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Das geheime Buch

Anna Pop in der Elefantenhaut

Ein Märchen aus der neuesten Zeit

Annette Kautt

Fortsetzung: Teil 3

Wer nicht nur die kurze Zusammenfassung lesen möchte, sondern die beiden ersten Teile, geht zurück zur ersten Rossipotti-Ausgabe .

Was bisher geschah:

Anna Pop ist ein neunjähriges Mädchen und hat eine seltsame Krankheit. Jede Nacht wächst ihr eine Elefantenhaut und droht sie zu erdrücken. Auf Wunsch der Eltern finden sich bei Pops schließlich drei Ärzte ein, um Anna von ihrer nächtlichen Elefantenhaut zu heilen: Der Mampfende Schluck, Betrüger Schorschi und Angeber-Luzi. Doch während der Mampfende Schluck schon am ersten Tag auf mysteriöse Weise verschwindet, kümmern sich Angeber-Luzi und Betrüger-Schorschi weniger um Anna als um ihre eigenen Vorlieben. Angeber-Luzie übernimmt den häuslichen Telefondienst, stöbert in Pops Bibliothek und nimmt sich wichtig und Betrüger-Schorschi angelt und beschlagnahmt Pops Küche, um darin alle möglichen Leibgerichte zu kochen. Trotzdem fühlen sich in dieser Konstellation alle einigermaßen wohl, und es könnte wohl immer so weiter gehen...

Doch leider schreckte eines Sonntagmorgens ein langes Klingeln die Hausgemeinschaft aus den Federn. Da Anna ohnehin nur ein wenig in ihrem Sessel gedöst hatte, reagierte sie als erste auf das Klingeln. Sie öffnete ihr Fenster und schaute auf einen riesigen Haarturban hinab. Unter dem vielen hochtoupierten Haar schien sich eine hagere, große Frau zu befinden.
In der einen Hand hielt sie eine ausladende Kunststofftasche, in der anderen Hand einen Regenschirm. Irgendwie hatte auch sie Anna bemerkt. Denn sie drehte ihren Kopf nach oben, zeigte mit dem Schirm an den Himmel und schrie: "Mach doch bitte die Tür auf. Das Wetter ändert sich nicht."
Verdutzt sah Anna zum Himmel. Tatsächlich zogen große, bedrohliche Regenwolken auf das Haus zu. Sie schloß das Fenster, ging nach unten und öffnete der Frau die Tür.
"Kindchen, du bist doch viel zu leicht angezogen," stellte sich die Frau vor. Sie guckte in ihre Plastiktasche und zog dann eine braune Wollstola daraus hervor. Während sie diese um Anna legte, sagte sie: "Ich bin übrigens Frau Schmittchen. Ich habe die Anzeige von deinen Eltern gelesen. Interessante Geschichte, dachte ich mir. So etwas kennst du noch nicht. Da mußt du hin. Jetzt bin ich hier. Ich ändere alles. Was hättest du gern?"
Anna Pop war sprachlos. Die Sätze waren so kurz, dass man ihren Sinn beinahe nicht verstand.
"Was wünscht du Dir?" fragte die Frau nochmals.
"Einen Elefanten," sagte Anna prompt. Das war natürlich Quatsch. Aber auf die Schnelle fiel ihr einfach nichts anderes ein.
"Kindchen. Denkst du denn, ich kann zaubern? Einen Elefanten? Dass ich nicht lache. Nochmal!"
"Dass die Sonne scheint."
Frau Schmittchen seufzte. "So geht das nicht. Draußen ist draußen und drinnen ist drinnen. Im Haus kann ich ändern. Draußen bin ich machtlos."
Anna wurde immer ratloser. Was wollte Frau Schmittchen von ihr?
Frau Schmittchen seufzte abermals: "Kein Wunder, dass du nachts eine so dicke Haut bekommst. Soll ich dir mal zeigen, wie das Wünschen geht?"
Anna nickte.
Doch bevor Frau Schmittchen loslegen konnte, kam mit lautem Gepolter Betrüger-Schorschi die Treppe runter und fuhr die Frau an: "Wer sind denn Sie? Ich kann mich nicht daran erinnern, Sie schon einmal in diesem Hause gesehen zu haben."
