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Das geheime Buch
Anna Pop in der Elefantenhaut
Ein Märchen aus der neuesten
Zeit
Annette Kautt
Fortsetzung: Teil 3
Wer nicht nur die kurze Zusammenfassung lesen möchte,
sondern die beiden ersten Teile, geht zurück zur ersten
Rossipotti-Ausgabe
.
Was bisher geschah:
Anna Pop ist ein neunjähriges
Mädchen und hat eine seltsame Krankheit. Jede Nacht wächst
ihr eine Elefantenhaut und droht sie zu erdrücken. Auf
Wunsch der Eltern finden sich bei Pops schließlich drei Ärzte
ein, um Anna von ihrer nächtlichen Elefantenhaut zu heilen:
Der Mampfende Schluck, Betrüger Schorschi und Angeber-Luzi.
Doch während der Mampfende Schluck schon am ersten Tag auf
mysteriöse Weise verschwindet, kümmern sich Angeber-Luzi
und Betrüger-Schorschi weniger um Anna als um ihre eigenen
Vorlieben. Angeber-Luzie übernimmt den häuslichen Telefondienst,
stöbert in Pops Bibliothek und nimmt sich wichtig und Betrüger-Schorschi
angelt und beschlagnahmt Pops Küche, um darin alle möglichen
Leibgerichte zu kochen. Trotzdem fühlen sich in dieser Konstellation
alle einigermaßen wohl, und es könnte wohl immer so weiter
gehen...
Doch leider schreckte eines Sonntagmorgens ein langes
Klingeln die Hausgemeinschaft aus den Federn. Da Anna ohnehin nur
ein wenig in ihrem Sessel gedöst hatte, reagierte sie als erste
auf das Klingeln. Sie öffnete ihr Fenster und schaute auf einen
riesigen Haarturban hinab. Unter dem vielen hochtoupierten Haar
schien sich eine hagere, große Frau zu befinden.
In der einen Hand hielt sie eine ausladende Kunststofftasche, in
der anderen Hand einen Regenschirm. Irgendwie hatte auch sie Anna
bemerkt. Denn sie drehte ihren Kopf nach oben, zeigte mit dem Schirm
an den Himmel und schrie: "Mach doch bitte die Tür auf.
Das Wetter ändert sich nicht."
Verdutzt sah Anna zum Himmel. Tatsächlich zogen große,
bedrohliche Regenwolken auf das Haus zu. Sie schloß das Fenster,
ging nach unten und öffnete der Frau die Tür.
"Kindchen, du bist doch viel zu leicht angezogen," stellte
sich die Frau vor. Sie guckte in ihre Plastiktasche und zog dann
eine braune Wollstola daraus hervor. Während sie diese um Anna
legte, sagte sie: "Ich bin übrigens Frau Schmittchen.
Ich habe die Anzeige von deinen Eltern gelesen. Interessante Geschichte,
dachte ich mir. So etwas kennst du noch nicht. Da mußt du
hin. Jetzt bin ich hier. Ich ändere alles. Was hättest
du gern?"
Anna Pop war sprachlos. Die Sätze waren so kurz, dass man ihren
Sinn beinahe nicht verstand.
"Was wünscht du Dir?" fragte die Frau nochmals.
"Einen Elefanten," sagte Anna prompt. Das war natürlich
Quatsch. Aber auf die Schnelle fiel ihr einfach nichts anderes ein.
"Kindchen. Denkst du denn, ich kann zaubern? Einen Elefanten?
Dass ich nicht lache. Nochmal!"
"Dass die Sonne scheint."
Frau Schmittchen seufzte. "So geht das nicht. Draußen
ist draußen und drinnen ist drinnen. Im Haus kann ich ändern.
Draußen bin ich machtlos."
Anna wurde immer ratloser. Was wollte Frau Schmittchen von ihr?
Frau Schmittchen seufzte abermals: "Kein Wunder, dass du nachts
eine so dicke Haut bekommst. Soll ich dir mal zeigen, wie das Wünschen
geht?"
Anna nickte.
Doch bevor Frau Schmittchen loslegen konnte, kam mit lautem Gepolter
Betrüger-Schorschi die Treppe runter und fuhr die Frau an:
"Wer sind denn Sie? Ich kann mich nicht daran erinnern, Sie
schon einmal in diesem Hause gesehen zu haben."
"Das ist Frau Schmittchen," erklärte Anna. "Sie
ist da, um mir zu helfen."
"Aber das sind wir doch alle", Angeber-Luzi war inzwischen
ebenfalls die Treppe hinuntergekommen. "Dass Sie mir ja nicht
in meine Behandlung hineinpfuschen", schnauzte er Frau Schmittchen
an. Seine Hand fuhr in die Hosentasche und beförderte ein rot-kariertes
Taschentuch ans Tageslicht. Er tupfte sich aufgeregt die Stirn.
"Ich habe nämlich schon sehr gute Erfolge erzielt. Sehen
Sie hier ..." wieder fuhr er mit der Hand in die Hosentasche
und holte ein kleines Notizbuch heraus. "Alles genau aufgelistet:
Erster Tag: Das Kind schläft schlecht. In der Nacht wie gewohnt
Elefantenhautsymptom. Zweiter Tag: Kind schläft fünf Stunden,
nachts keine Sekunde. Dritter Tag: Kind schläft unruhig acht
Stunden, nachts wird die Elefantenhaut nach eigenen Angaben schwerer.
Vierter Tag: Das Kind wird allgemein ruhiger, Wangen werden etwas
rosa, dafür nachts verstärktes Elefantenhautsymptom. Fünfter
Tag ..."
"Hör doch auf. Das ist ja alles ganz grauenhaft,"
fiel ihm Betrüger-Schorschi ins Wort. "Das hilft dem Kind
doch auch nicht weiter."
"Ach?" erwiderte Angeber-Luzi erstaunt. Und nochmals:
"Ach? Und auf welche Weise hilfst du dem Kind weiter?"
"Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest: Ich angle Fisch."
"Und weiter?"
"Ich koche!"
"Und weiter?"
"Es schmeckt mir."
"Und weiter?"
"Was ist das denn für ein Unsinn?" mischte sich Frau
Schmittchen ein. "Anna ist geholfen, wenn wir uns helfen. Also
hören Sie auf zu streiten. Das verdirbt einem den Appetit.
Und ich habe heute noch nichts gegessen."
Bei dem Wort "Essen" fiel Betrüger-Schorschi ein,
dass er heute noch nicht in seiner heißgeliebten Küche
gewesen war. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, lief er deshalb
spornstreichs dort hin, um das Frühstück zuzubereiten.
Inzwischen waren auch Annas Eltern die Treppe hinabgekommen. Erstaunt
sahen sie auf die kleine Versammlung. Angeber-Luzi machte die Herrschaften
miteinander bekannt. "Frau Schmittchen, Familie Pop. Familie
Pop, Frau Schmittchen."
"Und wer sind Sie?" fragte Frau Schmittchen Angeber-Luzi.
Angeber-Luzi holte reflexartig sein Mini-Telefon aus der Hosentasche
und sprach in den Hörer: "Guten Tag, guten Tag. Angeber-Luzi
im Hause Pop. Anerkannter Heiler tropischer und steppeähnlicher
Krankheiten." Dabei verbeugte er sich ein wenig und strahlte
Frau Schmittchen mit seinen schönen Zähnen an. Falls er
Frau Schmittchen gegenüber zuvor etwas reserviert reagiert
hatte, so ließ er sich jetzt jedenfalls nichts mehr anmerken.
Frau Schmittchen schüttelte leicht den Kopf und murmelte etwas
vor sich hin, das sich wie "albernes Geschöpf" anhörte.
Was sie genau sagte, ist aber auch nicht wichtig. Denn die anderen
beschlossen, die Bemerkung zu ignorieren und lieber zum Frühstück
zu gehen.
