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Rossipottis Leibspeise
und andere Lieblingsbücher

Rossipottis Leibspeise:

Lieblingsbuch:

Taubenjagd

"So etwas ist mir schon lange nicht mehr passiert," sagt Rossipotti und schaut verdutzt auf einen Stapel Bücher, der vor ihm liegt. "Ich esse und esse und kann einfach nicht genug davon bekommen."
Tatsächlich ist Rossipottis Bauch in den letzten zwei Stunden erstaunlich dick geworden. Mindestens fünf Bücher hat er in der Zeit in sich hineingestopft!
"Du musst aufpassen, dass du nicht platzt", erwidere ich mit Mitgefühl. Als zerlegter Fisch, der ich nun mal bin, hält sich mein Mitgefühl allerdings in Grenzen.
"Glaubst du denn, dass das geht?" grunzt Rossipotti.
"Natürlich!" antworte ich. "Erinnerst du dich nicht mehr, was deine Freundin Esmeralda vor ein paar Wochen erzählt hat? Ihre Tante hatte einmal solchen Appetit auf Lachs, dass sie erst zu essen aufgehört hat, als es laut knallte und ihr der ganze Lachs aus dem geplatzten Bauch fiel!"
"So ein Quatsch!" keckerte Rossipotti. "Du kennst doch Esmeralda. Sie erzählt einfach gerne Geschichten. Vor allem solche Geschichten, die in irgendeiner Weise extrem sind. Außerdem habe ich erst kürzlich von Esmeraldas Tante eine Mail bekommen."

"Welche Bücher haben dir denn besonders geschmeckt?" versuche ich vom Thema abzulenken.
"Alle", sagt Rossipotti überzeugt. "Aber ich habe mich schon von drei von ihnen entschieden. Denn sie passen gut zu unserem Thema 'Anderswo Zuhaus'. Sie kommen alle aus dem Anderswo und schildern fremde Sitten und Bräuche."
"Nun spann' mich doch nicht so auf die Folter! " drängle ich Rossipotti. "Welche Bücher soll ich nun vorstellen?"
"Mach zuerst einmal 'Taubenjagd' von Spinelli", antwortet Rossipott. Dann reibt er seinen Bauch, gähnt, rollt sich in seinen Sessel zusammen und schläft ein, noch bevor ich ihn fragen kann, in welcher Weise er das Buch gerne vorgestellt haben möchte.

Na, mir soll es recht sein. So kann ich wenigstens einmal das schreiben, was ich gerne über ein Buch sagen möchte, ohne auf Rossipotti in irgendeiner Hinsicht Rücksicht nehmen zu müssen:
Zum Glück handelt das Buch "Taubenjagd" von Jerry Spinelli nicht von Fischfressern, sondern von Taubenfressern. Ich persönlich kann Tauben ja nicht besonders leiden. Sie fressen zwar keine Fische, aber irgendwie sind sie mir zu pummelig. Sie wirken nicht besonders intelligent, obwohl sie das manchmal durchaus sein sollen.
Aber wenn mich jemand fragen würde, ob ich lieber Taube oder Fisch wäre, ich würde mich glatt für den Fisch entscheiden!
Doch ich will jetzt nicht vom Thema abkommen. In dem Buch finden auf jeden Fall alle außer einem zehnjährigen Jungen Tauben auch blöd. Das ist auf jeden Fall schon einmal ein Grund, das Buch zu lesen. Ein zweiter Grund dafür ist, dass man durch das Buch seine Meinung über Tauben wirklich ändern kann, wenn man will. Und ein Buch ist eigentlich erst wirklich dann gut, wenn es einen dazu bringt, die eigenen Ansichten zu überdenken oder sogar zu ändern!
In diesem Fall findet man am Schluss des Buchs Tauben plötzlich süß und treu und zärtlich und die besten Freunde, die man haben kann.

