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Rossipottis 11 Uhr Termin

Einleitendes

Alltägliches

Nachdenkliches

Abenteuerliches

Einleitendes

was sollen wir tun?

von Lars-Arvid Brischke

wir können uns mit angeln
bis zu den amseln hangeln
wir können durch den besen
die neuesten biber lesen
wir können uns vor'm cellophan
chamäleonhaft verstecken
wir können über'n daumen
das murmeltier verpeilen

wir soll'n nicht lange weilen
uns langsam zu beeilen

doch können wir elefanten
mit porzellan beladen
wir können eine flotte
aus faltern flattern lassen
wir können auf der geige
den gänsen füße zeigen
wir können aus dem häuschen
ins schneckentempo flutschen

wir wollen nicht mehr husten
wie bonbons die uns lutschen

doch können wir uns mit igeln
versuchen anzustacheln
wir können uns beim kraken
gefährlich unterhaken
beim lesen in den augen
der leguane spiegeln
wir können vor den muscheln
vom grund des meeres nuscheln

wir können nicht hinter'm rücken
einen mückenschwarm zerdrücken

doch können wir auf den nadeln
der tannenbäume radeln
wir können uns ein rudel
orang utans unterjubeln
wir können plastikmöbel
mit pantoffeltierchen polstern
wir können uns als rehe
im wald im kreise drehen

wir dürfen nicht bei krabbenscheren
uns allzu leichtsinnig beschweren

doch können wir einem tiger
weismachen, er sei sieger
wir können uferschwalben
in fotoalben kleben
die welt wie jedes walross
aus ihren angeln heben

wir wollen tun und lassen
uns ausgestopfte drachen
erst steigen und dann fallen.

 

Alltägliches

Ein richtig schöner Nachmittag

von Barbara Rose

"Was sollen wir machen?"
"Keine Ahnung. Fällt dir was ein?"
"Nö."
"Ich weiß auch nix."
"Wir könnten Kaufladen spielen."
Gelächter.
"Kaufladen! Das ist doch Babykram."
"Echt nur für Pupsis."
"Ihr seid doof. Das ist doch lustig. Mein Onkel, der hat einen Supermarkt. Da habe ich am Samstag geholfen."
"Toll. Und?"
"Das war echt spannend! Da ist eine Frau reingekommen, die wollte fünfzehn Kokosnüsse haben. Mitten im Winter!"
"Und was ist da jetzt das Besondere dran?"
"Hej, die wollte fünfzehn Kokosnüsse kaufen. Auf einmal. Und sie war nicht allein. Die hatte echt total verrückte Typen bei sich."
Stille.
"Was für Typen?"
"Affen. Fünf Affen. Echte."
"So ein Quatsch!"
"Jetzt lügst du, oder?"
"Wenn ich es doch sage. Fünf Affen hatte die bei sich. Einer saß auf ihrem Rücken, zwei in ihrem Einkaufskorb und zwei sind gelaufen."
"Gelaufen? Auf zwei Beinen oder wie?"
"Genau."
"Wow, dann waren die ja riesig!"
"Klar, das waren Menschenaffen."
"Ist ja irre!"
"Der Typ schwindelt doch wie Sau!"
"Ich schwör's. Mein Onkel und ich konnten uns kaum halten vor Lachen. Aber wir haben der Affentante dann die Kokosnüsse besorgt. Das hat ein bisschen gedauert, und deshalb haben wir sie ihr nach Hause gebracht."
"Und?"
"Die hat in einem riesigen Haus gewohnt. Da standen überall Palmen rum, so ganz große. Und Seile waren durch das ganze Haus gespannt, da haben die Affen dran geschaukelt. Mindestens zwanzig!"
"Lügner!"
"Wenn ich's euch doch sage! Die Frau wollte die Kokosnüsse, weil einer von den Affen Geburtstag hatte. Die hatte überall Luftballons aufgehängt, und die Affen haben damit gespielt. Und Kokosnüsse gefuttert und wilde Sachen gemacht. Ich sage euch, das war so cool. Die Affentante hat uns dann eingeladen ins Haus. Und wir haben mit Kokosnüssen und Fanta Geburtstag gefeiert, mein Onkel und ich und die ganze Affenbande."
"Und die Affen? Haben die auch Fanta getrunken?"
"Nee, natürlich nicht. Da fällt mir ein. Ich habe tierisch Durst. Kriegen wir was zu trinken?"
"Super Idee."
Tür auf, Tür zu, Kühlschrank auf, Kühlschrank zu, Gläserschrank auf, Gläserschrank zu.
"He, trink doch nicht so schnell."
"Und du verschüttest ja alles, pass doch auf."
"Stell dich nicht so an, ist doch nur Apfelsaft."
"Hast du 'ne Meise? Das ist nicht einfach Apfelsaft!"
"Schmeckt aber so."
"Dann pass mal auf, dass du dich nicht vergiftest."
Prusten.
"Spinnst du jetzt oder was?"
"Nee, der Apfelsaft könnte vergiftet sein. Den hat meine Mutter nämlich bei einer echt seltsamen Frau gekauft."
"Wieso seltsam?"
"Die kam hier mit so einem Handwägelchen vorbei, gestern. Und hat selbst gemachten Apfelsaft verkauft. Total billig. Weil eine Flasche, hat die gesagt, eine Flasche könnte vergiftet sein. Aber das wäre dann ein ganz blöder Zufall, das könnte sie sich gar nicht vorstellen, dass das gerade uns passieren würde. Auf jede Fall würden wir ihn deshalb als Sonderangebot kriegen."
"Willst du uns verarschen?"
"Nee, echt. Die hat voll seltsam ausgesehen, wie so ne Hexe. Die hat erzählt, dass sie schon seit vielen hundert Jahren Apfelsaft macht. Davor hat sie gezaubert und so. Und ganz früher, da hat sie dem Schneewittchen vergiftete Äpfel angeboten."
Gelächter.
"Hej, das ist wahr! Von den dämlichen Giftäpfeln wären ein paar übrig geblieben, und aus denen hat sie aus Versehen auch Saft gemacht."
"Hahaha. Sehr witzig."
"Hab ich auch erst gedacht. Aber lies mal, was auf der Flasche steht."
"Hexenhäuschen. Bester Apfelsaft aus eigener Herstellung. Seit vielen Jahrhunderten."
Stille.
"Komm, das hast du da jetzt schnell draufgeschrieben, oder?"
Scheppern.
"Hier. Noch vier Flaschen. So schnell kann ich ja wohl nicht schreiben, oder? Stimmt also."
"Wieso kauft deine Mutter denn so einen Scheiß?"
"Mann, die waren billig."
"Äh, ich habe keinen Durst mehr, glaube ich."
"Ich auch nicht."
"Und was machen wir jetzt?"
"Puh. Schwierig."
"Echt keine Ahnung."
"Wir könnten zu dir gehen und Computer spielen."
"Au ja."
"Super Idee."
"Spitze."
"Ach nee, lieber nicht. Unser Computer geht grade nicht."
"Ist der kaputt oder was?"
"Nee, der schläft. Und da müssen wir ihn in Ruhe lassen, der ist nämlich sauer."
"Der Computer?"
"Jaja, genau."
"Du tickst doch nicht mehr richtig."
"Wirklich, der ist stinkesauer. Und wenn wir ihn nicht in Ruhe lassen, dann frisst der uns noch auf."
"So ein Käse!"
"Ein Computer kann nix auffressen."
"Kann er wohl! Gestern hat er meinen großen Bruder in sich reingezogen. Ich habe schon gedacht, jetzt ist der weg, mausetot. Aber der Computer hat ihn dann wieder ausgespuckt. Danach hat er aber überall blaue Flecken und Kratzer gehabt, mein Bruder."
"Das glaube ich dir nicht."
"Wieso soll so ein Computer einen auffressen?"
"Weil der mal seine Ruhe haben wollte. Mein Bruder sitzt da den ganzen Tag davor und hackt auf den Tasten rum. Und das ist dem Computer zu blöd geworden. Der wollte mal seine Ruhe haben. Aber mein Bruder hat nicht aufgehört."
"Und da hat ihn der Computer ordentlich vertrimmt, was?"
"Genau."
"Ich lache mich tot."
"Guckt mal. Da läuft mein Bruder."
"Was glotzt ihr? Noch nie ein paar blaue Flecken gehabt?"
Haustür knallt.
"Hätte ich nicht gedacht, dass das stimmt mit dem Computer."
"Hmm."
Schweigen.
"Hej, jetzt ist es aber spät geworden. Ich muss heim."
"Ich auch."
"Wartet, ich komme mit."
"Und morgen? Machen wir da wieder was zusammen?"

* * *

Ferien-Smileys

von Tilla Lingenberg

Tom langweilte sich. "Dann spiel doch eine Runde Schach", schlug seine Mutter vor. "Mit Dir?" fragte Tom hoffnungsvoll. Aber natürlich nicht mit Mama, sie musste ja arbeiten. Sie saß an ihrem Computer und übersetzte Bücher. Nie hatte sie Zeit. Gegen sich selbst Schach zu spielen, fand Tom blöd. Ferien fand er auch blöd, wenn alle verreist waren, nur er nicht. Jedenfalls nicht in der ersten Woche. Später würde er mit Papas neuer Familie in Urlaub fahren. Also wahrscheinlich. Bei Papa wusste man nie so genau. Er war Schauspieler und wenn er kurzfristig eine Rolle beim Film bekam, warf er alle Pläne über den Haufen. Dann war es ihm auch egal, ob Tom sich schon ganz lange auf seine Zeit mit Papa gefreut hatte. Tom kickte einen Radiergummi durchs Zimmer. Er setzte sich aufs Fensterbrett und sah dem Regen beim Fallen zu.

Lotta langweilte sich. Sie hatte schon vier Freundinnen angerufen, aber überall lief nur der Anrufbeantworter. Zuvor hatte sie eine halbe Stunde Computer gespielt und ihre alten Zeitschriften sortiert. Ihre Eltern waren zum Einkaufen gefahren, aber Lotta hatte keine Lust gehabt mitzukommen. Lotta ging zum Fenster, stützte ihre Ellenbogen auf das Fensterbrett und legte ihren Kopf in ihre Hände. Regentropfen liefen in krummen Bahnen an der Scheibe hinunter. Lotta hauchte die Scheibe an und malte einen Smiley. So hatte Lotta sich ihre Osterferien nicht vorgestellt. Alle waren weg, es regnete schon seit drei Tagen und es war wieder richtig kalt geworden.

Tom hauchte die Fensterscheibe an und malte einen Smiley. Als er verschwand, sah er gegenüber an der Scheibe seinen Smiley wieder auftauchen.
"Wie geht das denn?" fragte er sich. Aber schnell begriff er, dass da jemand anderes auch einen Smiley gemalt hatte.
Wieder hauchte er seine Scheibe an und malte ein Punktgesicht mit schlechter Laune. Er musste nicht lange warten, da tauchte auch im Haus gegenüber ein Smiley mit einem Mundbogen nach unten auf. Tom malte jetzt das Haus vom Nikolaus. Schwups zeigte sich das auch am anderen Fenster. Langsam fing es an, Spaß zu machen. Tom überlegte, was er jetzt malen könnte, da war sein Gegenüber schneller.
Er las ein O l l A H. Null zwei A H? Was sollte das denn? Er hauchte und fing an ein Fragezeichen zu malen, als er begriff: HALLO in Spiegelschrift. Also musste man selbst in Spiegelschrift schreiben, damit der Andere es richtig herum lesen konnte. Oder, überlegte Tom, man nahm gleich ein Blatt Papier und schrieb ganz normal.

Lotta wartete auf eine Antwort vom Fenster gegenüber. Hatte der Junge schon keine Lust mehr, oder was war los? Jetzt wischte er so schnell weg, was er gemalt hatte, so schnell konnte sie nichts erkennen. Na toll, jetzt ging er weg. Na klar, er war eben ein Junge, der hatte keine Lust auf solche Spiele. Dabei hatte es Lotte gerade angefangen, Spaß zu machen. Sie schaute auf die Straße, ob ihre Eltern vom Einkaufen zurück kamen. Da bewegte sich etwas bei dem Jungen am Fenster. Er hatte einen Zettel geschrieben und drückte ihn an die Scheibe. Was stand da? Das war zu klein, das konnte Lotta nicht lesen. Sie suchte schnell ihren Malblock und dicke Wachsmalstifte. Sie schrieb >ZU KLEIN< auf das Blatt. Und presste es an die kalte Scheibe.

Tom las >ZU KLEIN< auf dem Zettel des Mädchens. Wieso zu klein? Er war doch gar nicht so klein. Die sollte sich bloß nicht so aufspielen. Er schaute auf seinen Zettel und begriff, dass sie seine Schrift meinte. Ach so. Sie wollte also auch mit Zetteln weitermachen. Das war ja auch viel einfacher. Er suchte einen dicken Filzstift und überlegte, was er schreiben sollte. Er schrieb ziemlich groß >GUT SO?< und drückte es an die Scheibe. Das Mädchen nickte. Tom schrieb auf die Rückseite >TOM<. Aber dann zögerte er. Sollte er wirklich jetzt schon seinen Namen verraten? Was, wenn sie ihn dann aufzog? Sie war ein Mädchen, die machten so etwas.

Lotta presste jetzt ihren nächsten Zettel an die Scheibe >LOTTA< stand darauf. Wenn sie schon mit dem Jungen gegenüber "zettelte", dann konnte er ja ruhig ihren Namen wissen. Außerdem war sie neugierig, wie er hieß. >TOM< las sie auf seinem Blatt. Aha, dachte Lotta, der Tom also. Und was jetzt? Sie überlegte und schrieb dann >LANGWEILIG<. Aber bevor sie ihm den Zettel zeigte, überlegte sie, dass er dann meinen könnte, sie fände seinen Namen langweilig. Das stimmte ja nicht. Sie wollte nur fragen, ob ihm auch so langweilig war. Das war's, ein Fragezeichen fehlte: >LANGWEILIG?<
>UND WIE!<
>FREUNDE?<
>ALLE WEG<
>MEINE AUCH<
>DOOFER REGEN<
>SAUDOOFER<
>SUPER SAUDOOFER< wollte Tom gerade auf das nächste Blatt schreiben, als er eine Idee hatte. Er knüllte den angefangenen Zettel zusammen und schrieb einen Neuen: >KINO?< stand da plötzlich. Konnte er mit einem fremden Mädchen ins Kino gehen? Aber Mama hatte sowieso nie Zeit und er wollte schon so lange diesen einen 3D-Zeichentrickfilm sehen. Der lief bestimmt nur noch diese Woche und wenn er es heute oder morgen nicht ins Kino schaffen würde, würde er ihn verpassen. Das würde ihn ärgern. Aber wenn ihn jemand mit einem Mädchen zusammen sah? Tom zögerte, aber dann war es ihm egal. Erstens waren sowieso alle verreist und außerdem war Lotta irgendwie anders. Sie war okay. Tom wollte den Zettel gerade an seine Scheibe drücken, als er Lottas Blatt las: >KINO?<. Tom lachte und drückte sein >KINO?< ans Fensterglas.