Betrüger-Schorschi hatte wie immer einen gemütlichen Essenstisch
hergerichtet. Frau Schmittchen hatte er sogar mit Sahne "Herzlich
Willkommen" auf den Teller geschrieben. Anscheinend hatte Frau
Schmittchen mit ihrer Bemerkung über das ausstehende Essen
Betrüger-Schorschi sehr beeindruckt.
Annas Eltern waren über den unerwarteten Besuch von Frau Schmittchen
immer noch etwas irritiert. Annas Vater fragte deshalb: "In
welcher Sache sind Sie eigentlich hier?"
"Aber natürlich wegen Anna!" erwiderte Frau Schmittchen
mit einer Selbstverständlichkeit als sei es außerhalb
ihrer Vorstellungskraft, dass Annas Eltern wegen anderer Angelegenheiten
Besuch empfangen könnten.
"Und welche medizinische Disziplin verfolgen Sie?" getraute
sich Annas Mutter zu sagen.
"Keine," sagte Frau Schmittchen mit großem Selbstbewußtsein.
"Ich ändere, was geändert werden muß. Aber
nicht medizinisch, sondern literar-osmotisch."
Angeber-Luzi lachte meckernd: "Das kommt mir sehr bekannt vor.
Nicht wahr Betrüger-Schorschi?"
Angeber-Luzi rieb sich schadenfroh die Hände. Dann glitt seine
rechte Hand in die Hosentasche und holte eine zerknitterte, abgegriffene
Landkarte heraus. Er faltete sie auseinander und klopfte mit dem
Zeigefinger auf einen Punkt, der sich in der Mitte der Karte befand.
Welches Land die Karte beschrieb, war den Anwesenden- außer
Betrüger-Schorschi - nicht klar. Aber der Punkt unter Angeber-Luzis
Finger war ganz speckig und dunkel. Es war deutlich, dass Angeber-Luzi
schon oft, ja schon sehr oft mit seinem Finger auf diesen Fleck
gezeigt haben mußte.
Betrüger-Schorschi drehte sich desinteressiert zu Seite. "Langweile
die anderen doch nicht mit deiner alten Geschichte," sagte
er.
"Alte Geschichte? Hier kennt sie doch niemand. Du willst doch
nur nicht, dass ich auch einmal zum Zuge komme! Denn es ist die
Geschichte, die dich zum Betrüger macht, ohne mich zum Angeber
zu machen. Aber jetzt kannst Du mich nicht mehr davon abhalten.
Auch nicht dein gutes Essen, das du sonst immer aus Gründen
der Bestechung serviert hast!"
Triumphierend schaute Angeber-Luzi in die Gesichter der anderen.
Seltsamerweise las er in ihnen weniger Neugierde und Schadenfreude
als Verwunderung oder sogar Ablehnung. Doch Angeber-Luzi ließ
sich davon nicht irritieren. Um eine sicherere Position zu erhalten,
stand er auf, strich mit den Händen seinen Hahnenkamm zurecht
und erzählte:
Die Geschichte vom osmanischen Geheimzirkel
Da euch Betrüger-Schorschi bereits erzählt
hat, unter welch mißlichen Umständen ich ihn kennen gelernt
habe, kann ich dieses erste unangenehme Erlebnis übergehen
und gleich mit der Geschichte beginnen, die ihn mir als rücksichtslosen
Betrüger entlarvt hat. War er mir zuvor ein Dorn im Auge, weil
er gegen mich intrigierte, mich erpresste und sich mit meinen Federn
schmückte, mußte ich nun erkennen, dass er überdies
ein allgemeingefährliches Subjekt war.
Nachdem sich also Betrüger-Schorschi in Dschibuti auf so unrühmliche
Weise an mich gehängt hatte, überlegte ich fieberhaft,
wie ich ihm mit gleicher Münze heimzahlen konnte. Um irgendeine
Schwachstelle an ihm zu entdecken, verfolgte ich ihn in den nächsten
paar Wochen heimlich. Bald schon fiel mir auf, dass er sich jede
zweite Woche spät nachts aus seinem Hotelzimmer schlich, den
Kragen hochgeschlagen, damit man sein Gesicht nicht erkennen konnte.
Alle zwei Meter schaute er sich um, ob ihn auch niemand verfolgte.
Natürlich wägte er sich in Sicherheit. Denn ich verstehe
mich sehr gut auf's Verstecken, das muß man mir schon lassen.
Ungefähr fünfzehn Fuß-Minuten vom Hotel entfernt
bog er in eine einsame Sackgasse ab, an deren Ende ein baufälliges
unbewohntes Gebäude stand. Obwohl das Haus bei Nacht einen
höchst kriminellen Eindruck machte, getraute ich mich, Betrüger-Schorschi
in die Dunkelheit des Hauses zu folgen. Doch es hatte sich gelohnt.
Denn was ich hinter der Tür des Raumes, in den sich Betrüger-Schorschi
verzogen hatte, mit meinen Ohren hören mußte, war unglaublich:
Betrüger-Schorschi und seine Kumpanen - nach den unterschiedlichen
Stimmen mußten es ungefähr sechs, sieben verschiedene
Personen sein - zettelten einen Putsch an!
Über das Vorgehen der Putschisten wurde ich im Verlauf der
nächsten Sitzungen - an denen ich natürlich immer heimlich
teilnahm - wie folgt unterrichtet: Abd Al Hamid II., der Sultan
des Osmanischen Reichs, sollte in Kürze vertrieben werden!
Nach dem Willen von Betrüger-Schorschi und den anderen Konspiranten
sollten Nationalisten und Jungtürken das weitere Schicksal
des Osmanischen Reichs bestimmen.
Wie ihr euch denken könnt, war ich entsetzt. Nicht nur über
die Tragweite des Unterfangens, sondern weil ich um die Zukunft
des ehrwürdigen Sultans bangte. Es stand für mich außer
Frage, dass ich die Polizei informieren mußte. Doch leider
schien man mich auf der Polizeistation nicht sonderlich ernst zu
nehmen. Für mich war dies ein weiterer Beweis, für die
völlig unpraktikable, überbürokratische Arbeitsweise
der Polizei. Reagierte der Polizeibeamte auf den Hinweis, dass der
Sturz des Sultans bevorstünde, äußerst gelassen,
so horchte er bei dem Wort "Konspiration" endlich auf.
Bald hallte das Wort in der ganzen Polizeistation wieder, und ich
bekam die Aufmerksamkeit, die mir gebührte.
Nach einem von der Polizei genau ausgeklügelten System wurde
Betrüger-Schorschi rund um die Uhr observiert. Bei dem folgenden
geheimen Treffen sollten er und seine Bande auf frischer Tat ertappt
und überwältigt werden. Ich freute mich sehr auf den bevorstehenden
Abend und überlegte mir schon, mit welch bescheidenen Worten
ich die Dankesbezeugungen über mich ergehen lassen sollte.
Doch dann geschah etwas völlig Unerwartetes: Zwar fand sich
Betrüger-Schorschi zur vorgesehenen Zeit am richtigen Ort ein.
Zwar traute auch die Polzei ihren Ohren nicht, als sie hinter der
verschlossenen Türe die Begriffe: Konspiration, Geheimnis und
Versammlung hörte. Doch als sie schließlich schwer bewaffnet
das Zimmer stürmte, saß dort niemand anderes als Betrüger-Schorschi!
Mit breitem Grinsen begrüßte er den Inspektor und behauptete
in der anschließenden Verhörung, dass er nichts anderes
als Selbstgespräche geführt hätte. Und wer bei der
ganzen Angelegenheit in große Schwierigkeiten kam, war nicht
Betrüger-Schorschi, sondern ich! Ich mußte der Polizei
eine riesige Summe erstatten, weil deren Einsatz sehr viel gekostet
hatte.
Seit dieser Zeit weiß ich, dass Betrüger-Schorschi ein
mit allen Wasser gewaschener Betrüger ist.
Wenn ihr euch diese Land-Karte genauer anseht, könnt ihr aber
den eigentlichen Betrug von Betrüger-Schorschi erst richtig
erkennen: Das Osmanische Reich gibt es seit hundert Jahren nicht
mehr!"
