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Salon Albert

Hallo alle zusammen!
Es ist schön, dass ihr euch wieder bei mir eingefunden habt! Ein paar von euch kenne ich ja mittlerweile ganz gut. Und Palmina ist auch wieder dabei. Schön, schön.
Rückt nochmals eure Stühle zurecht, trinkt einen Schluck aus eurem Wasserglas, und dann kann die Lesung beginnen.

Heute stelle ich euch einen Autor vor, der immerhin nicht im vorletzten, sondern erst im letzten Jahrhundert gestorben ist.

Sein Name ist Franz Kafka. Vielleicht habt ihr den Namen schon einmal gehört. Denn Kafka gehört zu den bedeutendsten und wahrscheinlich auch bekanntesten deutschsprachigen Autoren.

Was kann man in wenigen Sätzen über Franz Kafka sagen?
Eigentlich nichts.

Glaubt man nämlich den Leuten, die sich viel mit Kafka beschäftigen, dann kann man über ihn entweder nur endlos viele Sätze schreiben oder lieber gar nichts.
Kafka ist deshalb nicht nur einer der bedeutendsten deutschsprachigen Autoren, sondern auch einer, über den unwahrscheinlich viel geschrieben und geschwiegen wurde.
Von denen, die über ihn schreiben, will jeder etwas Neues entdecken. Und deshalb schreibt auch jeder etwas anderes über ihn.
Das macht natürlich keinen Sinn. Denn Kafka kann einerseits nicht der einsamste und gleichzeitig der geselligste Mensch auf der Welt gewesen sein. Es ist auch nicht möglich, dass ein und derselbe Mann Frauen nur aus der Ferne geliebt und gleichzeitig einige ganz enge Liebes-Beziehungen mit ihnen gehabt haben soll.
Ebenso schreiben die einen, dass Kafka ein sehr schwieriges Verhältnis zu seinem Vater gehabt habe und sich seine ganze Literatur darauf beziehe. Und die anderen schreiben, dass das Vater-Sohn-Verhältnis zwar kompliziert gewesen sei, aber noch lange nicht ausreichend Grund genug, Kafka nur in Beziehung zu seinem Vater zu sehen.

Da alles gleichzeitig gar nicht stimmen kann, muss also vieles Quatsch sein, was über den Mensch Kafka geschrieben wurde und wird. Und entsprechend viele widersinnige Meinungen gibt es auch über seine Geschichten und Romane. Kafka bleibt deshalb ein Geheimnis, das jeder für sich selbst lösen muss.

Da ich euch aber trotzdem etwas über Franz Kafka sagen möchte, ohne eure Geduld zu lange auf die Folter zu spannen, sage ich euch nur folgendes:
Kafka wurde als deutscher Jude 1883 in Prag geboren und ist auch dort mit 41 Jahren relativ jung gestorben. Kafka lebte in einer Zeit, in der die Filme noch stumm und schwarz-weiß waren.

Auf den bekannten schwarz-weiß Fotos hat Kafka immer große, abstehende Ohren. Die fallen deshalb so auf, weil sie in einem komischen Kontrast zu seinen Augen stehen, die einen gleichzeitig traurig-sanft und aggressiv-durchdringend ansehen.

Ich lese euch etwas von diesem Autor vor, weil er im Gegensatz zu E.T.A Hoffmann, den ich in meinem letzten Salon vorgestellt habe, eine ganz einfache Sprache hat. Seine Sätze sind kurz und die einzelnen Wörter euch wahrscheinlich alle bekannt.
Doch obwohl man jedes Wort versteht, kommt man bei der Summe der Wörter ins Grübeln: Was bedeutet das wohl? Ist es genau so gemeint, wie es da steht, oder eigentlich ganz anders?

Wie Hoffmann liebte Kafka das Groteske und Abgründige. Wie Hoffmann hat Kafka eine sehr bilderreiche Sprache. Und trotzdem erzählt er seine Geschichten ganz anders, und auch seine Geschichten erzählen etwas ganz anderes. Doch seht selbst.

Die kurze Geschichte, die ich euch jetzt vorlese, steht in einem Erzählband von Kafka. Sie heißt "Der Aufbruch". Ich habe sie ausgesucht, weil immerhin der Titel ein wenig zu unserem Magazin-Thema "Geburtstag" passt.