"Was schreibst du denn da für einen Blödsinn?" Rossipotti ist anscheinend wieder aufgewacht und unbemerkt hinter mich getreten. "Du sollst nicht über Tauben, sondern über das Buch schreiben!"
"Ich wollte doch nur ein einziges Mal meine Sicht der Dinge zu Papier bringen", fauche ich zurück, "und außerdem handelt das Buch von vorne bis hinten von Tauben. Oder etwa nicht?"
"Schon", gibt Rossipotti zu. "Aber nicht in der Weise, wie du es beschreibst."
"Ja, ja ich weiß schon", seufze ich. "Du willst wahrscheinlich hören: In einer kleinen amerikanischen Stadt lebte einmal ein kleiner Junge namens Palmer. Er ist ein ganz normaler Junge. Das ändert sich jedoch, als Palmer 'Halsumdreher' beim Waymers Fest werden soll. Jedes Jahr feiert die Stadt dieses Fest, bei dem tausende Tauben abgeknallt werden, und Jungen in Palmers Alter den verletzten Tauben die Hälse umdrehen dürfen. Alle lieben diesen makabren Sport, alle bis auf Palmer. Er nimmt sogar heimlich eine Taube bei sich auf, wird damit zum Außenseiter und Verräter, und die teils skurrile, teils rührende Geschichte nimmt ihren Lauf."
"Das war schon mal ein Anfang", versucht Rossipotti mich aufzumuntern. "Warum bist du heute nur so stinkig?"
"Vielleicht weil ich seit Tagen nichts Anständiges gegessen habe!"
Rossipotti wirft mir ein Buch auf den Schreibtisch. Das Cover ist in rot-braunen Tönen gehalten und mit japanischen Schriftzeichen überzogen. "Versuch es mal damit!"
"Und was ist mit der 'Taubenjagd'?"
"Anscheinend hast du keine Lust, es vernünftig vorzustellen."
Pah! Natürlich will ich es vorstellen, aber auf meine Art. Doch ich möchte Rossipotti nicht ärgern. Im allgemeinen ist er ja ganz nett.
Also probieren wir es ein drittes Mal:
Eigentlich ist "Taubenjagd" ein Buch über wahre und falsche Freundschaft, wahren und falschen Mut, wahre und falsche Gefühle. Außerdem zeigt es, dass man Dinge verändern kann, dass es falsch ist zu sagen "das war schon immer so, da lässt sich nichts machen." Alles ist witzig und spannend geschrieben und hat auch sehr komische Momente. Etwa dann, wenn Palmer im Sommer im Wintermantel in die Schule geht, nur um von seiner Taube abzulenken. Wie das gehen soll? Tja, dafür müsst ihr das Buch schon selber lesen.

Jerry Spinelli: Taubenjagd. Cecilie Dressler Verlag. Hamburg 1998. 205 Seiten.

 

Eine Schublade voller Briefe

"Und was hast du jetzt über die 'Schublade voller Briefe' geschrieben?" fragt mich Rossipotti neugierig.
"Noch gar nichts! Ich war bis jetzt mit der 'Taubenjagd' beschäftigt."
"Das ist gut! Denn ich möchte, dass du vor allem die Atmosphäre und die Bilder des japanischen Buchs beschreibst. Ich glaube um die Details und den Plot geht es in dem Buch gar nicht. Interessant ist viel mehr, wie die alte Hausbesitzerin Frau Yanagi ihre klebrigen Reis-Konfekts isst, ihr Gebiss einsetzt oder den zusammengerechten Laubhaufen im Garten abbrennt."

Glücklicherweise bin ich in diesem Punkt fast Rossipottis Meinung. Die "Schublade voller Briefe" von der japanischen Autorin Kazumi Yumoto ist in erster Linie ein sinnliches Buch. Allerdings möchte ich Rossipotti insofern widersprechen, als sich in dem Buch nicht alles um die Vermierterin Yanagi dreht. Es stimmt zwar, dass sie der Mittelpunkt des Romans ist, aber ohne die anderen Personen würde man Frau Yanagi gar nicht bemerken. Denn es ist Chiaki, die Frau Yanagi als Mädchen kennen gelernt hat und als erwachsene Frau nun von ihr erzählt, es ist Fräulein Sasaki, die das Laubhaufen-Feuer durch ihre Süßkartoffeln, die sie darin brät, erst zum richtigen Erlebnis macht, und es ist Herr Nishioka, der durch seine Zurückhaltung die Energie von Frau Yanagi erst richtig sichtbar macht.

Doch warum lohnt es sich überhaupt über Frau Yanagi eine Geschichte zu schreiben? Weil sie einen mysteriösen Beruf hat: Sie übermittelt Toten Briefe ihrer lebenden Angehörigen. Das kann sie allerdings erst, wenn sie selbst auch tot ist. Bis dahin sammelt Frau Yanagi nur alle Briefe, die sie mitnehmen soll, in einer Schublade. Ist die die Schublade voll, muss sie ihren Auftrag erfüllen und sterben.

Das ist alles schön und gut. Aber warum interessiert sich ein sechsjähriges Mädchen für das seltsame Hobby einer alten Frau?
Weil Chiakis Vater vor kurzem gestorben ist, weil ihre Mutter nach dessen Tod erst vier Tage nichts gesagt und getan hat, dann unzählige Tage ziellos mit dem Zug herumgefahren ist, bis sie vor dem Pappelhaus der Vermieterin Frau Yanagi wieder zu sich kam.
Aber auch, weil Chiaki selbst erst wieder zum Leben zurückfinden muss. Frau Yanagi weiht sie in ihr Geheimnis ein und Chiaki schreibt darauf hin ihrem Vater. Ganz langsam kommt sie aus ihrem Schneckenhaus heraus und nimmt wieder die Dinge des Lebens wahr: Den kalten Reis und die Miso-Suppe, die die Vermieterin schlürft, den Schlangenkürbis im Garten, die gelbe Glatze unter dem spärlichen Haar von Frau Yanagi, die Katze, die Frau Sasakis Essensreste frisst.