Es herrschte eine betretene Stille.
Zum Glück fand Frau Schmittchen wieder schnell zu sich: "Nette
Geschichte. Aber der Zusammenhang. Wo ist der Zusammenhang? Was
hat das Osmanische Reich mit meiner literar-osmotischen Behandlung
zu tun?"
"Osmatisch, osmanisch", erwiderte Angeber-Luzi aufgebracht,
"das ist doch alles dasselbe! Die eigentliche Aussage ist doch
die, dass es sich hier um einen Betrug handelt!" Und mit eindringlichem
Blick auf Annas Eltern sagte er: "Hören Sie auf mich.
Sie ist sicher eine Betrügerin. Etwas anderes kommt für
mich gar nicht in Frage."
"Wenn Sie mich so gut kennen, und schon alles über mich
wissen, kann ich ja wieder gehen", sagte Frau Schmittchen.
"Auf Wiedersehen, also."
Frau Schmittchen holte ein weiteres Brötchen aus dem Korb,
schmierte sich Marmelade darauf und lächelte Anna an.
"Danke, Frau Schmittchen", sagte Anna. Sie wußte
selbst zuerst nicht, wieso sie dies sagte. Doch als die anderen
sie verwundert anschauten, und vor allem ihre Mutter sie mit einem
besorgt-kritischen Blick musterte, fiel ihr plötzlich ein,
was sie an Frau Schmittchen interessierte: Frau Schmittchen konnte
zaubern. Und wenn das auch nicht stimmte - denn bisher hatte sie
keinen ihrer Wünsche erfüllen können - so hatte sie
doch etwas in dieser Richtung gesagt.
Ein wenig schüchtern, weil man sie in dieser großen Runde
bisher wenig beachtet hatte, ein wenig trotzig, weil es doch immerhin
um ihre Heilung ging, meinte sie: "Ich möchte, dass Frau
Schmittchen bleibt." Leider fügte sie dann noch hinzu:
"Frau Schittchen kann nämlich zaubern."
Das hatte sie zwar leise und mit gesenktem Kopf gesagt, doch offensichtlich
laut genug, um alle damit aufzuregen.
"Zaubern!" platzte es aus Angeber-Luzi heraus. "Aber
Zaubern ist doch Betrügen!"
"Zaubern!" Betrüger-Schorschi gab sich entrüstet.
"Frau Schmittchen, ich habe Sie für raffinierter gehalten."
"Zaubern?!" rief Annas Vater: "Hat denn dein Verstand,
Anna, unter der ganzen Angelegenheit schon so gelitten?"
"Zaubern?" sagte Annas Mutter ruhig und traurig. "Ist
das das einzige, was dir noch hilft, Anna?"
"Zaubern?" fragte auch Frau Schmittchen ihrerseits Anna.
"Aber Anna, das habe ich nie gesagt. Ich kann doch nicht zaubern.
Vielleicht habe ich nun endlich einmal die Gelegenheit, Ihnen allen
zu erklären, was meine literar-osmotische Behandlung eigentlich
ist, ohne ständig unterbrochen zu werden? Puh, der Satz war
für mich viel zu lang. Viel zu lang. Nicht aufregen, Frau Schmittchen.
Es wird besser, Frau Schmittchen." Frau Schmittchen holte aus
ihrer Kunststofftasche einen kleinen hölzernen Fächer
und fächelte sich damit Luft zu.
Anna, die gegenüber von Frau Schmittchen saß, bemerkte
den feinen Sandelholzduft, den der Fächer verströmte.
Als sich Frau Schmittchen beruhigt hatte, erklärte sie den
anderen ihre Arbeits-Methode: "Die literar-osmotische Methode
arbeitet mit den Wünschen der Patienten. Ein Wunsch, eine Veränderung.
Das hört sich leicht an, ist aber schwer. Denn welcher Wunsch
paßt zu welcher Veränderung? Welche Veränderung
wird eigentlich gewünscht? Ich hatte Fälle, da bewirkt
das Wünschen überhaupt nichts. Und bei anderen wirken
die Wünsche in die falsche Richtung. Allerdings gibt es durchaus
auch Fälle, bei denen bewirken zwar die ersten zehn Wünsche
gar nichts. Doch nach dem elften Wunsch wird plötzlich eine
Veränderung am Patienten wahrnehmbar. Und zwar in die richtige
Richtung. Da muß man dann weiterarbeiten. So lange, bis der
richtige Wunsch die richtige Veränderung gefunden hat."
"In Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat," sagte
Angeber-Luzi, "mag ihre Theorie vielleicht großen Anklang
gefunden haben. Aber heute, heute sage ich Ihnen, dass Sie ohne
Wissenschaft überhaupt nichts mehr erreichen."
"Aber natürlich, mein lieber Angeber-Luzi", sagte
Frau Schmittchen. Es hörte sich kein bißchen boshaft
an. "Natürlich fußt auch meine Methode auf rein
wissenschaftlichem Boden. Hören Sie sich doch nur den Klang
der Wörter an: Li-te-rar-Os-mo-tisch ... das zergeht einem
auf der wissenschaftlichen Zunge. Hier der wissenschaftliche Kontext:
Literar-Osmose ist die Bezeichnung für die Aktivierung sowohl
der körpereigenen Membranen als auch der körperfremden
Zellen durch psychische Stimulation." Frau Schmittchen fächelte
sich aufgeregt Luft zu. "Sicher haben Sie schon einmal davon
gehört, dass die ganze Welt nur aus Atomen besteht. Die einzelnen
Teile des Atoms wiederum sind nur noch energetisch zu erfassen.
Man nennt sie heute deshalb KMEE für Kleinste Meßbare
Energie-Einheit. Bei der literar-osmotischen Methode geht es nun
darum, die KMEES in Schwingungen zu versetzten. Die Probleme werden
also bis an ihre energetische Wurzel zurückverfolgt. Und von
hier aus kuriert. Die literar-osmotische Methode versucht gezielt,
Dinge von einer Energiestufe in die andere zu transformieren. Und
hier ist auch schon das Problem erkennbar. Nur ein großes
Energiefeld kann Dinge transformieren. Nur ein starker Mensch kann
sich selbst helfen. Unser Problem ist also, dass wir zu wenige starke
Menschen haben, die gleichzeitig krank sind. - Aber du, Anna, du
erscheinst mir stark. Und du bist krank. Du bist ein Glücksfall
für unsere Disziplin!"
"Ich weiß nicht", meldete sich da Annas Vater zu
Wort: "Unter diesen Umständen erscheint es mir besser,
wenn Sie von Anna die Finger lassen."
"Unsere Tochter ist schließlich kein Versuchskaninchen",
gab auch Annas Mutter zu bedenken.
"Was mich viel mehr interessieren würde", mischte
sich Betrüger-Schorschi ein, "wie funktioniert das eigentlich
wirklich, Frau Schmittchen. Zeigen Sie uns doch einmal etwas von
ihrer Kunst!"
"Hm. Das ist im Moment schwierig. Weil ich keinen Wunsch habe."
"Das kann jeder sagen", blaffte Angeber-Luzi sie an. "Dann
wünschen Sie sich eben etwas, was Sie sich gar nicht wünschen.
Einen Elefanten zum Beispiel."
"Aber Sie haben ja gar nichts verstanden", sagte Frau
Schmittchen unwillig. "Wünschen kann man sich nur etwas,
wenn man es sich wirklich wünscht. Außerdem wünsche
ich mir nur äußerst selten etwas. Bei den literar-osmotischen
Wünschen geht es schließlich nicht um mich."
"Wenn Sie sich jetzt nicht etwas wünschen und uns einen
Eindruck von ihrer Kunst zeigen, werden Sie nicht in den Genuß
kommen, Anna zu behandeln," versuchte Angeber-Luzi ihr zu drohen.
Frau Schmittchen sah ihn belustigt an.