"Das ist Frau Schmittchen," erklärte Anna. "Sie ist da, um mir zu helfen."
"Aber das sind wir doch alle", Angeber-Luzi war inzwischen ebenfalls die Treppe hinuntergekommen. "Dass Sie mir ja nicht in meine Behandlung hineinpfuschen", schnauzte er Frau Schmittchen an. Seine Hand fuhr in die Hosentasche und beförderte ein rot-kariertes Taschentuch ans Tageslicht. Er tupfte sich aufgeregt die Stirn. "Ich habe nämlich schon sehr gute Erfolge erzielt. Sehen Sie hier ..." wieder fuhr er mit der Hand in die Hosentasche und holte ein kleines Notizbuch heraus. "Alles genau aufgelistet: Erster Tag: Das Kind schläft schlecht. In der Nacht wie gewohnt Elefantenhautsymptom. Zweiter Tag: Kind schläft fünf Stunden, nachts keine Sekunde. Dritter Tag: Kind schläft unruhig acht Stunden, nachts wird die Elefantenhaut nach eigenen Angaben schwerer. Vierter Tag: Das Kind wird allgemein ruhiger, Wangen werden etwas rosa, dafür nachts verstärktes Elefantenhautsymptom. Fünfter Tag ..."
"Hör doch auf. Das ist ja alles ganz grauenhaft," fiel ihm Betrüger-Schorschi ins Wort. "Das hilft dem Kind doch auch nicht weiter."
"Ach?" erwiderte Angeber-Luzi erstaunt. Und nochmals: "Ach? Und auf welche Weise hilfst du dem Kind weiter?"
"Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest: Ich angle Fisch."
"Und weiter?"
"Ich koche!"
"Und weiter?"
"Es schmeckt mir."
"Und weiter?"
"Was ist das denn für ein Unsinn?" mischte sich Frau Schmittchen ein. "Anna ist geholfen, wenn wir uns helfen. Also hören Sie auf zu streiten. Das verdirbt einem den Appetit. Und ich habe heute noch nichts gegessen."
Bei dem Wort "Essen" fiel Betrüger-Schorschi ein, dass er heute noch nicht in seiner heißgeliebten Küche gewesen war. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, lief er deshalb spornstreichs dort hin, um das Frühstück zuzubereiten.
Inzwischen waren auch Annas Eltern die Treppe hinabgekommen. Erstaunt sahen sie auf die kleine Versammlung. Angeber-Luzi machte die Herrschaften miteinander bekannt. "Frau Schmittchen, Familie Pop. Familie Pop, Frau Schmittchen."
"Und wer sind Sie?" fragte Frau Schmittchen Angeber-Luzi.
Angeber-Luzi holte reflexartig sein Mini-Telefon aus der Hosentasche und sprach in den Hörer: "Guten Tag, guten Tag. Angeber-Luzi im Hause Pop. Anerkannter Heiler tropischer und steppeähnlicher Krankheiten." Dabei verbeugte er sich ein wenig und strahlte Frau Schmittchen mit seinen schönen Zähnen an. Falls er Frau Schmittchen gegenüber zuvor etwas reserviert reagiert hatte, so ließ er sich jetzt jedenfalls nichts mehr anmerken.
Frau Schmittchen schüttelte leicht den Kopf und murmelte etwas vor sich hin, das sich wie "albernes Geschöpf" anhörte. Was sie genau sagte, ist aber auch nicht wichtig. Denn die anderen beschlossen, die Bemerkung zu ignorieren und lieber zum Frühstück zu gehen.
Betrüger-Schorschi hatte wie immer einen gemütlichen Essenstisch hergerichtet. Frau Schmittchen hatte er sogar mit Sahne "Herzlich Willkommen" auf den Teller geschrieben. Anscheinend hatte Frau Schmittchen mit ihrer Bemerkung über das ausstehende Essen Betrüger-Schorschi sehr beeindruckt.
Annas Eltern waren über den unerwarteten Besuch von Frau Schmittchen immer noch etwas irritiert. Annas Vater fragte deshalb: "In welcher Sache sind Sie eigentlich hier?"
