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Rossipottis 11 Uhr Termin
Einleitendes
Alltägliches
Nachdenkliches
Abenteuerliches
Einleitendes
was sollen wir tun?
von Lars-Arvid Brischke
wir können uns mit angeln
bis zu den amseln hangeln
wir können durch den besen
die neuesten biber lesen
wir können uns vor'm cellophan
chamäleonhaft verstecken
wir können über'n daumen
das murmeltier verpeilen
wir soll'n nicht lange weilen
uns langsam zu beeilen
doch können wir elefanten
mit porzellan beladen
wir können eine flotte
aus faltern flattern lassen
wir können auf der geige
den gänsen füße zeigen
wir können aus dem häuschen
ins schneckentempo flutschen
wir wollen nicht mehr husten
wie bonbons die uns lutschen
doch können wir uns mit igeln
versuchen anzustacheln
wir können uns beim kraken
gefährlich unterhaken
beim lesen in den augen
der leguane spiegeln
wir können vor den muscheln
vom grund des meeres nuscheln
wir können nicht hinter'm rücken
einen mückenschwarm zerdrücken
doch können wir auf den nadeln
der tannenbäume radeln
wir können uns ein rudel
orang utans unterjubeln
wir können plastikmöbel
mit pantoffeltierchen polstern
wir können uns als rehe
im wald im kreise drehen
wir dürfen nicht bei krabbenscheren
uns allzu leichtsinnig beschweren
doch können wir einem tiger
weismachen, er sei sieger
wir können uferschwalben
in fotoalben kleben
die welt wie jedes walross
aus ihren angeln heben
wir wollen tun und lassen
uns ausgestopfte drachen
erst steigen und dann fallen.
Alltägliches
Ein richtig schöner Nachmittag
von Barbara Rose
"Was sollen wir machen?"
"Keine Ahnung. Fällt dir was ein?"
"Nö."
"Ich weiß auch nix."
"Wir könnten Kaufladen spielen."
Gelächter.
"Kaufladen! Das ist doch Babykram."
"Echt nur für Pupsis."
"Ihr seid doof. Das ist doch lustig. Mein Onkel, der hat einen
Supermarkt. Da habe ich am Samstag geholfen."
"Toll. Und?"
"Das war echt spannend! Da ist eine Frau reingekommen, die
wollte fünfzehn Kokosnüsse haben. Mitten im Winter!"
"Und was ist da jetzt das Besondere dran?"
"Hej, die wollte fünfzehn Kokosnüsse kaufen. Auf
einmal. Und sie war nicht allein. Die hatte echt total verrückte
Typen bei sich."
Stille.
"Was für Typen?"
"Affen. Fünf Affen. Echte."
"So ein Quatsch!"
"Jetzt lügst du, oder?"
"Wenn ich es doch sage. Fünf Affen hatte die bei sich.
Einer saß auf ihrem Rücken, zwei in ihrem Einkaufskorb
und zwei sind gelaufen."
"Gelaufen? Auf zwei Beinen oder wie?"
"Genau."
"Wow, dann waren die ja riesig!"
"Klar, das waren Menschenaffen."
"Ist ja irre!"
"Der Typ schwindelt doch wie Sau!"
"Ich schwör's. Mein Onkel und ich konnten uns kaum halten
vor Lachen. Aber wir haben der Affentante dann die Kokosnüsse
besorgt. Das hat ein bisschen gedauert, und deshalb haben wir sie
ihr nach Hause gebracht."
"Und?"
"Die hat in einem riesigen Haus gewohnt. Da standen überall
Palmen rum, so ganz große. Und Seile waren durch das ganze
Haus gespannt, da haben die Affen dran geschaukelt. Mindestens zwanzig!"
"Lügner!"
"Wenn ich's euch doch sage! Die Frau wollte die Kokosnüsse,
weil einer von den Affen Geburtstag hatte. Die hatte überall
Luftballons aufgehängt, und die Affen haben damit gespielt.
Und Kokosnüsse gefuttert und wilde Sachen gemacht. Ich sage
euch, das war so cool. Die Affentante hat uns dann eingeladen ins
Haus. Und wir haben mit Kokosnüssen und Fanta Geburtstag gefeiert,
mein Onkel und ich und die ganze Affenbande."
"Und die Affen? Haben die auch Fanta getrunken?"
"Nee, natürlich nicht. Da fällt mir ein. Ich habe
tierisch Durst. Kriegen wir was zu trinken?"
"Super Idee."
Tür auf, Tür zu, Kühlschrank auf, Kühlschrank
zu, Gläserschrank auf, Gläserschrank zu.
"He, trink doch nicht so schnell."
"Und du verschüttest ja alles, pass doch auf."
"Stell dich nicht so an, ist doch nur Apfelsaft."
"Hast du 'ne Meise? Das ist nicht einfach Apfelsaft!"
"Schmeckt aber so."
"Dann pass mal auf, dass du dich nicht vergiftest."
Prusten.
"Spinnst du jetzt oder was?"
"Nee, der Apfelsaft könnte vergiftet sein. Den hat meine
Mutter nämlich bei einer echt seltsamen Frau gekauft."
"Wieso seltsam?"
"Die kam hier mit so einem Handwägelchen vorbei, gestern.
Und hat selbst gemachten Apfelsaft verkauft. Total billig. Weil
eine Flasche, hat die gesagt, eine Flasche könnte vergiftet
sein. Aber das wäre dann ein ganz blöder Zufall, das könnte
sie sich gar nicht vorstellen, dass das gerade uns passieren würde.
Auf jede Fall würden wir ihn deshalb als Sonderangebot kriegen."
"Willst du uns verarschen?"
"Nee, echt. Die hat voll seltsam ausgesehen, wie so ne Hexe.
Die hat erzählt, dass sie schon seit vielen hundert Jahren
Apfelsaft macht. Davor hat sie gezaubert und so. Und ganz früher,
da hat sie dem Schneewittchen vergiftete Äpfel angeboten."
Gelächter.
"Hej, das ist wahr! Von den dämlichen Giftäpfeln
wären ein paar übrig geblieben, und aus denen hat sie
aus Versehen auch Saft gemacht."
"Hahaha. Sehr witzig."
"Hab ich auch erst gedacht. Aber lies mal, was auf der Flasche
steht."
"Hexenhäuschen. Bester Apfelsaft aus eigener Herstellung.
Seit vielen Jahrhunderten."
Stille.
"Komm, das hast du da jetzt schnell draufgeschrieben, oder?"
Scheppern.
"Hier. Noch vier Flaschen. So schnell kann ich ja wohl nicht
schreiben, oder? Stimmt also."
"Wieso kauft deine Mutter denn so einen Scheiß?"
"Mann, die waren billig."
"Äh, ich habe keinen Durst mehr, glaube ich."
"Ich auch nicht."
"Und was machen wir jetzt?"
"Puh. Schwierig."
"Echt keine Ahnung."
"Wir könnten zu dir gehen und Computer spielen."
"Au ja."
"Super Idee."
"Spitze."
"Ach nee, lieber nicht. Unser Computer geht grade nicht."
"Ist der kaputt oder was?"
"Nee, der schläft. Und da müssen wir ihn in Ruhe
lassen, der ist nämlich sauer."
"Der Computer?"
"Jaja, genau."
"Du tickst doch nicht mehr richtig."
"Wirklich, der ist stinkesauer. Und wenn wir ihn nicht in Ruhe
lassen, dann frisst der uns noch auf."
"So ein Käse!"
"Ein Computer kann nix auffressen."
"Kann er wohl! Gestern hat er meinen großen Bruder in
sich reingezogen. Ich habe schon gedacht, jetzt ist der weg, mausetot.
Aber der Computer hat ihn dann wieder ausgespuckt. Danach hat er
aber überall blaue Flecken und Kratzer gehabt, mein Bruder."
"Das glaube ich dir nicht."
"Wieso soll so ein Computer einen auffressen?"
"Weil der mal seine Ruhe haben wollte. Mein Bruder sitzt da
den ganzen Tag davor und hackt auf den Tasten rum. Und das ist dem
Computer zu blöd geworden. Der wollte mal seine Ruhe haben.
Aber mein Bruder hat nicht aufgehört."
"Und da hat ihn der Computer ordentlich vertrimmt, was?"
"Genau."
"Ich lache mich tot."
"Guckt mal. Da läuft mein Bruder."
"Was glotzt ihr? Noch nie ein paar blaue Flecken gehabt?"
Haustür knallt.
"Hätte ich nicht gedacht, dass das stimmt mit dem Computer."
"Hmm."
Schweigen.
"Hej, jetzt ist es aber spät geworden. Ich muss heim."
"Ich auch."
"Wartet, ich komme mit."
"Und morgen? Machen wir da wieder was zusammen?"
* * *
Ferien-Smileys
von Tilla Lingenberg
Tom langweilte sich. "Dann spiel doch eine Runde
Schach", schlug seine Mutter vor. "Mit Dir?" fragte
Tom hoffnungsvoll. Aber natürlich nicht mit Mama, sie musste
ja arbeiten. Sie saß an ihrem Computer und übersetzte
Bücher. Nie hatte sie Zeit. Gegen sich selbst Schach zu spielen,
fand Tom blöd. Ferien fand er auch blöd, wenn alle verreist
waren, nur er nicht. Jedenfalls nicht in der ersten Woche. Später
würde er mit Papas neuer Familie in Urlaub fahren. Also wahrscheinlich.
Bei Papa wusste man nie so genau. Er war Schauspieler und wenn er
kurzfristig eine Rolle beim Film bekam, warf er alle Pläne
über den Haufen. Dann war es ihm auch egal, ob Tom sich schon
ganz lange auf seine Zeit mit Papa gefreut hatte. Tom kickte einen
Radiergummi durchs Zimmer. Er setzte sich aufs Fensterbrett und
sah dem Regen beim Fallen zu.
Lotta langweilte sich. Sie hatte schon vier Freundinnen
angerufen, aber überall lief nur der Anrufbeantworter. Zuvor
hatte sie eine halbe Stunde Computer gespielt und ihre alten Zeitschriften
sortiert. Ihre Eltern waren zum Einkaufen gefahren, aber Lotta hatte
keine Lust gehabt mitzukommen. Lotta ging zum Fenster, stützte
ihre Ellenbogen auf das Fensterbrett und legte ihren Kopf in ihre
Hände. Regentropfen liefen in krummen Bahnen an der Scheibe
hinunter. Lotta hauchte die Scheibe an und malte einen Smiley. So
hatte Lotta sich ihre Osterferien nicht vorgestellt. Alle waren
weg, es regnete schon seit drei Tagen und es war wieder richtig
kalt geworden.
Tom hauchte die Fensterscheibe an und malte einen
Smiley. Als er verschwand, sah er gegenüber an der Scheibe
seinen Smiley wieder auftauchen.
"Wie geht das denn?" fragte er sich. Aber schnell begriff
er, dass da jemand anderes auch einen Smiley gemalt hatte.
Wieder hauchte er seine Scheibe an und malte ein Punktgesicht mit
schlechter Laune. Er musste nicht lange warten, da tauchte auch
im Haus gegenüber ein Smiley mit einem Mundbogen nach unten
auf. Tom malte jetzt das Haus vom Nikolaus. Schwups zeigte sich
das auch am anderen Fenster. Langsam fing es an, Spaß zu machen.
Tom überlegte, was er jetzt malen könnte, da war sein
Gegenüber schneller.
Er las ein O l l A H. Null zwei A H? Was sollte das denn? Er hauchte
und fing an ein Fragezeichen zu malen, als er begriff: HALLO in
Spiegelschrift. Also musste man selbst in Spiegelschrift schreiben,
damit der Andere es richtig herum lesen konnte. Oder, überlegte
Tom, man nahm gleich ein Blatt Papier und schrieb ganz normal.
Lotta wartete auf eine Antwort vom Fenster gegenüber.
Hatte der Junge schon keine Lust mehr, oder was war los? Jetzt wischte
er so schnell weg, was er gemalt hatte, so schnell konnte sie nichts
erkennen. Na toll, jetzt ging er weg. Na klar, er war eben ein Junge,
der hatte keine Lust auf solche Spiele. Dabei hatte es Lotte gerade
angefangen, Spaß zu machen. Sie schaute auf die Straße,
ob ihre Eltern vom Einkaufen zurück kamen. Da bewegte sich
etwas bei dem Jungen am Fenster. Er hatte einen Zettel geschrieben
und drückte ihn an die Scheibe. Was stand da? Das war zu klein,
das konnte Lotta nicht lesen. Sie suchte schnell ihren Malblock
und dicke Wachsmalstifte. Sie schrieb >ZU KLEIN< auf das Blatt.
Und presste es an die kalte Scheibe.
Tom las >ZU KLEIN< auf dem Zettel des Mädchens.
Wieso zu klein? Er war doch gar nicht so klein. Die sollte sich
bloß nicht so aufspielen. Er schaute auf seinen Zettel und
begriff, dass sie seine Schrift meinte. Ach so. Sie wollte also
auch mit Zetteln weitermachen. Das war ja auch viel einfacher. Er
suchte einen dicken Filzstift und überlegte, was er schreiben
sollte. Er schrieb ziemlich groß >GUT SO?< und drückte
es an die Scheibe. Das Mädchen nickte. Tom schrieb auf die
Rückseite >TOM<. Aber dann zögerte er. Sollte er
wirklich jetzt schon seinen Namen verraten? Was, wenn sie ihn dann
aufzog? Sie war ein Mädchen, die machten so etwas.
Lotta presste jetzt ihren nächsten Zettel an
die Scheibe >LOTTA< stand darauf. Wenn sie schon mit dem Jungen
gegenüber "zettelte", dann konnte er ja ruhig ihren
Namen wissen. Außerdem war sie neugierig, wie er hieß.
>TOM< las sie auf seinem Blatt. Aha, dachte Lotta, der Tom
also. Und was jetzt? Sie überlegte und schrieb dann >LANGWEILIG<.
Aber bevor sie ihm den Zettel zeigte, überlegte sie, dass er
dann meinen könnte, sie fände seinen Namen langweilig.
Das stimmte ja nicht. Sie wollte nur fragen, ob ihm auch so langweilig
war. Das war's, ein Fragezeichen fehlte: >LANGWEILIG?<
>UND WIE!<
>FREUNDE?<
>ALLE WEG<
>MEINE AUCH<
>DOOFER REGEN<
>SAUDOOFER<
>SUPER SAUDOOFER< wollte Tom gerade auf das nächste Blatt
schreiben, als er eine Idee hatte. Er knüllte den angefangenen
Zettel zusammen und schrieb einen Neuen: >KINO?< stand da
plötzlich. Konnte er mit einem fremden Mädchen ins Kino
gehen? Aber Mama hatte sowieso nie Zeit und er wollte schon so lange
diesen einen 3D-Zeichentrickfilm sehen. Der lief bestimmt nur noch
diese Woche und wenn er es heute oder morgen nicht ins Kino schaffen
würde, würde er ihn verpassen. Das würde ihn ärgern.
