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Rossipottis Leibspeise
Niemand so stark wie wir
"Ich hatte neulich ein komisches Erlebnis", sagt Rossipotti
als wir uns überlegen, welche Bücher wir dieses Mal vorstellen
wollen. "Ich habe mir aus der Bibliothek ein Buch von Zoran
Drvenkar ausgeliehen, und das Buch hat mir auf Anhieb gefallen.
Gleich am Anfang kommt eine sehr witzige Szene. Stell dir vor: Ein
paar Jungen einer West-Berliner Clique wissen eines Nachmittags
nicht, was sie tun sollen. Da fällt ihnen ein, dass ein neuer
Junge in ihren Häuserblock gezogen ist. Sie gehen zu seiner
Wohnung, klingeln und werden von seiner Mutter rein gelassen. Der
neue Junge sitzt in seinem Zimmer im Schneidersitz auf einem roten
Kissen und liest ein Buch. Einer aus der Clique sagt schließlich:
'Hallo'. Und der fremde Junge steht auf, streckt sein Hand aus und
sagt: 'Sprudel'!"
"Was ist denn daran komisch?" frage ich Rossipotti.
"Alles!" sagt Rossipotti im Brustton der Überzeugung.
"Warum bist du nur so humorlos? Aber was soll man von einem
grätigen Fisch wie dir auch anderes erwarten?"
Ich bin Rossipottis Beleidigungen mittlerweile gewöhnt. Ich
überhöre deshalb die letzte Bemerkung und wiederhole nur
meine Frage: "Dein komisches Erlebnis von neulich war also,
dass du ein Buch gelesen hast, in dem jemand 'Sprudel' sagt?!"
Rossipotti sieht mich irritiert an. Doch dann grinst er und sagt:
"Ach, das meinst du! Nein, das komische Erlebnis war, dass
ich nach einigen Seiten gemerkt habe, dass ich das Buch schon einmal
gelesen habe."
"Ach so", sage ich ein wenig gelangweilt. "Das kenne
ich." Rossipotti scheint mir heute nicht gut in Form zu sein.
"Ja, ja", sagt Rossipotti ungeduldig. "Natürlich
vergisst man ständig, was man gelesen hat. Manchmal kommt es
mir sogar so vor, als ob man Bücher nur liest, um sie wieder
zu vergessen. Aber in diesem Fall ist es anders. Ich hatte nicht
den Inhalt des Buchs vergessen, sondern das Buch selbst."
Jetzt wird es spannend, denke ich, und spitze meine Ohren.
"Stell dir vor, ich konnte mich an alle einzelnen Szenen erinnern,
dachte aber von jeder Szene, dass sie in einem anderen Buch stehen
würde. Zum Beispiel die Szene mit dem Sprudel hätte ich
in dem Behinderten-Buch 'Das war der Sprudel' vermutet. Oder die
schöne, zarte Liebesgeschichte zwischen dem jugoslawischen
Ich-Erzähler Zoran und der Tochter aus gutem Hause hätte
ich 'Keiner wie Zoran' zugeordnet. Oder die Szene, in dem einer
aus der Clique mit seinem Floß beinahe ins feindliche Gebiet
der DDR schwimmt, hätte ich einem Buch von Klaus Kordon zugeschrieben.
Du, wenn ich gewusst hätte, dass all diese guten Szenen in
einem einzigen Buch stehen, dann hätte ich mir das Buch doch
sicher schon längst gekauft!"
"Und, hast du?" frage ich neugierig.
"Hm?" sagt Rossipotti und schielt auf einen angebissenen
Buchrücken. "Was ich eigentlich sagen wollte: Stelle das
Buch vor und sei nett zu Zoran."
Ja, ich bin nett zu Zoran. Auch wenn Zoran nicht immer nett zu
den anderen ist. Dann zum Beispiel nicht, als er zu feige ist, seinem
älteren Freund Adrian die Meinung zu sagen und statt dessen
lieber seinen neuen, stummen Freund, der nur 'Sprudel' sagen kann,
als 'Spasti' beschimpft. Oder als er tatenlos zusieht wie sein anderer
Freund Karim auf seinem Floß schlafend Richtung DDR-Grenze
zutreibt.