"Also gut," sagte sie nach einigem Zögern. "Es
verstößt zwar gegen meine Prinzipien. Aber so ein bißchen
Eigen-Wünschen kann ja ausnahmsweise wohl nicht schaden? Deshalb
wünsche ich mir jetzt, dass Sie endlich von mir überzeugt
sind. Ich wünsche mir, dass Sie meine Arbeit respektieren.
Und ich wünsche mir, dass die Familie Pop mich nicht mehr missen
möchte."
Nachem Frau Schmittchen dies gesagt hatte, riß sie die Augen
weit auf und schaute jeden von ihnen konzentriert an.
Doch außer, dass Frau Schmittchen mit der Zeit Schweißperlen
auf die Stirn traten, war im Raum sonst keine Veränderung feststellbar.
"Hä, hä, hä," machte Angeber-Luzi betont
langsam.
Er holte sein Mini-Telefon aus der Hose und tippte eine Nummer ein.
"Ja, hallo? Ich bin einer Frau Schmittchen auf der Spur ...
ja ... ja ... Literar-osmotische Vereinigung! ... Nein? ... Was?
Ach so! Tut mir leid ... ist ja gut ... das nächste Mal besser
recherchieren, ja. Wird gemacht. Gruß bestellen? Muß
das sein? Von hohem Rang? In Ordnung ... ja, ja wiederhören."
Nach dem Telefonat stand Angeber-Luzi auf und ging unter mehreren
Kratzfüßen zur Tür hinaus.
Betrüger-Schorschi schaute Angeber-Luzi verwundert hinterher.
Dann entschuldigte er sich bei den anderen und ging ebenfalls aus
dem Zimmer.
Kurz darauf konnte man auf dem Flur im oberen Stock eine heftige
Auseinandersetzung zwischen Betrüger-Schorschi und Angeber-Luzi
hören. Anna und Herr und Frau Pop liefen schnell nach draußen,
um nach dem Rechten zu sehen:
"Sie Rüpel", schrie Angeber-Luzi und puffte Betrüger-Schorschi
in den Bauch.
"Sie Lügner", schrie Betrüger-Schorschi und
boxte Angeber-Luzi auf den Arm.
"Wenn hier jemand lügt, dann sind das doch wohl Sie!"
"Aber nun hören Sie doch auf", versuchte Frau Pop
den Streit zu schlichten.
"Kommen Sie doch zur Vernunft", drang Herr Pop in die
beiden Streithähne.
Angeber-Luzi drehte sich zu ihm um, als sei er aus einem bösen
Traum erwacht. Er wischte sich die Hände an seinen Hosen ab
und sagte dann langsam: "Vernunft? Sie haben ganz recht. Ich
komme jetzt zur Vernunft. Denn ich verlasse augenblicklich dieses
Haus. Dies ist ein Irrenhaus, damit Sie es nur wissen, Herr Pop."
Dann drehte sich Angeber-Luzi um, und verschwand in seinem Zimmer.
"Aber das geht doch nicht! Angeber-Luzi! Ich muss zuerst das
Haus verlassen. Du mußt auf mich warten!" Betrüger
Schorschi verschwand ebenfalls in seinem Zimmer.
Annas Mutter rannte hinter den beiden her: "Und was wird dann
aus meiner Tochter? Sie können uns doch nicht im Stich lassen?
Bisher hat doch alles so gut geklappt. Denken Sie doch an die rosigen
Wangen von Anna, Angeber-Luzi. Denken Sie doch an die ganzen Brisch-Braschs,
Filli-Pillis und Goromolos, die Sie angeblich nur in unseren Gewässern
angeln können, Betrüger-Schorschi!"
Doch aus dem Zimmer von Angeber-Luzi und Betrüger-Schorschi
kam nur ein verärgertes "Hmpf", "Pff",
oder "pah".
Als bereits alles verloren schien, weil Betrüger-Schorschi
mit wehendem Mantel und gepacktem Koffer die Treppe herunterrannte,
dicht gefolgt von dem ebenfalls reisefertigen Angeber-Luzi, der
mit seiner einen freien Hand die ganze Zeit versuchte, Betrüger-Schorschi
an den Mantelschößen zu fassen und zu sich zu ziehen,
tauchte plötzlich Frau Schmittchen aus der Eßzimmertür
auf.
"Auf Wiedersehen", sagte sie und winkte den beiden mit
ihrer Tasche zum Abschied.
Angeber-Luzi blieb wie angewurzelt vor ihr stehen. "Welche
Ehre, Frau Schmittchen. Wie geht's, Frau Schmittchen. Irgendwelche
Wünsche, Frau Schmittchen?"
"Wollen Sie wirklich die Familie Pop alleine lassen? Wollen
Sie sich wirklich Ihrer Verantwortung entziehen? Sie sind doch ein
erstklassiger Mediziner, oder nicht?!" Frau Schmittchen sprach
mit schmeichelnder Stimme.
Die Wirkung, die Frau Schmittchen auf Angeber-Luzi hatte, war unglaublich.
Angeber-Luzi verbeugte sich vor Frau Schmittchen und sagte: "Sie
haben sich doch sicher nicht eingebildet, dass ich Ihnen so schnell
das Feld überlasse? Ich hatte nur eine klitzekleine Meinungsverschiedenheit
mit Betrüger-Schorschi."
Dann nahm er seine Reisetasche und ging wieder die Treppe hinauf,
so, als ob nichts geschehen wäre.
Betrüger-Schorschi sagte: "Das erinnert mich irgendwie
an die Geschichte von irgendwann, als Angeber-Luzi unbedingt vor
mir irgendwo sein wollte und dann doch wieder nur da gelandet ist,
von wo ich eigentlich nie wegwollte."
Er lächelte die Umstehenden unsicher an und ging dann mit seinem
Gepäck zurück in sein Zimmer.
"Vielen Dank", sagte Herr Pop zu Frau Schmittchen.
"Ja, ich möchte Sie wirklich nicht mehr hier missen",
sagte auch Frau Pop. Dabei fuhr sie sich mit der Hand über
die Stirn, als müßte sie sich an etwas erinnern können,
wisse aber nicht mehr, an was.
Als Herr und Frau Pop ebenfalls auf ihr Zimmer gegangen waren, um
ihren Nach-dem-Frühstück-Schlaf zu machen, und Anna deshalb
alleine mit Frau Schmittchen auf dem Flur stand, sagte Anna: "Sie
sind doch eine Zauberin."
Frau Schmittchen schaute sie an und lächelte. "Wenn du
willst, können wir schon heute mit dem Wünschen beginnen.
Habt ihr denn einen Raum hier, in dem wir üben können?"
"Ich muß jetzt eigentlich ins Bett", sagte Anna.
"Willst du das denn?"
Anna schüttelte den Kopf. "Wir könnten in meinem
Zimmer üben."
Frau Schmittchen nickte, nahm ihre Plastiktasche und folgte Anna
nach oben. Als sie in Annas Zimmer trat, sah sie wohlwollend auf
Annas roten Plüschsessel. Mit einem erleichterten Seufzer ließ
sie sich darauf plumpsen.
"Heute helfe ich dir noch mit dem Wünschen. Morgen auch.
Übermorgen kannst du es vielleicht schon alleine."
Frau Schmittchen schüttete den Inhalt ihrer Plastiktüte
auf Annas Schreibtisch aus: "Such dir etwas davon aus."
Anna schaute sich die Gegenstände an: Da waren ein Hüpfball,
ein Holzindianer, eine Gießkanne, ein Porzellanfrosch, zerknüllte
Bonbonpapiere, Knöpfe, Ringe, Maßbänder, eine Klebstoffrolle,
Haargummis, Paprikagewürz, ein Buch über Pilze, ein kleines
Metallauto, Lederstrümpfe, Kaugummis ... Anna hatte nicht die
Muße, sich alle Dinge anzusehen. Denn ihr Blick wurde sehr
schnell von einem lilanen Luftballonbären gefangengenommen.
"In den würde ich mich gerne hineinsetzen und in die Luft
schweben", flüsterte Anna zu sich selbst. "Ganz hoch,
bis mich niemand mehr sehen kann."