"Aber natürlich wegen Anna!" erwiderte Frau Schmittchen mit einer Selbstverständlichkeit als sei es außerhalb ihrer Vorstellungskraft, dass Annas Eltern wegen anderer Angelegenheiten Besuch empfangen könnten.
"Und welche medizinische Disziplin verfolgen Sie?" getraute sich Annas Mutter zu sagen.
"Keine," sagte Frau Schmittchen mit großem Selbstbewußtsein. "Ich ändere, was geändert werden muß. Aber nicht medizinisch, sondern literar-osmotisch."
Angeber-Luzi lachte meckernd: "Das kommt mir sehr bekannt vor. Nicht wahr Betrüger-Schorschi?"
Angeber-Luzi rieb sich schadenfroh die Hände. Dann glitt seine rechte Hand in die Hosentasche und holte eine zerknitterte, abgegriffene Landkarte heraus. Er faltete sie auseinander und klopfte mit dem Zeigefinger auf einen Punkt, der sich in der Mitte der Karte befand. Welches Land die Karte beschrieb, war den Anwesenden- außer Betrüger-Schorschi - nicht klar. Aber der Punkt unter Angeber-Luzis Finger war ganz speckig und dunkel. Es war deutlich, dass Angeber-Luzi schon oft, ja schon sehr oft mit seinem Finger auf diesen Fleck gezeigt haben mußte.
Betrüger-Schorschi drehte sich desinteressiert zu Seite. "Langweile die anderen doch nicht mit deiner alten Geschichte," sagte er.
"Alte Geschichte? Hier kennt sie doch niemand. Du willst doch nur nicht, dass ich auch einmal zum Zuge komme! Denn es ist die Geschichte, die dich zum Betrüger macht, ohne mich zum Angeber zu machen. Aber jetzt kannst Du mich nicht mehr davon abhalten. Auch nicht dein gutes Essen, das du sonst immer aus Gründen der Bestechung serviert hast!"
Triumphierend schaute Angeber-Luzi in die Gesichter der anderen. Seltsamerweise las er in ihnen weniger Neugierde und Schadenfreude als Verwunderung oder sogar Ablehnung. Doch Angeber-Luzi ließ sich davon nicht irritieren. Um eine sicherere Position zu erhalten, stand er auf, strich mit den Händen seinen Hahnenkamm zurecht und erzählte:

Die Geschichte vom osmanischen Geheimzirkel

Da euch Betrüger-Schorschi bereits erzählt hat, unter welch mißlichen Umständen ich ihn kennen gelernt habe, kann ich dieses erste unangenehme Erlebnis übergehen und gleich mit der Geschichte beginnen, die ihn mir als rücksichtslosen Betrüger entlarvt hat. War er mir zuvor ein Dorn im Auge, weil er gegen mich intrigierte, mich erpresste und sich mit meinen Federn schmückte, mußte ich nun erkennen, dass er überdies ein allgemeingefährliches Subjekt war.
Nachdem sich also Betrüger-Schorschi in Dschibuti auf so unrühmliche Weise an mich gehängt hatte, überlegte ich fieberhaft, wie ich ihm mit gleicher Münze heimzahlen konnte. Um irgendeine Schwachstelle an ihm zu entdecken, verfolgte ich ihn in den nächsten paar Wochen heimlich. Bald schon fiel mir auf, dass er sich jede zweite Woche spät nachts aus seinem Hotelzimmer schlich, den Kragen hochgeschlagen, damit man sein Gesicht nicht erkennen konnte. Alle zwei Meter schaute er sich um, ob ihn auch niemand verfolgte. Natürlich wägte er sich in Sicherheit. Denn ich verstehe mich sehr gut auf's Verstecken, das muß man mir schon lassen.
Ungefähr fünfzehn Fuß-Minuten vom Hotel entfernt bog er in eine einsame Sackgasse ab, an deren Ende ein baufälliges unbewohntes Gebäude stand. Obwohl das Haus bei Nacht einen höchst kriminellen Eindruck machte, getraute ich mich, Betrüger-Schorschi in die Dunkelheit des Hauses zu folgen. Doch es hatte sich gelohnt. Denn was ich hinter der Tür des Raumes, in den sich Betrüger-Schorschi verzogen hatte, mit meinen Ohren hören mußte, war unglaublich: Betrüger-Schorschi und seine Kumpanen - nach den unterschiedlichen Stimmen mußten es ungefähr sechs, sieben verschiedene Personen sein - zettelten einen Putsch an!