Aber wer kann auch schon immer nett sein? Sicher nur jemand, der
nicht von dieser Welt ist. Zoran aber ist von hier. Hier, das ist
das West-Berlin der achtziger Jahre. Das ist der selbsternannte
Fußballplatz hinter der Post, das ist die Clique, die nervende
Schwester und die Streifzüge durch den Kiez. Das ist aber auch
die Revolution gegen Mutters leckere Bulletten, das Rätsel
der ersten Liebe und die Entdeckung, dass man Verantwortung für
sein Handeln übernehmen muss.
Das alles erzählt Zoran Drvenkar in einem lockeren, beinahe
fröhlichen Ton, so, als freue er sich Jahre später immer
noch sehr, dass ihm das alles in einem einzigen Sommer wirklich
passiert ist.
Zoran Drvenkar: Niemand so stark wie wir. Rowohlt
Taschenbuch Verlag GmbH. Reinbek bei Hamburg 1998. 347 Seiten.
Feuerschlucker
"Mal sehen, ob das hier genießbar ist", meint Rossipotti
und beißt vorsichtig in ein Buch mit flammenfarbenem Cover.
"Zu heiß?" frage ich interessiert.
"Eher zu staubig", erwidert Rossipotti nach einer Weile.
"Sehr viel Kohlestaub und ein wenig Schulstaub. Dazwischen
Staub aus dem Krieg und frisch aufgewirbelter Staub aus der Kuba-Krise."
"Die Kuba-Krise ist doch nicht mehr frisch", werfe ich
ein. "Die ist doch auch schon beinahe fünfzig Jahre alt."
"Natürlich", antwortet Rossipotti. "Aber zu
der Zeit, in der das Buch spielt, war sie gerade hochaktuell. Da
bangen alle noch, dass der dritte Weltkrieg ausbricht."
"Ach, dann sollen die Flammen auf dem Cover also ein Atompilz
sein?"
"Eher nicht", meint Rossipotti. "Das sollen wohl
eher die Flammen von dem Feuerspucker sein. In den Roman hat sich
nämlich ein verrückter Feuerspucker verirrt, ein trauriger
Veteran aus dem zweiten Weltkrieg. Der wurde im Krieg verrückt
und schlägt sich jetzt mit seiner Flammenkunst durchs Leben.
Obwohl er der Titelheld des Romans ist, verstehe ich nicht so ganz,
was er in dem Roman eigentlich zu suchen hat."
"Das ist doch offensichtlich", sage ich. "Er ist
das Symbol des Buchs. Zum einen soll er symbolisieren, dass der
letzte Krieg sinnlos war. Schließlich hat er dort seinen Verstand
verloren. Zum anderen ist er natürlich das Symbol für
das Spiel mit dem Feuer und dafür, dass etwas in Flammen aufgeht
oder aufgehen kann."
"Aha", sagt Rossipotti und sieht mich belustigt an. "Das
hört sich ja sehr spannend an. Aber was soll das denn sein,
ein Mensch als Symbol? Möchtest du im echten Leben etwa
jemandem begegnen, der nichts anderes ist als ein Symbol? Was murmelst
du? So etwas gibt es nicht? Genau! Und deshalb ist dieser Feuerschlucker
für mich auch eine Figur, die nicht funktioniert. Sie wandelt
ohne Fleisch und Blut durchs Buch. Sie hält zwar die ganze
Zeit ein Schild hoch, auf dem steht: 'Achtung, ich bin sehr wichtig',
aber im Grunde lockt sie keinen hinterm Ofen vor."
"Was lockt dich denn dann hinterm Ofen vor?" frage ich
Rossipotti. Wahrscheinlich wird das wieder einer dieser unseligen
Diskussionen darüber, warum ich ein Buch nicht vorstellen soll,
denke ich.
Doch zu meiner Überraschung sagt Rossipotti: "Ich möchte,
dass du selbst herausbekommst, was an dem Buch spannend ist. Ich
gebe dir dazu auch einen Tipp: Urteile erst darüber, wenn du
das ganze Buch gelesen hast und urteile nicht mit deinem Verstand,
sondern mit deinem Bauch. Und wenn wieder eine Ladung Staub kommt,
halte dir einfach die Nase zu."