Lotta musste furchtbar lachen, als sie Toms Kino-Zettel las. Tom war in Ordnung, obwohl er ein Junge war. Hoffentlich konnten sie sich auf einen Film einigen. Sie würde super gerne diesen einen Film sehen, der schon so lange lief und in den niemand mit ihr hatte gehen wollen. Wie hieß der jetzt gleich noch einmal? Da las sie genau diesen Titel auf Toms nächstem Zettel. Das war ja wunderbar, er hatte genau den gleichen Geschmack wie sie. Super.
>SUPER!<
>HEUTE?<
>JA. WANN?<
>MOMENT<
Tom rannte ins Wohnzimmer und suchte in der Tageszeitung nach den Kinozeiten. Seine Mutter kam herein: "Wenn Du möchtest, können wir jetzt eine Partie Schach spielen. Ich brauche gerade sowieso eine Pause."
"Keine Zeit", meinte Tom und lief mit der richtigen Zeitungsseite zurück in sein Zimmer. Seine Mutter sah ihm verwundert nach. Als sie kurz darauf an seine Zimmertür klopfen wollte, um nach Toms Wünschen fürs Mittagessen zu fragen, stieß sie mit ihm zusammen: "Kann ich um 14 Uhr ins Kino gehen?"
"Ach Tom, ich muss doch arbeiten, Morgen ist Abgabetermin."
"Ich geh mit Lotta. Bezahlst Du es mir?"
Sie nickte überrumpelt. Tom lief jubelnd in sein Zimmer. Seine Mutter überlegte: Wer war Lotta? Hatte Tom telefoniert? Aber sie hatte doch das Telefon die ganze Zeit in ihrem Arbeitszimmer gehabt. Toms Mutter wunderte sich.
Der Nachmittag war gerettet. Lotta nahm ihre beschriebenen Fensterzettel und warf sie alle auf einmal über ihren Kopf in die Luft. Langsam schwebten die Blätter um sie herum zu Boden.
Tom grinste, hauchte seine Scheibe an und zeichnete zwei fröhliche Smileys.

* * *

Die Finger-Fußball-Weltmeisterschaft

von Lisa Mensing

Joshua ertastete eine feuchte Stelle. Ein bisschen schmierig und glibberig war sie, und als er weiter stöberte, blieb etwas von der schleimigen Masse kleben.
Er suchte weiter und stieß schließlich auf etwas Interessantes. Ein Gebilde, das aus einer ebenfalls klebrigen, allerdings auch trockenen Masse bestand. "Wie Kuchenteig", dachte Joshua.
Kratzend fuhr er über die Oberfläche und zog seinen Finger aus dem linken Nasenloch.
Auf dem Finger prangte ein grüner, mit bräunlichen Flecken durchsetzter, riesiger Popel.
"Uäh", plätzte es aus Joshua heraus, halb angeekelt, halb entzückt von seinem außergewöhnlichen Fund.
Der Popel hatte fast die Form eines Herzens, gar nicht mal so hässlich, überlegte er.
Den Finger hoch in die Luft gereckt, saß Joshua zurück gelehnt auf dem Stuhl und beobachtete sein grün-braun-geschecktes Popel-Herz.
Nach einer Weile bewegte sich sein Zeigefinger mit dem zähen Klumpen automatisch in die Richtung des Daumens und rollte ihn zuerst runter, und dann wieder hoch, runter und hoch, hinab und hinauf, bis sich eine Kugel gebildet hatte, die nun auf seiner Nagelspitze thronte.
Jetzt musste Joshua an eine kullerige Erbse denken, die er auf seinem Finger balancieren musste. Sie versuchte erst nach links, dann nach rechts herunter zu rollen, doch er bewegte seinen Zeigefinger so geschickt, dass er den Sturz jedes Mal verhindern konnte.
Nur der unglaubliche Jongleur Joshua vermochte etwas so Kugeliges auf seiner Fingerspitze zu platzieren, ohne dass es schon wenige Sekunden später auf den Boden klatschte.
Die Leute im Zirkus hielten sich ihre Ferngläser vor die Augen, die sie nur für Joshuas Auftritt mitgebracht hatten. Jeder wollte Zeuge der sensationellen Fingerbeherrschung Joshuas werden. Die Löwennummer, die interessierte doch niemanden mehr.
Joshua erhob sich von seinem Stuhl, verneigte sich vorm Publikum und reckte den Finger mit der winzigen, geschmeidigen Perle in die Luft, ohne dass sie sich von der Stelle rührte - und tosender Applaus brandete auf. Er verbeugte sich abermals, um sich zufrieden wieder zu setzen.
Er verlagerte den Mini-Jonglierball auf den Daumen und plötzlich zuckte sein Zeigefinger zurück, spannte sich vor den grünen Ball und schnappte nach vorne. Der Popel schoss pfeilschnell über Joshuas Schreibtisch und wurde geradewegs an den Computerbildschirm katapultiert, wo er in der rechten Ecke kleben blieb.
Der Stadionsprecher rastete völlig aus: "Toooor, Tooor, und er schießt den Ausgleich und rettet die Nationalmannschaft ins Elfmeterschießen! Wird Joshua Higgemann Deutschland nun auch zum Finger-Fußball-Weltmeister schnipsen?"
Das Stadion war erfüllt von Fangesängen, Fahnen wurden geschwenkt, Tröten und Trommeln lärmten laut. Joshua sollte nun den letzten Elfmeter schießen, den entscheidenden Elfmeter, den, der Deutschland zum Finger-Fußball-Weltmeister machen würde.
Er konzentrierte sich auf den Ball, blendete alles um sich herum aus.
"Nur noch dieser Treffer muss versenkt werden, nur noch dieser Ball muss im Netz zappeln, nur noch ein magischer Schuss trennt uns vom Sieg!" sprudelte es aus dem Kommentator heraus.
Joshua richtete seinen Blick fest auf den grünen Ball, seine Muskeln spannten sich an, er holte aus, und bündelte all seine Energie in dieser Bewegung.
"Jaaaa er ist drin! Ist das denn der Wahnsinn? Deutschland ist Weltmeister" brüllte der Sprecher. Das Geschoss war genau im Winkel gelandet, und die Menge explodierte! Er war Weltmeister und hatte das Tor seines Lebens erzielt!
Berauscht schabte er den Glücksball mit dem Zeigefinger von der Fensterscheibe und ließ sich rittlings ins Bett fallen. Für heute hatte er genug getan! Er atmete vollkommen erschöpft durch und schloss die Augen.
Er war glücklich.
Sein eigenes Magenknurren ließ ihn aufschrecken. Kein Wunder, dass er nach solch herausragenden Leistungen hungrig war.
Joshua hob seinen Finger und ließ das grün-braune Popel-Herz in seinem Mund verschwinden. Satt.

* * *

Was guckst Du?

von Michaela H. Wolf

Es ist Samstagabend. Fritz und sein Freund Jonas sitzen auf dem Wohnzimmerteppich. Jonas übernachtet heute bei ihm.
Fritz bohrt in der Nase. Aus der Küche kommt der Ruf: "Wollt ihr was zu knabbern?." Jonas verdreht die Augen. Die beiden langweilen sich. Alle ihre Freunde sitzen jetzt vor dem Fernseher. Nur sie nicht. Die Eltern von Fritz sind etwas seltsam, sie haben keinen Fernseher, noch nie gehabt. Stellt euch das einmal vor. Fritz ist das einzige Kind in seiner Klasse ohne Fernseher, wahrscheinlich der Einzige auf der ganzen Schule.
Eigentlich braucht er keinen, aber er findet es blöde, wenn er morgens vor dem Unterricht in der Clique nicht mitreden kann. Und wie steht er erst da, wenn Freunde zu Besuch sind!

Die Langweile wird immer größer. Jonas überlegt ob, er seine Mutter anrufen soll, dass sie ihn wieder abholt. Da steht Fritz auf, geht zur Haustüre und schaut hinaus. Es hat aufgehört zu schneien. Sein Blick streift über die Gärten der Nachbarn, am Bauerhof vorbei, bis zum alten Baumhaus von Opa Heinze.
Opa Heinze ist nicht sein richtiger Opa, doch er kennt ihn schon, seit er auf der Welt ist. Er unterhält sich oft mit ihm, besonders seit der alleine wohnt. Seine Frau ist vor ein paar Jahren gestorben und die Söhne wohnen mit ihren Familien in einer anderen Stadt.

Fritz hat eine Idee. Er will ins Baumhaus und dort übernachten. Hier im Haus ist sowieso nichts los. "Komm mit", winkt er Jonas zu. Während er in den Keller geht, erzählt er, was er vorhat. Jonas ist begeistert. Sie holen sich die alten Winterschlafsäcke von Fritz' Vater, Kekse und eine Flasche Wasser. Eingepackt in ihre Schneeanzüge schleichen sie hinüber zum Baumhaus.

"Mist, die Leiter fehlt", schimpft Fritz, dann erinnert er sich, dass Opa Heinze sie immer im Schuppen hinterm Haus stehen hat. Unter Gestöhne schleppen sie das schwere Ding zum Baum und stellen es auf. Fritz geht vor und Jonas schiebt ihm die Schlafsäcke und den Proviant hoch. Nach getaner Arbeit sitzen sie eingepackt und essen Kekse.

Die Wolken haben sich verzogen. Der sternenklare Himmel und der Mond sind sichtbar. Jonas erzählt gerade eine Gespenstergeschichte, die er von seinem großen Bruder gehört hat, als etwas Weiches über Fritz' Hand streicht. Erschrocken springt er auf: "Igitt, was war das?" "Du siehst wohl schon Gespenster", lacht Jonas und erzählt weiter bis auch an ihm etwas Haariges vorbeihuscht.
Vor Angst zittern beide, aber keiner will das Baumhaus zuerst verlassen. Da ist es wieder und starrt sie mit leuchtenden Augen an. Es kommt näher, jetzt können sie es erkennen. Es ist ein Eichhörnchen.

Die beiden beobachten eine Weile das Tier, wie es in sicherer Entfernung sitzt, als sie unter dem Baumhaus ein Gebrummel und Gefluche hören. Jemand klettert die Leiter nach oben. Ein zotteliger Kopf erscheint im Loch des Fußbodens. Mit angehaltener Luft drücken sich die Jungs in die hinterste Ecke.
"Wer da", grollt eine ruppige Stimme.
Da erkennt Fritz sie: "Ich bin es, Fritz und Jonas, nicht schimpfen, Opa Heinze."

"Aha", brummelt er, "Was macht ihr im Baumhaus?"
"Wir hatten Langweile, weil wir doch keinen Fernseher zu Hause haben. Da sind wir einfach hierher", rechtfertigt sich Fritz.
Mit Gestöhne ist Opa Heinze inzwischen nach oben geklettert, im Schlepptau hat er ebenfalls einen dicken Schlafsack und einen großen Kasten. "Ruck mal ein Stück und helfe mir", wendet er sich an Jonas.
"Bist du oft hier?", fragt der neugierig.
"Ja jeden Abend treibt mich die Langeweile hierher. Wisst ihr, ich kenne schon alle Filme, die sie im Fernsehen bringen, darum besuche ich meinen Freund Fred."
"Wer ist Fred?" Plötzlich hüpft das Eichhörnchen auf Opa Heinzes Schoß und zupft an seiner Jacke. Er kramt in der Tasche und gibt ihm ein paar Nüsse. Mit seinen kleinen Pfoten greift es danach und knackt sie mit den Zähnen auf.
Fritz und Jonas sitzen mit offenem Mund da. Ein zahmes Eichhörnchen, das finden sie cool.
"Darf ich es auch mal füttern?", fragt Fritz.
"Warte noch ein wenig, bis es sich an Euch gewöhnt hat. Fred ist etwas schüchtern bei fremden Menschen".
"Und was machst du hier?", will Jonas genau wissen, "Ja, wisst ihr, Fred erzählt mir immer von seinem Tag, wir hören uns gemeinsam die Geräusche der Nacht an oder schauen in den Sternenhimmel", antwortet Opa Heinze.
Fritz runzelt die Stirn: "Es ist doch nichts zu hören."
"Dann macht mal den Mund zu und die Ohren auf", brummt er zurück.

Alle sind ruhig. Nichts ist zu hören, nur Fred schmatzt genüsslich beim Futtern seiner Haselnuss.
"Ich höre nichts!", Jonas ist genervt.
"Pst", macht Opa Heinze nur.
Wieder sind sie ruhig. Sie hören ihren Atem und spüren die heiße Luft, die aus ihren Nasen strömt. Etwas leckt an Jonas Hand. Fred will noch eine Nuss.
Im Baumwipfel raschelt der Wind in den Ästen.
"Was höre ich da?", flüstert Fritz.
"Den Kauz. Er kommt jeden Abend und fängt Mäuse, drüben auf dem Bauernhof", flüstert Opa Heinze. Um die Ecke bellt der Hund vom Nachbarn und das Knirschen von Schuhen im Schnee ist zu hören. Ein Auto hupt. Jetzt ist es wieder ganz leise, sie hören sogar das Knarren des Baumhauses.

Nach einer Weile der Stille greift Opa Heinze hinter sich, öffnet den Koffer, zieht ein Teleskop aus einer Hülle und schraubt es auf ein Gestell.
"Was willst du mit dem Fernglas?", fragt ihn Jonas.
"Mal schauen ob ich den großen oder den kleinen Hund sehe, oder den Hasen, oder den Stier, aber bestimmt kann ich den großen Bären sehen".
"Seit wann hat der Bauer einen Bären" ist Fritz ganz erstaunt.
"Ich schaue nicht nach unten, ich beobachte den Sternenhimmel, mit meinem Teleskop", grinst Opa Heinze sie an.