Über das Vorgehen der Putschisten wurde ich im Verlauf der nächsten Sitzungen - an denen ich natürlich immer heimlich teilnahm - wie folgt unterrichtet: Abd Al Hamid II., der Sultan des Osmanischen Reichs, sollte in Kürze vertrieben werden! Nach dem Willen von Betrüger-Schorschi und den anderen Konspiranten sollten Nationalisten und Jungtürken das weitere Schicksal des Osmanischen Reichs bestimmen.
Wie ihr euch denken könnt, war ich entsetzt. Nicht nur über die Tragweite des Unterfangens, sondern weil ich um die Zukunft des ehrwürdigen Sultans bangte. Es stand für mich außer Frage, dass ich die Polizei informieren mußte. Doch leider schien man mich auf der Polizeistation nicht sonderlich ernst zu nehmen. Für mich war dies ein weiterer Beweis, für die völlig unpraktikable, überbürokratische Arbeitsweise der Polizei. Reagierte der Polizeibeamte auf den Hinweis, dass der Sturz des Sultans bevorstünde, äußerst gelassen, so horchte er bei dem Wort "Konspiration" endlich auf. Bald hallte das Wort in der ganzen Polizeistation wieder, und ich bekam die Aufmerksamkeit, die mir gebührte.
Nach einem von der Polizei genau ausgeklügelten System wurde Betrüger-Schorschi rund um die Uhr observiert. Bei dem folgenden geheimen Treffen sollten er und seine Bande auf frischer Tat ertappt und überwältigt werden. Ich freute mich sehr auf den bevorstehenden Abend und überlegte mir schon, mit welch bescheidenen Worten ich die Dankesbezeugungen über mich ergehen lassen sollte.
Doch dann geschah etwas völlig Unerwartetes: Zwar fand sich Betrüger-Schorschi zur vorgesehenen Zeit am richtigen Ort ein. Zwar traute auch die Polzei ihren Ohren nicht, als sie hinter der verschlossenen Türe die Begriffe: Konspiration, Geheimnis und Versammlung hörte. Doch als sie schließlich schwer bewaffnet das Zimmer stürmte, saß dort niemand anderes als Betrüger-Schorschi! Mit breitem Grinsen begrüßte er den Inspektor und behauptete in der anschließenden Verhörung, dass er nichts anderes als Selbstgespräche geführt hätte. Und wer bei der ganzen Angelegenheit in große Schwierigkeiten kam, war nicht Betrüger-Schorschi, sondern ich! Ich mußte der Polizei eine riesige Summe erstatten, weil deren Einsatz sehr viel gekostet hatte.
Seit dieser Zeit weiß ich, dass Betrüger-Schorschi ein mit allen Wasser gewaschener Betrüger ist.
Wenn ihr euch diese Land-Karte genauer anseht, könnt ihr aber den eigentlichen Betrug von Betrüger-Schorschi erst richtig erkennen: Das Osmanische Reich gibt es seit hundert Jahren nicht mehr!"

Es herrschte eine betretene Stille.
Zum Glück fand Frau Schmittchen wieder schnell zu sich: "Nette Geschichte. Aber der Zusammenhang. Wo ist der Zusammenhang? Was hat das Osmanische Reich mit meiner literar-osmotischen Behandlung zu tun?"
"Osmatisch, osmanisch", erwiderte Angeber-Luzi aufgebracht, "das ist doch alles dasselbe! Die eigentliche Aussage ist doch die, dass es sich hier um einen Betrug handelt!" Und mit eindringlichem Blick auf Annas Eltern sagte er: "Hören Sie auf mich. Sie ist sicher eine Betrügerin. Etwas anderes kommt für mich gar nicht in Frage."
"Wenn Sie mich so gut kennen, und schon alles über mich wissen, kann ich ja wieder gehen", sagte Frau Schmittchen. "Auf Wiedersehen, also."
