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Salon Albert
Hallo Kinder!
Schön, dass ihr euch bis hierher durch geklickt habt!
Eigentlich müsste ich euch heute einen
Autor aus der Romantik vorstellen. Denn die Dichter der Romantik
waren leidenschaftliche Märchenerzähler. Ich denke dabei
nicht nur an Hauff oder die Brüder Grimm, sondern auch an Eichendorff,
Novalis, von Arnim, Brentano, E.T.A. Hoffmann und einige andere.
Aber gerade weil es so naheliegend ist, und ihr mit ihnen deshalb
sicher noch öfters in Berührung kommt, habe ich euch einen
anderen Autor mitgebracht.
Wie ich euch vorhin schon verraten habe,
geht es in diesem literarischen Salon um Oscar Wilde. Wilde
hat neben Theaterstücken, Gedichten, Essays und Erzählungen
auch einige Kunstmärchen geschrieben.
Im Unterschied zu Volksmärchen kann man Kunstmärchen eindeutig
einem Autoren zuordnen. Sobald ein Autor ein Märchen schreibt,
ist es ein Kunstmärchen. Volksmärchen wurden urspünglich
dagegen nicht aufgeschrieben, sondern mündlich weitererzählt.
Jeder, der ein Märchen weitererzählte, musste sich die
ganze Geschichte Wort für Wort merken. Deshalb sind Volksmärchen
meist viel kürzer als Kunstmärchen. Märchen, die
von Autoren geschrieben werden, können dagegen so lang wie
ein ganzer Roman sein.
Dass Märchen für Kinderliteratur gehalten werden, ist
übrigens eine eher neue Vorstellung. Volksmärchen haben
sich ursprünglich vor allem Erwachsene erzählt. Und Kunstmärchen
werden auch heute noch in erster Linie für Erwachsene geschrieben.
Auch Oscar Wilde hat nach eigenen Angaben seine Märchen "nicht
für Kinder geschrieben, sondern für kindliche Gemüter
von achtzehn bis achtzig".
Bevor ich euch ein Kunstmärchen von
Wilde vorstelle, möchte ich euch noch etwas zu der Zeit, in
der er lebte, erzählen. Wilde lebte im ausgehenden 19. Jahrhundert
(1854 Dublin - 1900 Paris) und zwar vorwiegend in London.
Wie oft am Ausgang eines Jahrhunderts hatten die Menschen zu dieser
Zeit eine Art Untergangsstimmung. Sie sahen alles von Zerfall und
Niedergang bedroht. Und wenn man viel vom Zerfall redet, zerfällt
auch oft viel. Deshalb gaben die Menschen bald nicht mehr viel auf
Moral und ethische Wertmaßstäbe, sondern sahen ihren
Lebenszweck vor allem darin, vor dem Untergang noch möglichst
viele schöne und genussvolle Dinge zu erleben. Diese Mischung
aus Angst vor Zerfall und gleichzeitiger Lust daran nennt man Dekadenz
und die passende Dichtung dazu Dekadenzdichtung.
Gehörte man zudem einer reichen, aristokratischen Gesellschaftsschicht
an, konnte man diese dekadente Haltung in einem extravaganten Lebensstil
offen zur Schau stellen.
Wie einige dieser reichen oder aristokratischen Zeitgenossen, den
sogenannten Dandys, genoss auch Wilde Ausschweifung und Schönheit.
Er liebte schöne Möbelstücke und Kunstgegenstände,
zog sich gerne elegante Kleider an, posierte damit unzählige
Male vor der Kamera und führte geistreiche, aber selbstbezügliche
Gespräche in exklusiven Londoner Clubs.
Das Märchen Wildes, das ich euch hier
vorstellen möchte, heißt "Das Bildnis des Dorian
Gray" und erzählt die
schicksalshafte Geschichte von einem englischen Dandy.
Dorian ist ein narzisstischer, in seine
Schönheit und Jugend verliebter junger Mann. Als der Maler
Basil Hallward ein sehr gelungenes Porträt von ihm malt, hat
Dorian deshalb nur einen Wunsch: Das Bild soll seine Seele und Dorian
im Gegenzug ewige Jugend und Schönheit erhalten.