"Die Schublade voller Briefe" ist ein stilles, zurückhaltendes Buch. Aber wenn man es aufschlägt, entführt es einen trotzdem gleich in fremde Welten ohne einen lange zu fragen.

Kazumi Yumoto: Eine Schublade voller Briefe. Sauerländer Verlag. Düsseldorf 2003. 173 Seiten.

Die Kurzhosengang

"Rasant", sagt Rossipotti und klappt vor Aufregung sein Maul auf und zu, "Das Buch ist einfach rasant! Man macht das Maul auf, schnurps, ist es weg!" Wohl noch in der Erinnerung an das Buch rülpst er kräftig, steckt seine Hände cool in die imaginären Hosentaschen und fährt fort: "Dieses Gefühl musst du den Lesern vermitteln, Fisch. Dann werden sie es lieben."
"Wenn du das Rülpsen meinst", sage ich gelassen, "wäre ich mir da nicht so sicher."
"Du bist immer so bierernst", erwidert Rossipotti. "Natürlich meine ich nicht das Rülpsen, sondern das Rasante! Wie du das hinkriegst ist deine Sache. Es ist gleich elf Uhr! Ich habe jetzt einen wichtigen Termin."

Spricht's, geht zur Tür raus und lässt mich mit der schwierigen Aufgabe allein, eine rasante Kritik zu schreiben.

Aber ich bin doch nicht Rudolpho, Island, Snickers oder gar Zement! Die könnten das ganz sicher. Klar, sie haben ihre Geschichte ja auch schon im Fernsehen und den kanadischen Autoren Victor Caspak und Yves Lanois erzählt! Die Autoren haben die Taten der Kurzhosengang nämlich nur wiedergegeben und nicht selbst erfunden. Die Kurzhosengang braucht niemanden, der ihre Geschichten schreibt, sie machen sie einfach selbst.
Wer oder was ist die Kurzhosengang? Die Kurzhosengang, das sind vier Jungs aus einem kleinen kanadischen Kaff. In diesem Kaff gibt es außer einem guten Eisladen und einer schlechten Eishockeymannschaft nichts. Zum Glück fegt da eines eiskalten Winter-Tages ein Orkan die ganze Schule weg. Rudolpho, Island, Snickers und Zement kämpfen sich kurzentschlossen in kurzen Hosen durch den Schnee und retten ihre verschütteten Klassenkameraden.
Bevor die vier jedoch zu Helden der ganzen Nation aufsteigen, müssen sie noch einiges anderes erledigen: Mit einem Grizzli kämpfen, ein Baby auf die Welt bringen und ganz nebenbei die verfeindete Pauli Gang schachmatt setzen.

Jedes Kapitel wird von einem anderen Mitglied der Gang erzählt, weshalb das Geschehen immer wieder aus einem anderen Blickwinkel beleuchtet wird. Aus Sicht von Rudolpho beispielsweise ist Zement die langsamste Schnecke der Welt, bei Island dagegen ist er immer vorne dran, und von Zement selbst erfahren wir, dass er sogar Geister sehen kann.

Also, das Buch rutscht so gut runter, dass ihr es schneller gelesen habt als ihr zugucken könnt. Ich kann zwar nicht wie Rossipotti begeistert mein Maul auf- und zuklappen, aber dafür knacken meine Gräten. Und das heißt: Unbedingt lesen!

Victor Caspak/Yves Lanois/Ole Könnecke: Die Kurzhosengang. Carlsen Verlag. Hamburg 2004. 203 Seiten.
Hinter den Pseudonymen Caspak und Lanois verbergen sich übrigens die Autoren Zoran Drvenkar (Text) und Andreas Steinhöfel ("Übersetzer", macht sich im Buch durch viele unnötige Fußnoten bemerkbar).