Aber wenn ihn jemand mit einem Mädchen zusammen sah? Tom zögerte,
aber dann war es ihm egal. Erstens waren sowieso alle verreist und
außerdem war Lotta irgendwie anders. Sie war okay. Tom wollte
den Zettel gerade an seine Scheibe drücken, als er Lottas Blatt
las: >KINO?<. Tom lachte und drückte sein >KINO?<
ans Fensterglas.
Lotta musste furchtbar lachen, als sie Toms Kino-Zettel
las. Tom war in Ordnung, obwohl er ein Junge war. Hoffentlich konnten
sie sich auf einen Film einigen. Sie würde super gerne diesen
einen Film sehen, der schon so lange lief und in den niemand mit
ihr hatte gehen wollen. Wie hieß der jetzt gleich noch einmal?
Da las sie genau diesen Titel auf Toms nächstem Zettel. Das
war ja wunderbar, er hatte genau den gleichen Geschmack wie sie.
Super.
>SUPER!<
>HEUTE?<
>JA. WANN?<
>MOMENT<
Tom rannte ins Wohnzimmer und suchte in der Tageszeitung nach den
Kinozeiten. Seine Mutter kam herein: "Wenn Du möchtest,
können wir jetzt eine Partie Schach spielen. Ich brauche gerade
sowieso eine Pause."
"Keine Zeit", meinte Tom und lief mit der richtigen Zeitungsseite
zurück in sein Zimmer. Seine Mutter sah ihm verwundert nach.
Als sie kurz darauf an seine Zimmertür klopfen wollte, um nach
Toms Wünschen fürs Mittagessen zu fragen, stieß
sie mit ihm zusammen: "Kann ich um 14 Uhr ins Kino gehen?"
"Ach Tom, ich muss doch arbeiten, Morgen ist Abgabetermin."
"Ich geh mit Lotta. Bezahlst Du es mir?"
Sie nickte überrumpelt. Tom lief jubelnd in sein Zimmer. Seine
Mutter überlegte: Wer war Lotta? Hatte Tom telefoniert? Aber
sie hatte doch das Telefon die ganze Zeit in ihrem Arbeitszimmer
gehabt. Toms Mutter wunderte sich.
Der Nachmittag war gerettet. Lotta nahm ihre beschriebenen Fensterzettel
und warf sie alle auf einmal über ihren Kopf in die Luft. Langsam
schwebten die Blätter um sie herum zu Boden.
Tom grinste, hauchte seine Scheibe an und zeichnete zwei fröhliche
Smileys.
* * *
Die Finger-Fußball-Weltmeisterschaft
von Lisa Mensing
Joshua ertastete eine feuchte Stelle. Ein bisschen schmierig und
glibberig war sie, und als er weiter stöberte, blieb etwas
von der schleimigen Masse kleben.
Er suchte weiter und stieß schließlich auf etwas Interessantes.
Ein Gebilde, das aus einer ebenfalls klebrigen, allerdings auch
trockenen Masse bestand. "Wie Kuchenteig", dachte Joshua.
Kratzend fuhr er über die Oberfläche und zog seinen Finger
aus dem linken Nasenloch.
Auf dem Finger prangte ein grüner, mit bräunlichen Flecken
durchsetzter, riesiger Popel.
"Uäh", plätzte es aus Joshua heraus, halb angeekelt,
halb entzückt von seinem außergewöhnlichen Fund.
Der Popel hatte fast die Form eines Herzens, gar nicht mal so hässlich,
überlegte er.
Den Finger hoch in die Luft gereckt, saß Joshua zurück
gelehnt auf dem Stuhl und beobachtete sein grün-braun-geschecktes
Popel-Herz.
Nach einer Weile bewegte sich sein Zeigefinger mit dem zähen
Klumpen automatisch in die Richtung des Daumens und rollte ihn zuerst
runter, und dann wieder hoch, runter und hoch, hinab und hinauf,
bis sich eine Kugel gebildet hatte, die nun auf seiner Nagelspitze
thronte.
Jetzt musste Joshua an eine kullerige Erbse denken, die er auf seinem
Finger balancieren musste. Sie versuchte erst nach links, dann nach
rechts herunter zu rollen, doch er bewegte seinen Zeigefinger so
geschickt, dass er den Sturz jedes Mal verhindern konnte.
Nur der unglaubliche Jongleur Joshua vermochte etwas so Kugeliges
auf seiner Fingerspitze zu platzieren, ohne dass es schon wenige
Sekunden später auf den Boden klatschte.
Die Leute im Zirkus hielten sich ihre Ferngläser vor die Augen,
die sie nur für Joshuas Auftritt mitgebracht hatten. Jeder
wollte Zeuge der sensationellen Fingerbeherrschung Joshuas werden.
Die Löwennummer, die interessierte doch niemanden mehr.
Joshua erhob sich von seinem Stuhl, verneigte sich vorm Publikum
und reckte den Finger mit der winzigen, geschmeidigen Perle in die
Luft, ohne dass sie sich von der Stelle rührte - und tosender
Applaus brandete auf. Er verbeugte sich abermals, um sich zufrieden
wieder zu setzen.
Er verlagerte den Mini-Jonglierball auf den Daumen und plötzlich
zuckte sein Zeigefinger zurück, spannte sich vor den grünen
Ball und schnappte nach vorne. Der Popel schoss pfeilschnell über
Joshuas Schreibtisch und wurde geradewegs an den Computerbildschirm
katapultiert, wo er in der rechten Ecke kleben blieb.
Der Stadionsprecher rastete völlig aus: "Toooor, Tooor,
und er schießt den Ausgleich und rettet die Nationalmannschaft
ins Elfmeterschießen! Wird Joshua Higgemann Deutschland nun
auch zum Finger-Fußball-Weltmeister schnipsen?"
Das Stadion war erfüllt von Fangesängen, Fahnen wurden
geschwenkt, Tröten und Trommeln lärmten laut. Joshua sollte
nun den letzten Elfmeter schießen, den entscheidenden Elfmeter,
den, der Deutschland zum Finger-Fußball-Weltmeister machen
würde.
Er konzentrierte sich auf den Ball, blendete alles um sich herum
aus.
"Nur noch dieser Treffer muss versenkt werden, nur noch dieser
Ball muss im Netz zappeln, nur noch ein magischer Schuss trennt
uns vom Sieg!" sprudelte es aus dem Kommentator heraus.
Joshua richtete seinen Blick fest auf den grünen Ball, seine
Muskeln spannten sich an, er holte aus, und bündelte all seine
Energie in dieser Bewegung.
"Jaaaa er ist drin! Ist das denn der Wahnsinn? Deutschland
ist Weltmeister" brüllte der Sprecher. Das Geschoss war
genau im Winkel gelandet, und die Menge explodierte! Er war Weltmeister
und hatte das Tor seines Lebens erzielt!
Berauscht schabte er den Glücksball mit dem Zeigefinger von
der Fensterscheibe und ließ sich rittlings ins Bett fallen.
Für heute hatte er genug getan! Er atmete vollkommen erschöpft
durch und schloss die Augen.
Er war glücklich.
Sein eigenes Magenknurren ließ ihn aufschrecken. Kein Wunder,
dass er nach solch herausragenden Leistungen hungrig war.
Joshua hob seinen Finger und ließ das grün-braune Popel-Herz
in seinem Mund verschwinden. Satt.
* * *
Was guckst Du?
von Michaela H. Wolf
Es ist Samstagabend. Fritz und sein Freund Jonas
sitzen auf dem Wohnzimmerteppich. Jonas übernachtet heute
bei ihm.
Fritz bohrt in der Nase. Aus der Küche kommt der Ruf: "Wollt
ihr was zu knabbern?." Jonas verdreht die Augen. Die beiden
langweilen sich. Alle ihre Freunde sitzen jetzt vor dem Fernseher.
Nur sie nicht. Die Eltern von Fritz sind etwas seltsam, sie haben
keinen Fernseher, noch nie gehabt. Stellt euch das einmal vor.
Fritz ist das einzige Kind in seiner Klasse ohne Fernseher, wahrscheinlich
der Einzige auf der ganzen Schule.
Eigentlich braucht er keinen, aber er findet es blöde, wenn
er morgens vor dem Unterricht in der Clique nicht mitreden kann.
Und wie steht er erst da, wenn Freunde zu Besuch sind!
Die Langweile wird immer größer. Jonas
überlegt ob, er seine Mutter anrufen soll, dass sie ihn wieder
abholt. Da steht Fritz auf, geht zur Haustüre und schaut
hinaus. Es hat aufgehört zu schneien. Sein Blick streift
über die Gärten der Nachbarn, am Bauerhof vorbei, bis
zum alten Baumhaus von Opa Heinze.
Opa Heinze ist nicht sein richtiger Opa, doch er kennt ihn schon,
seit er auf der Welt ist. Er unterhält sich oft mit ihm,
besonders seit der alleine wohnt. Seine Frau ist vor ein paar
Jahren gestorben und die Söhne wohnen mit ihren Familien
in einer anderen Stadt.
Fritz hat eine Idee. Er will ins Baumhaus und dort
übernachten. Hier im Haus ist sowieso nichts los. "Komm
mit", winkt er Jonas zu. Während er in den Keller geht,
erzählt er, was er vorhat. Jonas ist begeistert. Sie holen
sich die alten Winterschlafsäcke von Fritz' Vater, Kekse
und eine Flasche Wasser. Eingepackt in ihre Schneeanzüge
schleichen sie hinüber zum Baumhaus.
"Mist, die Leiter fehlt", schimpft Fritz,
dann erinnert er sich, dass Opa Heinze sie immer im Schuppen hinterm
Haus stehen hat. Unter Gestöhne schleppen sie das schwere
Ding zum Baum und stellen es auf. Fritz geht vor und Jonas schiebt
ihm die Schlafsäcke und den Proviant hoch. Nach getaner Arbeit
sitzen sie eingepackt und essen Kekse.
Die Wolken haben sich verzogen. Der sternenklare
Himmel und der Mond sind sichtbar. Jonas erzählt gerade eine
Gespenstergeschichte, die er von seinem großen Bruder gehört
hat, als etwas Weiches über Fritz' Hand streicht. Erschrocken
springt er auf: "Igitt, was war das?" "Du siehst
wohl schon Gespenster", lacht Jonas und erzählt weiter
bis auch an ihm etwas Haariges vorbeihuscht.
Vor Angst zittern beide, aber keiner will das Baumhaus zuerst
verlassen. Da ist es wieder und starrt sie mit leuchtenden Augen
an. Es kommt näher, jetzt können sie es erkennen. Es
ist ein Eichhörnchen.
Die beiden beobachten eine Weile das Tier, wie es
in sicherer Entfernung sitzt, als sie unter dem Baumhaus ein Gebrummel
und Gefluche hören. Jemand klettert die Leiter nach oben.
Ein zotteliger Kopf erscheint im Loch des Fußbodens. Mit
angehaltener Luft drücken sich die Jungs in die hinterste
Ecke.
"Wer da", grollt eine ruppige Stimme.
Da erkennt Fritz sie: "Ich bin es, Fritz und Jonas, nicht
schimpfen, Opa Heinze."
"Aha", brummelt er, "Was macht ihr
im Baumhaus?"
"Wir hatten Langweile, weil wir doch keinen Fernseher zu
Hause haben. Da sind wir einfach hierher", rechtfertigt sich
Fritz.
Mit Gestöhne ist Opa Heinze inzwischen nach oben geklettert,
im Schlepptau hat er ebenfalls einen dicken Schlafsack und einen
großen Kasten. "Ruck mal ein Stück und helfe mir",
wendet er sich an Jonas.
"Bist du oft hier?", fragt der neugierig.
"Ja jeden Abend treibt mich die Langeweile hierher. Wisst
ihr, ich kenne schon alle Filme, die sie im Fernsehen bringen,
darum besuche ich meinen Freund Fred."
"Wer ist Fred?" Plötzlich hüpft das Eichhörnchen
auf Opa Heinzes Schoß und zupft an seiner Jacke. Er kramt
in der Tasche und gibt ihm ein paar Nüsse. Mit seinen kleinen
Pfoten greift es danach und knackt sie mit den Zähnen auf.
Fritz und Jonas sitzen mit offenem Mund da. Ein zahmes Eichhörnchen,
das finden sie cool.
"Darf ich es auch mal füttern?", fragt Fritz.
"Warte noch ein wenig, bis es sich an Euch gewöhnt hat.
Fred ist etwas schüchtern bei fremden Menschen".
"Und was machst du hier?", will Jonas genau wissen,
"Ja, wisst ihr, Fred erzählt mir immer von seinem Tag,
wir hören uns gemeinsam die Geräusche der Nacht an oder
schauen in den Sternenhimmel", antwortet Opa Heinze.
Fritz runzelt die Stirn: "Es ist doch nichts zu hören."
"Dann macht mal den Mund zu und die Ohren auf", brummt
er zurück.
Alle sind ruhig. Nichts ist zu hören, nur Fred
schmatzt genüsslich beim Futtern seiner Haselnuss.
"Ich höre nichts!", Jonas ist genervt.
"Pst", macht Opa Heinze nur.
Wieder sind sie ruhig. Sie hören ihren Atem und spüren
die heiße Luft, die aus ihren Nasen strömt. Etwas leckt
an Jonas Hand. Fred will noch eine Nuss.
Im Baumwipfel raschelt der Wind in den Ästen.
"Was höre ich da?", flüstert Fritz.
"Den Kauz. Er kommt jeden Abend und fängt Mäuse,
drüben auf dem Bauernhof", flüstert Opa Heinze.
Um die Ecke bellt der Hund vom Nachbarn und das Knirschen von
Schuhen im Schnee ist zu hören. Ein Auto hupt. Jetzt ist
es wieder ganz leise, sie hören sogar das Knarren des Baumhauses.
Nach einer Weile der Stille greift Opa Heinze hinter
sich, öffnet den Koffer, zieht ein Teleskop aus einer Hülle
und schraubt es auf ein Gestell.
"Was willst du mit dem Fernglas?", fragt ihn Jonas.
"Mal schauen ob ich den großen oder den kleinen Hund
sehe, oder den Hasen, oder den Stier, aber bestimmt kann ich den
großen Bären sehen".
"Seit wann hat der Bauer einen Bären" ist Fritz
ganz erstaunt.