Frau Schmittchen holte ein weiteres Brötchen aus dem Korb, schmierte sich Marmelade darauf und lächelte Anna an.
"Danke, Frau Schmittchen", sagte Anna. Sie wußte selbst zuerst nicht, wieso sie dies sagte. Doch als die anderen sie verwundert anschauten, und vor allem ihre Mutter sie mit einem besorgt-kritischen Blick musterte, fiel ihr plötzlich ein, was sie an Frau Schmittchen interessierte: Frau Schmittchen konnte zaubern. Und wenn das auch nicht stimmte - denn bisher hatte sie keinen ihrer Wünsche erfüllen können - so hatte sie doch etwas in dieser Richtung gesagt.
Ein wenig schüchtern, weil man sie in dieser großen Runde bisher wenig beachtet hatte, ein wenig trotzig, weil es doch immerhin um ihre Heilung ging, meinte sie: "Ich möchte, dass Frau Schmittchen bleibt." Leider fügte sie dann noch hinzu: "Frau Schittchen kann nämlich zaubern."
Das hatte sie zwar leise und mit gesenktem Kopf gesagt, doch offensichtlich laut genug, um alle damit aufzuregen.
"Zaubern!" platzte es aus Angeber-Luzi heraus. "Aber Zaubern ist doch Betrügen!"
"Zaubern!" Betrüger-Schorschi gab sich entrüstet. "Frau Schmittchen, ich habe Sie für raffinierter gehalten."
"Zaubern?!" rief Annas Vater: "Hat denn dein Verstand, Anna, unter der ganzen Angelegenheit schon so gelitten?"
"Zaubern?" sagte Annas Mutter ruhig und traurig. "Ist das das einzige, was dir noch hilft, Anna?"
"Zaubern?" fragte auch Frau Schmittchen ihrerseits Anna. "Aber Anna, das habe ich nie gesagt. Ich kann doch nicht zaubern. Vielleicht habe ich nun endlich einmal die Gelegenheit, Ihnen allen zu erklären, was meine literar-osmotische Behandlung eigentlich ist, ohne ständig unterbrochen zu werden? Puh, der Satz war für mich viel zu lang. Viel zu lang. Nicht aufregen, Frau Schmittchen. Es wird besser, Frau Schmittchen." Frau Schmittchen holte aus ihrer Kunststofftasche einen kleinen hölzernen Fächer und fächelte sich damit Luft zu.
Anna, die gegenüber von Frau Schmittchen saß, bemerkte den feinen Sandelholzduft, den der Fächer verströmte.
Als sich Frau Schmittchen beruhigt hatte, erklärte sie den anderen ihre Arbeits-Methode: "Die literar-osmotische Methode arbeitet mit den Wünschen der Patienten. Ein Wunsch, eine Veränderung. Das hört sich leicht an, ist aber schwer. Denn welcher Wunsch paßt zu welcher Veränderung? Welche Veränderung wird eigentlich gewünscht? Ich hatte Fälle, da bewirkt das Wünschen überhaupt nichts. Und bei anderen wirken die Wünsche in die falsche Richtung. Allerdings gibt es durchaus auch Fälle, bei denen bewirken zwar die ersten zehn Wünsche gar nichts. Doch nach dem elften Wunsch wird plötzlich eine Veränderung am Patienten wahrnehmbar. Und zwar in die richtige Richtung. Da muß man dann weiterarbeiten. So lange, bis der richtige Wunsch die richtige Veränderung gefunden hat."
"In Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat," sagte Angeber-Luzi, "mag ihre Theorie vielleicht großen Anklang gefunden haben. Aber heute, heute sage ich Ihnen, dass Sie ohne Wissenschaft überhaupt nichts mehr erreichen."