"Paß auf, was du sagst!" sagte Frau Schmittchen,
die Annas Wunsch offenbar gehört hatte. "Oder willst Du
wirklich in schwindelnder Höhe in einem Plastikbären sitzen,
der jeden Moment platzen kann?"
Doch Anna hörte Frau Schmittchen gar nicht richtig zu. Sehnsüchtig
schaute sie aus dem Fenster. Der Wind fuhr durch die Bäume
und zauste ihre Äste bis sie schwankten. Am Himmel zogen dicke
Kumuluswolken vorbei, und ein Bussard kreiste geduldig am Himmel.
Vielleicht hatte er in Pops Garten eine Maus entdeckt.
"Doch," wiederholte Anna. "Ich möchte so gerne
alles von oben sehen wie der Bussard. Wenn der lila Bär mitkommt,
dann bin ich nicht allein." Anna nahm den Luftballonbären
in die Hand und drückte ihn gegen ihre Wange. Dann schloß
sie die Augen.
Frau Schmittchen sah sie nachdenklich an. "Kindchen, Kindchen.
Ich weiß nicht, ob das für den Anfang der richtige Wunsch
ist. Aber wir werden sehen."
Sie nahm Anna vorsichtig den Bären aus der Hand und pustete
ihn auf. Sie blies und blies. So lange, bis der lila Bär ungefähr
drei Mal so groß war wie Anna selbst. Frau Schmittchen nickte
zufrieden. Dann stülpte sie den Luftballon über Annas
Kopf. Das ging etwas schwer. Doch als das geschafft war, ging der
Rest wie von allein. Bald saß die ganze Anna in dem Luftballon.
Sie schmiegte sich an die lila-durchsichtige Gummihaut und schien
es selbstverständlich zu finden, dass Frau Schmittchen nur
noch das große Flügelfenster öffnen mußte,
bevor ihre Reise beginnen konnte. Der Bär paßte gerade
noch so durch das Fenster und schob sich ins Freie. Gemächlich
schwebte er über die Bäume, das Haus, die Landstraße
und ein kleines Wäldchen, das jenseits des Flusses war.
Anna war froh. Sie genoß das Gefühl, in einer Luftblase
zu sitzen und die Welt von oben in ein lilanes Licht getaucht zu
sehen. Je höher sie in ihrem Ballon stieg, je kleiner die Landschaft
unter ihr wurde, umso leichter wurde ihr ums Herz, umso unwirklicher
wurden ihre Probleme. Und umso unwirklicher wurde sie selbst.
Anfangs waren Anna Pops Wunschabenteuer ein Geheimnis
zwischen Frau Schmittchen und ihr selbst. Natürlich wußten
Annas Eltern, dass Anna mit Frau Schmittchen irgendwie das Wünschen
übte. Aber eine konkrete Vorstellung davon hatte sie nicht.
Frau Schmittchen war froh darüber, denn sie fand, dass Annas
Eltern nicht unbedingt wissen mußten, dass ihre Tochter in
einem Luftballon über der Stadt schwebte oder sich in ihrem
Zimmer in einen Regenwurm verwandelte.
Doch eines Tages ließ sich das Wünschen und seine Folgen
nicht mehr verheimlichen. Das war an dem Tag, als das Erbsenschwein
sich bei Annas Eltern vorstellte. Eines Tages stand es plötzlich
in Pops Garten und bat Pops um eine Unterkunft. Um seine außergewöhnlichen
Fähigkeiten zu demonstrieren, buddelte das Erbsenschwein im
Garten mehrere ein Meter tiefe, fußballbreite Löcher
in den Boden. Annas Eltern und Angeber-Luzi, der immer an neuen
Behandlungsmethoden interessiert war, standen daneben und schauten
ihm dabei zu. Gerade als sie sich überlegten, was ihnen das
Erbsenschwein mit den Löchern eigentlich mitteilen wollte,
fing plötzlich der Boden unter ihnen an zu vibrieren.
Das Erbsenschwein kletterte irritiert aus seinem fünfzehnten
Loch, und sah mit den anderen, dass das Haus schwankte. Langsam
kippte es hin- und her, so, als ob es schaukeln würde.
Ein langgezogener Schrei flog aus dem Haus auf sie zu und Annas
Eltern ganz mächtig in die Glieder.
Was war mit Anna passiert?
Annas Eltern rannten auf das Haus zu. Doch die Treppen zur Haustür
wackelten so, dass es beiden nicht gelang, ins Haus hineinzukommen.
"Anna, Anna!" schrien sie verzweifelt. "Was ist denn
mit dir los?"
Anna öffnete das Fenster und rief zu ihren Eltern hinunter:
"Es ist alles in Ordnung. Das Haus lacht."
"Ja sicher", rief Annas Mutter, "aber geht es dir
auch gut?"
"Ich habe nur einen Witz gerissen, und er kam gut an. Was ist
mit euch? Habt ihr so geschrieen?"
"Nein. Wir dachten, das bist du!"
Verwundert schauten sich Annas Eltern an. Doch bevor sie sich weitere
Gedanken machen konnten, trabte das Erbsenschwein auf sie zu und
grunzte: "Ich muß schon sagen. Eine solch phänomenale
Wirkung haben meine Löcher bisher noch nie gehabt."
Herr Pop sah es dankbar an.
Es wäre zu schön, wenn das schwankende Haus tatsächlich
nur etwas mit Erbsenschweins Löchern zu tun gehabt hätte.
Ein Erbsenschwein im Haus war vielleicht doch eine brauchbare Sache.
Es war nun auch denkbar, was das Erbsenschwein mit dem Buddeln hatte
mitteilen wollen: Ein Erbsenschwein im Haus erklärte die unnatürlichsten
Dinge, die passierten, zu den natürlichsten.
Nach diesem Ereignis willigten Annas Eltern deshalb gerne ein, in
ihrem Haus oder Garten auch noch ein Erbsenschwein zu beherbergen.
Doch obwohl das Erbsenschwein seither offiziell für alle möglichen
Wunschfolgen von Anna und Frau Schmittchen verantwortlich gemacht
wurde, betrachteten Annas Eltern Frau Schmittchen nun dennoch etwas
argwöhnisch.
Wenn sich Frau Schmittchen in Annas Zimmer zurückzog, sagten
sie ihr zum Beispiel: "Das Erbsenschwein ist heute nicht zu
Hause", oder "wir glauben nicht, dass das Erbsenschwein
heute Löcher bohrt".
Und wenn Anna ihren Eltern etwas von einem großen Wunsch erzählte,
bedeuteten ihre Eltern, dass Anna dem Erbsenschwein lieber beim
Karottenziehen behilflich sein sollte als sich Wünsche zu überlegen.
Das Erbsenschwein war deshalb bald eine wichtige Persönlichkeit
im Hause Pop. Wie sich schnell herausstellte, war es außerdem
eine sehr angenehme Person. Das Erbsenschwein war weder überheblich,
noch listig, es betrog und stahl nicht, und es stank auch nicht
(auch wenn es zugegebener Maßen ein wenig danach aussah).
In welcher Sache es allerdings ins Hause Pop gekommen war, blieb
ungewiß. Fragte man das Erbsenschwein, ob es Annas Krankheit
heilen wollte, legte es seinen Kopf schief und erwiderte verschmitzt:
"Karotten sind auf jeden Fall eine leckere Angelegenheit. Das
Kind kann nicht genug Karotten essen."
Dann lief es auf seinen kurzen Hacken hinter das Haus, wo es bereits
am ersten Tag einen Karottengarten angelegt hatte. Mit seinem Rüssel
bohrte es Löcher in die Erde und grunzte zufrieden.
Die erste geerntete Karotte brachte es feierlich Anna auf einem
geschmückten Teller.
Anna schmeckte die Karotte tatsächlich so gut, dass sie fortan
sehr oft zum Erbsenschwein in den Garten ging, um dort "Erbsenschweinkarottensuppe
zu kochen".