Ein bisschen beschämt, weil sie das Teleskop nicht gleich erkannt haben, ziehen sie sich zurück, bis Opa Heinze sich auffordert, einen Blick zu riskieren. "Aha, wunderbare Sicht heute. Ihr habt euch eine gute Nacht ausgesucht, um mich zu besuchen", schmunzelt er.

"Schaut, hier seht ihr den Großen Wagen, er ist ein Teil vom Großen Bären. Das Sternenbild sieht wie eine Suppenkehle aus. Wenn ihr etwas weiter hoch schaut, seht ihr den Kleinen Wagen. Die beiden Bilder sind am Winterhimmel auch gut ohne Teleskop erkennbar," erklärt ihnen Opa Heinze.
Außerdem erzählt er spannende Geschichten von Göttern und Jägern, die sich die Menschen im alten Babylon, in Ägypten oder im Norden Europa über die Sterne erzählt haben.

Da geht am Haus von Fritz das Licht an. Seine Eltern stürmen heraus und rufen nach Fritz und Jonas. Vom Baumhaus können sie sehen, dass die Eltern das ganze Grundstück absuchen.
"Ihr habt nicht Bescheid gesagt, dass ihr weg seid. Oder?", fragt Opa Heinze und klettert nach unten, "Ich regel das, bleibt hier oben."
Fritz und Jonas schauen durch das Guckloch zur Haustüre, wo sich Opa Heinze mit den Eltern unterhält. Nach einer Weile gehen die beiden wieder ins Haus und Opa Heinze kommt zurück.
"Alles klar ihr dürft noch eine Weile hier bleiben".
Sie schauen sich die Sternenbilder an und hören noch mehr Interessantes. Die Zeit vergeht wie im Flug.

Als sie daheim bei Fritz sind, erzählen die beiden begeistert von ihrem Erlebnis.
Morgen wollen sie im Internet recherchieren, wo das nächste Planetarium ist und welche Veranstaltungen für Kinder angeboten werden. Fritz' Mutter interessiert sich ebenfalls dafür und will die beiden hinfahren.
Am Montag nach der Schule werden sie in die Bibliothek gehen und nach Büchern über den "großen und kleinen Bären" schauen.
In der Clique sind sie bestimmt die Stars. Wer kann schon von einem gezähmten Eichhörnchen, Sternenbildern mit verrückten Namen und einer halben Nacht auf einem Baumhaus mit Opa Heinze erzählen.
Ach ja, den nächsten Sternguckerabend haben sie schon verabredet. Ihre Freunde Tim und Lukas dürfen mit. Opa Heinze hat es erlaubt.

* * *

Mohnpielen

von Henrik Lode

Wenn ich aus unserem Gartentor trete, muss ich mich zuerst nach rechts wenden. Das Wohngebiet durchquerend, in dem alle Häuser gleich aussehen, gehe ich bis zur Garage der Feuerwehr, dann links über den Marktplatz, an der Kirche vorbei, vor dem Gasthaus noch einmal links, über den Parkplatz der Fleischerei und hinein in den Wald. Hier verlangsamt sich mein Schritt, oft bin ich außer Atem und bleibe kurz stehen - froh, nicht abgetrieben worden zu sein. Wie zum Beispiel letzte Woche, als ich Frau Seibelt traf, mit einem Beutel alten Brots für die Kaninchen unseres Nachbarn. Sie fragte, wie es mir gehe, ob die Schule Spaß mache und ob Vater schon das Schuppendach abgedichtet hätte. Ich schwitzte, wurde rot, wusste nichts zu sagen und dachte an den Wald.
Ich denke viel an den Wald: beim Aufwachen am Morgen, im Geschichtsunterricht von Frau Möhring, während der Klavierstunde am Donnerstag und jeden Abend vor dem Einschlafen. Frau Dr. Pöttel nennt so etwas Konzentrationsdefizit, meine große Schwester behauptet, ich sei zurückgeblieben und Mutter sagt: "Wer zuviel träumt, verpasst das Leben."
Oma meint, man könne gar nicht genug träumen. Leider kann sie sich nie an ihre Träume erinnern. Sie schläft nämlich nur etwa zwei Stunden die Nacht. Wahrscheinlich ist das zum Träumen zu wenig.
Wenn ich groß bin, möchte ich in einem Haus wohnen, das auf einer Lichtung steht, mitten im Wald. Der Weg, der dorthin führt, muss lang und verschlungen sein, so, dass nur Eingeweihte ihn finden können. Omas Haus kann man vom Waldrand aus sehen. Ein breiter Pfad führt über einen kleinen Rastplatz direkt daran vorbei. Alle Leute, die zur Milchfabrik wollen, gehen ihn entlang.
Aber es gibt noch mehr Wege zu Omas Haus. Man kann gleich hinter dem Waldrand unter Haselnusssträuchern hindurch kriechen, über eine Ansammlung von Brennesseln springen und einen umgefallenen Stamm entlang balancieren. Über dessen Wurzelballen hinweg kommt man kurz hinter dem Rastplatz wieder zum Vorschein.
Ein anderer Weg beginnt bei zwei Kiefern, die auf halber Höhe zusammengewachsen sind und aussehen wie ein Tor. Geht man hindurch, versperrt eine Eiche den Weg. Sie ist schräg gewachsen, so, dass man hinüber klettern muss, um auf der anderen Seite wieder den Hauptpfad zu erreichen.

Ich habe noch nie jemanden auf diesen Wegen getroffen. Einmal wollte ich meiner Schwester einen davon zeigen, doch sie meinte, es wäre komplett bescheuert, im Dreck zu krauchen anstatt den Rastplatz wie jeder normale Mensch zu überqueren.
Im Wald suche ich mir oft einen Wanderstab. Oma hat auch einen, unter der Flurgarderobe. Er ist braun, aus lackiertem Holz und am Griff umgebogen. Ich habe sie gefragt, wie man einen Holzstab verbiegen kann, aber sie hat es nicht gewußt. "Es ist gar nicht gut, alles zu wissen" erklärte sie mir. "Stell dir vor, jedermann wüsste, wie man Holz verbiegt. Alle Krückstockhersteller wären arbeitslos."
Heute ist Dienstag, mein Lieblingstag. Ich habe gerade Geschichte, es ist die letzte Stunde und wir lesen einen Text über Feudalismus. Ich schaue in mein Buch und denke an den Wald. Heute besonders viel, denn es gibt Mohnpielen bei Oma. Ich liebe Mohnpielen. Zuerst nehme ich eine Tasse Mohn und vermische sie mit einer halben Tasse Zucker. Dann noch Rosinen, Mandeln, Zimt und ein bisschen Zitronenschale. Oma kocht derweil die Milch. Sobald Blasen zu sehen sind, kippe ich alles hinein. Dann warten wir darauf, dass Brei aus der Milch wird, und es folgt der beste Teil des Rezeptes: wir setzen uns auf die Fensterbank, nehmen alte Semmeln, reißen kleine Stücke ab und werfen um die Wette. Sind die Semmeln alle, wird das Ganze verrührt und muss abkühlen. Meist wischt Oma in der Zeit die Küche und ich hole Kohlen aus dem Keller.
Die Mohnpielen essen wir dann immer direkt aus der Schüssel. Wir sitzen neben der Stehlampe und Oma erzählt Geschichten von früher. Am liebsten höre ich die von ihrem Haus - wie es dazu kam, dass das Haus mitten im Wald steht. Ich kann sie nicht oft genug hören. Es ist die schönste Geschichte, die ich kenne.
Endlich klingelt es. Ich springe auf, schnappe meine Sachen und laufe los: aus dem Klassenraum, die Treppe hinunter und durchs Foyer, über den Schulhof, hinter dem Tor rechts und immer geradeaus. Ich komme an der Post, am Spielplatz und an der Plattenbausiedlung vorbei. Dann die lange Mauer entlang bis zum Angelladen. Von hier kann ich schon unser Haus sehen.
Vater steht auf dem Fußweg. Er schaut mir entgegen und scheint auf mich zu warten. Als ich vor ihm stehe, kniet er sich hin und legt mir die Hände auf die Schultern. Seine Augen sind rot, sein ganzes Gesicht wirkt schlaff und müde. Eine Träne läuft ihm über die Wange. Er drückt mich schnell an sich, vielleicht, damit ich es nicht bemerke, und sagt leise: "Es tut mir so leid, aber du kannst heute nicht zu Oma." Ich mache mich erschrocken los. "Das geht nicht, es gibt doch Mohnpielen." Er sagt erneut "Es tut mir so leid", und eine weitere Träne löst sich aus seinem Auge, läuft an der Nase entlang und bleibt schließlich als Tropfen an deren Spitze hängen. "Was ist denn mit ihr?" frage ich. "Sie ist eingeschlafen", erwidert er, "ganz friedlich, gestern abend, und heute früh nicht mehr aufgewacht." "Das kann nicht sein" entgegne ich, "sie schläft nie länger als zwei Stunden." Vater ist wieder aufgestanden und schaut auf mich herab. "Irgendwann schlafen wir alle ein und wachen nicht mehr auf. So ist das im Leben." "Ich muss sie wecken" rufe ich, schlüpfe unter seinem Arm hindurch und renne los: bis zur Feuerwehr, dann über den Marktplatz, vorbei an der Kirche, vor dem Gasthaus links, über den Parkplatz der Fleischerei und hinein in den Wald. Ich komme an den Rastplatz, schaue mich kurz um und kann mich nicht daran erinnern, ihn je überquert zu haben. Doch schon bin ich darüber hinweg und sehe Omas Haus. Vor ihm hält gerade unser Auto. Vater steigt aus. Mutter sitzt auf dem Beifahrersitz, die Hände vor dem Gesicht. Ich bleibe stehen, denke an Oma, an die Mohnpielen und an die Geschichte ihres Hauses. Ich könnte sie immer und immer wieder hören. Denn schließlich ist es auch die Geschichte meines Hauses. Eines Hauses, das mitten im Wald steht, und zu dem solch lange und verschlungene Wege führen, dass nur Eingeweihte sie finden können. Es ist die schönste Geschichte, die ich kenne.

Nachdenkliches

Der geheimnisvolle Koffer

von Martina Ernst

Ein Tukan trug jeden Tag einen Koffer mit sich herum. Beim Fliegen, wenn er auf dem Ast saß und die anderen Tiere beobachtete. Sogar beim Fressen ließ der Tukan seinen Koffer nicht aus den Augen.
Jeder, dem der Tukan begegnete, fragte sich, was wohl in dem Koffer sein könnte. Vielleicht hatte der Tukan Werkzeug dabei, um ein außergewöhnlich schönes Nest zu bauen. Oder er schleppte leckere Früchte, als Vorrat für schlechte Zeiten, mit sich herum. Es könnte doch auch sein, dass sich ein altes Erbstück, zum Beispiel eine Uhr im Koffer befand. Oder der Tukan liebte Bücher und hatte etwas zu lesen dabei. Möglich wäre ein Tagebuch, ein Buch über die verschiedenen Länder der Erde oder über ein bestimmtes Hobby. Vielleicht wollte der Tukan andere Sprachen lernen oder etwas über Archäologie. Oder der Tukan sammelte gerne alles, was ihm wertvoll erschien. Knöpfe, einen funkelnden Stein, eine fremde Feder, ein schön geformtes Blatt.
Wahrscheinlich lag im Koffer eine Brille, weil er schlecht sehen konnte oder ein zusammenklappbarer Gehstock. Vielleicht war es auch ein Fläschen Sand, das er von einer fernen Reise mitgebracht hatte. Oder ein Geschenk, zum Beispiel ein kleines Stofftier. Es könnte sich auch um Postkarten handeln von seinem alten Freund dem Flughund. Vielleicht war der Tukan sehr eitel und hatte einen Spiegel dabei. Oder der Tukan bewahrte in seinem Koffer eine besonders schön geschnitzte Holzfigur auf. Vielleicht liebte der Tukan Seifenblasen und es steckten ganz viele Seifenblasendosen in seinem Koffer drin.
Keiner von den vielen Tieren, die dem Tukan begegneten, traute sich nach dem Inhalt des Koffers zu fragen. Sie rätselten, tuschelten und diskutierten lautstark, kamen aber zu keinem Ergebnis. Bis dem Tukan ein Frosch über den Weg hüpfte.
"Was hast du denn da in dem Koffer?", fragte der Frosch freundlich.
"Eine Schatzkarte!", antwortete der Tukan.
Der Tukan öffnete seinen Koffer und kramte eine alte Karte hervor. Stolz zeigte er sie dem Frosch. Schon kam ein Nilpferd herbei.
"Zu welchem Schatz führt denn die Schatzkarte?", fragte das Nilpferd neugierig.
"So genau weiß ich das nicht", antwortete der Tukan.
"Hast du dich denn schon mal auf die Suche nach dem Schatz gemacht?", harkte ein Flamingo nach.
"Dumme Frage!", meinte das Krokodil. "Klar hat er schon danach gesucht. Aber nichts gefunden, weil ihm die Schatzkarte irgendein Halsabschneider angedreht hat. Kein Tier sollte auf so ein wertloses Stück Papier reinfallen!"
"Ich glaube schon, dass die Schatzkarte was taugt. 'Finde das Ende des Regenbogens' steht darauf." Der Frosch las weiter: "Flieg zum Meer und mach dich auf die Suche nach dem lächelnden Stein."
Der Tukan nickte.
"Ganz schön viel Arbeit!", kommentierte ein Kolibri. "Sag ein Gedicht über eine Wolke auf."
"Dabei könnte ich dir helfen", mischte sich eine Libelle ein.
"Unfug! So eine Schatzkarte gibt es gar nicht", sagte das Krokodil.
"Denk dir einen Namen für deinen Lieblingsbaum aus", las der Frosch weiter.
"Das ist schwer. Ich habe viel zu viele Lieblingsbäume", maulte die Schlange. "Schreib einen Brief an deinen ärgsten Feind", las der Frosch.
"Wo soll ich da bloß anfangen?", grübelte der Affe.
"Lerne eine fremde Kultur kennen." "Ich habe schon mal die Schnauze in einem Bienenstock gehabt", sagte der Bär stolz.
"Das zählt nicht!", meinte der Kolibri.
"Denk dir ein neues Spiel für mindestens zwei Tiere aus", fuhr der Frosch fort.
"Ich liebe Spiele!", sprach ein Fisch und schwamm aufgeregt hin und her.
"Ein bisschen eigenartig ist die Schatzkarte schon. Keine Wegbeschreibung, kein Kreuz wo sich der Schatz befindet." Der Flamingo kratzte sich ratlos am Kopf.
"Sag ich doch, da hat sich einer einen Scherz erlaubt", sagte das Krokodil. "Wahrscheinlich hast du ihm einen Ring dafür gegeben oder eine Münze." Das Krokodil sah den Tukan fragend an.
"Lass ihn in Ruhe!", mischte sich ein Ameisenbär ein. "Es ist seine Schatzkarte und für ihn ist sie schön!"
Der Tukan breitete stolz seine Flügel aus.
"Mir gefällt die Schatzkarte auch", meinte der Frosch. "Und ich habe auch noch nicht alles davon vorgelesen."
"Was hast du denn schon von den Aufgaben erledigt?", fragte das Nilpferd neugierig.
Der Tukan ging zurück zum Koffer und holte einen lächelnden Stein heraus.
"Bin gespannt, was unser superschlaues Krokodil dazu sagt!", zischte die Schlange.
"Mag ja Ausnahmen geben, bei den Schatzkarten. Im Fluss ist mir bisher nur Müll untergekommen", verteidigte sich das Krokodil.
"Es wird viel Zeit brauchen, bis du jeden Punkt auf der Schatzkarte erledigt hast", sprach der Ameisenbär.
"Kannst du die Geschichte von der Reise zu dem lächelnden Stein erzählen!", bettelte der Affe.
Es wurde schon dunkel am Dschungelfluss und der Tukan erzählte immer noch, wie er das Meer gefunden hat und wie er auf die Spur des lächelnden Steins gekommen ist. Das er einer Schildkröte begegnet ist, die im Sand ihre Eier ablegen wollte und sie ihm bei der Suche geholfen hat. Und dann war da noch der Krebs, der immer seitwärts lief und alles wiederholte, was er sagte und die Seeschwalbe, die den Stein klauen wollte.
Der Tukan erzählte und erzählte. Es war die spannendste Reise, von der je in einem Dschungel berichtet wurde. Als die Geschichte zu Ende war, tauchte das Krokodil ins Wasser.
"Ist das Krokodil eingeschnappt?", fragte der Affe schläfrig.
"Nö!", antwortete der Kolibri. "Er macht sich bestimmt Gedanken, wo man so eine Schatzkarte herkriegen kann."
"Erzählst du morgen weiter?", fragte das Krokodil freundlich und blubberte verspielt Blasen ins Wasser.
"Klar!", sprach der Tukan, flog auf einen Ast und guckte noch eine ganze Weile zum Mond, bis ihm die Augen zufielen.

