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Salon Albert

 

Hallo, willkommen in meinem literarischen Salon der erwachsenen Bücher!

Wenn ihr euch noch nie verwandelt habt, aber große Lust auf Metamorphosen habt, erfahrt ihr hier wie das geht.
Aber Vorsicht!
Wenn ihr nicht gut aufpasst, verwandelt euch das Buch, das ich euch gleich vorstelle, womöglich in eine Katze oder es schickt euch die Böse Puppe auf den Hals!
Das Buch, von dem die Rede ist, heißt Der Tagträumer und wurde von Ian McEwan geschrieben. Ian McEwan ist 1948 in England geboren und lebt auch heute noch dort.
Wie ihr sicher wisst, liebt man es in England, sich bei Tee und Keksen die seltsamsten und grusligsten Dinge zu überlegen.
Zum Beispiel, wie es
wäre, wenn plötzlich ein Gorilla durch den Kamin klettern und das Baby der Nachbarn stehlen würde, oder wenn die Wohnzimmerwände sich immer mehr zusammenschieben würden. Oder wie es wäre, wenn nachts der längst verstorbene Urururopa am Fenster klopfen würde.
Andere überlegen sich lieber realistischere Geschichten aus, die aber nicht weniger unheimlich sein müssen. Geschichten, die davon erzählen, wie im Moor ein Mörder auf seine Opfer wartet, oder wie die freundliche Tante ihrem Bruder jahrelang Arsen ins Essen mischt.

Wie ihr wahrscheinlich ahnt, hat auch Ian McEwan eine große Schwäche für das Unglaubliche, Unheimliche. Im Unterschied zu manchen seiner Kollegen verpackt er diesen Grusel aber weder in ausgebrochene Gorillas noch in vergiftete Kekse. Denn McEwans Figuren leben zwar ganz normal in der Realität, sie phantasieren sich aber ihre Umwelt so zurecht, dass einem Angst und bange werden kann.
Bei McEwan ist die Vorstellungskraft das Unheimliche, Treibende, Zerstörende, aber auch das Kreative. Mit unserer Phantasie lassen sich Dinge verwandeln und können wir über uns selbst hinauswachsen.

Ich glaube, jetzt habe ich euch erst einmal genug über den Autor erzählt.

Das Buch Der Tagträumer handelt von dem zehnjährigen Jungen Peter, der sich seine Welt zusammenträumt. In dem Kapitel, das ich euch jetzt teilweise vorlesen möchte, kramt Peter aus Langeweile in der Küchenschublade.
In der Küchenschublade der Familie Glück finden sich neben Schere, Tesafilm und Heftzwecken vor allem zusammengesammelter Krimskrams: halbleere Batterien, einzelne Handschuhe, Muttern ohne Schrauben, Taschenlampen ohne Birne oder stumpfe Murmeln. Kurz: Die Schublade ist bestens dafür geeignet, langweilige Minuten zu überbrücken oder seltene Gegenstände darin zu finden.
An diesem Samstagnachmittag, von dem hier nun die Rede sein wird, langte Peter einmal tiefer in die Schublade. Zuerst ärgerte er sich, dass die Schublade so unaufgeräumt und seine Familie insgesamt sehr unordentlich war. Nie war etwas in einwandfreiem Zustand, Puzzles und Kartenspiele waren unvollständig und die Batterien nicht aufgeladen. Doch als Peters Hand schließlich etwas Kaltes umfasste, vergaß er diesen Ärger. Er zog ein dunkelblaues Glas mit einem schwarzen Deckel und einer seltsamen Aufschrift hervor. Stellt euch vor, auf dem Deckel stand "Entfernungscreme"!

An dieser Stelle möchte ich euch nun eine Passage aus dem Buch vorlesen. Und zwar aus dem Kapitel:

Die Entfernungscreme

(...) Lange starrte er auf das Wort "Entfernung" und versuchte seine Bedeutung zu ergründen. Das Glas enthielt eine dicke weiße Creme, deren Oberfläche glatt war. Sie war noch nie verwendet worden. Mit der Zeigefingerspitze drückte er hinein. Sie fühlte sich kalt an - nicht die harte, beißende Kälte von Eis, sondern einen samtene, cremige Kühle. Er zog den Finger zurück und schrie erstaunt auf. Seine Fingerspitze war fort. Völlig verschwunden!