"Ich schaue nicht nach unten, ich beobachte den Sternenhimmel,
mit meinem Teleskop", grinst Opa Heinze sie an.
Ein bisschen beschämt, weil sie das Teleskop
nicht gleich erkannt haben, ziehen sie sich zurück, bis Opa
Heinze sich auffordert, einen Blick zu riskieren. "Aha, wunderbare
Sicht heute. Ihr habt euch eine gute Nacht ausgesucht, um mich
zu besuchen", schmunzelt er.
"Schaut, hier seht ihr den Großen Wagen,
er ist ein Teil vom Großen Bären. Das Sternenbild sieht
wie eine Suppenkehle aus. Wenn ihr etwas weiter hoch schaut, seht
ihr den Kleinen Wagen. Die beiden Bilder sind am Winterhimmel
auch gut ohne Teleskop erkennbar," erklärt ihnen Opa
Heinze.
Außerdem erzählt er spannende Geschichten von Göttern
und Jägern, die sich die Menschen im alten Babylon, in Ägypten
oder im Norden Europa über die Sterne erzählt haben.
Da geht am Haus von Fritz das Licht an. Seine Eltern
stürmen heraus und rufen nach Fritz und Jonas. Vom Baumhaus
können sie sehen, dass die Eltern das ganze Grundstück
absuchen.
"Ihr habt nicht Bescheid gesagt, dass ihr weg seid. Oder?",
fragt Opa Heinze und klettert nach unten, "Ich regel das,
bleibt hier oben."
Fritz und Jonas schauen durch das Guckloch zur Haustüre,
wo sich Opa Heinze mit den Eltern unterhält. Nach einer Weile
gehen die beiden wieder ins Haus und Opa Heinze kommt zurück.
"Alles klar ihr dürft noch eine Weile hier bleiben".
Sie schauen sich die Sternenbilder an und hören noch mehr
Interessantes. Die Zeit vergeht wie im Flug.
Als sie daheim bei Fritz sind, erzählen die
beiden begeistert von ihrem Erlebnis.
Morgen wollen sie im Internet recherchieren, wo das nächste
Planetarium ist und welche Veranstaltungen für Kinder angeboten
werden. Fritz' Mutter interessiert sich ebenfalls dafür und
will die beiden hinfahren.
Am Montag nach der Schule werden sie in die Bibliothek gehen und
nach Büchern über den "großen und kleinen
Bären" schauen.
In der Clique sind sie bestimmt die Stars. Wer kann schon von
einem gezähmten Eichhörnchen, Sternenbildern mit verrückten
Namen und einer halben Nacht auf einem Baumhaus mit Opa Heinze
erzählen.
Ach ja, den nächsten Sternguckerabend haben sie schon verabredet.
Ihre Freunde Tim und Lukas dürfen mit. Opa Heinze hat es
erlaubt.
* * *
Mohnpielen
von Henrik Lode
Wenn ich aus unserem Gartentor trete, muss ich mich
zuerst nach rechts wenden. Das Wohngebiet durchquerend, in dem alle
Häuser gleich aussehen, gehe ich bis zur Garage der Feuerwehr,
dann links über den Marktplatz, an der Kirche vorbei, vor dem
Gasthaus noch einmal links, über den Parkplatz der Fleischerei
und hinein in den Wald. Hier verlangsamt sich mein Schritt, oft
bin ich außer Atem und bleibe kurz stehen - froh, nicht abgetrieben
worden zu sein. Wie zum Beispiel letzte Woche, als ich Frau Seibelt
traf, mit einem Beutel alten Brots für die Kaninchen unseres
Nachbarn. Sie fragte, wie es mir gehe, ob die Schule Spaß
mache und ob Vater schon das Schuppendach abgedichtet hätte.
Ich schwitzte, wurde rot, wusste nichts zu sagen und dachte an den
Wald.
Ich denke viel an den Wald: beim Aufwachen am Morgen, im Geschichtsunterricht
von Frau Möhring, während der Klavierstunde am Donnerstag
und jeden Abend vor dem Einschlafen. Frau Dr. Pöttel nennt
so etwas Konzentrationsdefizit, meine große Schwester behauptet,
ich sei zurückgeblieben und Mutter sagt: "Wer zuviel träumt,
verpasst das Leben."
Oma meint, man könne gar nicht genug träumen. Leider kann
sie sich nie an ihre Träume erinnern. Sie schläft nämlich
nur etwa zwei Stunden die Nacht. Wahrscheinlich ist das zum Träumen
zu wenig.
Wenn ich groß bin, möchte ich in einem Haus wohnen, das
auf einer Lichtung steht, mitten im Wald. Der Weg, der dorthin führt,
muss lang und verschlungen sein, so, dass nur Eingeweihte ihn finden
können. Omas Haus kann man vom Waldrand aus sehen. Ein breiter
Pfad führt über einen kleinen Rastplatz direkt daran vorbei.
Alle Leute, die zur Milchfabrik wollen, gehen ihn entlang.
Aber es gibt noch mehr Wege zu Omas Haus. Man kann gleich hinter
dem Waldrand unter Haselnusssträuchern hindurch kriechen, über
eine Ansammlung von Brennesseln springen und einen umgefallenen
Stamm entlang balancieren. Über dessen Wurzelballen hinweg
kommt man kurz hinter dem Rastplatz wieder zum Vorschein.
Ein anderer Weg beginnt bei zwei Kiefern, die auf halber Höhe
zusammengewachsen sind und aussehen wie ein Tor. Geht man hindurch,
versperrt eine Eiche den Weg. Sie ist schräg gewachsen, so,
dass man hinüber klettern muss, um auf der anderen Seite wieder
den Hauptpfad zu erreichen.
Ich habe noch nie jemanden auf diesen Wegen getroffen.
Einmal wollte ich meiner Schwester einen davon zeigen, doch sie
meinte, es wäre komplett bescheuert, im Dreck zu krauchen anstatt
den Rastplatz wie jeder normale Mensch zu überqueren.
Im Wald suche ich mir oft einen Wanderstab. Oma hat auch einen,
unter der Flurgarderobe. Er ist braun, aus lackiertem Holz und am
Griff umgebogen. Ich habe sie gefragt, wie man einen Holzstab verbiegen
kann, aber sie hat es nicht gewußt. "Es ist gar nicht
gut, alles zu wissen" erklärte sie mir. "Stell dir
vor, jedermann wüsste, wie man Holz verbiegt. Alle Krückstockhersteller
wären arbeitslos."
Heute ist Dienstag, mein Lieblingstag. Ich habe gerade Geschichte,
es ist die letzte Stunde und wir lesen einen Text über Feudalismus.
Ich schaue in mein Buch und denke an den Wald. Heute besonders viel,
denn es gibt Mohnpielen bei Oma. Ich liebe Mohnpielen. Zuerst nehme
ich eine Tasse Mohn und vermische sie mit einer halben Tasse Zucker.
Dann noch Rosinen, Mandeln, Zimt und ein bisschen Zitronenschale.
Oma kocht derweil die Milch. Sobald Blasen zu sehen sind, kippe
ich alles hinein. Dann warten wir darauf, dass Brei aus der Milch
wird, und es folgt der beste Teil des Rezeptes: wir setzen uns auf
die Fensterbank, nehmen alte Semmeln, reißen kleine Stücke
ab und werfen um die Wette. Sind die Semmeln alle, wird das Ganze
verrührt und muss abkühlen. Meist wischt Oma in der Zeit
die Küche und ich hole Kohlen aus dem Keller.
Die Mohnpielen essen wir dann immer direkt aus der Schüssel.
Wir sitzen neben der Stehlampe und Oma erzählt Geschichten
von früher. Am liebsten höre ich die von ihrem Haus -
wie es dazu kam, dass das Haus mitten im Wald steht. Ich kann sie
nicht oft genug hören. Es ist die schönste Geschichte,
die ich kenne.
Endlich klingelt es. Ich springe auf, schnappe meine Sachen und
laufe los: aus dem Klassenraum, die Treppe hinunter und durchs Foyer,
über den Schulhof, hinter dem Tor rechts und immer geradeaus.
Ich komme an der Post, am Spielplatz und an der Plattenbausiedlung
vorbei. Dann die lange Mauer entlang bis zum Angelladen. Von hier
kann ich schon unser Haus sehen.
Vater steht auf dem Fußweg. Er schaut mir entgegen und scheint
auf mich zu warten. Als ich vor ihm stehe, kniet er sich hin und
legt mir die Hände auf die Schultern. Seine Augen sind rot,
sein ganzes Gesicht wirkt schlaff und müde. Eine Träne
läuft ihm über die Wange. Er drückt mich schnell
an sich, vielleicht, damit ich es nicht bemerke, und sagt leise:
"Es tut mir so leid, aber du kannst heute nicht zu Oma."
Ich mache mich erschrocken los. "Das geht nicht, es gibt doch
Mohnpielen." Er sagt erneut "Es tut mir so leid",
und eine weitere Träne löst sich aus seinem Auge, läuft
an der Nase entlang und bleibt schließlich als Tropfen an
deren Spitze hängen. "Was ist denn mit ihr?" frage
ich. "Sie ist eingeschlafen", erwidert er, "ganz
friedlich, gestern abend, und heute früh nicht mehr aufgewacht."
"Das kann nicht sein" entgegne ich, "sie schläft
nie länger als zwei Stunden." Vater ist wieder aufgestanden
und schaut auf mich herab. "Irgendwann schlafen wir alle ein
und wachen nicht mehr auf. So ist das im Leben." "Ich
muss sie wecken" rufe ich, schlüpfe unter seinem Arm hindurch
und renne los: bis zur Feuerwehr, dann über den Marktplatz,
vorbei an der Kirche, vor dem Gasthaus links, über den Parkplatz
der Fleischerei und hinein in den Wald. Ich komme an den Rastplatz,
schaue mich kurz um und kann mich nicht daran erinnern, ihn je überquert
zu haben. Doch schon bin ich darüber hinweg und sehe Omas Haus.
Vor ihm hält gerade unser Auto. Vater steigt aus. Mutter sitzt
auf dem Beifahrersitz, die Hände vor dem Gesicht. Ich bleibe
stehen, denke an Oma, an die Mohnpielen und an die Geschichte ihres
Hauses. Ich könnte sie immer und immer wieder hören. Denn
schließlich ist es auch die Geschichte meines Hauses. Eines
Hauses, das mitten im Wald steht, und zu dem solch lange und verschlungene
Wege führen, dass nur Eingeweihte sie finden können. Es
ist die schönste Geschichte, die ich kenne.
Nachdenkliches
Der geheimnisvolle Koffer
von Martina Ernst
Ein Tukan trug jeden Tag einen Koffer mit sich herum. Beim Fliegen,
wenn er auf dem Ast saß und die anderen Tiere beobachtete.
Sogar beim Fressen ließ der Tukan seinen Koffer nicht aus
den Augen.
Jeder, dem der Tukan begegnete, fragte sich, was wohl in dem Koffer
sein könnte. Vielleicht hatte der Tukan Werkzeug dabei, um
ein außergewöhnlich schönes Nest zu bauen. Oder
er schleppte leckere Früchte, als Vorrat für schlechte
Zeiten, mit sich herum. Es könnte doch auch sein, dass sich
ein altes Erbstück, zum Beispiel eine Uhr im Koffer befand.
Oder der Tukan liebte Bücher und hatte etwas zu lesen dabei.
Möglich wäre ein Tagebuch, ein Buch über die verschiedenen
Länder der Erde oder über ein bestimmtes Hobby. Vielleicht
wollte der Tukan andere Sprachen lernen oder etwas über Archäologie.
Oder der Tukan sammelte gerne alles, was ihm wertvoll erschien.
Knöpfe, einen funkelnden Stein, eine fremde Feder, ein schön
geformtes Blatt.
Wahrscheinlich lag im Koffer eine Brille, weil er schlecht sehen
konnte oder ein zusammenklappbarer Gehstock. Vielleicht war es auch
ein Fläschen Sand, das er von einer fernen Reise mitgebracht
hatte. Oder ein Geschenk, zum Beispiel ein kleines Stofftier. Es
könnte sich auch um Postkarten handeln von seinem alten Freund
dem Flughund. Vielleicht war der Tukan sehr eitel und hatte einen
Spiegel dabei. Oder der Tukan bewahrte in seinem Koffer eine besonders
schön geschnitzte Holzfigur auf. Vielleicht liebte der Tukan
Seifenblasen und es steckten ganz viele Seifenblasendosen in seinem
Koffer drin.
Keiner von den vielen Tieren, die dem Tukan begegneten, traute sich
nach dem Inhalt des Koffers zu fragen. Sie rätselten, tuschelten
und diskutierten lautstark, kamen aber zu keinem Ergebnis. Bis dem
Tukan ein Frosch über den Weg hüpfte.
"Was hast du denn da in dem Koffer?", fragte der Frosch
freundlich.
"Eine Schatzkarte!", antwortete der Tukan.
Der Tukan öffnete seinen Koffer und kramte eine alte Karte
hervor. Stolz zeigte er sie dem Frosch. Schon kam ein Nilpferd herbei.
"Zu welchem Schatz führt denn die Schatzkarte?",
fragte das Nilpferd neugierig.
"So genau weiß ich das nicht", antwortete der Tukan.
"Hast du dich denn schon mal auf die Suche nach dem Schatz
gemacht?", harkte ein Flamingo nach.
"Dumme Frage!", meinte das Krokodil. "Klar hat er
schon danach gesucht. Aber nichts gefunden, weil ihm die Schatzkarte
irgendein Halsabschneider angedreht hat. Kein Tier sollte auf so
ein wertloses Stück Papier reinfallen!"
"Ich glaube schon, dass die Schatzkarte was taugt. 'Finde das
Ende des Regenbogens' steht darauf." Der Frosch las weiter:
"Flieg zum Meer und mach dich auf die Suche nach dem lächelnden
Stein."
Der Tukan nickte.
"Ganz schön viel Arbeit!", kommentierte ein Kolibri.
"Sag ein Gedicht über eine Wolke auf."
"Dabei könnte ich dir helfen", mischte sich eine
Libelle ein.
"Unfug! So eine Schatzkarte gibt es gar nicht", sagte
das Krokodil.
"Denk dir einen Namen für deinen Lieblingsbaum aus",
las der Frosch weiter.
"Das ist schwer. Ich habe viel zu viele Lieblingsbäume",
maulte die Schlange. "Schreib einen Brief an deinen ärgsten
Feind", las der Frosch.
"Wo soll ich da bloß anfangen?", grübelte der
Affe.
"Lerne eine fremde Kultur kennen." "Ich habe schon
mal die Schnauze in einem Bienenstock gehabt", sagte der Bär
stolz.