Doch jetzt möchte ich euch endlich einen
Auszug aus Wildes Kunstmärchen vorlesen:
Zweites Kapitel
[...] "Wie traurig!" rief Dorian
Gray, dessen Augen noch immer an seinem Bilde hingen. "Wie
traurig! Ich werde alt und hässlich und abschreckend werden.
Dieses Bild aber wird immer jung bleiben. Nicht älter als wie
heute an diesem bestimmten Junitage... Wäre es doch lieber
umgekehrt! Möchte ich doch immer jung bleiben und das Bild
altern! Dafür - dafür würde ich alles geben! Ja,
die ganze, große Welt enthält nichts, das ich nicht dafür
opfern möchte. Selbst meine Seele würde ich dafür
hingeben!"
"Mit einem solchen Abkommen würdest du wohl schwerlich
einverstanden sein, Basil", meinte Lord Henry lachend. "Strenge
Züge würde es in dein Bild hineinbringen."
"Dem würde ich mich auch sehr widersetzen, Henry",
erwiderte Hallward.
Dorian Gray wandte sich dem Maler zu. "Das will ich dir glauben,
Basil. Du liebst ja deine Kunst mehr als deine Freunde. Ich bin
dir nicht mehr als eine mit Patina bedeckte Bronze. Ich möchte
sagen, kaum soviel."
Erstaunen malte sich in Basil Hallwards Augen. So zu sprechen war
nicht Dorians Art. Was war wohl vorgefallen? Er schien ganz aufgebracht.
Er war rot im Gesicht und seine Augen glühten.
"Ja", fuhr er fort, "ich bin dir weniger als dein
elfenbeinerner Hermes oder dein silberner Faun. Die wirst du immer
lieb haben. Aber wie lange mich noch? Ich vermute, bis sich die
erste Runzel bei mir zeigt. Jetzt weiß ich, dass, wenn man
sein schönes Aussehen verliert, man damit alles verloren hat.
Dein Bild hat mich das gelehrt. Lord Henry Wotton hat vollkommen
Recht. Jugend ist das einzige, dessen Besitz der Mühe lohnt.
Sobald ich finde, dass ich altere, werde ich mir das Leben nehmen."
Hallward wurde blass und ergriff seine Hand. "Dorian! Dorian!"
rief er. "Sprich nicht so. Noch nie hatte ich einen solchen
Freund wie dich und werde nie wieder solchen haben. Du bist doch
etwa nicht eifersüchtig auf leblose Dinge? - Du, der du doch
schöner bist als sie alle."
"Ich bin auf alles eifersüchtig, dessen Schönheit
nicht vergeht. Ich bin auf das Bild eifersüchtig, das du von
mir gemalt hast. Warum soll es das behalten, was ich verlieren muss?
Jeder Augenblick der flüchtigen Zeit nimmt etwas von mir und
gibt ihm etwas. Ach, wenn es doch umgekehrt wäre! Wenn das
Bild sich verändern möchte und ich immer der bleiben könnte,
der ich jetzt bin! Warum hast du es gemalt? Eines Tages wird es
sich über mich lustig machen - wird es mich verspotten und
verhöhnen." Heiße Tränen flossen aus seinen
Augen; er riss seine Hand weg und warf sich auf den Diwan, auf dem
er sein Gesicht in die Kissen vergrub, als betete er.
An dieser Stelle klappt Albert das Buch zu
und reibt sich die Augen: "Jetzt muss ich beinahe mit Dorian
weinen!"
"Mitweinen?" fragte Palmina entrüstet.
"Eher auslachen müsste man den! Wie kann man nur eifersüchtig
auf ein Bild von sich sein? Ein Bild ist ein Bild und ein Mensch
ist ein Mensch!"
"Wahrscheinlich stört ihn genau
das ", sagt Albert und schmunzelt. Sein Mitgefühl für
Dorian scheint spurlos verschwunden zu sein. "Dorian verehrt
die Kunst und die Schönheit. Das Leben müsste seiner Meinung
nach sein wie die Kunst, um wirklich schön zu sein. Da es aber
in der Wirklichkeit nicht nur Schönes, sondern auch Schmutz
und Hässlichkeit, Alter und Tod gibt, ist die Kunst dem Leben
vorzuziehen. Deshalb möchte Dorian lieber ein Kunstprodukt
als ein wirklicher Mensch sein."