Albert klappt das Buch zu und sieht erwartungsvoll in die Runde.

"Und jetzt?" fragt Palmina erstaunt. Sie ist es nicht gewohnt, dass Albert schon nach ein paar Sätzen aufhört zu lesen.

"Das war's", sagt Albert. "Mehr darf ich euch nicht vorlesen."

"Ach, warum denn nicht?" fragt Palmina. "Tun dir die Augen weh oder verbietet dir das die Große Qualle?"
Die Große Qualle ist Alberts Ausrede Nummer 1. Immer, wenn er zu irgendetwas keine Lust hat, behauptet er, dass ihm das die Große Qualle verbieten würde. Palmina hat die Große Qualle noch nie gesehen und glaubt deshalb auch nicht so ganz, dass es sie wirklich gibt.

"Weder noch", antwortet Albert gelassen. "Es ist viel mehr so, dass der Diogenes-Verlag, der die deutsche Übersetzung des Buchs vertreibt, es verbietet."

"Und warum?" fragt Palmina wieder. "Ich dachte, Verlage mögen es, wenn man aus ihren Büchern vorliest."

"Dieser nicht", meint Albert. "Er will nicht, dass jemand anderes seine Bücher vorliest. Er will sie nur selbst vorlesen."

"Ach, ich verstehe", sagt Palmina. "Er legt großen Wert auf die Betonung des Textes. Das heißt, wir warten jetzt, bis jemand aus dem Verlag herkommt und uns den Text mit der richtigen Betonung vorliest? Das ist auch gut. Hauptsache, wir erfahren bald, wie es mit der Entfernungscreme weitergeht."

"Du hast mich falsch verstanden", sagt Albert. "Es kommt niemand aus dem Verlag vorbei, für so was haben sie gar keine Zeit. Ich wollte dir nur den Grund nennen, warum ich euch heute nicht mehr vorlesen darf."

"Aber das macht doch gar keinen Sinn! Leise darf man den Text alleine lesen, aber wenn man ihn laut liest, verbietet es einem plötzlich der Verlag."

"Der Verlag möchte seine Bücher verkaufen, deshalb mag er nicht, dass jemand anderes seine Bücher verbreitet", erklärt Albert. "Wenn ich das ganze Buch vorlesen würde, müssten es alle, die mir dabei zuhören, nicht mehr kaufen. Das stört den Verlag natürlich."

"Aber du liest doch immer nur ganz kleine Ausschnitte daraus vor!" ruft Palmina empört. "Und wenn mir die Ausschnitte gut gefallen, kaufe ich das Buch anschließend sogar. Das müsste den Verlag doch freuen. Alles andere macht keinen Sinn!"

"Und gerade weil es keinen Sinn macht, halten wir uns daran", sagt Albert bestimmt. "Denn schließlich sind wir große Freunde des Absurden!"

"Verbietet der Diogenes-Verlag denn auch, dass du mir die Geschichte nacherzählst?"

"Nein", antwortet Albert. "Das ginge dann doch zu weit. Und genau deshalb erzähle ich euch jetzt die Geschichte weiter. Obwohl ich mir beinahe sicher bin, dass das der Autor McEwan lieber selber tun würde:

Nachdem Peter also bemerkt hat, dass sein Fingerspitze verschwunden war, schraubte er das Glas wieder zu und rannte damit in sein Zimmer. Er musste erst einmal über seinen Fund und seine weggeschmolzene Fingerkuppe nachdenken.
Nach ungefähr einer halben Stunde trat Peter zum Fenster und sah hinunter auf seine Familie: Da lagen seine Eltern und seine Schwester neben den Trümmern ihres vergeudeten Samstagnachmittags - neben Teetassen, halbgegessenen Broten, Orangenschalen, leeren Joghurtbechern, Zeitungen. Peter ärgerte sich über die Unordnung da draußen, die ihn stark an die Küchenschublade erinnerte. "Mit diesen Leuten ist nichts anzufangen," dachte er, "aber wegwerfen kann man sie auch nicht gut. Oder vielleicht doch?" Peter hatte eine Idee.
Er nahm das Glas und ging damit in den Garten. Er kniete sich neben seine Mutter und fragte sie, ob er sie eincremen sollte. Nachdem sie etwas murmelte, das wie ein Ja klang, rieb er ihr den Rücken ein. Er hatte sich vorher extra einen Handschuh angezogen, damit die Creme ihm selbst nicht die Hand entfernte. Er liebte seine Mutter, da war er sich ganz sicher. Trotzdem machte er seinen Entschluss nicht mehr rückgängig. Gleichmäßig verteilte er die Creme auf dem Rücken. Und tatsächlich: seine Mutter begann sich auf der Stelle zu verflüchtigen. Es gab zwar einen unangenehmen Augenblick, nämlich als ihr Kopf und ihre Beine noch auf dem Gras lagen, während es dazwischen nichts mehr gab. Aber nachdem er rasch den Rest eingerieben hatte, sah es wieder gut aus: Seine Mutter war verschwunden. Anfangs, war die Stelle, wo sie gelegen hatte, zwar noch platt gedrückt, aber noch während er hinschaute, richteten sich die Grashalme auch schon wieder auf.