"Das zählt nicht!", meinte der Kolibri.
"Denk dir ein neues Spiel für mindestens zwei Tiere aus",
fuhr der Frosch fort.
"Ich liebe Spiele!", sprach ein Fisch und schwamm aufgeregt
hin und her.
"Ein bisschen eigenartig ist die Schatzkarte schon. Keine Wegbeschreibung,
kein Kreuz wo sich der Schatz befindet." Der Flamingo kratzte
sich ratlos am Kopf.
"Sag ich doch, da hat sich einer einen Scherz erlaubt",
sagte das Krokodil. "Wahrscheinlich hast du ihm einen Ring
dafür gegeben oder eine Münze." Das Krokodil sah
den Tukan fragend an.
"Lass ihn in Ruhe!", mischte sich ein Ameisenbär
ein. "Es ist seine Schatzkarte und für ihn ist sie schön!"
Der Tukan breitete stolz seine Flügel aus.
"Mir gefällt die Schatzkarte auch", meinte der Frosch.
"Und ich habe auch noch nicht alles davon vorgelesen."
"Was hast du denn schon von den Aufgaben erledigt?", fragte
das Nilpferd neugierig.
Der Tukan ging zurück zum Koffer und holte einen lächelnden
Stein heraus.
"Bin gespannt, was unser superschlaues Krokodil dazu sagt!",
zischte die Schlange.
"Mag ja Ausnahmen geben, bei den Schatzkarten. Im Fluss ist
mir bisher nur Müll untergekommen", verteidigte sich das
Krokodil.
"Es wird viel Zeit brauchen, bis du jeden Punkt auf der Schatzkarte
erledigt hast", sprach der Ameisenbär.
"Kannst du die Geschichte von der Reise zu dem lächelnden
Stein erzählen!", bettelte der Affe.
Es wurde schon dunkel am Dschungelfluss und der Tukan erzählte
immer noch, wie er das Meer gefunden hat und wie er auf die Spur
des lächelnden Steins gekommen ist. Das er einer Schildkröte
begegnet ist, die im Sand ihre Eier ablegen wollte und sie ihm bei
der Suche geholfen hat. Und dann war da noch der Krebs, der immer
seitwärts lief und alles wiederholte, was er sagte und die
Seeschwalbe, die den Stein klauen wollte.
Der Tukan erzählte und erzählte. Es war die spannendste
Reise, von der je in einem Dschungel berichtet wurde. Als die Geschichte
zu Ende war, tauchte das Krokodil ins Wasser.
"Ist das Krokodil eingeschnappt?", fragte der Affe schläfrig.
"Nö!", antwortete der Kolibri. "Er macht sich
bestimmt Gedanken, wo man so eine Schatzkarte herkriegen kann."
"Erzählst du morgen weiter?", fragte das Krokodil
freundlich und blubberte verspielt Blasen ins Wasser.
"Klar!", sprach der Tukan, flog auf einen Ast und guckte
noch eine ganze Weile zum Mond, bis ihm die Augen zufielen.
* * *
Die Steinfrau
von Friedeborg Stisser
Als Iris auf dem Weg zur Schule wieder an dem Ehrendenkmal
vorbei ging, geschah das Unerwartete: Ein Stein lächelte
sie an.
Seine graue Oberfläche verzog sich zu einem viel versprechenden
Grinsen.
Ungläubig blieb Iris stehen und fixierte verwundert den länglichen
Steinquader, der die Gedenktafel für die Gefallenen der beiden
Weltkriege stützte.
"Ein Stein, der lacht! Zu komisch, so was gibt's doch gar
nicht!", rief Iris begeistert.
Der wuchtige Granitblock direkt vor ihr lächelte ihr schelmisch
zu. Ein breiter Mund, lustige, kugelige Äuglein, aufgeplusterte
Wangen mit je einem Grübchen.
"Wie mich der Stein anlacht!", flüsterte Iris andächtig.
Vorsichtig ging sie noch näher heran, stellte sich auf Zehnspitzen
und starrte in das grinsende Steingesicht.
Auf einmal glättete sich der Granit und war wie immer: porös,
verwittert, eben nur ein Stein.
War alles nur Einbildung gewesen? Warum lachte der Stein jetzt
nicht mehr?
Iris wartete geduldig, aber vergeblich.
Doch jeden Morgen wurde Iris lächelnd vom Stein begrüßt,
wenn sie auf dem Weg zur Schule wieder am Ehrenmal vorbei ging.
Freudig erwiderte sie sein Lächeln und zog beglückt
weiter.
So viel Heiterkeit und Leichtigkeit durchströmte
auf einmal Iris Leben. Alles schien wie von selbst zu gehen: die
Schularbeiten, keine Streitereien mehr mit ihrem Bruder Hans.
Selbst Mutters besorgter Blick, weil Vater immer noch keine Arbeit
hatte, verlor sich zusehends aus ihrem Gesicht.
Seither scheint für Iris die Sicht der Dinge
nicht mehr zu stimmen.
Wenn ein Stein lächeln kann, was vermag dann ein Baum oder
ein Kirchturm? Wozu war das Haus fähig, indem sie wohnte?
Würde es sprechen können? Vielleicht auch weinen?
Mitunter steht Iris gedankenverloren auf der Brücke.
Versonnen verfolgt sie den Verlauf der spiralig eingerollten Stromschnellen,
wie sie flussabwärts über die bemoosten Steine vorwärts
schießen.
"Nehmt einen Gruß von mir mit!", ruft sie ihnen
wehmütig nach, "und tragt ihn zum Meer!"
Was ist, wenn ich vor dem Meer stünde? Könnte es mich
umarmen mit all seiner Weite? Ja, und der Berg, was würde
er mir geben?
Während des Schulunterrichts wandern Iris Gedanken oft zu
den Bergen, die sie hauptsächlich aus Büchern, vom Fernsehen
oder Postkarten kennt.
Was vermag der Berg? ... Ich werde den Wald hinter unserer Siedlung
ergründen. Ob er mir etwas zuflüstert? Und ... warum
lächelt dieser Stein da am Denkmal? ... Warum?
Oft schläft Iris mit diesem Gedanken abends ein. Im Traum
bewegen sich die Steine. Sie reiben sich aneinander, murmeln,
rauschen und grinsen ihr wie Verbündete zu. Erwartungsvoll
geht sie ihnen entgegen. Doch erreicht Iris sie nie. Jeden Morgen
wacht Iris mit dem brennenden Wunsch auf: in die Steine hineingehen
zu können, am liebsten durch sie hindurch!
Und warum lächelt d i e s e r Stein da am Ehrendenkmal?
Mit jedem Tag mehr brennt sich diese Frage fester in Iris ein.
Die Steine lassen sie nicht mehr los. Sie geht zum Fluss hinunter
und sammelt begeistert Kieselsteine. Zu Hause werden sie eifrig
mit einem Hämmerchen bearbeitet. Staunend betrachtet Iris
ihre gesammelten Objekte.
Diese wunderschönen Gebilde! Was für eine farbenprächtige
Maserung sie haben! Diese feinen, zarten Linien, welch seltsame
Zeichen. Wenn ich sie doch entziffern könnte! Wer hat sie
nur dort in die Steine geschrieben? In welcher Schrift und in
was für einer Sprache?
Für Iris gibt es bald nur noch eine Welt voller
Steine. Jeder Stein fällt ihr auf. Alles was aus Steinen
gebaut ist, beobachtet sie interessiert: die Mauern, alte Hauswände,
Hünengräber, Findlinge, die Bruchsteine an dicken Kirchenmauern.
Alles Steine, die seit Millionen von Jahren verdichtet, zusammengepresst,
gedrückt, tiefer, fester, erhärtet zu Felsen empor wuchsen.
Es hatte sich herumgesprochen, dass Iris versessen
auf Steine war. Die Onkeln und Tanten brachten Iris bizarre Kristalle
oder farbenfrohe Halbedelsteine mit. In der Schule wurde sie die
"Steiniris" genannt. Keiner wusste genau, wer ihr den
Namen gegeben hatte. Doch allen war aufgefallen, dass Iris eine
besondere Vorliebe zu Steinen entwickelt hatte.
Lange konnte Iris ihr Geheimnis vom lächelnden Stein für
sich behalten, obwohl Rebecca sie zunehmend bedrängte: Was
Iris denn nur hätte. Warum sie morgens immer so geheimnisvoll
lächelnd ins Klassenzimmer käme. Sie müsse ein
Geheimnis haben.
Eines Morgens hatte Rebecca einen glitzernden Pyritstein
auf Iris Schulpult gelegt. "Hier Iris, der Stein ist für
dich, wenn du mir dein Geheimnis verrätst."
"Oh, ist der schön!", rief Iris erfreut und nahm
den glänzenden Stein behutsam in ihre Hand, "der ist
ja richtig schwer! ... Also gut! Ich verrate dir etwas, aber nicht
weitersagen, ja?"
Am nächsten Morgen sieht man Iris und Rebecca
aufgeregt über den Stadtplatz zum Ehrenmal hinüber laufen.
Keuchend bleiben sie vor dem Granitblock stehen.
"Und du meinst wirklich, dass dieser Stein lachen kann. Ich
kann es einfach nicht glauben. So etwas gibt es doch gar nicht!"
"Wart's nur ab. Du wirst schon sehen, gleich ...!"
Gebannt starren die Mädchen auf den verwitterten Granitblock.
Eine Krähe fliegt krächzend über ihre Köpfe.
Dunkle Wolken ziehen auf und erste Herbstblätter wirbeln
im Wind um das Denkmal herum.
"Er lacht ja gar nicht!", stößt Iris entsetzt
hervor, "der Stein lacht nicht! Er hat doch sonst immer gelacht!
Warum lacht er nicht?"
Tränen schießen über ihr Gesicht.
Langatmige Tage, zäh und traurig, mit schwindender
Hoffnung für Iris. Jeden Morgen stürzt sie erwartungsvoll
aus dem Haus zum Denkmal und wartet gespannt, doch nichts geschieht.
Warum lacht der Stein nicht mehr, warum?
Mit dieser Frage läuft Iris ruhelos umher, immer auf der
Suche nach einem lächelnden Stein, einem Zeichen oder einer
Botschaft.
Es ist Winter geworden. Raue Nordost-Winde stürmen,
Eisblumen an den Fenstern. Und Iris sieht den tanzenden Schneeflocken
zu, wie sie das Denkmal mit einer weißen Zuckerschicht überziehen.
Vielleicht lacht jetzt der Stein, weil er sich über den Schnee
freuen kann, denkt Iris. Vergnügt läuft sie hinaus.
Je länger sie den Stein betrachtet, um so mehr glaubt sie
zu erkennen, dass sich ein Gesicht aus Schneeflocken auf den Granitblock
abzeichnet.
"Mein Stein! Er hat wieder ein Gesicht! Wie er mich ansieht!",
ruft Iris und tanzt übermütig um das Denkmal herum.
In dieser Nacht träumt Iris von einer riesigen
Steinwüste. Überall sind wuchtige Gesteinsblöcke
zu Kirchturm hohen Säulen übereinander getürmt.
Verloren wandert Iris in den Säulengängen umher. Dumpf
verhallen ihre Schritte auf dem ausgetretenen Steinplattenweg.
Manchmal meint sie noch andere Schritte zu hören. Hin und
wieder scheint etwas Dunkles zwischen den Säulen zu huschen.
Lauernd bleibt Iris, dicht an einer Säule gelehnt stehen.
Sie fühlt sich beobachtet. Als mache jemand ihre Bewegungen
wie ein Schatten nach.
Plötzlich fliegen alle Steine in einer lautlosen Explosion
in die Luft. Aus jedem Stein sprühen Funken, zischend, sprudelnd,
prasselnd. Lichterketten steigen auf und nieder und Iris tanzt
mittendrin. Sie möchte jubeln, singen, aufschreien vor Glück.
Schwere Regentropfen trommeln gegen das Fenster.
Verstört schreckt Iris aus dem Schlaf.
"Oh, mein Stein am Ehrenmal, jetzt wäscht der Regen
das Schneeflockengesicht wieder ab. Nun ist alles wieder vorbei!",
jammert Iris noch halb im Schlaf. Sie wickelt sich fest in ihre
Bettdecke ein und murmelt schläfrig "ich möchte
wieder weiter träumen, es war eben so schön ..."
An diesem Morgen steigt Iris leichtfüßig
aus ihrem Bett. Gutgelaunt erzählt sie voller Eifer ihren
Traum am Frühstückstisch.
"Und am Schluss gab es riesige Lichtgirlanden und ich tanzte
dazwischen. Ach war das schön. Kannst du dir das vorstellen
Hans?"
Hans grinst spöttisch: "Ja, ja ... die Iris und ihre
Steine!"
Obwohl der Regen letzte Nacht tatsächlich alle
Schneespuren weggespült hat und auch Iris Stein wieder wie
ein normaler aussieht, fühlt Iris sich hoffnungsfroh. Getragen
von einer gewissen Vorahnung, dass sich bald etwas Wunderbares
ereignen werde.
Im Längerwerden der Tage und Maria Lichtmess
längst vorbei, sind die ersten Stare zurückgekehrt.
Iris hat ihre Fahrradtaschen auf ihr Rad gepackt und fährt
übermütig klingelnd zur Stadt hinaus. Heute will sie
zum Steinbruch fahren, um dort nach Versteinerungen zu suchen.
"Bestimmt werde ich was finden. Ich werde eine Schnecke finden.
Ich werde eine versteinerte Schnecke finden!", trällert
Iris zuversichtlich und biegt schwungvoll in den Feldweg ein,
der zum Steinbruch führt.
Der halbabgetragene Berg, vereinzelnd haushohe, rissige Gesteinsblöcke,
weiträumige Kiesflächen und verrostete Schienenstränge
lassen auf einen ehemaligen Steinbruch schließen. Junge
Birken wachsen fast waagerecht aus felsigem Gestein. Überall
Huflattich auf den Felsvorsprüngen üppig gelb hingetupft.
Doch Iris hat dafür keinen Blick. Fieberhaft sucht sie nach
Steinen. Prüfend nimmt sie einen nach dem anderen in die
Hand, um ihn vorsichtig mit ihrem Hämmerchen aufzuschlagen.
Meistens jedoch lässt sie die zertrümmerten Steine enttäuscht
wieder zu Boden fallen.
Iris vergisst Raum und Zeit. Getrieben, gepackt, rastlos umher
spähend, klettert sie bis zur Felsspalte hoch. Neugierig
sieht sie in den dunklen Schlitz. Staub weht ihr trocken entgegen.
Soll sie hinein gehen? Zögernd steht sie davor.