"Aber natürlich, mein lieber Angeber-Luzi", sagte Frau Schmittchen. Es hörte sich kein bißchen boshaft an. "Natürlich fußt auch meine Methode auf rein wissenschaftlichem Boden. Hören Sie sich doch nur den Klang der Wörter an: Li-te-rar-Os-mo-tisch ... das zergeht einem auf der wissenschaftlichen Zunge. Hier der wissenschaftliche Kontext: Literar-Osmose ist die Bezeichnung für die Aktivierung sowohl der körpereigenen Membranen als auch der körperfremden Zellen durch psychische Stimulation." Frau Schmittchen fächelte sich aufgeregt Luft zu. "Sicher haben Sie schon einmal davon gehört, dass die ganze Welt nur aus Atomen besteht. Die einzelnen Teile des Atoms wiederum sind nur noch energetisch zu erfassen. Man nennt sie heute deshalb KMEE für Kleinste Meßbare Energie-Einheit. Bei der literar-osmotischen Methode geht es nun darum, die KMEES in Schwingungen zu versetzten. Die Probleme werden also bis an ihre energetische Wurzel zurückverfolgt. Und von hier aus kuriert. Die literar-osmotische Methode versucht gezielt, Dinge von einer Energiestufe in die andere zu transformieren. Und hier ist auch schon das Problem erkennbar. Nur ein großes Energiefeld kann Dinge transformieren. Nur ein starker Mensch kann sich selbst helfen. Unser Problem ist also, dass wir zu wenige starke Menschen haben, die gleichzeitig krank sind. - Aber du, Anna, du erscheinst mir stark. Und du bist krank. Du bist ein Glücksfall für unsere Disziplin!"
"Ich weiß nicht", meldete sich da Annas Vater zu Wort: "Unter diesen Umständen erscheint es mir besser, wenn Sie von Anna die Finger lassen."
"Unsere Tochter ist schließlich kein Versuchskaninchen", gab auch Annas Mutter zu bedenken.
"Was mich viel mehr interessieren würde", mischte sich Betrüger-Schorschi ein, "wie funktioniert das eigentlich wirklich, Frau Schmittchen. Zeigen Sie uns doch einmal etwas von ihrer Kunst!"
"Hm. Das ist im Moment schwierig. Weil ich keinen Wunsch habe."
"Das kann jeder sagen", blaffte Angeber-Luzi sie an. "Dann wünschen Sie sich eben etwas, was Sie sich gar nicht wünschen. Einen Elefanten zum Beispiel."
"Aber Sie haben ja gar nichts verstanden", sagte Frau Schmittchen unwillig. "Wünschen kann man sich nur etwas, wenn man es sich wirklich wünscht. Außerdem wünsche ich mir nur äußerst selten etwas. Bei den literar-osmotischen Wünschen geht es schließlich nicht um mich."
"Wenn Sie sich jetzt nicht etwas wünschen und uns einen Eindruck von ihrer Kunst zeigen, werden Sie nicht in den Genuß kommen, Anna zu behandeln," versuchte Angeber-Luzi ihr zu drohen.
Frau Schmittchen sah ihn belustigt an.
"Also gut," sagte sie nach einigem Zögern. "Es verstößt zwar gegen meine Prinzipien. Aber so ein bißchen Eigen-Wünschen kann ja ausnahmsweise wohl nicht schaden? Deshalb wünsche ich mir jetzt, dass Sie endlich von mir überzeugt sind. Ich wünsche mir, dass Sie meine Arbeit respektieren. Und ich wünsche mir, dass die Familie Pop mich nicht mehr missen möchte."
Nachem Frau Schmittchen dies gesagt hatte, riß sie die Augen weit auf und schaute jeden von ihnen konzentriert an.
Doch außer, dass Frau Schmittchen mit der Zeit Schweißperlen auf die Stirn traten, war im Raum sonst keine Veränderung feststellbar.
"Hä, hä, hä," machte Angeber-Luzi betont langsam.
Er holte sein Mini-Telefon aus der Hose und tippte eine Nummer ein. "Ja, hallo? Ich bin einer Frau Schmittchen auf der Spur ... ja ... ja ... Literar-osmotische Vereinigung! ... Nein? ... Was? Ach so! Tut mir leid ... ist ja gut ... das nächste Mal besser recherchieren, ja. Wird gemacht. Gruß bestellen? Muß das sein? Von hohem Rang? In Ordnung ... ja, ja wiederhören."
Nach dem Telefonat stand Angeber-Luzi auf und ging unter mehreren Kratzfüßen zur Tür hinaus.