* * *

Die Steinfrau

von Friedeborg Stisser

Als Iris auf dem Weg zur Schule wieder an dem Ehrendenkmal vorbei ging, geschah das Unerwartete: Ein Stein lächelte sie an.
Seine graue Oberfläche verzog sich zu einem viel versprechenden Grinsen.
Ungläubig blieb Iris stehen und fixierte verwundert den länglichen Steinquader, der die Gedenktafel für die Gefallenen der beiden Weltkriege stützte.
"Ein Stein, der lacht! Zu komisch, so was gibt's doch gar nicht!", rief Iris begeistert.
Der wuchtige Granitblock direkt vor ihr lächelte ihr schelmisch zu. Ein breiter Mund, lustige, kugelige Äuglein, aufgeplusterte Wangen mit je einem Grübchen.
"Wie mich der Stein anlacht!", flüsterte Iris andächtig.
Vorsichtig ging sie noch näher heran, stellte sich auf Zehnspitzen und starrte in das grinsende Steingesicht.
Auf einmal glättete sich der Granit und war wie immer: porös, verwittert, eben nur ein Stein.
War alles nur Einbildung gewesen? Warum lachte der Stein jetzt nicht mehr?
Iris wartete geduldig, aber vergeblich.
Doch jeden Morgen wurde Iris lächelnd vom Stein begrüßt, wenn sie auf dem Weg zur Schule wieder am Ehrenmal vorbei ging. Freudig erwiderte sie sein Lächeln und zog beglückt weiter.

So viel Heiterkeit und Leichtigkeit durchströmte auf einmal Iris Leben. Alles schien wie von selbst zu gehen: die Schularbeiten, keine Streitereien mehr mit ihrem Bruder Hans. Selbst Mutters besorgter Blick, weil Vater immer noch keine Arbeit hatte, verlor sich zusehends aus ihrem Gesicht.

Seither scheint für Iris die Sicht der Dinge nicht mehr zu stimmen.
Wenn ein Stein lächeln kann, was vermag dann ein Baum oder ein Kirchturm? Wozu war das Haus fähig, indem sie wohnte? Würde es sprechen können? Vielleicht auch weinen?

Mitunter steht Iris gedankenverloren auf der Brücke. Versonnen verfolgt sie den Verlauf der spiralig eingerollten Stromschnellen, wie sie flussabwärts über die bemoosten Steine vorwärts schießen.
"Nehmt einen Gruß von mir mit!", ruft sie ihnen wehmütig nach, "und tragt ihn zum Meer!"
Was ist, wenn ich vor dem Meer stünde? Könnte es mich umarmen mit all seiner Weite? Ja, und der Berg, was würde er mir geben?
Während des Schulunterrichts wandern Iris Gedanken oft zu den Bergen, die sie hauptsächlich aus Büchern, vom Fernsehen oder Postkarten kennt.
Was vermag der Berg? ... Ich werde den Wald hinter unserer Siedlung ergründen. Ob er mir etwas zuflüstert? Und ... warum lächelt dieser Stein da am Denkmal? ... Warum?
Oft schläft Iris mit diesem Gedanken abends ein. Im Traum bewegen sich die Steine. Sie reiben sich aneinander, murmeln, rauschen und grinsen ihr wie Verbündete zu. Erwartungsvoll geht sie ihnen entgegen. Doch erreicht Iris sie nie. Jeden Morgen wacht Iris mit dem brennenden Wunsch auf: in die Steine hineingehen zu können, am liebsten durch sie hindurch!

Und warum lächelt d i e s e r Stein da am Ehrendenkmal?
Mit jedem Tag mehr brennt sich diese Frage fester in Iris ein. Die Steine lassen sie nicht mehr los. Sie geht zum Fluss hinunter und sammelt begeistert Kieselsteine. Zu Hause werden sie eifrig mit einem Hämmerchen bearbeitet. Staunend betrachtet Iris ihre gesammelten Objekte.
Diese wunderschönen Gebilde! Was für eine farbenprächtige Maserung sie haben! Diese feinen, zarten Linien, welch seltsame Zeichen. Wenn ich sie doch entziffern könnte! Wer hat sie nur dort in die Steine geschrieben? In welcher Schrift und in was für einer Sprache?

Für Iris gibt es bald nur noch eine Welt voller Steine. Jeder Stein fällt ihr auf. Alles was aus Steinen gebaut ist, beobachtet sie interessiert: die Mauern, alte Hauswände, Hünengräber, Findlinge, die Bruchsteine an dicken Kirchenmauern. Alles Steine, die seit Millionen von Jahren verdichtet, zusammengepresst, gedrückt, tiefer, fester, erhärtet zu Felsen empor wuchsen.

Es hatte sich herumgesprochen, dass Iris versessen auf Steine war. Die Onkeln und Tanten brachten Iris bizarre Kristalle oder farbenfrohe Halbedelsteine mit. In der Schule wurde sie die "Steiniris" genannt. Keiner wusste genau, wer ihr den Namen gegeben hatte. Doch allen war aufgefallen, dass Iris eine besondere Vorliebe zu Steinen entwickelt hatte.
Lange konnte Iris ihr Geheimnis vom lächelnden Stein für sich behalten, obwohl Rebecca sie zunehmend bedrängte: Was Iris denn nur hätte. Warum sie morgens immer so geheimnisvoll lächelnd ins Klassenzimmer käme. Sie müsse ein Geheimnis haben.

Eines Morgens hatte Rebecca einen glitzernden Pyritstein auf Iris Schulpult gelegt. "Hier Iris, der Stein ist für dich, wenn du mir dein Geheimnis verrätst."
"Oh, ist der schön!", rief Iris erfreut und nahm den glänzenden Stein behutsam in ihre Hand, "der ist ja richtig schwer! ... Also gut! Ich verrate dir etwas, aber nicht weitersagen, ja?"

Am nächsten Morgen sieht man Iris und Rebecca aufgeregt über den Stadtplatz zum Ehrenmal hinüber laufen. Keuchend bleiben sie vor dem Granitblock stehen.
"Und du meinst wirklich, dass dieser Stein lachen kann. Ich kann es einfach nicht glauben. So etwas gibt es doch gar nicht!"
"Wart's nur ab. Du wirst schon sehen, gleich ...!"
Gebannt starren die Mädchen auf den verwitterten Granitblock. Eine Krähe fliegt krächzend über ihre Köpfe. Dunkle Wolken ziehen auf und erste Herbstblätter wirbeln im Wind um das Denkmal herum.
"Er lacht ja gar nicht!", stößt Iris entsetzt hervor, "der Stein lacht nicht! Er hat doch sonst immer gelacht! Warum lacht er nicht?"
Tränen schießen über ihr Gesicht.

Langatmige Tage, zäh und traurig, mit schwindender Hoffnung für Iris. Jeden Morgen stürzt sie erwartungsvoll aus dem Haus zum Denkmal und wartet gespannt, doch nichts geschieht.
Warum lacht der Stein nicht mehr, warum?
Mit dieser Frage läuft Iris ruhelos umher, immer auf der Suche nach einem lächelnden Stein, einem Zeichen oder einer Botschaft.

Es ist Winter geworden. Raue Nordost-Winde stürmen, Eisblumen an den Fenstern. Und Iris sieht den tanzenden Schneeflocken zu, wie sie das Denkmal mit einer weißen Zuckerschicht überziehen. Vielleicht lacht jetzt der Stein, weil er sich über den Schnee freuen kann, denkt Iris. Vergnügt läuft sie hinaus.
Je länger sie den Stein betrachtet, um so mehr glaubt sie zu erkennen, dass sich ein Gesicht aus Schneeflocken auf den Granitblock abzeichnet.
"Mein Stein! Er hat wieder ein Gesicht! Wie er mich ansieht!", ruft Iris und tanzt übermütig um das Denkmal herum.

In dieser Nacht träumt Iris von einer riesigen Steinwüste. Überall sind wuchtige Gesteinsblöcke zu Kirchturm hohen Säulen übereinander getürmt. Verloren wandert Iris in den Säulengängen umher. Dumpf verhallen ihre Schritte auf dem ausgetretenen Steinplattenweg. Manchmal meint sie noch andere Schritte zu hören. Hin und wieder scheint etwas Dunkles zwischen den Säulen zu huschen. Lauernd bleibt Iris, dicht an einer Säule gelehnt stehen. Sie fühlt sich beobachtet. Als mache jemand ihre Bewegungen wie ein Schatten nach.
Plötzlich fliegen alle Steine in einer lautlosen Explosion in die Luft. Aus jedem Stein sprühen Funken, zischend, sprudelnd, prasselnd. Lichterketten steigen auf und nieder und Iris tanzt mittendrin. Sie möchte jubeln, singen, aufschreien vor Glück.

Schwere Regentropfen trommeln gegen das Fenster. Verstört schreckt Iris aus dem Schlaf.
"Oh, mein Stein am Ehrenmal, jetzt wäscht der Regen das Schneeflockengesicht wieder ab. Nun ist alles wieder vorbei!", jammert Iris noch halb im Schlaf. Sie wickelt sich fest in ihre Bettdecke ein und murmelt schläfrig "ich möchte wieder weiter träumen, es war eben so schön ..."

An diesem Morgen steigt Iris leichtfüßig aus ihrem Bett. Gutgelaunt erzählt sie voller Eifer ihren Traum am Frühstückstisch.
"Und am Schluss gab es riesige Lichtgirlanden und ich tanzte dazwischen. Ach war das schön. Kannst du dir das vorstellen Hans?"
Hans grinst spöttisch: "Ja, ja ... die Iris und ihre Steine!"

Obwohl der Regen letzte Nacht tatsächlich alle Schneespuren weggespült hat und auch Iris Stein wieder wie ein normaler aussieht, fühlt Iris sich hoffnungsfroh. Getragen von einer gewissen Vorahnung, dass sich bald etwas Wunderbares ereignen werde.

Im Längerwerden der Tage und Maria Lichtmess längst vorbei, sind die ersten Stare zurückgekehrt. Iris hat ihre Fahrradtaschen auf ihr Rad gepackt und fährt übermütig klingelnd zur Stadt hinaus. Heute will sie zum Steinbruch fahren, um dort nach Versteinerungen zu suchen.
"Bestimmt werde ich was finden. Ich werde eine Schnecke finden. Ich werde eine versteinerte Schnecke finden!", trällert Iris zuversichtlich und biegt schwungvoll in den Feldweg ein, der zum Steinbruch führt.
Der halbabgetragene Berg, vereinzelnd haushohe, rissige Gesteinsblöcke, weiträumige Kiesflächen und verrostete Schienenstränge lassen auf einen ehemaligen Steinbruch schließen. Junge Birken wachsen fast waagerecht aus felsigem Gestein. Überall Huflattich auf den Felsvorsprüngen üppig gelb hingetupft. Doch Iris hat dafür keinen Blick. Fieberhaft sucht sie nach Steinen. Prüfend nimmt sie einen nach dem anderen in die Hand, um ihn vorsichtig mit ihrem Hämmerchen aufzuschlagen. Meistens jedoch lässt sie die zertrümmerten Steine enttäuscht wieder zu Boden fallen.
Iris vergisst Raum und Zeit. Getrieben, gepackt, rastlos umher spähend, klettert sie bis zur Felsspalte hoch. Neugierig sieht sie in den dunklen Schlitz. Staub weht ihr trocken entgegen.