 

Lieblingsbuch:

Die Insel der Schwäne

vorgestellt von Jochen Schmidt

Der Roman von Benno Pludra wurde in einer Zeit geschrieben, als Ostdeutschland noch die DDR, und Berlin durch eine Mauer in zwei Hälften geteilt war. "Insel der Schwäne" war in der DDR ein besonderes Buch, weil es ziemlich kritisch war. Das kam bei Romanen für Erwachsene schon selten vor, aber bei Kinderbüchern noch viel seltener.
Die Regierung hätte es natürlich lieber gehabt, wenn die Autoren immer nur geschrieben hätten, wie glücklich alle Menschen in ihrem Staat wären. Tatsächlich wurden auch viele Bücher gedruckt, die das behaupten. Aber die waren natürlich meistens langweilig.
In der "Insel der Schwäne" geht es um Stefan, der mit seinen Eltern nach Berlin zieht, auf die Fischerinsel. Das ist ein Neubauviertel im Zentrum der Stadt, das so heißt, weil hier früher, als Berlin noch ein Dorf war, die Fischer gelebt haben. In den 70er Jahren wurden auf dieser Insel viele Hochhäuser gebaut, und es war nicht leicht, eine dieser Wohnungen zu bekommen. Denn sie hatten eine Zentralheizung, Balkon und Fahrstuhl. Und das war damals in Berlin, vor allem in Ost-Berlin, schon etwas Besonderes.
Stefan hat bis dahin bei seiner Oma gelebt, im Oderbruch. Er hat keine Lust umzuziehen, weil er in Berlin nicht mehr mit seinem bestem Kumpel Tasso angeln gehen kann, und weil er seine Oma vermissen wird. In Berlin hat er deshalb auch sofort Heimweh, das Neubauviertel ist noch gar nicht fertig, überall arbeiten noch die Bauarbeiter.
Aber es ist natürlich auch spannend, auf den Baustellen zu spielen und mit den Fahrstühlen die Häuser zu erkunden. In seiner neuen Klasse gibt es ein Mädchen, das ihm gefällt, aber er ist zu stolz, um es ihr zu zeigen. Dafür interessiert sich eine andere für ihn, die er nicht will, was ganz schön kompliziert ist...
Seine Klasse beschließt, Geld zu sammeln, um für den neuen Spielplatz ein Flusspferd aus Holz zu kaufen, damit er nicht so langweilig wird. In der DDR konnten Kinder übrigens zusätzlich Geld verdienen, indem sie durch die Häuser zogen, und überall nach Flaschen und Altpapier fragten. Die sogenannten "Altstoffe" konnte man an speziellen Annahmestellen für Geld eintauschen, was sich immer gelohnt hat.
Aber obwohl sich alle in Stefans Klasse einig sind und ein Flusspferd wollen, wird ihr Vorschlag abgelehnt. Denn der Spielplatz ist schon fertig geplant, und er soll ganz aus Beton sein! Stefans Vater, der Brigadier ist und immer müde und mit Rückenschmerzen von der Arbeit kommt, findet es idiotisch, die Pläne zu ändern. Schließlich müssen sie noch so viele Wohnungen bauen, da bleibt keine Zeit für Sonderwünsche. Stefan ist sauer, und als er mit seinen Freunden einmal auf der Baustelle spielt, schmücken sie das frische Betonfundament mit allem möglichen Müll von der Baustelle. Sie reißen sogar kleine Bäumchen aus und stecken sie in den Zement.
Das ist natürlich ein Skandal, und der Vater ist sauer auf Stefan und will nicht mehr mit ihm reden. Weil der Vater so böse ist, streitet sich wiederum die Mutter mit ihm. Zuhause ist also dicke Luft. Und das Mädchen aus Stefans Klasse, das er gut findet, kriegt nicht mit, dass er sich für sie interessiert. Irgendwie häufen sich die Missverständnisse, und Stefan sehnt sich immer mehr nach seinem Dorf im Oderbruch und nach seiner Oma.
Deshalb kann er auch nicht auf die Ferien warten, um sie wiederzusehen! Außerdem vermisst er seinen Hund, den er nicht hat mitnehmen dürfen, weil die Neubau-Wohnung zu klein dafür war. Deshalb bricht er eines Tages einfach auf und trampt allein ins Oderbruch. Er kommt nachts an und sein Hund erkennt ihn sofort. Er will die Oma nicht wecken und legt sich deshalb mit dem Hund in die Hütte vom Fischer Kulanke schlafen.

Hier hört das Buch einfach auf, obwohl man gerne wüsste, was weiter passiert. Es ist auf den ersten Blick kein sehr optimistisches Buch. Denn es beschreibt kritisch aus der Sicht von einem Kind diese Zeit, in der Hunderttausende in die neu entstehenden Neubauviertel gezogen sind, in denen alles aus Beton war. Aber mir hat immer gefallen, dass Stefan sich nicht alles bieten lässt. Kinder sind schließlich nicht weniger kompliziert als ihre Eltern, und man muss rechtzeitig auf sie hören, bevor sie einfach abhauen. --

Benno Pludra: Die Insel der Schwäne. Kinderbuchverlag. Berlin 1998. 291 Seiten.

 

 © Rossipotti No. 3, Mai 2004