Die einzige, die mit dem Erbsenschwein nicht so gut zurecht kam,
war Frau Schmittchen. Immer, wenn Annas Eltern von den Vorzügen
des Erbsenschweins sprachen, verdrehte Frau Schmittchen die Augen
und sagte: "Ach. Das Schweinchen ist eine einfache Seele."
Was sie damit meinte, war Anna nicht klar.
Klar war ihr nur, dass Frau Schmittchen sich immer in Annas Kinderzimmer
einschloß, nachdem sie den Satz von der "einfachen Seele"
gesagt hatte. Dort saß sie dann, bis sie von Betrüger-Schorschi
zur nächsten Mahlzeit gerufen wurde. Und Anna mußte sich
so lange einen anderen Ort zum Spielen suchen.
Da Annas Eltern das Erbsenschwein mit der Zeit immer liebenswerter
erschien und immer häufiger gelobt wurde, mußte Frau
Schmittchen auch immer öfter den Satz von der einfachen Seele
sagen. Und Anna konnte deshalb immer weniger in ihr Zimmer. Tagelang
verbarrikadierte sich Frau Schmittchen darin und ließ Anna
nur noch nachts hinein.
Anna mußte dann in ihrem Bett bleiben, während Frau Schmittchen
ihren roten Sessel in Beschlag genommen hatte. Als Anna sich anfangs
beschwert hatte, weil sie den roten Sessel wegen ihrer Elefantenhaut
selbst brauchen würde, fuhr Frau Schmittchen sie an: "Papperlapapp.
Ich bleibe im roten Sessel sitzen. Du hast nur die Elefantenhaut.
Aber mir platzt jede Nacht der Kopf. Die Ohren vom Sessel geben
mir Halt."
Anna hatte noch nie gesehen, wie Frau Schmittchen der Kopf platzte,
obwohl sie doch jede Nacht wach war.
Frau Schmittchen dagegen behauptete, dass sie Annas Elefantenhaut
noch nie gesehen hätte. Das wunderte Anna allerdings auch nicht,
da Frau Schmittchen ja jede Nacht in ihrem Sessel schlief.
Tatsache war auf jeden Fall, dass Anna nur noch ungern in ihrem
Zimmer war. Und Tatsache war auch, dass Frau Schmittchen sich inzwischen
lieber selbst etwas wünschte als Anna beim Wünschen zu
helfen.
So hatte Frau Schmittchen nach ihrer anfänglichen behaupteten
Wunschhemmung ein ausgesprochenes Wunschfieber. Ständig mußte
sie sich etwas wünschen. Und die Hausbewohner durften ihre
unsinnigen Wünsche ausbaden.
Frau Schmittchen dachte sich zum Beispiel: "Das Erbsenschwein
ist eine einfache Seele. Das macht mich traurig. Das macht mich
so traurig, dass ich bestimmt gleich weinen muß." Dann
weinte sie ein bißchen und schneuzte in ihr kleines weißes
Taschentuch mit den zarten Rosen darauf. Doch weil das nicht so
richtig klappte, wünschte sie sich, dass sie richtig schön
weinen könnte: "Ich wünsche mir, dass ich weine,
bis ich in einem See von Tränen stehe. In der Mitte des Sees
soll dann ein Haus stehen. Und in dem Haus soll ein Zauberer wohnen.
Der Zauberer ruft mich und rettet mich, bevor ich in meinem Tränenmeer
ertrinke."
Und während Frau Schmittchen von dem Zauberer gerettet und
von ihm sogar noch auf ein Tässchen Tee eingeladen wurde, tropfte
das Wasser des Tränensees durch den Fußboden von Annas
Zimmer mitten in die Kochtöpfe von Betrüger-Schorschi.
Zuerst hatte Betrüger-Schorschi damals gedacht, dass er sich
mit dem Tropfen nur getäuscht hatte. Doch dann regnete es unaufhörlich
und immer schneller durch die Decke. Bis ein Loch in der Decke war
und sich ein Schwall salzigen Wassers auf den Herd ergoss.
Das Essen fiel an diesem Tag aus, und Betrüger-Schorschi sprach
eine Woche kein Wort mehr mit Frau Schmittchen.
Oder Frau Schmittchen wünschte sich, dass sie eine berühmte
Künstlerin sei, die sagenhafte Video-Installationen ihrem entzückten
Publikum vorstellte. Dann mußten sich am Abend alle Hausbewohner
gezwungener Maßen in Schale werfen und Frau Schmittchens Pappkartons
bewundern, die sie in Annas Zimmer aufeinandergestapelt hatte.
Angeber-Luzi gefiel es zwar, dass er so wenigstens hin- und wieder
einen seiner neuen Anzüge vorführen konnte. Doch er fand
es abscheulich, dass er Frau Schmittchen mit Handkuss begrüßen
und ihr unglaubliche Komplimente machen mußte. Denn das wünschte
sich Frau Schmittchen nun einmal.
Am meisten fürchteten sich aber die Hausbewohner vor Frau Schmittchens
Gegenteil-Wünschen. Die Gegenteil-Wünsche waren Frau Schmittchens
liebste Übung.
"Sie halten den Kopf jung und die Seele frisch!" sagte
Frau Schmittchen immer, wenn sich die anderen über diese Wünsche
beklagten. Frau Schmittchen setzte sich dafür in ihren roten
Sessel und fühlte in sich hinein.
"Ah", sagte sie dann zum Beispiel: "Mir geht es heute
augezeichnet. Ein ernster Grund, das Gegenteil zu erinnern."
Dann schloß sie die Augen und wünschte sich, dass ihre
Brust ganz eng werden und sich ihr Fleisch zusammenziehen solle.
Seltsamerweise zogen sich daraufhin mit Frau Schmittchens Lungenflügel
die Hauswände zusammen und wurden auch die Treppen ganz eng.
Das konnte für die Hausbewohner äußerst unangenehm
sein. Egal, wie dringend sie vom ersten in den zweiten Stock gelangen
mußten, es war ihnen nicht möglich, weil ihnen eine Standuhr
oder ein Schrank plötzlich den Weg versperrte.
Während sich fast alle durch Frau Schmittchens Wünsche
gestört fühlten, gefielen Anna die Veränderungen
im allgemeinen ganz gut. Sie brachten Abwechslung in ihr Leben.
Anna mußte nun zwar ohnehin tagsüber nicht mehr ins Bett
liegen, weil Frau Schmittchen ihr Zimmer in Beschlag genommen hatte,
doch in die Schule durfte Anna trotzdem nicht gehen. Angeber-Luzi
bestand darauf, dass Anna dafür zu schwach sei. Außerdem
mußte sie vormittags Angeber-Luzi immer genauestens Bericht
erstatten, wie sie die Nacht verbracht hatte. Er schrieb dann alles
genau auf und übertrug die kurvenreichen Endergebnisse in ein
kleines graues Büchlein.
Einmal im Monat erstattete er Annas Eltern Bericht, wobei er wichtig
mit dem Kopf nickte und jedes Mal seine Ausführungen mit dem
Satz beschloß: "... und deshalb bin ich der Meinung,
dass ich das Kind mindestens noch einen weiteren Monat beobachten
muß".
Mittags sollte Anna dann eigentlich mit Frau Schmittchen das Wünschen
üben. Doch da Frau Schmittchen sich in letzter Zeit immer mehr
um sich selbst kümmerte, mußte sich Anna selbst überlegen,
wie sie die vielen Tage verbringen sollte.
Wenn Betrüger-Schorschi einen guten Tag hatte, nahm er Anna
zum Angeln mit. Doch da Anna meistens nicht sehr lange still sitzen
konnte, vertrieb sie die Fische. Das behauptete zumindest Betrüger-Schorschi.
Und so brauchte es längere Zeit, bis er wieder Lust hatte,
Anna mitzunehmen.
Annas Tage waren deshalb ziemlich eintönig.
Frau Schmittchens Wunscheinfälle hatten dafür meistens
etwas Originelles. Da gab es oft etwas zu entdecken. Einmal hatte
Frau Schmittchen beispielsweise das Unten-Oben-Gegenteil gewünscht.
