauen?"
"Fast nie."
"Überhaupt nicht?"
"O doch, manchmal."
"Daddy?"
"Ja?"
"Wo ist Onkel George hin?"
"Der wird schon wieder auftauchen."
"Ist Sterben schwer, Daddy?"
"Nein, ich glaube, es ist ziemlich leicht, Nick. Es kommt darauf an."

Albert klappt das Buch zu und fragt etwas schnippisch: "Ist dir jetzt genug passiert?"

Palmina nickt. Dann sagt sie: "Sterben in Hemingways Geschichten immer so viele?"

"Nicht immer, aber oft ist der Tod mit im Gepäck", sagt Albert. "Der Tod ist nun mal die Kehrseite des Lebens."

"Und da Hemingway so intensiv lebte, beschäftigte er sich auch viel mit dem Tod?"

Albert nickt.

"Weißt du was?" sagt Palmina. "Lassen wir es mit den realistischen Geschichten. Radieren wir den Tod lieber aus."

 

* * *

Wenn ihr die beiden Kurzgeschichten oder andere Geschichten von Hemingway ganz lesen wollt, findet ihr sie in dem Band:

Ernest Hemingway: Die Stories. Rowohlt Verlag. Reinbek bei Hamburg 1990. 497 Seiten.

 © Rossipotti No. 7, April 2005