"So eine Schnapsidee!" ruft Palmina
aufgebracht. "Da verpasst er ja das Beste, das Leben nämlich!"
"Wenn ich Oscar Wilde richtig verstehe",
wendet Albert rätselhaft ein, "haben auch Kunstprodukte
ein Leben."
"Aber es gibt doch auch hässliche
Kunst", vereifert sich Palmina. "Und es gibt Kunst, die
zwar kunstvoll ist, aber Hässliches darstellt!"
"Das stimmt", gibt Albert zu. "Es
gibt immer wieder Zeitabschnitte, in denen Künstler und Literaten
versuchen, die Realität und damit auch die Hässlichkeit
der Realität abzubilden. Aber zu der Zeit, als Oscar Wilde
lebte und schrieb, war es gerade in, die Kunst und Literatur von
den äußeren Einflüssen des Verfalls reinzuhalten.
Kunst sollte zweckfrei und schön sein."
"L'art pour l'art", sagt Palmina.
"Die Kunst um der Kunst willen. Du meinst, dass die Kunst damals
keinen anderen Zweck haben sollte als sich selbst?"
"Ich denke, die Dichter der Dekadenz
gingen sogar noch einen Schritt weiter", antwortet Albert.
"L'art pour l'art heißt
ja zunächst nur, dass sich die Kunst nicht von politischen,
gesellschaftlichen, religiösen oder moralischen Vorstellungen
vereinnahmen lassen soll. Zur Zeit von Oscar Wilde, im Zeitalter
des 'fin de siecle' und der Dekadenz wurde diese Idee allerdings
auf die Spitze getrieben: Kunst sollte nicht nur autonom sein, sondern
die Kunst sollte auch nur noch das Schöne darstellen."
"Wie langweilig", sagt Palmina.
"Schönheit allein macht doch gar keinen Sinn. Wie kann
man das Schöne genießen, wenn man das Hässliche
nicht kennt?"
"Wahrscheinlich gar nicht", sagt
Albert. "Wahrscheinlich haben sich die Anhänger des Schönheitswahns
oder des Ästhetizismus irgendwann auch so gelangweilt, dass
sie schnell gestorben sind. Wilde beispielsweise ist nur 46 Jahre
alt geworden."
"Und was ist aus seinem Helden Dorian
Gray geworden?" fragt Palmina. "Wurde er nun alt und hässlich
oder blieb er schön?"
Albert antwortet nicht. Statt dessen blättert
er in seinem Buch und fängt an zu lesen:
Siebtes Kapitel
[...] Als er die Tür öffnete,
fiel sein Blick auf das Bild, das Basil Hallward von ihm gemalt
hatte. Überrascht wich er zurück. Etwas verlegen aussehend,
trat er dann in sein Schlafzimmer. Nachdem er den Strauß aus
seinem Rocke entfernt, schien er zu zaudern. Dann aber ging er zurück,
trat an das Bild heran und betrachtete es. Bei dem trüben Lichte,
das durch die cremefarbenen seidenen Gardinen in das Zimmer fiel,
wollte es ihm scheinen, als ob das Gesicht sich etwas geändert
hätte. Der Ausdruck darauf sah anders aus. Man hätte sagen
können, dass um den Mund ein Zug von Grausamkeit lag. Sicherlich
war das recht seltsam.
Er ging ans Fenster und zog den Vorhang hoch. Jetzt flutete die
helle Morgendämmerung ins Zimmer und jagte die phantastischen
Schatten in dunkle Ecken. Aber der merkwürdige Ausdruck, den
er auf dem Gesichte des Bildes bemerkt hatte, schien noch immer
dort zu verweilen, ja er schien sogar jetzt noch deutlicher hervorzutreten.
Das warme Sonnenlicht ließ ihn den Zug der Grausamkeit um
den Mund so deutlich erkennen, als wenn er nach einer schrecklichen
Tat, die er selber begangen in den Spiegel gesehen hätte.