Soll sie hinein gehen? Zögernd steht sie davor.
Der Spalt öffnet sich einladend, breit.
Sie fühlt sich an die Hand genommen. Wohin wird sie geführt?
Ein Weitergleiten durch Kreise, Dreiecke, Rauten, Quader durch Kugeln, Kegel und Würfel.
Wie auf einem dahin jagenden Zug huschen draußen die Jahre vorbei, verzischend, knirschend, allmählich zusammen schnurrend, bis sich langsam Stille einpendelt.

"So hast du mich also gefunden!", hört Iris unverhofft eine Stimme hinter ihrem Rücken. Erstaunt dreht Iris sich um und erblickt eine hünenhafte Erscheinung. Plumpe Rundungen, schwer und massig. Eine Frau ganz und gar aus Stein, mit verschmitzt lächelndem Gesicht.
Iris zuckt zusammen. Das Gesicht kennt sie doch.
"Ich kenne dich!", hört Iris sich rufen, "ich habe dich schon oft da am Denkmalstein lächeln sehen. Das warst du doch?"
Verschmitzt lacht die Steinfrau Iris mit ihren aufgeplusterten Wangen an, an denen sich jeweils rechts und links tiefe Grübchen eingraben. Ihre lustigen, kugeligen Augen mustern das zierliche Mädchen, wie es mit weit aufgerissenen, grauen Augen und strubbligen, rotblonden Haaren staunend vor ihr steht.
"Ja, wir kennen uns schon lange", sagt die Steinfrau mit freundlicher Stimme, "wie gut, dass du gekommen bist."
"Wo bin ich nur?", erstaunt sieht Iris sich um.
Die Steinfrau und Iris scheinen in einem Geflecht aus Linien und Zeichen in einem runden Schacht verwoben zu sein, wo von außen milchiges Licht gedämpft nach innen eindringt.
Die schwerleibige Frau deutet mit ihrem plumpen Steinfinger auf die Linien um sie herum: "Siehst du hier, das sind die Lebenslinien, in die ich seit Millionen von Jahren die Lebensweisheit hinein webe. Ein Netzwerk, indem das ganze Wissen dieser Welt verknüpft wird. Früher habe ich auch alte menschliche Lebensweisheiten hier hinein geflochten. Doch mittlerweile gelingt es mir immer seltener, weil das menschliche Wissen sich zu schnell verflüchtigt. Es ist nicht mehr überlebensfähig genug. Aber jetzt bist du ja da, mein Menschenkind. Iris! Ich werde von dir ein paar Blutstropfen als lebendige Zeichen in den Lebensteppich hineinarbeiten. So wird sich die Natur mit der Natur des Menschen fest verwurzeln."

Mit einem spitzen Steinkeil sticht die Steinfrau beherzt in Iris linken Zeigefinger. Geschickt fängt sie drei Blutstropfen mit ihren breiten Händen auf und schüttelt kräftig. Dabei dreht sie sich langsam mit stampfenden, schweren Schritten im Kreis herum. Behutsam streicht sie ihre flachen Handteller mit Iris Blut auf die feinen Linien. Glühende Fäden zügeln plötzlich auf. Sie fressen sich tiefer in das Gewebe hinein. Mal blinkt es hier, dann wieder dort.

Fasziniert verfolgt Iris dieses Lichterverwirrspiel.
Sie jubelt: "Wie schön es weiter wächst. Was für ein wunderbares Schauspiel!"
"Es hat geklappt!", ruft die Steinfrau und packt freudig Iris Arm.
Übermütig tanzen sie. Wirbeln durcheinander, drehen sich, wilder, heftiger, keuchend, stampfend, klatschend, lachend. Lachkaskaden vor überschießender Freude. Immerzu: Lachen ... tanzen ... Jubel!

Noch einmal lächelt die Steinfrau verschmitzt Iris an: "So, mein Menschlein, jetzt setze ich dich wieder in den Zug der Zeitreise. Lebwohl!"
Beherzt drückt die plumpe Steinfrau das zierliche Mädchen.
Bevor Iris irgend etwas erwidern kann, fühlt sie sich fort getragen.
Iris gleitet wieder durch geometrische Ornamente. Um sie herum ein Brausen, Zischen und Rauschen. Glücksperlen prickeln durch sie hindurch. Irrsinnstaumel! Und noch immer fühlt sie sich geborgen in den Armen der Steinfrau, liebevoll geschaukelt.

Erstaunt dreht Iris den Kopf zur Seite.
Was ist passiert? Wo war sie gewesen? Sie war weit, weit weg.
Verwundert gleitet ihr Blick über den Steinbruch, alles unverändert. Doch in ihrer Hand hält sie einen Stein: eine versteinerte Schnecke!
"Ich habe eine versteinerte Schnecke, eine Schnecke!", jubelt Iris und fährt überglücklich nach Hause.
Hastig kramt Iris ein altes Schulheft hervor, reißt schnell eine Seite heraus und schreibt mit fliegender Hand:

Soeben
soeben bin ich über
den Himmel gelaufen
immer der Sonne entgegen
dort bin ich
der Steinfrau begegnet

und wir sind mitten hinein
in unser Leben gesprungen
gestern ... morgen ...
jetzt

wenn du Glück hast
wirst du an
strahlenden Tagen
meine Fußspuren
wolkig hingetupft
am Himmel entdecken

Abends lächelt ihr im Traum verschmitzt die Steinfrau zu. Schelmisch erwidert Iris das Lachen.

Immer öfter kommt die Steinfrau Iris im Traum besuchen. Und Iris weiß, dass die Steinfrau dann wieder menschliche Lebensweisheiten in das Buch des Lebens eintragen wird.

* * *

Die alten Weisen

von Stefanie Kurz

Es war einmal ein Haufen alter, weiser Männer, und der sah so aus:

Die alten Weisen hatten schreckliche Langeweile, denn seit geraumer Zeit schon gab es nichts mehr zu tun.
Alles auf der Welt war durchdacht, gesagt, oder getan worden.
Und so saßen sie in ihren knarrenden Schaukelstühlen mit ihren grauen Bärten und gestopften pfeifen und starrten Löcher in die Luft.
Knarz- knarz machten die Schaukelstühle, raschel- raschel die Bärte und schmauchschmauch die Pfeifen. Nur die Löcher, die machten gar nichts. Standen einfach nur in der Luft herum.

In der Luft rumstehende Löcher

Und während sie so dasaßen, knarzten und raschelten, schmauchten und starrten, da hörten sie auf einmal wie etwas mit einem lauten Plumps vor die Tür fiel.
"Da ist Etwas", sagte der Erste der alten weisen Männer.
"Etwas Großes", meinte der Zweite.
"Etwas Schweres und Dickes", fügte der Dritte hinzu, und der Vierte rief aufgeregt:
"Lasst uns schnell nachschauen."
Sogleich stürmten sie alle zur Tür. Und richtig. Vor der Tür lag wirklich Etwas.

Etwas Großes und Schweres und Dickes. Etwas das aussah wie ein Versandwarenhauskatalog.
Die alten Weisen, die so etwas noch nie gesehen hatten, begannen erstaunt und voller Neugier in dem Katalog zu blättern.
"Sowenig Text, und so viele Bilder", stellten sie verwundert fest.
Und sie schauten den Katalog immer wieder an. Von vorne bis hinten, von hinten bis vorne. Viele, viele Male.
So viele Male, dass es schon später Abend geworden war und ihnen vom vielen Anschauen fast die Augen zufielen.
Da rief der Zweite und Weiseste unter ihnen plötzlich:
" Das kann man ja alles bestellen." Er zeigte auf den Bestellschein, auf der allerletzten Seite des Kataloges.
Sofort waren sie alle wieder hellwach, und die Aufregung war groß.
Und sie begannen zu bestellen. Bestellten und bestellten und bestellten ...
Von jeder Seite mindestens Etwas. Erstens, weil sie so viele Dinge toll fanden, und zweitens, weil sie sich schlicht und ergreifend einfach nicht entscheiden konnten.
Gleich am nächsten Morgen brachten sie den Bestellzettel zur Post und warteten in ihren Schaukelstühlen.
Und es verging ein Tag, und es vergingen zwei Tage, und es vergingen drei Tage, und vier Tage, und fünf ... da klingelte es plötzlich stürmisch an der Tür.
Es war niemand anderes als der Postbote mit vielen riesigen Paketen.

 

Um es genauer zu sagen, waren es viele riesige Pakete mit dem Postboten dahinter.

Das erste Paket war an den Ersten der alten, weisen Männer adressiert. Das zweite an den Zweiten, das dritte an den Dritten und das Vierte an den Vierten. Das fünfte wiederum an den Ersten und das sechste an den Zweiten, das Siebte an den Dritten ... und so weiter und so fort, bis alle Pakete verteilt waren.
Das dauerte eine ganz schön lange Weile.
Kaum aber waren die Pakete in den Händen ihrer Besitzer, war der Aufruhr groß.
Und es begann ein Rumoren und Poltern, ein Rumpeln und Rascheln, ein Knistern und Klappern, ein Scheppern und Krachen.
Kurzum, es gab ein heilloses Durcheinander.
Dann aber endlich nach vielen, vielen Stunden waren sämtliche Sachen ausgepackt, aufgebaut und im ganzen Haus verteilt.
Die alten Weisen strahlten. Strahlten über beide Ohren und konnten es gar nicht abwarten, die vielen Dinge auszuprobieren.
"Auf die Plätze fertig los!" rief der Erste der Weisen. "Jupieeeeeehhhhhhhhhh", schrieen die Anderen. Und los ging's.
Sie drückten Knöpfe und Tasten, schauten und guckten, tippten und griffen, schoben und zogen. Und die Zeit verging wie im Flug. Verging so schnell, wie schon lange nicht mehr.
Sie fuhren Rennen mit kleinen Lenkrädern in der Hand. Bauten Unfälle, fuhren weiter, schossen auf komische Monsterwesen, kämpften sich durch bizarre Welten und es machte ihnen Spaß. Soviel Spaß, wie schon lange nicht mehr.
Und sie puzzelten. Puzzelten, was das Zeug hielt. Puzzelten Schlösser mit Zinnen, liebliche Landschaften und Gemälde weltberühmter Maler. Puzzelten in 3D, puzzelten quadratisch und rund. Puzzelten Puzzles, die leuchteten, glitzerten oder dufteten.
Und es machte ihnen Freude. Soviel Freude, wie schon lange nicht mehr.

 

 

Heilloses Durcheinander in schwarz-weiß

So ging es einen Tag lang, eine Woche, einen Monat, ein ... da ertönte plötzlich ein Schrei durch das Haus.
"Das ist sooooooooooo langweilig", schrie es.
Der Vierte der weisen Männer war aufgesprungen und kickte im hohen Bogen sein Computerspiel durch den Raum.
"So etwas Langweiliges haben wir schon lange nicht mehr gemacht", schrieen auch der Zweite und Dritte und schmissen ihre Lenkräder in die Ecke.
Und der Erste pfefferte voller Wucht die Fernbedienung weit von sich und bemerkte zornig: "Das ist noch viel, viel langweiliger, als Löcher in die Luft zu starren".
Dann sagten sie eine ganze Weile gar nichts mehr.
"Löcher in die Luft starren", seufzte auf einmal der Vierte. Und die anderen fielen verzückt mit ein: "Löcher in die Luft starren", riefen sie, "was waren das noch für Zeiten".
Und sie beschlossen, alles stehen und liegen zu lassen, um zu ihren Schaukelstühlen zurück zu kehren und Löcher in die Luft zu starren.
Und da saßen sie wieder, die alten, weisen Männer. Saßen und knarzten, raschelten und schmauchten und starrten Löcher in die Luft.
Auf einmal geschah etwas Merkwürdiges. Die Löcher in der Luft wurden immer größer und größer. Wurden riesengroß und waren bald auch schon keine Löcher mehr, sondern Bilder.
Viele bunte Bilder.
Und die alten Weisen sahen die Bilder. Sahen sie und begannen zu kichern. Zu kichern und zu glucksen, zu gackern und zu wiehern, zu prusten und zu kollern und schließlich aus vollem Halse zu lachen.
Sie lachten und lachten und lachten, so dass sie vor lauter Lachen kaum noch Luft bekamen.
Und sie rannten ins Freie, schlugen Räder und Purzelbäume, gingen an den Fluss und bauten Baumhäuser aus alten Brettern und Moos, versteckten sich, bildeten Banden und überfielen sich gegenseitig. Und sie fühlten sich wie Helden. Helden, die alles erreichen konnten.
Auch spielten sie Fußball. Fußball wie die Wilden. Immer und immer wieder. Zwei gegen zwei, einer gegen drei, oder drei gegen einen, und schossen dabei nicht wenige Male aus Versehen ein paar Fenster kaputt.
Dann krochen sie schnell unter Hecken, gruben nach Würmern und versuchten, kleine Fische in Tümpeln zu angeln, oder nahmen all ihren Mut zusammen und sprangen von riesigen Heuschobern in duftendes Heu und schrieen vor Freude hellauf.
Schrieen hellauf und bekamen leuchtende Augen und rote Backen dabei.
Manchmal aber geschah es, dass sie einfach nur da saßen, in ihren selbstgebauten Deckenhöhlen und sich Geschichten erzählten.
Geschichten, die fröhlich und traurig, lustig und albern, oder wenn es dunkel geworden war, spannend und gruselig waren.
Dann hielten sie sich an den Händen und zitterten vor lauter Furcht um die Wette.
Zitterten und waren glücklich. So glücklich wie nie zu vor in ihrem Leben.
Und seit dieser Zeit, wann immer sie die Langeweile befällt, setzen sie sich schnell in ihre Schaukelstühle, knarzen und rascheln, schmauchen und starren, und warten darauf, dass sich die Löcher in bunte Bilder verwandeln.