Der Aufbruch

Ich befahl mein Pferd aus dem Stall zu holen. Der Diener verstand mich nicht. Ich ging selbst in den Stall, sattelte mein Pferd und bestieg es. In der Ferne hörte ich eine Trompete blasen, ich fragte ihn, was das bedeute. Er wusste nichts und hatte nichts gehört. Beim Tore hielt er mich auf und fragte: "Wohin reitest du, Herr?" "Ich weiß es nicht", sagte ich, "nur weg von hier. Immerfort weg von hier, nur so kann ich mein Ziel erreichen." "Du kennst also dein Ziel?" fragte er. "Ja", antwortete ich, "ich sage es doch: 'Weg-von-hier', das ist mein Ziel." "Du hast keinen Essvorrat mit", sagte er. "Ich brauche keinen", sagte ich, "die Reise ist so lang, dass ich verhungern muss, wenn ich auf dem Weg nichts bekomme. Kein Essvorrat kann mich retten. Es ist ja zum Glück eine wahrhaft ungeheuere Reise."

"Na, Palmina? Du sagst ja gar nichts! Wie hat dir denn die Geschichte gefallen?"

Palmina sieht Albert etwas skeptisch an. Dann sagt sie: "Ich verstehe nicht, was an dieser Geschichte rätselhaft sein soll!"

"Du hast sie also verstanden?"

Palmina nickt. "Einer will eine Reise mit einem Pferd machen. Sein Diener fragt ihn, wohin es gehe, und ob er kein Essen bräuchte. Der Herr sagt, er will bloß weg von hier und die Reise sei so lang, dass ein Essvorrat eh nichts helfen würde. Er muss sich also unterwegs etwas besorgen."

"Das erzählt also die Geschichte?" fragt Albert.

Palmina nickt ein wenig verunsichert.

"Man kann das mit dem Essvorrat aber auch anders lesen. Du kennst doch sicher Kippbilder? Solche Bilder, auf denen man zuerst ein Gesicht sieht, und wenn man lange darauf schaut, sieht man plötzlich ein ganz anderes Gesicht? Ja? So ähnlich ist das auch mit dem Satz: 'Kein Essvorrat kann mich retten.' Zuerst bedeutet er, wie du gesagt hast, dass die Reise so lang ist, dass kein Essvorrat ausreichen würde. Man kann sie aber auch so lesen, dass 'Kein Essvorrat' den Reiter retten kann. Da würde dann die Betonung nicht darauf liegen, dass die Reise so lang ist, sondern dass er nur dann von zu Hause weg kommt, wenn er mittellos losreitet. Er muss alles hinter sich lassen, erst dann kann die Reise gelingen."

"Warum will er eigentlich unbedingt weg?"

"Das weiß man nicht."

"Wegen seinem Vater?"

"Es ist eigentlich ganz egal, warum er weg will. Die Geschichte erzählt zwar von der Schwierigkeit des Aufbruchs, aber der Grund ist schon in den Hintergrund getreten. Wichtiger ist, was kommt: Etwas Ungeheuerliches."

"Ich glaube, der schafft es gar nicht wegzureiten!"

"Wie kommst du denn darauf?"

"Weil der Angst hat vor den Ungeheuern, die auf ihn warten," sagt Palmina und freut sich, dass Albert ein wenig unruhig in seinem Glas hin- und herschwimmt. "Das ist wie in meinen Albträumen. Hinter mir läuft einer und verfolgt mich, und ich muss dringend weg, weil ich weiß, dass der Verfolger böse ist. Aber meine Füße kleben am Boden, jeder Schritt kostet unheimlich viel Kraft, und der Verfolger kommt immer näher und näher."

"Und was tust du dann?" fragt Albert gespannt.

"Ich versuche aufzuwachen!" Palmina lacht und sagt: "Glaubst du, dass es dem Reiter auch gelingt, aufzuwachen?"

"Die Geschichte ist hier zu Ende", antwortet Albert. "Aber wir können ja noch eine andere Geschichte von Kafka lesen. Vielleicht finden wir an einer ganz anderen Stelle heraus, was wohl mit dem Reiter passiert ist."