Der Spalt öffnet sich einladend, breit.
Sie fühlt sich an die Hand genommen. Wohin wird sie geführt?
Ein Weitergleiten durch Kreise, Dreiecke, Rauten, Quader durch
Kugeln, Kegel und Würfel.
Wie auf einem dahin jagenden Zug huschen draußen die Jahre
vorbei, verzischend, knirschend, allmählich zusammen schnurrend,
bis sich langsam Stille einpendelt.
"So hast du mich also gefunden!", hört
Iris unverhofft eine Stimme hinter ihrem Rücken. Erstaunt
dreht Iris sich um und erblickt eine hünenhafte Erscheinung.
Plumpe Rundungen, schwer und massig. Eine Frau ganz und gar aus
Stein, mit verschmitzt lächelndem Gesicht.
Iris zuckt zusammen. Das Gesicht kennt sie doch.
"Ich kenne dich!", hört Iris sich rufen, "ich
habe dich schon oft da am Denkmalstein lächeln sehen. Das
warst du doch?"
Verschmitzt lacht die Steinfrau Iris mit ihren aufgeplusterten
Wangen an, an denen sich jeweils rechts und links tiefe Grübchen
eingraben. Ihre lustigen, kugeligen Augen mustern das zierliche
Mädchen, wie es mit weit aufgerissenen, grauen Augen und
strubbligen, rotblonden Haaren staunend vor ihr steht.
"Ja, wir kennen uns schon lange", sagt die Steinfrau
mit freundlicher Stimme, "wie gut, dass du gekommen bist."
"Wo bin ich nur?", erstaunt sieht Iris sich um.
Die Steinfrau und Iris scheinen in einem Geflecht aus Linien und
Zeichen in einem runden Schacht verwoben zu sein, wo von außen
milchiges Licht gedämpft nach innen eindringt.
Die schwerleibige Frau deutet mit ihrem plumpen Steinfinger auf
die Linien um sie herum: "Siehst du hier, das sind die Lebenslinien,
in die ich seit Millionen von Jahren die Lebensweisheit hinein
webe. Ein Netzwerk, indem das ganze Wissen dieser Welt verknüpft
wird. Früher habe ich auch alte menschliche Lebensweisheiten
hier hinein geflochten. Doch mittlerweile gelingt es mir immer
seltener, weil das menschliche Wissen sich zu schnell verflüchtigt.
Es ist nicht mehr überlebensfähig genug. Aber jetzt
bist du ja da, mein Menschenkind. Iris! Ich werde von dir ein
paar Blutstropfen als lebendige Zeichen in den Lebensteppich hineinarbeiten.
So wird sich die Natur mit der Natur des Menschen fest verwurzeln."
Mit einem spitzen Steinkeil sticht die Steinfrau
beherzt in Iris linken Zeigefinger. Geschickt fängt sie drei
Blutstropfen mit ihren breiten Händen auf und schüttelt
kräftig. Dabei dreht sie sich langsam mit stampfenden, schweren
Schritten im Kreis herum. Behutsam streicht sie ihre flachen Handteller
mit Iris Blut auf die feinen Linien. Glühende Fäden
zügeln plötzlich auf. Sie fressen sich tiefer in das
Gewebe hinein. Mal blinkt es hier, dann wieder dort.
Fasziniert verfolgt Iris dieses Lichterverwirrspiel.
Sie jubelt: "Wie schön es weiter wächst. Was für
ein wunderbares Schauspiel!"
"Es hat geklappt!", ruft die Steinfrau und packt freudig
Iris Arm.
Übermütig tanzen sie. Wirbeln durcheinander, drehen
sich, wilder, heftiger, keuchend, stampfend, klatschend, lachend.
Lachkaskaden vor überschießender Freude. Immerzu: Lachen
... tanzen ... Jubel!
Noch einmal lächelt die Steinfrau verschmitzt
Iris an: "So, mein Menschlein, jetzt setze ich dich wieder
in den Zug der Zeitreise. Lebwohl!"
Beherzt drückt die plumpe Steinfrau das zierliche Mädchen.
Bevor Iris irgend etwas erwidern kann, fühlt sie sich fort
getragen.
Iris gleitet wieder durch geometrische Ornamente. Um sie herum
ein Brausen, Zischen und Rauschen. Glücksperlen prickeln
durch sie hindurch. Irrsinnstaumel! Und noch immer fühlt
sie sich geborgen in den Armen der Steinfrau, liebevoll geschaukelt.
Erstaunt dreht Iris den Kopf zur Seite.
Was ist passiert? Wo war sie gewesen? Sie war weit, weit weg.
Verwundert gleitet ihr Blick über den Steinbruch, alles unverändert.
Doch in ihrer Hand hält sie einen Stein: eine versteinerte
Schnecke!
"Ich habe eine versteinerte Schnecke, eine Schnecke!",
jubelt Iris und fährt überglücklich nach Hause.
Hastig kramt Iris ein altes Schulheft hervor, reißt schnell
eine Seite heraus und schreibt mit fliegender Hand:
Soeben
soeben bin ich über
den Himmel gelaufen
immer der Sonne entgegen
dort bin ich
der Steinfrau begegnet
und wir sind mitten hinein
in unser Leben gesprungen
gestern ... morgen ...
jetzt
wenn du Glück hast
wirst du an
strahlenden Tagen
meine Fußspuren
wolkig hingetupft
am Himmel entdecken
Abends lächelt ihr im Traum verschmitzt die
Steinfrau zu. Schelmisch erwidert Iris das Lachen.
Immer öfter kommt die Steinfrau Iris im Traum
besuchen. Und Iris weiß, dass die Steinfrau dann wieder
menschliche Lebensweisheiten in das Buch des Lebens eintragen
wird.
* * *
Die alten Weisen
von Stefanie Kurz
Es war einmal ein Haufen alter, weiser Männer, und der sah so aus:
Die alten Weisen hatten schreckliche Langeweile, denn seit geraumer
Zeit schon gab es nichts mehr zu tun.
Alles auf der Welt war durchdacht, gesagt, oder getan worden.
Und so saßen sie in ihren knarrenden Schaukelstühlen
mit ihren grauen Bärten und gestopften pfeifen und starrten
Löcher in die Luft.
Knarz- knarz machten die Schaukelstühle, raschel- raschel die
Bärte und schmauchschmauch die Pfeifen. Nur die Löcher,
die machten gar nichts. Standen einfach nur in der Luft herum.
In der Luft rumstehende Löcher
Und während sie so dasaßen, knarzten und
raschelten, schmauchten und starrten, da hörten sie auf einmal
wie etwas mit einem lauten Plumps vor die Tür fiel.
"Da ist Etwas", sagte der Erste der alten weisen Männer.
"Etwas Großes", meinte der Zweite.
"Etwas Schweres und Dickes", fügte der Dritte hinzu,
und der Vierte rief aufgeregt:
"Lasst uns schnell nachschauen."
Sogleich stürmten sie alle zur Tür. Und richtig. Vor der
Tür lag wirklich Etwas.
Etwas Großes und Schweres und Dickes. Etwas das aussah wie
ein Versandwarenhauskatalog.
Die alten Weisen, die so etwas noch nie gesehen hatten, begannen
erstaunt und voller Neugier in dem Katalog zu blättern.
"Sowenig Text, und so viele Bilder", stellten sie verwundert
fest.
Und sie schauten den Katalog immer wieder an. Von vorne bis hinten,
von hinten bis vorne. Viele, viele Male.
So viele Male, dass es schon später Abend geworden war und
ihnen vom vielen Anschauen fast die Augen zufielen.
Da rief der Zweite und Weiseste unter ihnen plötzlich:
" Das kann man ja alles bestellen." Er zeigte auf den
Bestellschein, auf der allerletzten Seite des Kataloges.
Sofort waren sie alle wieder hellwach, und die Aufregung war groß.
Und sie begannen zu bestellen. Bestellten und bestellten und bestellten
...
Von jeder Seite mindestens Etwas. Erstens, weil sie so viele Dinge
toll fanden, und zweitens, weil sie sich schlicht und ergreifend
einfach nicht entscheiden konnten.
Gleich am nächsten Morgen brachten sie den Bestellzettel zur
Post und warteten in ihren Schaukelstühlen.
Und es verging ein Tag, und es vergingen zwei Tage, und es vergingen
drei Tage, und vier Tage, und fünf ... da klingelte es plötzlich
stürmisch an der Tür.
Es war niemand anderes als der Postbote mit vielen riesigen Paketen.
Um es genauer zu sagen, waren es viele riesige
Pakete mit dem Postboten dahinter.
Das erste Paket war an den Ersten der alten, weisen
Männer adressiert. Das zweite an den Zweiten, das dritte an
den Dritten und das Vierte an den Vierten. Das fünfte wiederum
an den Ersten und das sechste an den Zweiten, das Siebte an den
Dritten ... und so weiter und so fort, bis alle Pakete verteilt
waren.
Das dauerte eine ganz schön lange Weile.
Kaum aber waren die Pakete in den Händen ihrer Besitzer, war
der Aufruhr groß.
Und es begann ein Rumoren und Poltern, ein Rumpeln und Rascheln,
ein Knistern und Klappern, ein Scheppern und Krachen.
Kurzum, es gab ein heilloses Durcheinander.
Dann aber endlich nach vielen, vielen Stunden waren sämtliche
Sachen ausgepackt, aufgebaut und im ganzen Haus verteilt.
Die alten Weisen strahlten. Strahlten über beide Ohren und
konnten es gar nicht abwarten, die vielen Dinge auszuprobieren.
"Auf die Plätze fertig los!" rief der Erste der Weisen.
"Jupieeeeeehhhhhhhhhh", schrieen die Anderen. Und los
ging's.
Sie drückten Knöpfe und Tasten, schauten und guckten,
tippten und griffen, schoben und zogen. Und die Zeit verging wie
im Flug. Verging so schnell, wie schon lange nicht mehr.
Sie fuhren Rennen mit kleinen Lenkrädern in der Hand. Bauten
Unfälle, fuhren weiter, schossen auf komische Monsterwesen,
kämpften sich durch bizarre Welten und es machte ihnen Spaß.
Soviel Spaß, wie schon lange nicht mehr.
Und sie puzzelten. Puzzelten, was das Zeug hielt. Puzzelten Schlösser
mit Zinnen, liebliche Landschaften und Gemälde weltberühmter
Maler. Puzzelten in 3D, puzzelten quadratisch und rund. Puzzelten
Puzzles, die leuchteten, glitzerten oder dufteten.
Und es machte ihnen Freude. Soviel Freude, wie schon lange nicht
mehr.
Heilloses Durcheinander in schwarz-weiß
So ging es einen Tag lang, eine Woche, einen Monat,
ein ... da ertönte plötzlich ein Schrei durch das Haus.
"Das ist sooooooooooo langweilig", schrie es.
Der Vierte der weisen Männer war aufgesprungen und kickte im
hohen Bogen sein Computerspiel durch den Raum.
"So etwas Langweiliges haben wir schon lange nicht mehr gemacht",
schrieen auch der Zweite und Dritte und schmissen ihre Lenkräder
in die Ecke.
Und der Erste pfefferte voller Wucht die Fernbedienung weit von
sich und bemerkte zornig: "Das ist noch viel, viel langweiliger,
als Löcher in die Luft zu starren".
Dann sagten sie eine ganze Weile gar nichts mehr.
"Löcher in die Luft starren", seufzte auf einmal
der Vierte. Und die anderen fielen verzückt mit ein: "Löcher
in die Luft starren", riefen sie, "was waren das noch
für Zeiten".
Und sie beschlossen, alles stehen und liegen zu lassen, um zu ihren
Schaukelstühlen zurück zu kehren und Löcher in die
Luft zu starren.
Und da saßen sie wieder, die alten, weisen Männer. Saßen
und knarzten, raschelten und schmauchten und starrten Löcher
in die Luft.
Auf einmal geschah etwas Merkwürdiges. Die Löcher in der
Luft wurden immer größer und größer. Wurden
riesengroß und waren bald auch schon keine Löcher mehr,
sondern Bilder.
Viele bunte Bilder.
Und die alten Weisen sahen die Bilder. Sahen sie und begannen zu
kichern. Zu kichern und zu glucksen, zu gackern und zu wiehern,
zu prusten und zu kollern und schließlich aus vollem Halse
zu lachen.
Sie lachten und lachten und lachten, so dass sie vor lauter Lachen
kaum noch Luft bekamen.
Und sie rannten ins Freie, schlugen Räder und Purzelbäume,
gingen an den Fluss und bauten Baumhäuser aus alten Brettern
und Moos, versteckten sich, bildeten Banden und überfielen
sich gegenseitig. Und sie fühlten sich wie Helden. Helden,
die alles erreichen konnten.
Auch
spielten sie Fußball. Fußball wie die Wilden. Immer
und immer wieder. Zwei gegen zwei, einer gegen drei, oder drei gegen
einen, und schossen dabei nicht wenige Male aus Versehen ein paar
Fenster kaputt.
Dann krochen sie schnell unter Hecken, gruben nach Würmern
und versuchten, kleine Fische in Tümpeln zu angeln, oder nahmen
all ihren Mut zusammen und sprangen von riesigen Heuschobern in
duftendes Heu und schrieen vor Freude hellauf.
Schrieen hellauf und bekamen leuchtende Augen und rote Backen dabei.
Manchmal aber geschah es, dass sie einfach nur da saßen, in
ihren selbstgebauten Deckenhöhlen und sich Geschichten erzählten.
Geschichten, die fröhlich und traurig, lustig und albern, oder
wenn es dunkel geworden war, spannend und gruselig waren.
Dann hielten sie sich an den Händen und zitterten vor lauter
Furcht um die Wette.
Zitterten und waren glücklich. So glücklich wie nie zu
vor in ihrem Leben.
Und seit dieser Zeit, wann immer sie die Langeweile befällt,
setzen sie sich schnell in ihre Schaukelstühle, knarzen und
rascheln, schmauchen und starren, und warten darauf, dass sich die
Löcher in bunte Bilder verwandeln.
* * *
Abenteuerliches
Das Haus der computerverseuchten Kinder
von Dagmar Petrick
"Ich bin schon alt und grau, aber wenn du magst, erzähle
ich dir eine Geschichte!"
"Au ja, eine Geschichte!"
Als ich ein Mädchen war, wohnte ich mit meinen Eltern und meinen
vier Brüdern am Ende einer baumlosen Straße. Unser Haus
war berüchtigt im ganzen Ort. "Das ist das Haus der computerver-seuchten
Kinder!", zischten die Leute, wenn sie daran vorbei gingen.