Und plötzlich klebte Anna wie eine Fliege an der Decke! Sie
lief mit dem Kopf nach unten als sei es das Natürlichste auf
der Welt. Es war sehr schön aufgeräumt dort oben, beinahe
ein wenig langweilig. Sie inspizierte den luftigen Raum des Wohnzimmers,
aber außer einem Spinnennetz in einer Ecke, entdeckte sie
gar nichts. Fliege sein war sicher nicht besonders aufregend, dachte
Anna. Auch wenn einem hin- und wieder eine Spinne über den
Weg lief. Anna war deshalb froh, als Frau Schmittchen mit ihrem
Wunsch fertig war.
Sehr aufregend, beinahe zu gruselig war dagegen Frau Schmittchens
Ich-Erkenne-Dich-Nicht-Wunsch gewesen.
Es war abends und Annas Eltern waren gerade vom Arbeiten nach Hause
gekommen. Betrüger-Schorschi trug das Essen auf und rief in
dem Moment alle herbei, als der Wunsch passierte.
Anna sagte ihre Eltern noch "Hallo", als es ihr mit einem
Mal ganz mulmig wurde. Ihr Mund wurde trocken und der Boden unter
ihr schien zu schwanken.
Die anderen schienen zu bemerken, dass sie sich nicht wohl fühlte,
denn sie nahmen Anna unter die Arme und setzten sie auf einen Stuhl.
"Was ist denn mit dir los, Fräulein?", fragte ihre
Mutter, die ihr aber wie eine fremde Frau erschien. "Wo sind
denn deine Eltern? Hallo, Sie da! Kennt denn einer von Ihnen dieses
kleine Mädchen hier?"
Ein schmaler, einigermaßen großer Mann mit welligem,
braunem Haar meldete sich zu Wort: "Nein, ich habe sie hier
noch nie gesehen. Sie scheint mir etwas verwirrt zu sein. Vielleicht
sollten wir die Polizei rufen?"
"Polizei?" rief ein kleinerer Mann mit hellrotem Haarschweif.
Er hielt eine große Bratpfanne in der Hand, in der fettiges
Gemüse schwamm. "Polizei kommt mir nicht ins Haus!"
Mit wichtiger Miene setzte er seine Pfanne ab und sagte mit betont
vornehmer Stimme: "Bitte nehmen Sie Platz meine Damen und Herren."
Ein anderer Herr, der etwas linkisch an den Tisch getreten war und
der sich nun mit skeptischem Blick über das Gemüse beugte,
fuhr mit einer Hand in seine Hosentasche und holte ein kleines Telefon
hervor. Mit affektierter Geste drückte er ein paar Tasten:
"Ja?! Hallo! ... Ist da die ..."
"Sind sie verrückt!" fuhr da der Mann mit der Pfanne
dazwischen. "Ich betonte doch ausdrücklich, dass ich keine
... "
Doch der Mann mit dem Telefon drehte sich einfach ab und telefonierte
weiter: "... ja, also ich hätte gerne die Telefonnummer
der Polizei! Ja, ja, selbstverständlich die Polizei hier am
Ort!"
Der Telefonmann winkte den Mann mit dem braunen Haar und bat ihn
um Stift und Papier. "1 .. ja! 1 ... ja! 0 ...! Ich wiederhole:
110! ... In Ordnung, vielen Dank!" Triumphierend blickte der
Mann mit dem Telefon in die Runde.
Doch bevor er diese Zahlenkombination in sein Telefon tippen konnte,
rief Anna: "Aber ich wohne doch hier! Ich weiß zwar nicht,
wer Sie alle sind, aber ich wohne auf jeden Fall hier!"
Die fremde Frau sah den Mann mit dem braunen Haar, und der Mann
mit dem braunen Haar sah den Mann mit der Pfanne, und der Mann mit
der Pfanne sah sein Gemüse an.
Nur den Mann mit dem Telefon sah niemand an, weshalb er auch rief:
"Aber das ist ja völliger Quatsch! Ich wohne hier. Und
ich weiß, dass ich das Mädchen hier noch nie gesehen
habe!"
"Was!" rief da die fremde Frau. "Welch eine Unverschämtheit!
Ich wohne hier mit meinem Mann und meiner Tochter. Vom Alter her
könnte das Mädchen zwar meine Tochter sein. Doch ist sie
es auf keinen Fall. Denn meine Tochter ist krank und vom wenigen
Schlafen ein wenig blass. Aber dieses Mädchen hat rosige Wangen."
"Das könnte Ihnen so passen," platzte jetzt auch
der Mann mit dem braunen Haar dazwischen: "Sie wollen sich
wohl meine Tochter wegschnappen! Denn es ist gewiß nicht Ihre,
sondern meine Tochter, die krank ist und mit der ich hier im Hause
wohne. Ich weiß zwar nicht, wo meine Frau gerade ist. Aber
Sie sind es sicher nicht. Meine Frau ist sehr pragmatisch und außerdem
diskret. Sie käme nie und nimmer auf den Einfall, lautstark
zu behaupten, dass sie hier wohnen würde, wenn es nicht stimmte."
"Hä, hä, hä," meckerte der Mann mit der
Pfanne. "Wenn ich recht sehe, streiten Sie sich gerade, dass
sie beide das Vorrecht genießen, zu Hause eine kranke Tochter
pflegen zu müssen. Nehmen Sie sich doch einfach dieses gesunden
Mädchens an und erfreuen Sie sich an ihr."
Der Mann mit den braunen Haaren und die Frau schauten den Mann mit
der Pfanne entsetzt an. Die Frau sagte mit gepreßter Stimme:
"Was sind Sie doch für ein Unmensch! Wahrscheinlich ist
Ihnen Ihr Gemüse näher als es Ihnen ein Mensch je gewesen
ist. Meine Tochter ist unersetztlich. Denn keine hat eine solch
phantastische Elefantenhaut wie sie! Eigentlich wollte ich es immer
für mich behalten. Doch heute ist mir so seltsam zu Mute, dass
es darauf auch nicht mehr ankommt: Manchmal, wenn ich mich alleine
fühle und nachts kalt in meinem Bett liege, schleiche ich mich
zu meiner halbschlafenden Tochter. Sie sitzt nachts in einem großen
roten Sessel in ihrem Zimmer - seit einiger Zeit allerdings meistens
in ihrem Bett - und trägt die Elefantenhaut bis zum nächsten
Morgen. Die Augen hält sie geschlossen und das bleiche Gesichten
schimmert wie ein kleiner Mond. Ich trete zu ihr, streichle ihr
Gesicht, fahre mit dem Finger über ihre Augenlider, küsse
ihr Haar. Dann drücke ich mich an ihre Elefantenhaut und bette
meine Hand in eine ihrer Elefantenhautfalten. Erstaunlicherweise
sind die Falten, ja ist überhaupt die ganze Haut unheimlich
weich und warm. Doch leider ist sie auch schwer. Sie ist sogar so
erdrückend schwer, dass meine Tochter darunter leidet. Deshalb
möchte ich sie auch nicht oft besuchen."
Die anderen schwiegen betreten.
Nach einer Weile sagte der Mann mit dem brauen Haar. "Ich wußte
nicht, dass es mehere Menschen gibt mit diesem Leiden. Denn meine
Tochter hat genau dieselbe Krankheit. Vielleicht sollten wir uns
einmal treffen?"
Die Frau nickte froh. Sie holten sich einen Zettel und tauschten
sich ihre Telefonnummern aus.
Dass auf beiden Zetteln die gleichen Nummern standen, bemerkten
sie nicht. Denn inzwischen war Frau Schmittchen in den Raum getreten
und beherrschte die Szenerie. Mit großem Federhut und dunklem
Kleid stolzierte sie um den Tisch. Mit spöttischem Blick schaute
sie auf die kleine Versammlung. Dann trat sie auf den Telefonmann
zu, piekste ihm mit spitzem Finger in den Bauch und sagte: "Was
seid ihr doch alle willenlos. Mein Wunsch ist euch immer noch Befehl.