Aha! Ich muss sagen, das hört sich erst einmal nicht so gut
an.
Aber - nachdem ich das Buch durchgelesen habe und an den passenden
Stellen die Luft angehalten habe, weiß ich, was mir an dem
Buch gefällt: Es beschreibt eine heile Welt in einer kaputten
Welt. Das ist zwar manchmal etwas kitschig, aber es tut auch unglaublich
gut! Außerdem bekommt der Autor immer wieder die Kurve, so
dass man anschließend denkt, doch, das könnte alles genau
so abgelaufen sein. Und warum sollte man nicht auch einmal ein Stückchen
Glück und Familienidylle, rührende Zivilcourage und Zusammenhalt
unter Freunden darstellen dürfen? So etwas gibt es doch schließlich
auch!
Außerdem ist es meistens schwieriger, etwas Schönes,
Liebevolles realistisch darzustellen als etwas Häßliches,
Problematisches.
Damit ihr beurteilen könnt, ob euch neben diesen Formfragen
das Thema überhaupt interessiert und ihr das Buch lesen wollt,
weihe ich euch noch kurz in den Inhalt ein:
Es ist Sommer 1962 in Keely Bay, einem ärmlichen Küstenort
in England. Hier wohnt der Ich-Erzähler Bobby mit seinen Eltern.
Anfangs scheint alles in Ordnung. Die Eltern lieben sich und ihr
Kind, Bobby hat einen Freund und eine Freundin. Doch dann fängt
Bobbys Vater plötzlich an zu husten, im Fernsehen wird mit
der Kuba-Krise die nahe Gefahr eines dritten Weltkriegs beschworen
und mit dem Schulwechsel in eine höhere Schule scheint Bobby
plötzlich meilenweit entfernt von seinen Freunden Joseph und
Ailsa. Obwohl er Ailsa und ihrer Familie weiterhin beim Kohlesieben
im Meer hilft, spürt er, dass diese Welt immer mehr aus seinem
Sichtfeld schwindet. In der Schule lernt er Daniel kennen, ein Kind
Intellektueller, die in den Ort gezogen sind, um die schöne
Häßlichkeit des Arbeiterortes zu genießen. Mit
Daniel lernt er die Dinge aus einer ganz neuen Perspektive zu sehen,
und so versteht es sich beinahe von selbst, dass er die autoritären,
perfiden Strukturen an der Schule nicht länger hinnehmen, sondern
mit Daniel dagegen revoltieren will.
Meiner Meinung nach ist es gerade die Stärke des Buchs, dass
es trotz der ganzen Probleme, die darin thematisiert werden, die
am Anfang gezeichnete Idylle nie aus den Augen verliert und sich
am Schluss die meisten Probleme in Wohlgefallen auflösen. Denn
so gibt das Buch einem etwas mit, was es anders nicht gekonnt hätte:
Mut und Zuversicht.
David Almond: Feuerschlucker. Carl Hanser Verlag
München Wien 2005. 201 Seiten.
Der Sommer hat Eselsohren
"Wie wäre es, wenn wir noch ein Buch für die jüngeren
Leser von uns vorstellen würden?" fragt mich Rossipotti.
"Hm", mache ich. "Jüngere Kinder lesen lieber
Geschichten, die ein bisschen verspielter und phantastischer sind.
Denke nur an die bekannten Helden Pippi Langstrumpf, den Gurkenkönig
oder das Sams."
"Im allgemeinen gebe ich dir Recht", sagt Rossipotti
. "Um sich die trockene Realität reinzuziehen, muss man
schon ein bisschen älter und widerstandsfähiger sein.
Aber auch von den älteren knicken viele wieder ein und lesen
lieber Fantasy-Bücher. Aber unabhänging davon gibt es
doch auch einige realistische Bücher für jüngere
Kinder. Die Realität ist in diesen Büchern meistens noch
sehr bildhaft beschrieben, und die Bücher machen deshalb mehr
Spaß zu lesen. Ich kenne zum Beispiel ein schönes Buch
von der tschechischen Autorin Iva Procházková, in
dem sich alles um einen Esel dreht."