"Soweit so gut", sagt Albert und hält in seiner Nacherzählung inne. "Na, war das nicht eine gelungene Verwandlung?"

"Vor allem eine grausame", stellt Palmina fest. "Was sagte denn der Rest von Peters Familie dazu, als er seine Mutter mit der Creme entfernt hat?"

"Wenig", antwortet Albert ungerührt. "Denn Peter cremte seinen Vater gleich danach weg. Als er seine Schwester eincremen wollte, hatte er zwar zuerst ein kleines Problem, denn sie hatte keine Lust auf Creme. Aber Peter kleckste ihr trotzdem schnell welche auf den Kopf, und somit war auch dieses Problem gelöst. Sie rannte dann noch kurze Zeit wie ein kopfloses Huhn durch den Garten, bis sich Peter ihrer erbarmte und auch den restlichen Körper mit der Creme entfernte."

"Dir scheint diese Art der Verwandlung ja sehr gut zu gefallen!"

"Ich finde es immer schön, wenn Veränderungen auftreten."

"Aber doch nicht die Veränderung hin zum Nichts!" ruft Palmina empört. "Zum Glück ist das nicht mein Bruder. Denn im Gegensatz zu dir, finde ich, dass es sinnvolle und völlig sinnlose Veränderungen gibt. Und die Verwandlung in ein Nichts macht keinen Sinn!"

"Womit wir wieder beim Thema wären", sagt Albert und blubbert ein wenig in seinem Glas. "Ob etwas Sinn macht oder nicht, hängt häufig davon ab, auf welcher Seite man steht. Peter war ja noch vollständig da. Er hatte die einmalige Gelegenheit, sich dem Nichts zu stellen."

"Ich frage mich nur, warum er das gemacht hat ", überlegt Palmina laut. "Ist er vielleicht nicht ganz richtig im Kopf?"

"Ich glaube nicht, dass das eine Frage von richtig oder falsch ist", sagt Albert. "Er hatte einfach eine Idee und versuchte, diese Idee umzusetzen. Die Mittel spielen dabei keine Rolle. Das Bewundernswerte daran ist doch vielmehr, dass es ihm gelungen ist!"

"Der Preis dafür scheint mir aber zu hoch zu sein", sagt Palmina etwas schnippisch. "Um welche großartige Idee handelte es sich denn dabei?"

"Um die Idee von Klarheit, Ruhe und Ordnung", antwortet Albert. "Peter ist ein phantasievoller, schöpferischer Mensch. Aber damit er an dem Nachmittag etwas schaffen konnte, musste er erst alles vernichten, was es gab. Erst dann war er frei und nicht abgelenkt. Erst dann konnte er tun, was er wollte."

"Auf so eine Kreativität pfeife ich", ruft Palmina empört aus. "Eine Kreativität, die über Leichen geht, widerspricht sich selbst. Geht denn der Autor McEwan auch über Leichen?"

"Wohl kaum. Er beschreibt sie nur. Außerdem lässt er Peter seinen Plan nicht bis in die letzte Konsequenz umsetzen. Nachdem Peter nämlich seine Familie entfernt hat, räumte er zwar noch das ganze Haus aus und steckte alle Sachen in einen Müllbeutel. Aber dann..."

"Was dann?" fragt Palmina neugierig.