* * *

Abenteuerliches

Das Haus der computerverseuchten Kinder

von Dagmar Petrick

"Ich bin schon alt und grau, aber wenn du magst, erzähle ich dir eine Geschichte!"
"Au ja, eine Geschichte!"
Als ich ein Mädchen war, wohnte ich mit meinen Eltern und meinen vier Brüdern am Ende einer baumlosen Straße. Unser Haus war berüchtigt im ganzen Ort. "Das ist das Haus der computerver-seuchten Kinder!", zischten die Leute, wenn sie daran vorbei gingen. Und sie zogen ihre Sprösslinge fort, als hätten sie Angst, sie könnten sich bei uns anstecken. Denn im Haus drinnen saßen meine Brüder und spielten Computer.
Das war nicht gut für Kinder, der Herr Professor hatte es gesagt, und was er sagte, war wahr. Der Herr Professor war ein kluger Mann. Er hatte zweitausend Bücher gelesen über die frühe Kindheit, dreitausendundacht über frühkindliche Erziehung, viertausendfünfundzwanzig über das Schulwesen, viertausenddreiunddreißig über Pubertät und Adoleszenz, was ein anderes Wort für Erwachsenwerden ist, und eins über Säuglingspflege. Und also wusste er so manches über Kinder.
Er schrieb auch Bücher. Neunundneunzig waren es. Sie hießen: "So fördern Sie Ihr Kind!", "So wird mein Kind schlau!", "Gesunde Ernährung - fröhliche Kinder!" und "Regeln für Ihr Kind!" Und auf jedem Buchdeckel stand mit Großbuchstaben fettgedruckt PROFESSOR DOKTOR DOKTOR HABERECHT. Ja, er war wirklich ein sehr kluger Mann.
In jenem Sommer schrieb Professor Doktor Doktor Haberecht an seinem hundertsten Buch. Den Titel wusste er schon lange. "Warum unsere Kinder nicht am Computer spielen sollen!", würde das Buch heißen, und es würde ihn in aller Welt berühmt machen. Aber diesmal fiel ihm das Schreiben schwer, und ich sage dir gleich warum.
In jenem Sommer hatten meine Eltern beschlossen, dass wir in den Ferien nicht wegfahren würden. Sie fanden, meine Brüder und ich seien groß genug, um uns selbst zu beschäftigen. Und das stimmte ja auch, denn meine Brüder spielten am Computer und ich versorgte sie mit Getränken und Essen, um sie am Verdursten und Verhungern zu hindern.
Mein einer Bruder hatte ein neues Computerspiel bekommen. Es hieß "Druzla, der achtäugige Schrecken" und handelte von einer Drachendame, die in einem dunklen Wald lebte. Niemand wusste wo, und meine Brüder mussten Druzla finden. Meine Brüder befehligten Kriegsheere, Fußsoldaten, Reiter, und einen Trupp Helden. Sie schmiedeten Waffen und errichteten Universitäten, an denen man die Drachenkunde erlernen konnte. Und wenn sie genug wussten und ausreichend Holz hatten schlagen lassen (was man für die Schmieden brauchte, um darin Waffen herzustellen), entsandten sie Kundschafter, die Druzla ausspähen sollten.
Nun war Druzla nicht eigentlich gefährlich, und meine Brüder wollten ihr auch nichts tun. Doch wer sie zähmte, dem entfachte sie die Lagerfeuer. Und dann hielt sie die Schmieden im Gang, was eine feine Sache war, damals, im Mittelalter. Gefährlich jedoch waren die feindlichen Horden und Räuberbanden, die den Truppen meiner Brüder auflauerten. Weh dem, der ihnen begegnete. Blutige Kämpfe standen ihm bevor!
Und so kam es, dass in jenem Sommer, der ein besonders heißer war, das Säbelrasseln meiner Brüder tagein tagaus durch die weitgeöffneten Fenster auf die Straße und an die Ohren des Herrn Professors drang.
Der Herr Professor schrieb gerade am siebzehnten Kapitel seines bahnbrechenden Buches. Viele Stunden hatte er darüber nachgedacht, wie Klettern die Grob- und Feinmotorik des Kindes fördert, wie es auf wunderliche Weise die Synapsen des Gehirns verknüpft, damit Kinder in ihrem späteren Leben knifflige mathematische Aufgaben würden lösen können. Doch jetzt blieben ihm die Gedanken im Kopf kleben wie Fliegen an Fliegenleim.
Der Professor war, neben seiner geistigen Tätigkeit als Schriftsteller, ein Mann der Tat. Er hatte siebenhundertsechsundsiebzig Vorträge gehalten an den achtundzwanzig ehrwürdigsten Universitäten des Landes. Man hatte ihn bejubelt und ihm Beifall geklatscht. Der Gedanke, seine Erkenntnisse könnten im Haus der computerverseuchten Kinder nicht gehört werden, war ihm unerträglich.
Und so tunkte er den Federkiel eines ostafrikanischen Ökoperlhuhns in Eisengallustinte und schrieb mit schwungvollen Lettern auf ein Stück Pappe: "Kinder MÜSSEN klettern!" Das Plakat hängte er zum Fenster heraus, und alle Menschen, die es lasen, wiegten andächtig die Köpfe.
Meine Brüder lasen es freilich nicht.
Am nächsten Tag klingelte es. Vor der Tür stand Professor Doktor Doktor Haberecht. "Grab es ein!", knurrte er und streckte mir ein winziges Apfelbäumchen entgegen. "Und klettert!" Ich war ein artiges Kind, und so murmelte ich "mh" und "ja" und "Dankeschön". Als der Herr Professor gegangen war, trug ich das Bäumchen ins Wohnzimmer. Ich stellte es auf den Esstisch, denn ich wusste nicht, wo ich es hätte einpflanzen sollen. Um unser Haus herum war alles asphaltiert wegen der Parkplätze.
Als meine Eltern am Abend nach Hause kamen, staunten sie nicht schlecht. "Was für ein außergewöhnlicher Tischschmuck!", sagte meine Mutter. "Wie aufmerksam vom Herrn Professor!"
Am nächsten Tag hing ein neues Plakat aus dem Fenster. "Kinder brauchen Bücher!" Und als ich noch überlegte, ob er wieder bei uns klingen würde, bremste ein Lieferwagen vor unserem Haus.
Ein Mann mit Nickelbrille kurbelte das Fenster herunter und blickte mich forschend an. "Ist das das Haus der computerverseuchten Kinder?"
Ich nickte. Er grinste. "Dann hab ich was für euch!"
Es waren Bücher. Jede Menge Bücher.
Fünf Schubkarren rollten wir ins Haus. Ich pflasterte den Wohnzimmerboden damit, und als ich dort keine Bücher mehr unterbringen konnte, baute ich einen Kletterberg für unsere Katze. Sie freute sich sehr.
"So viele schöne Bücher!", rief Mama, als sie am Abend nach Hause kam. "Er muss euch wirklich gerne haben, Kinder. Ich finde, ihr solltet ihm eine Dankeskarte schreiben!"
Aber da stürzte der Computer eines meiner Brüder ab, was eine helle Aufregung gab. Danach hatte Mama die Dankeskarte vergessen, und das war ein großes Glück, wie ich fand.
Am nächsten Tag schrieb der Herr Professor: "Obst essen ist gesund! Esst Obst, Kinder!"
Und richtig bog kurz darauf ein Lieferwagen in unsere Straße ein. Der Fahrer stieg aus und kippte einen Berg Bananen vor unsere Haustür.
Tagelang gab es jetzt Bananen bei uns. Ich buk Bananen und ich briet Bananen. Ich machte Bananenquark, Bananenbrot, Bananenauflauf, Bananenmus, Bananeneis. Ich probierte süße Bananen und auch salzige. Und als mir die Rezepte ausgingen, erfand ich neue: Ich wickelte Bananen in Salatblätter und stopfte sie in Hähnchenbäuche, ich verrieb sie mit Gummibärchen und zerstampfte sie mit Leberwurst.
Dann schrieb Professor Doktor Doktor Haberecht "Kinder MÜSSEN sich waschen!" Und dieses Mal klingelte er auch wieder. "Deine Brüder sitzen den ganzen Tag am Computer und vernachlässigen ihre Hygiene", schnaubte er. Das Wort Hygiene kannte ich nicht, aber wie er es sagte, schossen kleine Blitze aus seinen Augen. Also nahm ich an, dass es etwas Ungeheuerliches war. "Und sicherlich stinken sie schon", fuhr der Herr Professor fort und zerwuselte sich den Bart, dass er mir spitz wie ein erhobener Zeigefinger entgegen stand. "Und zu lange Haare haben sie auch."
Ich machte "ähm" und "hmm" und war sehr erleichtert, als er wieder verschwand.
Am nächsten Tag hielt erneut ein Lieferwagen vor unserem Haus. SEIFENOSKAR stand mit Druckbuchstaben drauf. Ein kleiner runder Mann mit Glatze kletterte aus dem Wagen. Er wischte sich die Schweißperlen von der Stirn und fragte keuchend: "Ist das das Haus der computerverseuch-ten Kinder?"
Der Herr Professor hatte sich nicht lumpen lassen. (Er war ja auch ein reicher Mann, weil alle Eltern seine Bücher kauften.) Der Lieferwagen war bis unters Dach vollgestopft mit Seifen, Shampoos, Salben und Cremes. Sogar hinter dem Lenkrad klemmte eine Schachtel Kölsch Wasser.
"Hilf mir reintragen!", schnaufte Seifenoskar.
Wir stapelten die Tuben und Dosen im Badezimmer, denn der Wohnzimmerboden war besetzt mit Büchern und in der Küche lagerten Bananen. Ein süßer Duft erfüllte das Haus. Und die ganze Zeit, während wir Schachteln und Kartons schichteten, drang von oben das Säbelrasseln meiner Brüder.
Als Mama am Abend nach Hause kam, freute sie sich sehr. Sie wurde ganz fleckig im Gesicht, was immer geschieht, wenn sie gerührt ist. "Wie überaus reizend vom Herrn Professor!", flötete sie und tupfte sich Rosenwasser auf den Hals.
Ich erzählte ihr nicht, was der Professor zu mir gesagt hatte. Aber selbst wenn ich es gewollt hätte, wäre ich nicht dazu gekommen. Meine Brüder hatten Druzla im Wald der hunderttausend Tannen ausfindig gemacht. Und nun quasselten sie alle durcheinander, um Mama davon zu berichten.
Am nächsten Morgen schickte der Herr Professor eine Badewanne, in der eine Quietscheente schwamm, und am übernächsten Tag stand ein Frisör mit klappernder Schere vor unserer Haustür. Aber weil wir nicht öffneten, zog er unverrichteter Dinge wieder ab.
Dann kamen die Fußbälle.
"Kinder MÜSSEN sich bewegen!", stand auf einem großen Plakat, und es war ein Lastwagen, der vor unserem Haus hielt. Der Motor röhrte wie ein wilder Stier und erstarb mit einem lauten Puff.
Für einen Moment verließen meine Brüder Druzla und stürzten hinaus. Der Mann, der aus der Fahrerkabine kraxelte, blickte, wuchtig und muskelbepackt, auf uns hinab. Meine Brüder knufften sich verstohlen in die Rippen, denn er sah aus wie einer ihrer Helden.
"Haus der computerverseuchten Kinder?", brummte der Mann. Wir nickten, und da klappte er die Ladetür auf. Hundertsiebenundzwanzig Fußbälle purzelten heraus, und dass es so viele waren, weiß ich, weil wir ihnen hinterher rannten und alle einsammelten. Die Bälle kullerten die Straße hinunter, sie hüpften hinter Mülltonnen, kugelten in Rinnsteine und verschwanden unter parkenden Autos. Es war hilfreich, dass unsere Nachbarn von der Arbeit gekommen waren und gerade ihren Fünf-Uhr-Kaffee tranken, sonst wären wir wohl überfahren worden.
Wir schleppten die hundertsiebenundzwanzig Fußbälle in unser Haus, das bald einem gigantischen Bällebad glich. Fußbälle quollen aus der Badewanne. Sie verstopften das Klo. Sie stapelten in Schränken und kullerten über Betten. Den Rest kickten wir in die Diele, weil uns beim besten Willen kein freier Platz mehr einfiel. Doch als Papa am Abend nach Hause kam, stolperte er und brach sich den Fuß. Es war ein verzwickter Bruch, der Knöchel hopps, fünf Zehen, das Wadenbein. Bis zum Ende der Ferien musste Papa im Krankenhaus bleiben. Mama besuchte ihn abends nach der Arbeit und blieb lange fort. Und so kam es, dass das Säbelrasseln meiner Brüder nunmehr bis weit in die Nacht hinein aus unserem Haus drang.
Da fasste der Professor einen Entschluss, und im Nachhinein frage ich mich, ob wir es hätten ahnen können.
Fünf Tage lang hörten und lasen wir nichts von ihm, bis eines Morgens ein Plakat aus seinem Fenster baumelte. "Kinder gehören an die frische Luft!!!" Diesmal hatte er keine Tinte benutzt, sondern mit einem flammend roten Buntstift geschrieben und drei Ausrufezeichen dahinter gepinselt, dass ich sofort Angst bekam.
Und da kam er.
Ich stand in der Küche und briet Bananen im Eierschaum, als ich das Knirschen hörte. Unter das Küchenfenster geduckt, schlich Professor Doktor Doktor Haberecht zu unserer Haustür, und das Knirschen waren die Kiesel, die unter seinen Tritten wegspritzten.
Ich düste nach oben wie der helle Wahnsinn und trommelte an die Türen meiner Brüder. Eins, zwei, drei, vier, standen sie stramm wie das Kriegsheer, das sie einen Sommer lang befehligt hatten, und ohne lange zu überlegen, erteilte mein einer Bruder die Kommandos. In Windeseile entstöpselten sie ihre Computer und wuchteten sie in die Diele, wo der Professor schon mit einem Messer an der Tür schabte. Gleich würde er das Schloss aufbrechen, und wehe dann meinen Brüdern! Ich war mir sicher, dass er sie schnappen und an eine Straßenlampe binden würde, jeden einzelnen, damit sie endlich frische Luft bekämen.
Mein einer Bruder war groß und stark. Er packte die vier Computer und stapelte sie übereinander, so dass sie den Eingang verbauten und die vier Bildschirme zur Tür zeigten. Und genau in dem Moment, als Professor Doktor Doktor Haberecht die Tür aufknackte, funkelte ihm aus zweiunddreißig Augen Druzla, die Schreckliche entgegen. Aus ihrem Rachen schossen Blitze, und sie sah sehr gefährlich und sehr wütend aus.
Der Professor erblasste. Er taumelte. Rücklings stürzte er aus der Diele, über die Straße und zurück in sein Haus. Und dabei wedelte er mit den Händen über dem Kopf wie ein durchgeknallter Hubschrauber. Mit lautem Peng! klatschte die Haustür hinter ihm zu.
Herrn Professor Doktor Doktor Haberecht sahen wir für den Rest der Ferien nicht mehr. Wir lasen auch nichts mehr von ihm, und auch seine Fenster blieben geschlossen.
Als die Schule wieder anfing, hatte der Professor sein hundertstes Buch geschrieben. Es hieß: "Wie ich gegen den zweiunddreißigäugigen Drachen kämpfte" und wurde sein größter Erfolg. Eine literarische Sensation, die den Herrn Professor über Nacht zum berühmtesten Kinderbuchautoren der Welt machte. Meine Brüder haben das Buch bestimmt fünfmal hintereinander gelesen.
"Und das ist wirklich schon so lange her, Oma?"
"Ja, ja, schon achtzig Jahre!"
"Hast du denn das Buch vom Herrn Professor noch?"
"Aber sicher. Wenn ich es meinem Computer sage, holt er es uns."
"Oma?"
"Ja?"
"Wann schaffst du dir endlich einen neuen Computer an? Deiner knarrzt doch schon beim Sprechen. Und fliegen kann er auch nicht."
"Da hast du Recht, Liebes. Ich bin sicherlich ein wenig altmodisch, aber ich hänge halt an ihm."