Betrüger-Schorschi schaute Angeber-Luzi verwundert hinterher. Dann entschuldigte er sich bei den anderen und ging ebenfalls aus dem Zimmer.
Kurz darauf konnte man auf dem Flur im oberen Stock eine heftige Auseinandersetzung zwischen Betrüger-Schorschi und Angeber-Luzi hören. Anna und Herr und Frau Pop liefen schnell nach draußen, um nach dem Rechten zu sehen:
"Sie Rüpel", schrie Angeber-Luzi und puffte Betrüger-Schorschi in den Bauch.
"Sie Lügner", schrie Betrüger-Schorschi und boxte Angeber-Luzi auf den Arm.
"Wenn hier jemand lügt, dann sind das doch wohl Sie!"
"Aber nun hören Sie doch auf", versuchte Frau Pop den Streit zu schlichten.
"Kommen Sie doch zur Vernunft", drang Herr Pop in die beiden Streithähne.
Angeber-Luzi drehte sich zu ihm um, als sei er aus einem bösen Traum erwacht. Er wischte sich die Hände an seinen Hosen ab und sagte dann langsam: "Vernunft? Sie haben ganz recht. Ich komme jetzt zur Vernunft. Denn ich verlasse augenblicklich dieses Haus. Dies ist ein Irrenhaus, damit Sie es nur wissen, Herr Pop." Dann drehte sich Angeber-Luzi um, und verschwand in seinem Zimmer.
"Aber das geht doch nicht! Angeber-Luzi! Ich muss zuerst das Haus verlassen. Du mußt auf mich warten!" Betrüger Schorschi verschwand ebenfalls in seinem Zimmer.
Annas Mutter rannte hinter den beiden her: "Und was wird dann aus meiner Tochter? Sie können uns doch nicht im Stich lassen? Bisher hat doch alles so gut geklappt. Denken Sie doch an die rosigen Wangen von Anna, Angeber-Luzi. Denken Sie doch an die ganzen Brisch-Braschs, Filli-Pillis und Goromolos, die Sie angeblich nur in unseren Gewässern angeln können, Betrüger-Schorschi!"
Doch aus dem Zimmer von Angeber-Luzi und Betrüger-Schorschi kam nur ein verärgertes "Hmpf", "Pff", oder "pah".
Als bereits alles verloren schien, weil Betrüger-Schorschi mit wehendem Mantel und gepacktem Koffer die Treppe herunterrannte, dicht gefolgt von dem ebenfalls reisefertigen Angeber-Luzi, der mit seiner einen freien Hand die ganze Zeit versuchte, Betrüger-Schorschi an den Mantelschößen zu fassen und zu sich zu ziehen, tauchte plötzlich Frau Schmittchen aus der Eßzimmertür auf.
"Auf Wiedersehen", sagte sie und winkte den beiden mit ihrer Tasche zum Abschied.
Angeber-Luzi blieb wie angewurzelt vor ihr stehen. "Welche Ehre, Frau Schmittchen. Wie geht's, Frau Schmittchen. Irgendwelche Wünsche, Frau Schmittchen?"
"Wollen Sie wirklich die Familie Pop alleine lassen? Wollen Sie sich wirklich Ihrer Verantwortung entziehen? Sie sind doch ein erstklassiger Mediziner, oder nicht?!" Frau Schmittchen sprach mit schmeichelnder Stimme.
Die Wirkung, die Frau Schmittchen auf Angeber-Luzi hatte, war unglaublich.
Angeber-Luzi verbeugte sich vor Frau Schmittchen und sagte: "Sie haben sich doch sicher nicht eingebildet, dass ich Ihnen so schnell das Feld überlasse? Ich hatte nur eine klitzekleine Meinungsverschiedenheit mit Betrüger-Schorschi."
Dann nahm er seine Reisetasche und ging wieder die Treppe hinauf, so, als ob nichts geschehen wäre.
Betrüger-Schorschi sagte: "Das erinnert mich irgendwie an die Geschichte von irgendwann, als Angeber-Luzi unbedingt vor mir irgendwo sein wollte und dann doch wieder nur da gelandet ist, von wo ich eigentlich nie wegwollte."
Er lächelte die Umstehenden unsicher an und ging dann mit seinem Gepäck zurück in sein Zimmer.