"Meinst du die Erzählung 'Der Sommer hat Eselsohren'?"
frage ich und bin erstaunt, dass mir der Titel gleich eingefallen
ist. Es ist sicher schon ein paar Jahre her, dass ich das Buch gelesen
habe. "Das ist wirklich ein schönes, realistisches Buch
für jüngere Kinder."
"Ja, ja", sagt Rossipotti und schüttelt ein wenig
mit dem Kopf. "Unser einmütiges Zusammensitzen hier ist
mir beinahe unheimlich. Das waren noch Zeiten, als wir wegen jeder
Kleinigkeit gestritten haben!"
"Soll ich das Buch nun vorstellen oder nicht?"
Im Gegensatz zu Rossipotti genieße ich die seltene Einmütigkeit,
und zwar schon deshalb, weil ich mir sicher bin, dass sie nur von
kurzer Dauer ist.
Rossipotti grinst mich an und tätschelt seinen Bauch: "Ja,
stelle das Buch vor. Es ist zwar ein wenig harmlos, aber hin und
wieder liebe ich harmlose Bücher."
Harmlos? Was ist daran harmlos? Ich nehme stark an, dass mich Rossipotti
damit nur ärgern will und denke deshalb nicht weiter darüber
nach.
Also: Wie Rossipotti gesagt hat, dreht sich in der Erzählung
"Der Sommer hat Eselsohren" fast alles um einen Esel.
Der Esel heiß Amos und sein Besitzer, der Großvater
von Dusan, ist gestorben und hat ihn seinem Enkel vererbt. Amos
ist ein besonderer Esel, denn der Großvater hat früher
im Zirkus gearbeitet und dem Esel ein paar Kunststücke beigebracht.
Doch Dusans Mutter will keinen Esel, auch keinen dressierten. Deshalb
muss Dusan den Esel eigentlich an die Nachbarn seines Großvaters
abtreten. Dusan widersetzt sich seiner Mutter und holt den Esel
einfach zu sich nach Hause. Als die Mutter von der Arbeit kommt
und die zertrampelten Blumen und die aufgewühlte Erde sieht,
spricht sie kein Wort mehr mit ihm und verprügelt ihn nur stumm
mit dem Kochlöffel.
Da ist sich Dusan mit einem Mal ganz sicher: Er will nicht wie seine
Mutter, sondern viel mehr wie sein Vater sein. Der Vater hat vor
drei Jahren die Mutter verlassen hat und ist mit einem Zirkus verschwunden.
Und den Esel will Dusan auf keinen Fall wieder zurückbringen,
eher verlässt auch er die Mutter. Denn so ein Esel ist warm
und weich, und wenn man die Hand an seine Maul hält, fühlt
sich das einfach gut an.
So geht es auch Johanka, dem selbstbewussten Mädchen aus Prag,
das bei ihrer Tante zu Besuch ist. Dusan und Johanka können
sich anfangs gar nicht leiden, doch als Johanka Amos kennenlernt
und erfährt, dass Dusan ihn wieder hergeben muss, überlegt
sie sich sogar einen Ausweg aus der aussichtslos erscheinenden Situation
und überredet Dusan zu einer abenteuerlichen Reise ...
Trotz Kochlöffel, gestorbenem Großvater und verschwundenem
Vater ist das Buch nicht dunkel oder traurig, sondern eselwarm wie
der Sommer, in dem es spielt. Denn die Erwachsenen sind in der Erzählung
zwar wichtige Bezugspersonen, aber für das eigentliche Tun
der Kinder spielen sie keine Rolle. Und so ist die eigentliche Botschaft
des Buchs: Kinder sind viel freier als Erwachsene. Deshalb: Nutze
die Gelgenheit und tue jetzt, was du für richtig hältst!
Iva Procházková/Svend Otto S. (Illustrationen):
Der Sommer hat Eselsohren. Aus dem Tschechischen von Teresa Sedmidubská.
Beltz & Gelberg Verlag. Weinheim
und Basel 1984. 218 Seiten.
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