* * *

Die große Ballonfahrt

von Peter Friedrich

Mama wollte nur kurz etwas einkaufen. "Bin gleich wieder zurück", sagte sie. "Und wehe, ihr macht den Fernseher an oder daddelt am Computer rum!"
"Was sollen wir denn sonst tun?", stöhnte ich, aber statt mir zu antworten, rief sie beim Hinausgehen bloß noch: "Und pass bitte auf, dass Johann nicht wieder Unfug anstellt."
Johann ist mein kleiner Bruder. Er kam mit seinem gasgefüllten Luftballon ins Wohnzimmer. Den hatte Mama ihm auf dem Markt gekauft.
"Lisa, wollen wir Ballonfahrer spielen?"
"Keinen Bock auf deinen Kinderkram", sagte ich genervt.
"Aber hilf mir wenigstens mal, die beiden Sessel zu verschieben. Für einen Ballonflug braucht man einen großen Korb, in dem man stehen kann."
Weil ich weiß, wie hartnäckig mein kleiner Bruder sein kann, half ich ihm, den kleinen Tisch vor dem Sofa zur Seite zu stellen und die beiden Sessel so an das Sofa zu schieben, dass alles zusammen wie ein riesiger Korb aussah. Also, dass heißt, bis er fand, dass es wie ein riesiger Korb aussah.
"Wir brauchen noch einen Gasbrenner", sagte Johann.
"Einen Gasbrenner?"
"Na klar, der Gasbrenner macht die Luft im Ballon heiß und die heiße Luft macht, dass der Ballon in die Luft steigt." Er sprang vom Sofa. "Die Lampe ist ein prima Gasbrenner."
Er holte die Leselampe, die in der Ecke stand und stellte sie zwischen Sofa und Sessel. Zum Anschalten hing vom Lampenschirm eine Strippe herab, an der man ziehen musste. Johann zog an der Strippe und machte ein lautes Zischgeräusch dazu. Er streckte die Faust mit hochgehobenem Daumen aus und sagte: "Funktioniert noch tadellos, der Gasbrenner."
Ich verdrehte die Augen. "Dein Gasbrenner kann gar nicht funktionieren, du Dummkopf! Ein Gasbrenner braucht eine Gasflasche, so wie Papas Campingkocher".
Einen Moment lang stand er mit offenem Mund in seinem Ballonfahrerkorb. Dann strahlte er plötzlich übers ganze Gesicht. "Stimmt!", rief er. "Aber viel größer. Da - die großen Vasen!"
Damit nicht noch ein Unglück passiert, wuchtete ich für ihn die zwei Vasen, die rechts und links des Fensters auf dem Boden standen, über das Sofa und stellte sie neben seinen Gasbrenner - also die Lampe, meine ich.
"Jetzt kann 's losgehen", sagte Johann und ließ den Gasbrenner laut zischen. Plötzlich rief er: "Halt! In einem Ballon braucht man ein Fernrohr." Er sprang über den Sessel und holte aus dem Schrank Papas Fernglas.
"Beeil dich! Der Korb hebt gleich ab", rief ich, um ihn zu ärgern. "Du hast vergessen, ihn festzubinden."
"Scheiße!", rief Johann, drehte sich um machte einen riesigen Hechtsprung zum Sessel. Bloß mit den Händen hielt er sich an der Armlehne fest und schrie, weil der Korb angeblich schon mindestens zehn Meter über dem Boden schwebe. Als ginge es fast über seine Kräfte, zog er sich mühsam hoch und ließ sich in den Sessel rollen. Ich schüttelte bloß den Kopf.
"Das war ganz schön knapp", sagte er und japste nach Luft. Dann begann er ein paar Sandsäcke - das waren für ihn die Sofakissen - über Bord zu werfen, um, wie er sagte, schneller an Höhe gewinnen.
Nachdem er drei Sandsäcke abgeworfen hatte, war mir plötzlich, als finge der Boden an, leicht hin und her zu schwanken. Ich schaute zu Johann. Der öffnete seinen Mund und zeigte zum Fenster.
"Da ...", stammelte er.
Die Bäume und die Straßenlaterne vor dem Wohnzimmerfenster schienen ebenfalls hin und her zu schwanken. Johann sprang aus seinem Korb und beide stürzten wir zum Fenster.
Es war kaum zu glauben: Unser Haus begann, sich von der Erde zu lösen. Wir lehnten uns aus dem Fenster und schauten zum Dach hoch. Über dem Dach war ein riesiger Ballon, der mit Seilen am Haus befestigt war. Das Haus stieg höher und höher. Bald konnten wir über die ganze Stadt blicken. Rechts war der Supermarkt zu sehen, in dem Mama gerade einkaufen war.
Plötzlich kam ein kräftiger Wind auf und ließ das Haus so stark schaukeln, dass die Bücher aus dem Regal flogen. Johann fiel hin und rutschte auf dem Boden zur gegenüber liegenden Wand. Als er dort aus dem Fenster guckte, rief er entsetzt: "Der Donnerberg! Der Wind treibt uns direkt auf den Donnerberg zu. Wir müssen sofort an Höhe gewinnen."
Auf allen Vieren krabbelte er zu den Sesseln und zog wie ein Verrückter am Gasbrenner. Es zischte und zischte. "Lisa", schrie er so laut er konnte, um das Zischen des Gasbrenners zu übertönen, "du musst alle Sandsäcke abwerfen. Wir müssen schneller steigen. Sonst knallen wir gegen den Berg."
Ohne lange zu überlegen, öffnete ich das Fenster sperrangelweit, stürzte zum Sofa und warf in Windeseile alle Kissen zum Fenster raus. "Das reicht nicht", rief ich, "die Kissen sind zu leicht. Wir gewinnen kaum an Höhe."
"Dann nimm die Bücher. Die haben Mama und Papa eh schon alle gelesen. Wir müssen das Haus leichter machen, sonst sind wir verloren."
In hohem Bogen schleuderte ich ein Buch nach dem anderen durch das Fenster.
"Ja, gut so! Jetzt steigen wir viel schneller", rief Johann. "Vielleicht schaffen wir 's. Noch ein paar Bücher."
Wir hatten Glück. Kurz bevor der Wind das Haus gegen die Bergwand drücken konnte, glitten wir über den Gipfel hinweg. So knapp, dass wir vom Fenster aus das Gras auf dem Gipfel hätten pflücken können. Die Fahrt wurde jetzt ruhiger und der Blick war fantastisch. Wie eine Spielzeuglandschaft lag die Welt weit unter uns. Doch wir konnten die Aussicht nicht lange genießen. Johann tippte mir auf die Schulter.
"Schau mal! Dort fliegt ein Vogelschwarm auf uns zu." Er hob das Fern-glas an die Augen. "Ey, das sind Störche, richtige Störche. Die kommen bestimmt gerade aus Afrika zurück."
"Zeig mal", sagte ich. Johann gab mir das Fernglas. "Das ist ja verrückt. Sieht aus, als ob die alle schlafen. Die haben die Augen geschlossen."
"Na ist doch klar", sagte Johann und tat, als wüsste er wieder einmal alles. "Auf ihrem langen Flug von Afrika müssen sie auch mal schlafen und da sie den Weg auswendig kennen, schlafen sie eben beim Fliegen."
"Ich kenn meinen Weg zur Schule auch auswendig und trotzdem kann ich beim Gehen nicht schlafen."
"Du bist ja auch kein Storch", antwortete Johann.
Johann muss immer das letzte Wort haben, selbst wenn er dann totalen Blödsinn redet.
"Wenn die nicht langsam abdrehen", sagte ich, "spießen sie gleich mit ihren spitzen Schnäbeln unseren Ballon auf".
"Ach Quatsch, Lisa. Die werden schon nicht so blöd sein."
Sie waren aber so blöd. Wir hörten ein lautes "Rrrrrrtsch", gefolgt von einem dumpfen Zischen. Zuerst tat sich nichts, aber dann merkten wir, dass wir an Höhe verloren. Zuerst ganz langsam, aber dann immer schneller.
"Ich glaube, jetzt sollten wir doch besser landen", sagte ich und fasste Johanns Hand.
"Ja", antwortete Johann, "aber wenn wir weiter so schnell sinken, gibt es eine Bruchlandung. Wir werden uns sämtliche Knochen brechen."
Er lief zum Gasbrenner und ließ ihn kräftig zischen.
"Das Loch ist zu groß", rief ich. "Der Gasbrenner alleine kann den Fall nicht bremsen. Wir müssen wieder Ballast abwerfen, Johann!"
"Vielleicht den Fernseher. Der hat ein ordentliches Gewicht."
"Aber wir wollten doch heute Abend den Trickfilm sehen", antwortete ich.
"Stimmt", sagte er, "dann eben - den kleinen Tisch hier."
Aber auch als ich den Tisch rausgeschmissen hatte, sanken wir kaum langsamer. Ich schnappte nun alles, was ich alleine tragen konnte und warf es raus. Zuerst Kerzenständer, Blumentöpfe, eine Standuhr, dann die Stühle und das Porzellan aus dem Vitrinenschrank. Die Schubladen des Wohnzimmerschrankes nahm ich als Ganzes und warf sie samt Inhalt hinaus.
"Gut so, Lisa", rief Johann, "wir fallen schon langsamer."
Ich schaute aus dem Fenster. Der Gipfel des Donnerberges lag wieder über uns und unten in der Stadt konnte man schon einzelne Straßen erkennen.
"Ich kann unseren Garten sehen", rief ich. "Wenn der Wind uns noch ein kleines Stück nach rechts treibt, landen wir genau richtig."
Da schrie Johann: "Lisa! Ich glaube, der Gasbrenner gibt seinen Geist auf."
Ich sprang zu ihm und gemeinsam zogen wir wie verrückt an der Strippe des Gasbrenners. Aber statt eines lauten Zischens war nur noch ein stottern-des "Tsch - tsch tsch - - tsch" zu hören - dann erlosch der Gasbrenner.
Johann klopfte gegen die beiden Gastanks. "Das Gas ist alle."
"Wie sollen wir jetzt bremsen?"
Wir schmissen die Gastanks aus dem Fenster, aber das brachte nicht viel. Das Haus fiel zu schnell. Die Bäume unter uns wurden immer größer. Wir hatten nicht mehr viel Zeit. Bald würde das Haus auf der Erde zerschellen und wir unter den Trümmern begraben werden. Johann und ich, wir schauten uns an. Dann schauten wir im gleichen Augenblick zum Fernseher. Dann schauten wir uns wieder an und nickten beide stumm. Uns war klar, dass wir auf den Trickfilm am Abend keine Rücksicht mehr nehmen konnten.
Wir schoben den Fernseher zum Fenster. Einer rechts, einer links packten wir ihn an und versuchten ihn hoch zu heben. Mit allerletzter Kraft gelang es uns, ihn über das Fensterbrett zu wuchten und rauszukippen. Das war unsere Rettung. Auf einen Schlag fiel das Haus viel langsamer. Es war ein Gefühl im Bauch wie in einem Fahrstuhl, der plötzlich abbremst. Schon im nächsten Augenblick gab es einen kräftigen Stoß, wir fielen zu Boden und alles im Haus wackelte. Dann war es still. - Das Haus war gelandet.
Wir rappelten uns auf und schauten aus dem Fenster. Das Haus stand exakt an der Stelle, an der es vorher gestanden hatte. Als wir nach draußen in den Garten gingen, sahen wir gerade noch, wie sich das letzte Seil, an dem der Ballon noch hing, vom Dach löste. Da der Ballon jetzt keine Last mehr zu tragen hatte, stieg er, obwohl er nur noch halb gefüllt war, sehr schnell in den Himmel und war bald nicht mehr zu sehen.
Etwas betreten standen wir neben dem Fernseher und den anderen Sachen, die zertrümmert unter dem Wohnzimmerfenster lagen.
"Was wird Mama sagen, wenn sie das sieht?", fragte ich.
"Ach was", sagte Johann, "wenn wir ihr erzählen, was passiert ist, wird sie heilfroh sein, dass wir die Ballonfahrt überlebt haben."
Ich hoffe, er hat Recht.

* * *

Zutritt nur für Kinder

von Iris Kersten

"Ich schieß' dich ab! Ratatatatamm!!! Warte nur, ich krieg' dich!"
"Ich kann es nicht glauben! Draußen ist das schönste Wetter und du erschießt Computermännchen!"
"Orks. Es sind Orks. Aus der Zwischenwelt!"
Lily verdreht die Augen. "Du bist echt nicht ganz normal." Sie steht in Saschas Zimmertür und ist unschlüssig. Soll sie einfach die Tür zu machen und gehen? Oder soll sie ihren großen Bruder überreden, mit raus zu kommen? Wenn nur Sarah da wäre, dann könnte sie mit Sarah in den Wald gehen. Alleine traut sie sich nicht so recht. Deswegen bräuchte sie eigentlich Sascha.
"Sascha ..."
"Baaaaaam! Ich hab dich!"
"... hast du eigentlich gewusst, dass in unserem Wald eine Hütte steht? "
"Mensch! Daneben ...Was willst du von mir? Was für eine Hütte?"
"Das weiß ich auch nicht. Unsere Lehrerin hat davon erzählt."
"Ja! Erwischt."
"Sie sagt, nach dem Krieg habe dort eine Familie aus der Stadt jedes Jahr die Ferien verbracht. Sollen wir mal hingehen?"
"Nein. Ich muss erst die Orks erledigen. Uuund Schuss!"
Lily ist sauer. Wenn dieser Idiot nicht mitkommen will, geh' ich eben allein.
Sie geht in den Hausflur, um ihre Turnschuhe anzuziehen, da steht Sascha plötzlich neben ihr. "Was für eine Familie soll da mitten im Wald gewohnt haben?" Anscheinend hat Sascha doch Feuer gefangen.
Lily ist erleichtert, aber das will sie sich natürlich nicht anmerken lassen. "Genau das werde ich jetzt herausbekommen. Ob du mitkommst oder nicht."
"Ok. Ich komme mit. Aber nur, weil du die Hütte alleine sowieso nicht findest."