"Dann", sagt Albert und fährt in seiner Nacherzählung fort: "Dann musste er sich sein Abendessen plötzlich selber zubereiten. Das gelang ihm nicht so gut, weshalb er schließlich eine Scheibe Brot mit weißem Zucker in den Müll warf. Den Teller und das Messer schmiss er gleich hinterher. Danach schlenderte er durchs Haus und sah sich die leeren Zimmer an. Er war froh, dass er endlich klar denken und mit seinen Erfindungen anfangen konnte. Jetzt brauchte er nur noch einen Bleistift und ein leeres Blatt Papier. Das Problem war nur, dass sich die Bleistifte wahrscheinlich in einem der elf Müllsäcke befanden, die er vorher gefüllt hatte. Im Moment fand das Peter allerdings nicht so schlimm. Denn es gab ja auch noch andere Dinge zu tun. Beispielsweise fernzusehen. Seine Eltern hatten es nicht besonders gern, wenn er fernsah. Sie hatten es ihm zwar nicht verboten, aber sie waren der Meinung, dass länger als eine Stunde fernsehen am Tag, das Hirn verfaulen ließ. Aber jetzt konnte er ja machen, was er wollte. Er holte sich einen Liter Limonade, eine Kilo Toffee und einen Biskuitkuchen, setzte sich damit in den Lehnsessel und sah so viel fern wie sonst in einer ganzen Woche.
Kurz nach ein Uhr morgens war es ihm allerdings so speiübel, dass er sich torkelnd erhob und nach seiner Mutter rief. Natürlich kam sie nicht. Er ging deshalb allein aufs Klo und wollte sich übergeben, als er plötzlich von oben ein schwer beschreibliches Geräusch hörte. Es hörte sich an wie quietschende, quatschende, schlappende Fußtritte. Als ob ein schleimiges Wesen auf Zehenspitzen durch eine riesige Pfütze aus grünem Wackelpudding ginge. Peter packte das Entsetzten. Die Übelkeit war wie weggeblasen und die Angst an ihre Stelle getreten. "Papa?" krächzte er. "Papa?"
Wie ihr euch denken könnt, bekam er natürlich keine Antwort. Er überlegte sich, wo er jetzt schlafen sollte. Unten wollte er auf keinen Fall bleiben. Dort gab es nichts mehr, womit er sich zudecken konnte. Er wollte deshalb unbedingt in sein Zimmer hoch. Langsam begann er die Treppen hochzusteigen. Sein Herzschlag dröhnte ihm in den Ohren. Er glaubte, das Geräusch von neuem zu hören, aber sicher war er sich nicht. Mit dieser Ungewissheit und der großen Angst, dass das Ungeheuer gleich auf ihn stürzen würde, schlich er sich von Treppenstufe zu Treppenstufe. Endlich oben angekommen, zählte er bis drei und hechtete sich in sein Zimmer. Schnell warf er die Tür hinter sich zu, verriegelte sie, lehnte sich dagegen und wartete.

"Er hat es mit der Angst bekommen!" sagt Palmina zufrieden. "Er hat Angst vor seiner eigenen Courage."

"Das macht ihn doch wieder sympathisch", meint Albert.

"Nur dass es jetzt dafür zu spät ist", gibt Palmina zu Bedenken. "Er hat sich seine Umgebung nach seinen Ideen geformt und befindet sich nun in einer menschenleeren Welt voller Monster. Das hat er prima hingekriegt. Das muss ich schon sagen."

"Erstens ist da nur von einem Monster die Rede", stellt Albert sachlich fest. "Und zweitens kann er doch vielleicht seine Umgebung auch wieder in ihren alten Zustand zurück phantasieren?!"

"Wohl kaum. Von einem, der sogar Papiere und Stifte in den Müll wirft, erwarte ich ehrlich gesagt nicht so viel."

"Vielleicht muss er nur ein paar Mal mit den Augen zwinkern und schon ist alles wieder beim Alten", gibt Albert zu Bedenken.

"So etwas gibt's doch nur bei Träumen", sagt Palmina skeptisch.

"Oder bei Büchern", sagt Albert. "Vor allem wenn man es mit Dem Tagträumer zu tun hat."

Wenn euch Alberts Nacherzählung Appetit auf das Original gemacht hat und ihr euch außerdem für weitere Verwandlungskunststücke von Peter interessiert, findet ihr sie bei:

Ian McEwan: Der Tagträumer. Diogenes Verlag AG. Zürich 1995. 155 Seiten.

 

 © Rossipotti No. 5, Oktober 2004