Palmina schaut Albert ungläubig an.
Wie kann Albert nur glauben, dass in einer ganz anderen Geschichte etwas über den Reiter steht?
Er nimmt doch auch nicht an, dass Robin Hood in Biene Maja auftaucht!
Andererseits kennt Palmina Albert ja schon ziemlich lange. Und deshalb weiß sie auch, dass Albert seine Bücher immer auf sehr seltsame Art und Weise liest: Er merkt sich nie, an welcher Stelle er zuletzt gelesen hat, und er will es auch gar nicht wissen. Wenn er weiterlesen will, klappt er das Buch einfach an einer x-beliebigen Stelle auf und fährt da mit dem Lesen fort.
Komischerweise weiß Albert trotzdem immer, wovon die Büchern handeln.

Jetzt räuspert sich Albert und das ist das Zeichen dafür, dass er weiterlesen möchte:

 

Kleine Fabel

"Ach", sagte die Maus, "die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, dass ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, dass ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, dass ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe." - "Du musst nur die Laufrichtung ändern", sagte die Katze und fraß sie.

 

"Das ist eine grausame Geschichte", ruft Palmina aus. "Und bestimmt nicht kinderfrei!"

"Das ist doch nur eine Fabel. Ich habe schon grausamere Tiergeschichten gehört."

"Aber ich habe doch kein wirkliches Mitleid mit der Maus!" sagt Palmina ein wenig empört. "Ich weiß, dass die nur aus Papier ist. Die Geschichte ist grausam, weil sie einem keine Möglichkeit gibt zu entkommen. Das ist ja wie bei dem Reiter! Der konnte auch nicht vor und zurück."

"Aber immerhin war da keine Katze, die ihn gefressen hat."

"Du meinst, der Reiter hatte Hoffnung, dass alles gut wird?"

"Vielleicht schon."

"Ich glaube, dieser Kafka hatte Angst vor der Welt. Sonst würde er nicht Geschichten schreiben, in denen seinen Figuren das Handeln so schwer fällt."

"Du bist ja ganz empört", sagt Albert und zwinkert ein wenig mit den Augen.

"Ich weiß nicht, warum du uns nicht lustigere Geschichten vorliest. Die Geschichte von Hoffmann war viel lustiger."

"Aber es ist doch interessanter, unterschiedliche Autoren und Erzählweisen kennen zu lernen. Außerdem geht es bei Schriftstellern der Erwachsenenliteratur viel häufiger traurig als lustig zu."

"Warum denn das?"

"Erwachsene wollen eben häufig seriös oder ernst sein. Außerdem haben Erwachsenen-Autoren häufig das Gefühl, an der Welt zu leiden. Dieses Leiden wollen sie in allen Farben und Formen beschreiben."

"Wenn das so ist, bleibe ich lieber ein Kind."

"Das kann ich dir nicht raten! Hast du etwa noch nie von Oskar gehört?"

"Was für ein Oskar?"

"Oskar Matzerath aus der Blechtrommel von Günter Grass. Der wollte mit drei Jahren nicht mehr wachsen und ist dann einfach ein Kind geblieben. Das war aber auch nicht das Gelbe vom Ei! Später ist er dann doch gewachsen. Aber er blieb sein Leben lang ein Krüppel. Oder nimm dir ein Beispiel aus der Kinderliteratur. Peter Pan wollte auch nicht erwachsen werden. Aber ist sein Leben etwa erstrebenswert?"

"Nein", überlegt Palmina. "Wohl eher nicht. Peter Pan ist nicht Fisch und nicht Fleisch. Außerdem ist er mir unheimlich."

"Na siehst du", blubbert Albert zufrieden.

"Du meinst also, ich habe gar keine andere Möglichkeit als erwachsen zu werden?"

Albert nickt: "Natürlich nicht! Aber es ist ja zum Glück eine wahrhaft ungeheuere Reise."

Franz Kafka: Der Aufbruch und Kleine Fabel. In: Sämtliche Erzählungen. Fischer Taschenbuch Verlag. Frankfurt am Main. 1991

 © Rossipotti No.2, Februar 2004