Wie der Wind sausen sie mit dem Fahrrad über den staubigen Waldweg. Sie kommen an einem See vorbei. Danach wird der Weg schmaler und der Wald dichter. Zu den Laubbäumen gesellen sich Tannen und Unterholz. Sie müssen die Räder stehen lassen und zu Fuß weiter gehen. Der Weg wird immer enger und beschwerlicher.
Lily hat langsam keine Lust mehr. Jetzt sind sie schon so weit gelaufen und immer noch ist kein Haus in Sicht. "Vielleicht gibt es die Hütte doch nicht, und die alte Hausmann wollte uns nur auf den Arm nehmen".
Aber Sascha ist noch nicht bereit, aufzugeben. "Jetzt bin ich schon mitgekommen, jetzt werden wir den Schuppen auch finden. Weiter geht's."
Doch viel weiter müssen sie nicht mehr laufen, da strahlt Sascha plötzlich: "Schau mal da vorn. Das muss es sein." Und tatsächlich, dort steht ein kleines Backsteinhaus, umgeben von einem morschen Bretterzaun. Sascha pfeift durch die Zähne: "Wow! Das ist sogar größer als eine Hütte: Es ist ein richtiges kleines Haus."
"Sieh mal, da hängen Gardinen. Meinst du wirklich, das dort niemand mehr wohnt?"
"Ja klar glaube ich das. Sonst wäre das Gras nicht so hoch und der Zaun nicht so kaputt. Komm, wir schauen mal durchs Fenster."
Vorsichtig schleichen sich die Kinder zum Haus und gehen zum kleinen Fenster neben der Eingangstür. Es hat grau verwitterte Fensterläden. "Komisch, dass die Fensterläden offen sind."
"Wenn ich mein Haus verlassen würde, würde ich alles zu machen," stimmt Lily zu.
Sie werfen einen Blick in das Innere des Hauses. Die Sonne scheint in das Zimmer und lässt alles in einem wunderschönen Licht erstrahlen: Auf der einen Seite befindet sich ein alter Kochofen und ein Schrank mit Regal obendrauf. Es stehen sogar noch Teller darin. Auf der anderen Seite steht ein großes Waschbecken aus Stein. In der Ecke vor dem Fenster steht ein hellgrüner Sessel, daneben eine Stehlampe mit einem orangefarbenen Lampenschirm mit Bommeln. In der Mitte des Raumes befindet sich ein kleiner Holztisch mit vier Stühlen, ebenfalls aus Holz. Auf dem Tisch steht eine Vase. Aber das, was in der Vase enthalten ist, kann man nicht mal mehr als Trockenblumen bezeichnen. Und überall liegt Staub. Sascha staunt: "Wahnsinn!"
"Als wenn die Zeit stehen geblieben wär' ... Irgendwie unheimlich."
"Na jaa. Hier war zwar bestimmt ewig keiner mehr, aber unheimlich finde ich es nicht." Sascha watet durch ein Meer wilder Blumen zum nächsten Fenster. "Das Schlafzimmer ... Wie kommen wir nur hier rein?"
Das geht Lily eindeutig zu weit: "Ich glaube nicht, dass wir da rein gehen sollten. Es ist doch auch spannend, von außen rein zu schauen."
Sascha protestiert: "Jetzt sind wir schon mal da, jetzt gehen wir auch rein." Gefolgt von Lily kämpft er sich durch den wilden Garten auf die Rückseite des Hauses. "Hier ist ein Hintereingang! Und die Tür hat ein Fenster ..." Suchend sieht sich Sascha um. Plötzlich bückt er sich nach einem Stein.
"Nein, Sascha, nicht!" ruft Lily.
Zu spät! Klirr macht die zerborstene Scheibe, und Sascha greift mit der rechten Hand wie in einem Film durch das zerbrochene Glas, bekommt den Schlüssel zu fassen, kann ihn drehen, und die Tür springt auf. "Wow! Wie einfach! Ich bin noch nie irgendwo eingebrochen."
"Sascha ..."
"Jetzt komm schon. Sei kein Frosch!"
Mit klopfendem Herzen schleicht Lily hinter ihrem Bruder durch die Tür. Sie stehen in einem Flur. Er führt zur gegenüberliegenden Wohnküche. Vom Flur geht eine Tür nach links und eine Tür nach rechts ab. Vorsichtig öffnen sie die linke Tür. Das Bad. Vom Bad führt eine Tür zum Schlafzimmer.
Sie gehen zurück in den Flur und wollen die Tür auf der anderen Seite öffnen, aber sie klemmt.
"Komm, lass uns jetzt gehen," bettelt Lily. "Das ist bestimmt ein Zeichen."
"Nein. Die Tür muss aufgehen!" Sascha ruckelt wie ein Wilder am Türknauf und tatsächlich - ein Ruck - und die Tür springt auf.
Die Geschwister sind sprachlos vor Staunen. Sie treten in das Zimmer ein und können es nicht fassen. Ein Jugendzimmer! Ein Bett, ein Nachtschrank, ein Tisch und ein Stuhl und eine ganze Wand voller Bücher. Bücher von oben nach unten, Bücher von rechts nach links. Ein Riesenregal voll ... Und auch hier: alles voller Staub. Lily traut ihren Augen nicht: "Wer kann denn so viel lesen?"
"Eine Bibliothek ..."
"Nur der Staub müsste mal entfernt werden."
"Das ist es! Genau das ist es!"
"Sascha. So aufregend ist Staub wischen nun auch wieder nicht."
"Nein, das mein ich nicht. Was ich meine ist, es ist eine Bibliothek. Ich meine, wir machen eine Bibliothek auf. Unsere eigene Bibliothek. All die Bücher. Sieh doch mal."
"Und wenn uns jemand erwischt?"
"Wer soll uns denn erwischen? Hierher kommt keiner. Der Besitzer ist bestimmt tot."
"Hmm." Lily zieht zweifelnd die Stirn kraus, geht dann aber zum Regal. Sie fängt an, vorzulesen "Jule Verne Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer, Die Reise zum Mittelpunkt der Erde, In achtzig Tagen um die Welt, Charles Dickens Oliver Twist und David Copperfield, Lewis Caroll Alice im Wunderland, Rudyad Kipling Das Dschungelbuch, Herman Melville Moby Dick, Antoine de St. Exupéry Der kleine Prinz."
"Das haben wir doch auch."
"Ja stimmt ... Und sieh mal hier."
"Karl May. Mindestens zehn Bände von Karl May."
"Und da drüben! Märchen! Die Gebrüder Grimm, Hans Christian Andersen, Wilhelm Hauff, ETA Hoffmann, Edgar Alan Poe ..."
"Poe hat keine Märchen geschrieben. Das waren Gruselgeschichten."
"Ist ja gut. Ich versteh sowieso nicht, wieso du das weißt. Wo du doch den ganzen Tag vor dem Computer hängst."
Sascha grinst: "Es sind aber auch Bücher dabei, von denen ich noch nie gehört hab."
"Warum hier wohl niemand mehr ist?"
"Ist doch egal. Ich leih mir auf jeden Fall Die Reise zum Mittelpunkt der Erde. Vielleicht gibt es da auch Orks."
"Du und deine Orks ... Außerdem können wir nicht einfach was mitnehmen!"
"Nicht mitnehmen! Nur ausleihen. Wie in einer Bibliothek."
"Ich weiß nicht ... Wir können ja zuerst mal sauber machen."
Sascha freut sich: "Dann bist du also dafür, eine Bibliothek zu eröffnen!"
"Aber bevor du irgendwas mitnimmst, erstellen wir eine Liste von all den Büchern."
Sascha versteht, dass dieses das einzige Zugeständnis ist, dass Lily im Moment machen kann. Er plant weiter: "Dann sortieren wir die Bücher nach Autoren ein. So kann man sie leichter wiederfinden."
Lily zögert immer noch. Sie ist sich nicht sicher, ob es eine gute Idee ist, in einem leerstehenden Waldhaus eine Bibliothek zu errichten. Aber dann kommt ihr ein guter Gedanke und sie platzt heraus: "Wir könnten auch noch Bücher von zu Hause mitbringen. Solche, die es hier nicht gibt."
"Ja. Comics zum Beispiel." Sascha ist erleichtert. Lily scheint jetzt Spaß an der Sache zu haben.
Sie überlegt: "Das müssten wir nur irgendwo aufschreiben. Nicht, dass wir es nachher vergessen."
"Natürlich. Wir kaufen ein dickes Ringbuch und notieren alles. Es soll ein richtiger Bibliothekskatalog werden."
Jetzt ist auch Lily nicht mehr zu halten: "Und wenn sonst noch jemand Bücher für uns hat, nehmen wir sie in den Katalog auf und schreiben den Namen des Besitzers dazu."
"Und wenn er die Bücher wieder zurück möchte, dann ist das gar kein Problem."
"Genau. Und dann müssen wir natürlich die Namen und Telefonnummern der Ausleiher aufschreiben."
"Wie in einer richtigen Bibliothek."
"Und wir können auch eine Leseecke einrichten."
"Und vielleicht Getränke und was zu Knabbern mitbringen."
"Hört sich gut an."
"Und dann eröffnen wir die Bibliothek. Die Waldbibliothek."
"Nur für Kinder."
Beide sind sich einig. Sie wollen eine Waldbibliothek nur für Kinder einrichten.

Es dauert zwei Wochen, bis Lily und Sascha alles in Ordnung gebracht haben: Sie haben das Haus, aber vor allem die Bibliothek, vom Staub befreit, die Bücher katalogisiert und den Lesesessel, die Stehlampe und viele kleine Kissen für eine Leseecke in das Jugendzimmer geschleppt. Der Tisch steht jetzt direkt an der Tür und liegt voll mit Heften: In einem ist der Bestand der alten Bücher notiert, in einem anderen die Bücher, die Lily, Sascha und ihre Freunde noch für die Bücherei zur Verfügung gestellt haben und in einem Dritten hält Lily sehr ordentlich die Namen der Ausleiher fest.
Es ist eine wirklich tolle Bibliothek geworden. Und das Loch in der Türscheibe haben sie mit einer Pappe zugeklebt. Auf der steht: Waldbibliothek. Zutritt nur für Kinder.

Es ist Samstag Morgen, elf Uhr. Die Bibliothek ist jetzt seit ein paar Tagen in Betrieb und die Kinder haben gerade aufgemacht. Lily sitzt an ihrem Ausleihtisch, Sascha bringt neue Kekse und Limo in die Küche, und ihre Freundin Sarah sitzt in der Leseecke und schmökert in Tolkiens Kleinem Hobbit, als Sascha plötzlich ein Geräusch an der Vordertür hört. Er hört, wie ein Schlüssel in das Schlüsselloch geschoben wird und sich dreht.
Der Junge erstarrt vor Schreck.
Langsam öffnet sich die Tür und ein großer Mann mit weißen Haaren steht plötzlich vor ihm in der Wohnküche. Er scheint ebenso so erstaunt zu sein wie Sascha.
Dieser findet als erster die Stimme wieder: "Wer ... wer sind Sie? Was wollen Sie?"
"Ich bin Samuel. Und dies ist mein Haus."
"Dann sind Sie also gar nicht nicht tot," entfährt es Sascha. Dann beißt er sich schnell auf die Zunge.
"Wie kommst du denn darauf? Sehe ich etwa aus wie ein Geist?"
Lily und Sarah erscheinen auf der Bildfläche. Sie haben das Gespräch mit angehört. "Dann, dann ... dann sind das also ... alles Ihre Bücher," stottert Lily.
"Ja, du hast recht. Es sind meine Bücher."
Lily murmelt so etwas wie eine Entschuldigung. "Wir dachten, das Haus und alles gehört niemandem mehr."
"Könnt ihr mir vielleicht erzählen, was ihr hier macht?"
"Die Waldbibliothek ...," antwortet Sarah.
"... nur für Kinder," beendet Lily den Satz.
Sascha fasst all seinen Mut zusammen: "Kommen Sie mit und sehen Sie es sich an."
Gemeinsam gehen sie in das ehemalige Jugendzimmer.
Als Samuel die fragenden Blicke der drei auf sich ruhen spürt, fängt er an, zu erzählen:
"Ich bin hier groß geworden. Jeden Sommer haben wir unsere Ferien hier verbracht. Damals war der Wald noch nicht so zugewachsen. Als ich fünfzehn war, ist mein Vater hier im Wald beim Holz hacken verunglückt. Wir haben ihn sofort ins Krankenhaus gebracht, aber er ist noch in der selben Nacht gestorben. Ich erinnere mich, als wenn es heute wäre: Meine Mutter hat mich an die Hand genommen und geschworen, das Waldhaus nie wieder zu betreten. Wir sind gegangen und all unsere Sachen sind hier geblieben ..."
Es ist jetzt so still im Raum, dass man eine Stecknadel fallen hören könnte.
"Das alles ist jetzt fünfzig Jahre her ... Tja... Und jetzt bin ich wieder da."
Es ist Sascha, der sich endlich traut, etwas zu sagen: "Und was sollen wir jetzt tun?"
"Hm." Samuel lässt sich in den Lesesessel fallen und legt die Stirn in Falten. Er scheint nachzudenken. Dann hellt sich sein Gesicht auf: "Vielleicht sollten wir ein Fest feiern. Ein Kinderwaldbibliothekseröffnungsfest."

 
 © Rossipotti No. 22, Mai 2010