Und sie zogen ihre Sprösslinge fort, als hätten sie Angst,
sie könnten sich bei uns anstecken. Denn im Haus drinnen saßen
meine Brüder und spielten Computer.
Das war nicht gut für Kinder, der Herr Professor hatte es gesagt,
und was er sagte, war wahr. Der Herr Professor war ein kluger Mann.
Er hatte zweitausend Bücher gelesen über die frühe
Kindheit, dreitausendundacht über frühkindliche Erziehung,
viertausendfünfundzwanzig über das Schulwesen, viertausenddreiunddreißig
über Pubertät und Adoleszenz, was ein anderes Wort für
Erwachsenwerden ist, und eins über Säuglingspflege. Und
also wusste er so manches über Kinder.
Er schrieb auch Bücher. Neunundneunzig waren es. Sie hießen:
"So fördern Sie Ihr Kind!", "So wird mein Kind
schlau!", "Gesunde Ernährung - fröhliche Kinder!"
und "Regeln für Ihr Kind!" Und auf jedem Buchdeckel
stand mit Großbuchstaben fettgedruckt PROFESSOR DOKTOR DOKTOR
HABERECHT. Ja, er war wirklich ein sehr kluger Mann.
In jenem Sommer schrieb Professor Doktor Doktor Haberecht an seinem
hundertsten Buch. Den Titel wusste er schon lange. "Warum unsere
Kinder nicht am Computer spielen sollen!", würde das Buch
heißen, und es würde ihn in aller Welt berühmt machen.
Aber diesmal fiel ihm das Schreiben schwer, und ich sage dir gleich
warum.
In jenem Sommer hatten meine Eltern beschlossen, dass wir in den
Ferien nicht wegfahren würden. Sie fanden, meine Brüder
und ich seien groß genug, um uns selbst zu beschäftigen.
Und das stimmte ja auch, denn meine Brüder spielten am Computer
und ich versorgte sie mit Getränken und Essen, um sie am Verdursten
und Verhungern zu hindern.
Mein einer Bruder hatte ein neues Computerspiel bekommen. Es hieß
"Druzla, der achtäugige Schrecken" und handelte von
einer Drachendame, die in einem dunklen Wald lebte. Niemand wusste
wo, und meine Brüder mussten Druzla finden. Meine Brüder
befehligten Kriegsheere, Fußsoldaten, Reiter, und einen Trupp
Helden. Sie schmiedeten Waffen und errichteten Universitäten,
an denen man die Drachenkunde erlernen konnte. Und wenn sie genug
wussten und ausreichend Holz hatten schlagen lassen (was man für
die Schmieden brauchte, um darin Waffen herzustellen), entsandten
sie Kundschafter, die Druzla ausspähen sollten.
Nun war Druzla nicht eigentlich gefährlich, und meine Brüder
wollten ihr auch nichts tun. Doch wer sie zähmte, dem entfachte
sie die Lagerfeuer. Und dann hielt sie die Schmieden im Gang, was
eine feine Sache war, damals, im Mittelalter. Gefährlich jedoch
waren die feindlichen Horden und Räuberbanden, die den Truppen
meiner Brüder auflauerten. Weh dem, der ihnen begegnete. Blutige
Kämpfe standen ihm bevor!
Und so kam es, dass in jenem Sommer, der ein besonders heißer
war, das Säbelrasseln meiner Brüder tagein tagaus durch
die weitgeöffneten Fenster auf die Straße und an die
Ohren des Herrn Professors drang.
Der Herr Professor schrieb gerade am siebzehnten Kapitel seines
bahnbrechenden Buches. Viele Stunden hatte er darüber nachgedacht,
wie Klettern die Grob- und Feinmotorik des Kindes fördert,
wie es auf wunderliche Weise die Synapsen des Gehirns verknüpft,
damit Kinder in ihrem späteren Leben knifflige mathematische
Aufgaben würden lösen können. Doch jetzt blieben
ihm die Gedanken im Kopf kleben wie Fliegen an Fliegenleim.
Der Professor war, neben seiner geistigen Tätigkeit als Schriftsteller,
ein Mann der Tat. Er hatte siebenhundertsechsundsiebzig Vorträge
gehalten an den achtundzwanzig ehrwürdigsten Universitäten
des Landes. Man hatte ihn bejubelt und ihm Beifall geklatscht. Der
Gedanke, seine Erkenntnisse könnten im Haus der computerverseuchten
Kinder nicht gehört werden, war ihm unerträglich.
Und so tunkte er den Federkiel eines ostafrikanischen Ökoperlhuhns
in Eisengallustinte und schrieb mit schwungvollen Lettern auf ein
Stück Pappe: "Kinder MÜSSEN klettern!" Das Plakat
hängte er zum Fenster heraus, und alle Menschen, die es lasen,
wiegten andächtig die Köpfe.
Meine Brüder lasen es freilich nicht.
Am nächsten Tag klingelte es. Vor der Tür stand Professor
Doktor Doktor Haberecht. "Grab es ein!", knurrte er und
streckte mir ein winziges Apfelbäumchen entgegen. "Und
klettert!" Ich war ein artiges Kind, und so murmelte ich "mh"
und "ja" und "Dankeschön". Als der Herr
Professor gegangen war, trug ich das Bäumchen ins Wohnzimmer.
Ich stellte es auf den Esstisch, denn ich wusste nicht, wo ich es
hätte einpflanzen sollen. Um unser Haus herum war alles asphaltiert
wegen der Parkplätze.
Als meine Eltern am Abend nach Hause kamen, staunten sie nicht schlecht.
"Was für ein außergewöhnlicher Tischschmuck!",
sagte meine Mutter. "Wie aufmerksam vom Herrn Professor!"
Am nächsten Tag hing ein neues Plakat aus dem Fenster. "Kinder
brauchen Bücher!" Und als ich noch überlegte, ob
er wieder bei uns klingen würde, bremste ein Lieferwagen vor
unserem Haus.
Ein Mann mit Nickelbrille kurbelte das Fenster herunter und blickte
mich forschend an. "Ist das das Haus der computerverseuchten
Kinder?"
Ich nickte. Er grinste. "Dann hab ich was für euch!"
Es waren Bücher. Jede Menge Bücher.
Fünf Schubkarren rollten wir ins Haus. Ich pflasterte den Wohnzimmerboden
damit, und als ich dort keine Bücher mehr unterbringen konnte,
baute ich einen Kletterberg für unsere Katze. Sie freute sich
sehr.
"So viele schöne Bücher!", rief Mama, als sie
am Abend nach Hause kam. "Er muss euch wirklich gerne haben,
Kinder. Ich finde, ihr solltet ihm eine Dankeskarte schreiben!"
Aber da stürzte der Computer eines meiner Brüder ab, was
eine helle Aufregung gab. Danach hatte Mama die Dankeskarte vergessen,
und das war ein großes Glück, wie ich fand.
Am nächsten Tag schrieb der Herr Professor: "Obst essen
ist gesund! Esst Obst, Kinder!"
Und richtig bog kurz darauf ein Lieferwagen in unsere Straße
ein. Der Fahrer stieg aus und kippte einen Berg Bananen vor unsere
Haustür.
Tagelang gab es jetzt Bananen bei uns. Ich buk Bananen und ich briet
Bananen. Ich machte Bananenquark, Bananenbrot, Bananenauflauf, Bananenmus,
Bananeneis. Ich probierte süße Bananen und auch salzige.
Und als mir die Rezepte ausgingen, erfand ich neue: Ich wickelte
Bananen in Salatblätter und stopfte sie in Hähnchenbäuche,
ich verrieb sie mit Gummibärchen und zerstampfte sie mit Leberwurst.
Dann schrieb Professor Doktor Doktor Haberecht "Kinder MÜSSEN
sich waschen!" Und dieses Mal klingelte er auch wieder. "Deine
Brüder sitzen den ganzen Tag am Computer und vernachlässigen
ihre Hygiene", schnaubte er. Das Wort Hygiene kannte ich nicht,
aber wie er es sagte, schossen kleine Blitze aus seinen Augen. Also
nahm ich an, dass es etwas Ungeheuerliches war. "Und sicherlich
stinken sie schon", fuhr der Herr Professor fort und zerwuselte
sich den Bart, dass er mir spitz wie ein erhobener Zeigefinger entgegen
stand. "Und zu lange Haare haben sie auch."
Ich machte "ähm" und "hmm" und war sehr
erleichtert, als er wieder verschwand.
Am nächsten Tag hielt erneut ein Lieferwagen vor unserem Haus.
SEIFENOSKAR stand mit Druckbuchstaben drauf. Ein kleiner runder
Mann mit Glatze kletterte aus dem Wagen. Er wischte sich die Schweißperlen
von der Stirn und fragte keuchend: "Ist das das Haus der computerverseuch-ten
Kinder?"
Der Herr Professor hatte sich nicht lumpen lassen. (Er war ja auch
ein reicher Mann, weil alle Eltern seine Bücher kauften.) Der
Lieferwagen war bis unters Dach vollgestopft mit Seifen, Shampoos,
Salben und Cremes. Sogar hinter dem Lenkrad klemmte eine Schachtel
Kölsch Wasser.
"Hilf mir reintragen!", schnaufte Seifenoskar.
Wir stapelten die Tuben und Dosen im Badezimmer, denn der Wohnzimmerboden
war besetzt mit Büchern und in der Küche lagerten Bananen.
Ein süßer Duft erfüllte das Haus. Und die ganze
Zeit, während wir Schachteln und Kartons schichteten, drang
von oben das Säbelrasseln meiner Brüder.
Als Mama am Abend nach Hause kam, freute sie sich sehr. Sie wurde
ganz fleckig im Gesicht, was immer geschieht, wenn sie gerührt
ist. "Wie überaus reizend vom Herrn Professor!",
flötete sie und tupfte sich Rosenwasser auf den Hals.
Ich erzählte ihr nicht, was der Professor zu mir gesagt hatte.
Aber selbst wenn ich es gewollt hätte, wäre ich nicht
dazu gekommen. Meine Brüder hatten Druzla im Wald der hunderttausend
Tannen ausfindig gemacht. Und nun quasselten sie alle durcheinander,
um Mama davon zu berichten.
Am nächsten Morgen schickte der Herr Professor eine Badewanne,
in der eine Quietscheente schwamm, und am übernächsten
Tag stand ein Frisör mit klappernder Schere vor unserer Haustür.
Aber weil wir nicht öffneten, zog er unverrichteter Dinge wieder
ab.
Dann kamen die Fußbälle.
"Kinder MÜSSEN sich bewegen!", stand auf einem großen
Plakat, und es war ein Lastwagen, der vor unserem Haus hielt. Der
Motor röhrte wie ein wilder Stier und erstarb mit einem lauten
Puff.
Für einen Moment verließen meine Brüder Druzla und
stürzten hinaus. Der Mann, der aus der Fahrerkabine kraxelte,
blickte, wuchtig und muskelbepackt, auf uns hinab. Meine Brüder
knufften sich verstohlen in die Rippen, denn er sah aus wie einer
ihrer Helden.
"Haus der computerverseuchten Kinder?", brummte der Mann.
Wir nickten, und da klappte er die Ladetür auf. Hundertsiebenundzwanzig
Fußbälle purzelten heraus, und dass es so viele waren,
weiß ich, weil wir ihnen hinterher rannten und alle einsammelten.
Die Bälle kullerten die Straße hinunter, sie hüpften
hinter Mülltonnen, kugelten in Rinnsteine und verschwanden
unter parkenden Autos. Es war hilfreich, dass unsere Nachbarn von
der Arbeit gekommen waren und gerade ihren Fünf-Uhr-Kaffee
tranken, sonst wären wir wohl überfahren worden.
Wir schleppten die hundertsiebenundzwanzig Fußbälle in
unser Haus, das bald einem gigantischen Bällebad glich. Fußbälle
quollen aus der Badewanne. Sie verstopften das Klo. Sie stapelten
in Schränken und kullerten über Betten. Den Rest kickten
wir in die Diele, weil uns beim besten Willen kein freier Platz
mehr einfiel. Doch als Papa am Abend nach Hause kam, stolperte er
und brach sich den Fuß. Es war ein verzwickter Bruch, der
Knöchel hopps, fünf Zehen, das Wadenbein. Bis zum Ende
der Ferien musste Papa im Krankenhaus bleiben. Mama besuchte ihn
abends nach der Arbeit und blieb lange fort. Und so kam es, dass
das Säbelrasseln meiner Brüder nunmehr bis weit in die
Nacht hinein aus unserem Haus drang.
Da fasste der Professor einen Entschluss, und im Nachhinein frage
ich mich, ob wir es hätten ahnen können.
Fünf Tage lang hörten und lasen wir nichts von ihm, bis
eines Morgens ein Plakat aus seinem Fenster baumelte. "Kinder
gehören an die frische Luft!!!" Diesmal hatte er keine
Tinte benutzt, sondern mit einem flammend roten Buntstift geschrieben
und drei Ausrufezeichen dahinter gepinselt, dass ich sofort Angst
bekam.
Und da kam er.
Ich stand in der Küche und briet Bananen im Eierschaum, als
ich das Knirschen hörte. Unter das Küchenfenster geduckt,
schlich Professor Doktor Doktor Haberecht zu unserer Haustür,
und das Knirschen waren die Kiesel, die unter seinen Tritten wegspritzten.
Ich düste nach oben wie der helle Wahnsinn und trommelte an
die Türen meiner Brüder. Eins, zwei, drei, vier, standen
sie stramm wie das Kriegsheer, das sie einen Sommer lang befehligt
hatten, und ohne lange zu überlegen, erteilte mein einer Bruder
die Kommandos. In Windeseile entstöpselten sie ihre Computer
und wuchteten sie in die Diele, wo der Professor schon mit einem
Messer an der Tür schabte. Gleich würde er das Schloss
aufbrechen, und wehe dann meinen Brüdern! Ich war mir sicher,
dass er sie schnappen und an eine Straßenlampe binden würde,
jeden einzelnen, damit sie endlich frische Luft bekämen.
Mein einer Bruder war groß und stark. Er packte die vier Computer
und stapelte sie übereinander, so dass sie den Eingang verbauten
und die vier Bildschirme zur Tür zeigten. Und genau in dem
Moment, als Professor Doktor Doktor Haberecht die Tür aufknackte,
funkelte ihm aus zweiunddreißig Augen Druzla, die Schreckliche
entgegen. Aus ihrem Rachen schossen Blitze, und sie sah sehr gefährlich
und sehr wütend aus.
Der Professor erblasste. Er taumelte. Rücklings stürzte
er aus der Diele, über die Straße und zurück in
sein Haus. Und dabei wedelte er mit den Händen über dem
Kopf wie ein durchgeknallter Hubschrauber. Mit lautem Peng! klatschte
die Haustür hinter ihm zu.