Er fuhr zusammen und ergriff den Handspiegel, dessen elfenbeinerne
Rahmen die Gestalt eine Cupidos hatte - eines von Lord Henrys zahlreichen
Geschenken. Schnell blickte er hinein. Aber keine Linie sah er,
die sich um seine roten Lippen gezogen hätte. Was bedeutete
das? [...] Was sollte er dazu sagen? Das Bild hielt das Geheimnis
seines Lebens und erzählte seine Geschichte. Seine Schönheit
lieben, hatte es ihn gelehrt. Würde es ihn wohl auch lehren,
seine Seele verabscheuen? Würde er es je wieder ansehen?"
"Wie du siehst, ist sein
Wunsch tatsächlich in Erfüllung gegangen", sagt Albert
und schlägt das Buch zu. "Man weiß nicht wie, aber
er hat tatsächlich mit dem Bild Schönheit gegen Seele
tauschen können. Das Bild altert und bekommt alle hässlichen
Gesichtszüge, die Dorian selbst erspart bleiben."
"Und?" fragt Palmina gespannt.
"Geht Dorians Rechnung auf und er wird zum glücklichen
Kunstprodukt? Oder macht ihm das hässliche Bild seiner Seele
zu schaffen?"
"Hm", meint Albert. "Das ist
eine schwierige Frage. Auf der einen Seite genießt er natürlich
seine Schönheit, die ihm nach außen ein makelloses Leben
ermöglicht. Denn obwohl er ein ausschweifendes, unsittliches,
genussüchtiges Leben führt, sieht er selbst immer aus
wie ein jugendlicher Adonis. Auf der anderen Seite kann er sein
Porträt und seine Seele aber nicht vergessen. In schwachen,
nachdenklichen Stunden wünscht er sich, dass der Pakt nie geschehen
wäre und er seine Seele nie verloren hätte. Trotzdem führt
er weiterhin ein egoistisches, skrupelloses Leben. Am Schluss begeht
er sogar einen Mord."
"So ganz ohne Hässlichkeit geht
es wohl nicht", sagt Palmina triumphierend. "Oscar Wilde
scheint doch klüger gewesen zu sein, als es auf den ersten
Blick ausgesehen hat. Er wusste, dass man das Leben nicht gegen
die Kunst ausspielen kann."
"Vielleicht hast du Recht", überlegt
Albert. "Trotzdem stolperte er über ähnliche Steine
wie Dorian. Nachdem Wilde das Märchen geschrieben und veröffentlich
hatte, passierten ihm ähnliche Dinge, wie seinem Titelhelden
Dorian. Er hielt sich in seiner Welt des schönen Scheins für
unverwundbar, pokerte zu hoch und stürzte ab. Wie für
Dorian wurde auch ihm die Kunst zum Leben. Doch das Leben, das Kunst
sein sollte, zahlte es ihm bitter heim ."
"Was passierte ihm denn?"
"So schnell lässt sich das nicht
erzählen. Kurz gesagt: Er wurde in der Öffentlichkeit
beleidigt, weil er ein provozierend freizügiges Leben führte.
Wilde verklagte den Beleidiger und wurde schließlich selbst
verklagt. Er verlor den Prozess und wanderte für zwei Jahre
ins Gefängnis."
"Wie endet denn das Märchen. Geht
es gut aus?"
"Wenn du das Märchen mit Dorian
Gray meinst, so finde ich, dass es gut ausgeht. Dorian stirbt zwar
am Schluss, aber er hat sich wieder mit seiner Seele vereint. Wenn
du das Märchen mit Oscar Wilde meinst, glaube ich, dass es
ein eher trauriges Ende nimmt. Die beiden Jahre vor seinem Tod zog
er verarmt und ziellos durch Europa. Nicht einmal sein Name blieb
ihm: Um die Schatten seiner Vergangenheit loszuwerden, nannte er
sich nicht mehr Oscar Wilde, sondern Sebastian Melmoth."
* * *
Oscar Wilde: Das Bildnis des Dorian Gray. In der Übersetzung
von J. Cassirer. Berlin um 1900. 360 Seiten.
Diese alte Ausgabe gibt es natürlich schon lange nicht mehr.
Dafür gibt es den Roman in verschiedenen aktuellen Übersetzungen
bei verschiedenen Verlagen. Fragt einfach in der Bibliothek oder
im Buchladen nach.
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