Dabei kennen wir uns doch schon lange genug. Nicht wahr, Angeber-Luzi?
Was hast du da nur für ein schönes Telefon!"
Angeber-Luzi schaute zuerst sie, dann sein Telefon an. Irritiert
steckte er es in die Tasche. Plötzlich wußte er wieder,
dass er nur Gast im Hause Pop war. Dass das Mädchen, das er
an die Polizei ausliefern hatte wollen, seine Patientin war und
der unangenehme Herr mit der Bratpfanne Betrüger-Schorschi.
Frau Schmittchen ging zu Betrüger-Schorschi und machte "tss,
tss, tss. Immer nur die eigenen Dinge im Kopf." Betrüger-Schorschi
erkannte nun ebenfalls wieder seine Mitbewohner. Er ließ sich
erschöpft auf einen Stuhl fallen und sagte: "Ich will
Ihre literar-osmotischen Wünsche nicht mehr, Frau Schmittchen.
Ich will einfach Ihre literar-osmotischen Wünsche nicht mehr."
Doch Frau Schmittchen hörte gar nicht hin, was Betrüger-Schorschi
forderte. Sie war inzwischen auf Herrn und Frau Pop zugetreten und
sagte: "Nicht einmal Ihre eigene Tochter haben Sie erkannt.
Ich muß schon sagen. Wo das nur enden soll."
Herr und Frau Pop blickten sich erst verwirrt an und suchten dann
im Gesicht des anderen die Wirkung von dem zu entdecken, was hier
vorgefallen war.
Nur mit Anna war Frau Schmittchen ein bißchen zufrieden: "Man
merkt, dass du meine Schülerin bist. Es hat zwar etwas zu lange
gedauert, bis du aufgewacht bist. Aber immerhin hast du dich nicht
an die Polizei ausliefern lassen."
Trotzdem blickte Anna Frau Schmittchen aufgelöst an. War hier
nicht zu viel passiert? Hatte Frau Schmittchen nicht an Dinge gerührt,
die besser in Ruhe gelassen worden wären? Hatte Frau Schmittchen
das Recht, ganz intime Geheimnisse an die Öffentlichkeit zu
zerren?
Anna bemerkte, dass ihre Mutter sie scheu anlächelte. Da wurde
sie mutig. Sie ging zu ihrer Mutter und nahm ihre Hand. Sie war
warm und feucht. Anna war noch nie aufgefallen, dass die Hand ihrer
Mutter außerdem so klein war.
Nach diesem aufwühlenden Erlebnis wurde es etwas
stiller um Frau Schmittchen. Vielleicht wollte sie die Hausbewohner
eine Weile mit ihren makabren Späßen verschonen. Vielleicht
hatte sie dieser letzte Wunsch aber auch so viel Kraft gekostet,
dass sie einfach nur ein bißchen Ruhe brauchte.
Die anderen Hausbewohner genossen jedenfalls Frau Schmittchens Wunsch-Pause
und nahmen in der ersten Zeit auch mehr Rücksicht aufeinander.
Vor allem der Familie Pop wurde mehr Respekt entgegengebracht, und
die Grenzen zwischen Gastgeber und Gast waren nicht mehr ganz so
verwischt wie zuvor.
Nach einiger Zeit fiel Anna allerdings auf, dass Angeber-Luzi häufig
nervös im Zimmer auf- und ablief, wenn er sich unbeobachtet
glaubte.
Und Betrüger-Schorschi gab sich nicht mehr soviel Mühe
mit dem Zubereiten der Speisen. Er blickte immer öfter geistesabwesend
aus dem Küchenfenster. Und nach dem Mittagsessen hörte
er seit neuem immer eine Radiosendung an mit dem seltsamen Namen
"Flupppuppe".
Als Anna ihn einmal darauf ansprach, was der Titel zu bedeuten habe,
antwortete er ihr nur: "Das ist die Puppe mit dem fremden Herzen
im Leib."
Anna versuchte zwar hin und wieder die Sendung mitanzuhören,
doch verstand sie deren Sinn einfach nicht. Es war, als ob der Radio-Sprecher
in einer ihr fremden Sprache sprechen würde. Sie hatte bisher
nur soviel mitbekommen, dass in einem Haus viele komische Personen
wohnten, die alle nicht zusammenpassten. Mittelpunkt war die Flupppuppe,
die immer sonntags vorbeikam und ihre langen Plastikbeine durch
das Fenster streckte. Dann passierten Geschichten, die so verrückt
waren, dass sie Annas Meinung nach niemand verstehen konnte. Nicht
einmal Betrüger-Schorschi.
Einmal hatte sie all das mitgeschrieben, was aus dem Radio tönte.
Doch auch dann machte es nicht mehr Sinn:
Bernie (muß wohl ein Hund sein):
Wau, wau: Kommt alle her. Die Flupppuppe ist wieder im Anflug.
Quakie: Mensch Bernie! Siehst du nicht die langen Beine?
Wie ein Propeller.
Flupppuppe: Macht Platz. Oder wollt ihr, dass meine Beine
nicht durch das Fenster passen? Dann gibt es heute keine Suppe.
(An dieser Stelle lacht Betrüger-Schorschi)
Bernie, Quakie, Schlapps und Frox: Suppe! Suppe! Suppe!
Flupppuppe: Suppe von der Puppe. Ist ja schon gut. Ihr bekommt
ja alle Suppe. Laßt es euch schmecken. Ja, das tut gut. Wer
krabbelt da? (Flupppuppe brüllt): Aua, Hui, Aua, Hui.
Frox: Laß das Bernie!
Bernie: Wau, wau!
Quakie: Wo ist denn heute die Klappe?
Frox: Klappe halten. Ha, Ha, Ha.
Quakie: Bernie, du sollst sagen, wo heute die Klappe ist.
Schlapps: Ich weiß, wo die Klappe ist. Bernie hat sie
gestohlen.
(Wildes Geschrei, Durcheinander.)
Flupppuppe: Die Klappe ist in meinem linken Bein. Wollt ihr
heute wieder mal reinschauen?
Alle: Schauen, schauen, schauen.
Fluppspuppe: Bei der Puppe schauen, das tut erbauen. Hier
Klappe auf.
(Sandmännchenmusik.)
Bernie: Flupppuppe, nimmst du uns mit, wenn du nachher wegfliegst?
In die Ferne. In das Land der Zitronen und Wildschweine?
Flupppuppe (lacht): Meine Beine sind zu dünn.
Wenn ihr euch darauf setzt, brechen sie durch und dann landen wir
alle im Ozean.
Quakie: Ha. Ha. Dann wird aus der Puppe Suppe!
Bernie: Halts Maul.
Quakie: Selber.
Schlappi: Dummkopf.
Frox: Jetzt habt ihr unsere Flupppuppe vertrieben! Seht.
Dahinten sieht man ihre Beine nur noch so klein wie zwei Schwalbenschwänze.
Bernie: Jetzt müssen wir wieder eine ganze Woche warten,
bis die Flupppuppe zu uns kommt. Wieder müssen wir eine ganze
Woche warten, bis wir sie fragen können, ob sie uns mitnimmt.
Du Idiot.
...
An dieser Stelle hatte Betrüger-Schorschi das Radio ausgeschaltet,
und Anna konnte deshalb nicht mehr weiterschreiben. Aber ohne Flupppuppe
war es sowieso keine Flupppuppengeschichte mehr.
Betrüger-Schorschi schaute melancholisch aus dem Fenster. Wartete
er etwa auch auf die langen Plastikbeine der Flupppuppe? Anna war
sich da nicht so sicher. Als sie ihn fragte, was er heute Leckeres
zum Abendessen kochen wolle, schaute er sie halb abwesend, halb
grimmig an und brummte: "Du hast doch gehört, dass die
Flupppuppe keine Suppe mag!"
Ende Teil 3.
Fortsetzung
folgt in der nächsten Rossipotti-
Ausgabe.
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