Herrn Professor Doktor Doktor Haberecht sahen wir für den Rest
der Ferien nicht mehr. Wir lasen auch nichts mehr von ihm, und auch
seine Fenster blieben geschlossen.
Als die Schule wieder anfing, hatte der Professor sein hundertstes
Buch geschrieben. Es hieß: "Wie ich gegen den zweiunddreißigäugigen
Drachen kämpfte" und wurde sein größter Erfolg.
Eine literarische Sensation, die den Herrn Professor über Nacht
zum berühmtesten Kinderbuchautoren der Welt machte. Meine Brüder
haben das Buch bestimmt fünfmal hintereinander gelesen.
"Und das ist wirklich schon so lange her, Oma?"
"Ja, ja, schon achtzig Jahre!"
"Hast du denn das Buch vom Herrn Professor noch?"
"Aber sicher. Wenn ich es meinem Computer sage, holt er es
uns."
"Oma?"
"Ja?"
"Wann schaffst du dir endlich einen neuen Computer an? Deiner
knarrzt doch schon beim Sprechen. Und fliegen kann er auch nicht."
"Da hast du Recht, Liebes. Ich bin sicherlich ein wenig altmodisch,
aber ich hänge halt an ihm."
* * *
Die große Ballonfahrt
von Peter Friedrich
Mama wollte nur kurz etwas einkaufen. "Bin gleich wieder
zurück", sagte sie. "Und wehe, ihr macht den Fernseher
an oder daddelt am Computer rum!"
"Was sollen wir denn sonst tun?", stöhnte ich, aber
statt mir zu antworten, rief sie beim Hinausgehen bloß noch:
"Und pass bitte auf, dass Johann nicht wieder Unfug anstellt."
Johann ist mein kleiner Bruder. Er kam mit seinem gasgefüllten
Luftballon ins Wohnzimmer. Den hatte Mama ihm auf dem Markt gekauft.
"Lisa, wollen wir Ballonfahrer spielen?"
"Keinen Bock auf deinen Kinderkram", sagte ich genervt.
"Aber hilf mir wenigstens mal, die beiden Sessel zu verschieben.
Für einen Ballonflug braucht man einen großen Korb, in
dem man stehen kann."
Weil ich weiß, wie hartnäckig mein kleiner Bruder sein
kann, half ich ihm, den kleinen Tisch vor dem Sofa zur Seite zu
stellen und die beiden Sessel so an das Sofa zu schieben, dass alles
zusammen wie ein riesiger Korb aussah. Also, dass heißt, bis
er fand, dass es wie ein riesiger Korb aussah.
"Wir brauchen noch einen Gasbrenner", sagte Johann.
"Einen Gasbrenner?"
"Na klar, der Gasbrenner macht die Luft im Ballon heiß
und die heiße Luft macht, dass der Ballon in die Luft steigt."
Er sprang vom Sofa. "Die Lampe ist ein prima Gasbrenner."
Er holte die Leselampe, die in der Ecke stand und stellte sie zwischen
Sofa und Sessel. Zum Anschalten hing vom Lampenschirm eine Strippe
herab, an der man ziehen musste. Johann zog an der Strippe und machte
ein lautes Zischgeräusch dazu. Er streckte die Faust mit hochgehobenem
Daumen aus und sagte: "Funktioniert noch tadellos, der Gasbrenner."
Ich verdrehte die Augen. "Dein Gasbrenner kann gar nicht funktionieren,
du Dummkopf! Ein Gasbrenner braucht eine Gasflasche, so wie Papas
Campingkocher".
Einen Moment lang stand er mit offenem Mund in seinem Ballonfahrerkorb.
Dann strahlte er plötzlich übers ganze Gesicht. "Stimmt!",
rief er. "Aber viel größer. Da - die großen
Vasen!"
Damit nicht noch ein Unglück passiert, wuchtete ich für
ihn die zwei Vasen, die rechts und links des Fensters auf dem Boden
standen, über das Sofa und stellte sie neben seinen Gasbrenner
- also die Lampe, meine ich.
"Jetzt kann 's losgehen", sagte Johann und ließ
den Gasbrenner laut zischen. Plötzlich rief er: "Halt!
In einem Ballon braucht man ein Fernrohr." Er sprang über
den Sessel und holte aus dem Schrank Papas Fernglas.
"Beeil dich! Der Korb hebt gleich ab", rief ich, um ihn
zu ärgern. "Du hast vergessen, ihn festzubinden."
"Scheiße!", rief Johann, drehte sich um machte einen
riesigen Hechtsprung zum Sessel. Bloß mit den Händen
hielt er sich an der Armlehne fest und schrie, weil der Korb angeblich
schon mindestens zehn Meter über dem Boden schwebe. Als ginge
es fast über seine Kräfte, zog er sich mühsam hoch
und ließ sich in den Sessel rollen. Ich schüttelte bloß
den Kopf.
"Das war ganz schön knapp", sagte er und japste nach
Luft. Dann begann er ein paar Sandsäcke - das waren für
ihn die Sofakissen - über Bord zu werfen, um, wie er sagte,
schneller an Höhe gewinnen.
Nachdem er drei Sandsäcke abgeworfen hatte, war mir plötzlich,
als finge der Boden an, leicht hin und her zu schwanken. Ich schaute
zu Johann. Der öffnete seinen Mund und zeigte zum Fenster.
"Da ...", stammelte er.
Die Bäume und die Straßenlaterne vor dem Wohnzimmerfenster
schienen ebenfalls hin und her zu schwanken. Johann sprang aus seinem
Korb und beide stürzten wir zum Fenster.
Es war kaum zu glauben: Unser Haus begann, sich von der Erde zu
lösen. Wir lehnten uns aus dem Fenster und schauten zum Dach
hoch. Über dem Dach war ein riesiger Ballon, der mit Seilen
am Haus befestigt war. Das Haus stieg höher und höher.
Bald konnten wir über die ganze Stadt blicken. Rechts war der
Supermarkt zu sehen, in dem Mama gerade einkaufen war.
Plötzlich kam ein kräftiger Wind auf und ließ das
Haus so stark schaukeln, dass die Bücher aus dem Regal flogen.
Johann fiel hin und rutschte auf dem Boden zur gegenüber liegenden
Wand. Als er dort aus dem Fenster guckte, rief er entsetzt: "Der
Donnerberg! Der Wind treibt uns direkt auf den Donnerberg zu. Wir
müssen sofort an Höhe gewinnen."
Auf allen Vieren krabbelte er zu den Sesseln und zog wie ein Verrückter
am Gasbrenner. Es zischte und zischte. "Lisa", schrie
er so laut er konnte, um das Zischen des Gasbrenners zu übertönen,
"du musst alle Sandsäcke abwerfen. Wir müssen schneller
steigen. Sonst knallen wir gegen den Berg."
Ohne lange zu überlegen, öffnete ich das Fenster sperrangelweit,
stürzte zum Sofa und warf in Windeseile alle Kissen zum Fenster
raus. "Das reicht nicht", rief ich, "die Kissen sind
zu leicht. Wir gewinnen kaum an Höhe."
"Dann nimm die Bücher. Die haben Mama und Papa eh schon
alle gelesen. Wir müssen das Haus leichter machen, sonst sind
wir verloren."
In hohem Bogen schleuderte ich ein Buch nach dem anderen durch das
Fenster.
"Ja, gut so! Jetzt steigen wir viel schneller", rief Johann.
"Vielleicht schaffen wir 's. Noch ein paar Bücher."
Wir hatten Glück. Kurz bevor der Wind das Haus gegen die Bergwand
drücken konnte, glitten wir über den Gipfel hinweg. So
knapp, dass wir vom Fenster aus das Gras auf dem Gipfel hätten
pflücken können. Die Fahrt wurde jetzt ruhiger und der
Blick war fantastisch. Wie eine Spielzeuglandschaft lag die Welt
weit unter uns. Doch wir konnten die Aussicht nicht lange genießen.
Johann tippte mir auf die Schulter.
"Schau mal! Dort fliegt ein Vogelschwarm auf uns zu."
Er hob das Fern-glas an die Augen. "Ey, das sind Störche,
richtige Störche. Die kommen bestimmt gerade aus Afrika zurück."
"Zeig mal", sagte ich. Johann gab mir das Fernglas. "Das
ist ja verrückt. Sieht aus, als ob die alle schlafen. Die haben
die Augen geschlossen."
"Na ist doch klar", sagte Johann und tat, als wüsste
er wieder einmal alles. "Auf ihrem langen Flug von Afrika müssen
sie auch mal schlafen und da sie den Weg auswendig kennen, schlafen
sie eben beim Fliegen."
"Ich kenn meinen Weg zur Schule auch auswendig und trotzdem
kann ich beim Gehen nicht schlafen."
"Du bist ja auch kein Storch", antwortete Johann.
Johann muss immer das letzte Wort haben, selbst wenn er dann totalen
Blödsinn redet.
"Wenn die nicht langsam abdrehen", sagte ich, "spießen
sie gleich mit ihren spitzen Schnäbeln unseren Ballon auf".
"Ach Quatsch, Lisa. Die werden schon nicht so blöd sein."
Sie waren aber so blöd. Wir hörten ein lautes "Rrrrrrtsch",
gefolgt von einem dumpfen Zischen. Zuerst tat sich nichts, aber
dann merkten wir, dass wir an Höhe verloren. Zuerst ganz langsam,
aber dann immer schneller.
"Ich glaube, jetzt sollten wir doch besser landen", sagte
ich und fasste Johanns Hand.
"Ja", antwortete Johann, "aber wenn wir weiter so
schnell sinken, gibt es eine Bruchlandung. Wir werden uns sämtliche
Knochen brechen."
Er lief zum Gasbrenner und ließ ihn kräftig zischen.
"Das Loch ist zu groß", rief ich. "Der Gasbrenner
alleine kann den Fall nicht bremsen. Wir müssen wieder Ballast
abwerfen, Johann!"
"Vielleicht den Fernseher. Der hat ein ordentliches Gewicht."
"Aber wir wollten doch heute Abend den Trickfilm sehen",
antwortete ich.
"Stimmt", sagte er, "dann eben - den kleinen Tisch
hier."
Aber auch als ich den Tisch rausgeschmissen hatte, sanken wir kaum
langsamer. Ich schnappte nun alles, was ich alleine tragen konnte
und warf es raus. Zuerst Kerzenständer, Blumentöpfe, eine
Standuhr, dann die Stühle und das Porzellan aus dem Vitrinenschrank.
Die Schubladen des Wohnzimmerschrankes nahm ich als Ganzes und warf
sie samt Inhalt hinaus.
"Gut so, Lisa", rief Johann, "wir fallen schon langsamer."
Ich schaute aus dem Fenster. Der Gipfel des Donnerberges lag wieder
über uns und unten in der Stadt konnte man schon einzelne Straßen
erkennen.
"Ich kann unseren Garten sehen", rief ich. "Wenn
der Wind uns noch ein kleines Stück nach rechts treibt, landen
wir genau richtig."
Da schrie Johann: "Lisa! Ich glaube, der Gasbrenner gibt seinen
Geist auf."
Ich sprang zu ihm und gemeinsam zogen wir wie verrückt an der
Strippe des Gasbrenners. Aber statt eines lauten Zischens war nur
noch ein stottern-des "Tsch - tsch tsch - - tsch" zu hören
- dann erlosch der Gasbrenner.
Johann klopfte gegen die beiden Gastanks. "Das Gas ist alle."
"Wie sollen wir jetzt bremsen?"
Wir schmissen die Gastanks aus dem Fenster, aber das brachte nicht
viel. Das Haus fiel zu schnell. Die Bäume unter uns wurden
immer größer. Wir hatten nicht mehr viel Zeit. Bald würde
das Haus auf der Erde zerschellen und wir unter den Trümmern
begraben werden. Johann und ich, wir schauten uns an. Dann schauten
wir im gleichen Augenblick zum Fernseher. Dann schauten wir uns
wieder an und nickten beide stumm. Uns war klar, dass wir auf den
Trickfilm am Abend keine Rücksicht mehr nehmen konnten.
Wir schoben den Fernseher zum Fenster. Einer rechts, einer links
packten wir ihn an und versuchten ihn hoch zu heben. Mit allerletzter
Kraft gelang es uns, ihn über das Fensterbrett zu wuchten und
rauszukippen. Das war unsere Rettung. Auf einen Schlag fiel das
Haus viel langsamer. Es war ein Gefühl im Bauch wie in einem
Fahrstuhl, der plötzlich abbremst. Schon im nächsten Augenblick
gab es einen kräftigen Stoß, wir fielen zu Boden und
alles im Haus wackelte. Dann war es still. - Das Haus war gelandet.
Wir rappelten uns auf und schauten aus dem Fenster. Das Haus stand
exakt an der Stelle, an der es vorher gestanden hatte. Als wir nach
draußen in den Garten gingen, sahen wir gerade noch, wie sich
das letzte Seil, an dem der Ballon noch hing, vom Dach löste.
Da der Ballon jetzt keine Last mehr zu tragen hatte, stieg er, obwohl
er nur noch halb gefüllt war, sehr schnell in den Himmel und
war bald nicht mehr zu sehen.
Etwas betreten standen wir neben dem Fernseher und den anderen Sachen,
die zertrümmert unter dem Wohnzimmerfenster lagen.
"Was wird Mama sagen, wenn sie das sieht?", fragte ich.
"Ach was", sagte Johann, "wenn wir ihr erzählen,
was passiert ist, wird sie heilfroh sein, dass wir die Ballonfahrt
überlebt haben."
Ich hoffe, er hat Recht.
* * *
Zutritt nur für Kinder
von Iris Kersten
"Ich schieß' dich ab! Ratatatatamm!!! Warte nur, ich
krieg' dich!"
"Ich kann es nicht glauben! Draußen ist das schönste
Wetter und du erschießt Computermännchen!"
"Orks. Es sind Orks. Aus der Zwischenwelt!"
Lily verdreht die Augen. "Du bist echt nicht ganz normal."
Sie steht in Saschas Zimmertür und ist unschlüssig. Soll
sie einfach die Tür zu machen und gehen? Oder soll sie ihren
großen Bruder überreden, mit raus zu kommen? Wenn nur
Sarah da wäre, dann könnte sie mit Sarah in den Wald gehen.
Alleine traut sie sich nicht so recht. Deswegen bräuchte sie
eigentlich Sascha.
"Sascha ..."
"Baaaaaam! Ich hab dich!"
"... hast du eigentlich gewusst, dass in unserem Wald eine
Hütte steht? "
"Mensch! Daneben ...Was willst du von mir? Was für eine
Hütte?"
"Das weiß ich auch nicht. Unsere Lehrerin hat davon erzählt."
"Ja! Erwischt."
"Sie sagt, nach dem Krieg habe dort eine Familie aus der Stadt
jedes Jahr die Ferien verbracht. Sollen wir mal hingehen?"
"Nein. Ich muss erst die Orks erledigen. Uuund Schuss!"
Lily ist sauer. Wenn dieser Idiot nicht mitkommen will, geh' ich
eben allein.
Sie geht in den Hausflur, um ihre Turnschuhe anzuziehen, da steht
Sascha plötzlich neben ihr. "Was für eine Familie
soll da mitten im Wald gewohnt haben?" Anscheinend hat Sascha
doch Feuer gefangen.
Lily ist erleichtert, aber das will sie sich natürlich nicht
anmerken lassen. "Genau das werde ich jetzt herausbekommen.
Ob du mitkommst oder nicht."
"Ok. Ich komme mit. Aber nur, weil du die Hütte alleine
sowieso nicht findest."
Wie der Wind sausen sie mit dem Fahrrad über den staubigen
Waldweg. Sie kommen an einem See vorbei. Danach wird der Weg schmaler
und der Wald dichter. Zu den Laubbäumen gesellen sich Tannen
und Unterholz. Sie müssen die Räder stehen lassen und
zu Fuß weiter gehen. Der Weg wird immer enger und beschwerlicher.
Lily hat langsam keine Lust mehr. Jetzt sind sie schon so weit gelaufen
und immer noch ist kein Haus in Sicht. "Vielleicht gibt es
die Hütte doch nicht, und die alte Hausmann wollte uns nur
auf den Arm nehmen".
Aber Sascha ist noch nicht bereit, aufzugeben. "Jetzt bin ich
schon mitgekommen, jetzt werden wir den Schuppen auch finden. Weiter
geht's."
Doch viel weiter müssen sie nicht mehr laufen, da strahlt Sascha
plötzlich: "Schau mal da vorn. Das muss es sein."
Und tatsächlich, dort steht ein kleines Backsteinhaus, umgeben
von einem morschen Bretterzaun. Sascha pfeift durch die Zähne:
"Wow! Das ist sogar größer als eine Hütte:
Es ist ein richtiges kleines Haus."
"Sieh mal, da hängen Gardinen. Meinst du wirklich, das
dort niemand mehr wohnt?"
"Ja klar glaube ich das. Sonst wäre das Gras nicht so
hoch und der Zaun nicht so kaputt. Komm, wir schauen mal durchs
Fenster."
Vorsichtig schleichen sich die Kinder zum Haus und gehen zum kleinen
Fenster neben der Eingangstür. Es hat grau verwitterte Fensterläden.
"Komisch, dass die Fensterläden offen sind."
"Wenn ich mein Haus verlassen würde, würde ich alles
zu machen," stimmt Lily zu.
Sie werfen einen Blick in das Innere des Hauses. Die Sonne scheint
in das Zimmer und lässt alles in einem wunderschönen Licht
erstrahlen: Auf der einen Seite befindet sich ein alter Kochofen
und ein Schrank mit Regal obendrauf. Es stehen sogar noch Teller
darin. Auf der anderen Seite steht ein großes Waschbecken
aus Stein. In der Ecke vor dem Fenster steht ein hellgrüner
Sessel, daneben eine Stehlampe mit einem orangefarbenen Lampenschirm
mit Bommeln. In der Mitte des Raumes befindet sich ein kleiner Holztisch
mit vier Stühlen, ebenfalls aus Holz. Auf dem Tisch steht eine
Vase. Aber das, was in der Vase enthalten ist, kann man nicht mal
mehr als Trockenblumen bezeichnen. Und überall liegt Staub.
Sascha staunt: "Wahnsinn!"
"Als wenn die Zeit stehen geblieben wär' ... Irgendwie
unheimlich."
"Na jaa. Hier war zwar bestimmt ewig keiner mehr, aber unheimlich
finde ich es nicht." Sascha watet durch ein Meer wilder Blumen
zum nächsten Fenster. "Das Schlafzimmer ... Wie kommen
wir nur hier rein?"
Das geht Lily eindeutig zu weit: "Ich glaube nicht, dass wir
da rein gehen sollten. Es ist doch auch spannend, von außen
rein zu schauen."
Sascha protestiert: "Jetzt sind wir schon mal da, jetzt gehen
wir auch rein." Gefolgt von Lily kämpft er sich durch
den wilden Garten auf die Rückseite des Hauses. "Hier
ist ein Hintereingang! Und die Tür hat ein Fenster ..."
Suchend sieht sich Sascha um. Plötzlich bückt er sich
nach einem Stein.
"Nein, Sascha, nicht!" ruft Lily.
Zu spät! Klirr macht die zerborstene Scheibe, und Sascha greift
mit der rechten Hand wie in einem Film durch das zerbrochene Glas,
bekommt den Schlüssel zu fassen, kann ihn drehen, und die Tür
springt auf. "Wow! Wie einfach! Ich bin noch nie irgendwo eingebrochen."
"Sascha ..."
"Jetzt komm schon. Sei kein Frosch!"
Mit klopfendem Herzen schleicht Lily hinter ihrem Bruder durch die
Tür. Sie stehen in einem Flur. Er führt zur gegenüberliegenden
Wohnküche. Vom Flur geht eine Tür nach links und eine
Tür nach rechts ab. Vorsichtig öffnen sie die linke Tür.
Das Bad. Vom Bad führt eine Tür zum Schlafzimmer.
Sie gehen zurück in den Flur und wollen die Tür auf der
anderen Seite öffnen, aber sie klemmt.
"Komm, lass uns jetzt gehen," bettelt Lily. "Das
ist bestimmt ein Zeichen."
"Nein. Die Tür muss aufgehen!" Sascha ruckelt wie
ein Wilder am Türknauf und tatsächlich - ein Ruck - und
die Tür springt auf.
Die Geschwister sind sprachlos vor Staunen. Sie treten in das Zimmer
ein und können es nicht fassen. Ein Jugendzimmer! Ein Bett,
ein Nachtschrank, ein Tisch und ein Stuhl und eine ganze Wand voller
Bücher. Bücher von oben nach unten, Bücher von rechts
nach links. Ein Riesenregal voll ... Und auch hier: alles voller
Staub. Lily traut ihren Augen nicht: "Wer kann denn so viel
lesen?"
"Eine Bibliothek ..."
"Nur der Staub müsste mal entfernt werden."
"Das ist es! Genau das ist es!"
"Sascha. So aufregend ist Staub wischen nun auch wieder nicht."
"Nein, das mein ich nicht. Was ich meine ist, es ist eine Bibliothek.
Ich meine, wir machen eine Bibliothek auf. Unsere eigene Bibliothek.
All die Bücher. Sieh doch mal."
"Und wenn uns jemand erwischt?"
"Wer soll uns denn erwischen? Hierher kommt keiner. Der Besitzer
ist bestimmt tot."
"Hmm." Lily zieht zweifelnd die Stirn kraus, geht dann
aber zum Regal. Sie fängt an, vorzulesen "Jule Verne
Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer, Die Reise zum Mittelpunkt
der Erde, In achtzig Tagen um die Welt, Charles Dickens
Oliver Twist und David Copperfield, Lewis Caroll Alice
im Wunderland, Rudyad Kipling Das Dschungelbuch, Herman
Melville Moby Dick, Antoine
de St. Exupéry Der kleine Prinz."
"Das haben wir doch auch."
"Ja stimmt ... Und sieh mal hier."
"Karl May. Mindestens zehn Bände von Karl May."
"Und da drüben! Märchen! Die Gebrüder Grimm,
Hans Christian Andersen, Wilhelm Hauff, ETA Hoffmann, Edgar Alan
Poe ..."
"Poe hat keine Märchen geschrieben. Das waren Gruselgeschichten."
"Ist ja gut. Ich versteh sowieso nicht, wieso du das weißt.
Wo du doch den ganzen Tag vor dem Computer hängst."
Sascha grinst: "Es sind aber auch Bücher dabei, von denen
ich noch nie gehört hab."
"Warum hier wohl niemand mehr ist?"
"Ist doch egal. Ich leih mir auf jeden Fall Die Reise zum
Mittelpunkt der Erde. Vielleicht gibt es da auch Orks."
"Du und deine Orks ... Außerdem können wir nicht
einfach was mitnehmen!"
"Nicht mitnehmen! Nur ausleihen. Wie in einer Bibliothek."
"Ich weiß nicht ... Wir können ja zuerst mal sauber
machen."
Sascha freut sich: "Dann bist du also dafür, eine Bibliothek
zu eröffnen!"
"Aber bevor du irgendwas mitnimmst, erstellen wir eine Liste
von all den Büchern."
Sascha versteht, dass dieses das einzige Zugeständnis ist,
dass Lily im Moment machen kann. Er plant weiter: "Dann sortieren
wir die Bücher nach Autoren ein. So kann man sie leichter wiederfinden."
Lily zögert immer noch. Sie ist sich nicht sicher, ob es eine
gute Idee ist, in einem leerstehenden Waldhaus eine Bibliothek zu
errichten. Aber dann kommt ihr ein guter Gedanke und sie platzt
heraus: "Wir könnten auch noch Bücher von zu Hause
mitbringen. Solche, die es hier nicht gibt."
"Ja. Comics zum Beispiel." Sascha ist erleichtert. Lily
scheint jetzt Spaß an der Sache zu haben.
Sie überlegt: "Das müssten wir nur irgendwo aufschreiben.
Nicht, dass wir es nachher vergessen."
"Natürlich. Wir kaufen ein dickes Ringbuch und notieren
alles. Es soll ein richtiger Bibliothekskatalog werden."
Jetzt ist auch Lily nicht mehr zu halten: "Und wenn sonst noch
jemand Bücher für uns hat, nehmen wir sie in den Katalog
auf und schreiben den Namen des Besitzers dazu."
"Und wenn er die Bücher wieder zurück möchte,
dann ist das gar kein Problem."
"Genau. Und dann müssen wir natürlich die Namen und
Telefonnummern der Ausleiher aufschreiben."
"Wie in einer richtigen Bibliothek."
"Und wir können auch eine Leseecke einrichten."
"Und vielleicht Getränke und was zu Knabbern mitbringen."
"Hört sich gut an."
"Und dann eröffnen wir die Bibliothek. Die Waldbibliothek."
"Nur für Kinder."
Beide sind sich einig. Sie wollen eine Waldbibliothek nur für
Kinder einrichten.
Es dauert zwei Wochen, bis Lily und Sascha alles in Ordnung gebracht
haben: Sie haben das Haus, aber vor allem die Bibliothek, vom Staub
befreit, die Bücher katalogisiert und den Lesesessel, die Stehlampe
und viele kleine Kissen für eine Leseecke in das Jugendzimmer
geschleppt. Der Tisch steht jetzt direkt an der Tür und liegt
voll mit Heften: In einem ist der Bestand der alten Bücher
notiert, in einem anderen die Bücher, die Lily, Sascha und
ihre Freunde noch für die Bücherei zur Verfügung
gestellt haben und in einem Dritten hält Lily sehr ordentlich
die Namen der Ausleiher fest.
Es ist eine wirklich tolle Bibliothek geworden. Und das Loch in
der Türscheibe haben sie mit einer Pappe zugeklebt. Auf der
steht: Waldbibliothek. Zutritt nur für Kinder.
Es ist Samstag Morgen, elf Uhr. Die Bibliothek ist jetzt seit ein
paar Tagen in Betrieb und die Kinder haben gerade aufgemacht. Lily
sitzt an ihrem Ausleihtisch, Sascha bringt neue Kekse und Limo in
die Küche, und ihre Freundin Sarah sitzt in der Leseecke und
schmökert in Tolkiens Kleinem Hobbit, als Sascha plötzlich
ein Geräusch an der Vordertür hört. Er hört,
wie ein Schlüssel in das Schlüsselloch geschoben wird
und sich dreht.
Der Junge erstarrt vor Schreck.
Langsam öffnet sich die Tür und ein großer Mann
mit weißen Haaren steht plötzlich vor ihm in der Wohnküche.
Er scheint ebenso so erstaunt zu sein wie Sascha.
Dieser findet als erster die Stimme wieder: "Wer ... wer sind
Sie? Was wollen Sie?"
"Ich bin Samuel. Und dies ist mein Haus."
"Dann sind Sie also gar nicht nicht tot," entfährt
es Sascha. Dann beißt er sich schnell auf die Zunge.
"Wie kommst du denn darauf? Sehe ich etwa aus wie ein Geist?"
Lily und Sarah erscheinen auf der Bildfläche. Sie haben das
Gespräch mit angehört. "Dann, dann ... dann sind
das also ... alles Ihre Bücher," stottert Lily.
"Ja, du hast recht. Es sind meine Bücher."
Lily murmelt so etwas wie eine Entschuldigung. "Wir dachten,
das Haus und alles gehört niemandem mehr."
"Könnt ihr mir vielleicht erzählen, was ihr hier
macht?"
"Die Waldbibliothek ...," antwortet Sarah.
"... nur für Kinder," beendet Lily den Satz.
Sascha fasst all seinen Mut zusammen: "Kommen Sie mit und sehen
Sie es sich an."
Gemeinsam gehen sie in das ehemalige Jugendzimmer.
Als Samuel die fragenden Blicke der drei auf sich ruhen spürt,
fängt er an, zu erzählen:
"Ich bin hier groß geworden. Jeden Sommer haben wir unsere
Ferien hier verbracht. Damals war der Wald noch nicht so zugewachsen.
Als ich fünfzehn war, ist mein Vater hier im Wald beim Holz
hacken verunglückt. Wir haben ihn sofort ins Krankenhaus gebracht,
aber er ist noch in der selben Nacht gestorben. Ich erinnere mich,
als wenn es heute wäre: Meine Mutter hat mich an die Hand genommen
und geschworen, das Waldhaus nie wieder zu betreten. Wir sind gegangen
und all unsere Sachen sind hier geblieben ..."
Es ist jetzt so still im Raum, dass man eine Stecknadel fallen hören
könnte.
"Das alles ist jetzt fünfzig Jahre her ... Tja... Und
jetzt bin ich wieder da."
Es ist Sascha, der sich endlich traut, etwas zu sagen: "Und
was sollen wir jetzt tun?"
"Hm." Samuel lässt sich in den Lesesessel fallen
und legt die Stirn in Falten. Er scheint nachzudenken. Dann hellt
sich sein Gesicht auf: "Vielleicht sollten wir ein Fest feiern.
Ein Kinderwaldbibliothekseröffnungsfest."
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