"Vielen Dank", sagte Herr Pop zu Frau Schmittchen.
"Ja, ich möchte Sie wirklich nicht mehr hier missen", sagte auch Frau Pop. Dabei fuhr sie sich mit der Hand über die Stirn, als müßte sie sich an etwas erinnern können, wisse aber nicht mehr, an was.
Als Herr und Frau Pop ebenfalls auf ihr Zimmer gegangen waren, um ihren Nach-dem-Frühstück-Schlaf zu machen, und Anna deshalb alleine mit Frau Schmittchen auf dem Flur stand, sagte Anna: "Sie sind doch eine Zauberin."
Frau Schmittchen schaute sie an und lächelte. "Wenn du willst, können wir schon heute mit dem Wünschen beginnen. Habt ihr denn einen Raum hier, in dem wir üben können?"
"Ich muß jetzt eigentlich ins Bett", sagte Anna.
"Willst du das denn?"
Anna schüttelte den Kopf. "Wir könnten in meinem Zimmer üben."
Frau Schmittchen nickte, nahm ihre Plastiktasche und folgte Anna nach oben. Als sie in Annas Zimmer trat, sah sie wohlwollend auf Annas roten Plüschsessel. Mit einem erleichterten Seufzer ließ sie sich darauf plumpsen.
"Heute helfe ich dir noch mit dem Wünschen. Morgen auch. Übermorgen kannst du es vielleicht schon alleine."
Frau Schmittchen schüttete den Inhalt ihrer Plastiktüte auf Annas Schreibtisch aus: "Such dir etwas davon aus."
Anna schaute sich die Gegenstände an: Da waren ein Hüpfball, ein Holzindianer, eine Gießkanne, ein Porzellanfrosch, zerknüllte Bonbonpapiere, Knöpfe, Ringe, Maßbänder, eine Klebstoffrolle, Haargummis, Paprikagewürz, ein Buch über Pilze, ein kleines Metallauto, Lederstrümpfe, Kaugummis ... Anna hatte nicht die Muße, sich alle Dinge anzusehen. Denn ihr Blick wurde sehr schnell von einem lilanen Luftballonbären gefangengenommen.
"In den würde ich mich gerne hineinsetzen und in die Luft schweben", flüsterte Anna zu sich selbst. "Ganz hoch, bis mich niemand mehr sehen kann."
"Paß auf, was du sagst!" sagte Frau Schmittchen, die Annas Wunsch offenbar gehört hatte. "Oder willst Du wirklich in schwindelnder Höhe in einem Plastikbären sitzen, der jeden Moment platzen kann?"
Doch Anna hörte Frau Schmittchen gar nicht richtig zu. Sehnsüchtig schaute sie aus dem Fenster. Der Wind fuhr durch die Bäume und zauste ihre Äste bis sie schwankten. Am Himmel zogen dicke Kumuluswolken vorbei, und ein Bussard kreiste geduldig am Himmel. Vielleicht hatte er in Pops Garten eine Maus entdeckt.
"Doch," wiederholte Anna. "Ich möchte so gerne alles von oben sehen wie der Bussard. Wenn der lila Bär mitkommt, dann bin ich nicht allein." Anna nahm den Luftballonbären in die Hand und drückte ihn gegen ihre Wange. Dann schloß sie die Augen.
Frau Schmittchen sah sie nachdenklich an. "Kindchen, Kindchen. Ich weiß nicht, ob das für den Anfang der richtige Wunsch ist. Aber wir werden sehen."
Sie nahm Anna vorsichtig den Bären aus der Hand und pustete ihn auf. Sie blies und blies. So lange, bis der lila Bär ungefähr drei Mal so groß war wie Anna selbst. Frau Schmittchen nickte zufrieden. Dann stülpte sie den Luftballon über Annas Kopf. Das ging etwas schwer. Doch als das geschafft war, ging der Rest wie von allein. Bald saß die ganze Anna in dem Luftballon.
Sie schmiegte sich an die lila-durchsichtige Gummihaut und schien es selbstverständlich zu finden, dass Frau Schmittchen nur noch das große Flügelfenster öffnen mußte, bevor ihre Reise beginnen konnte. Der Bär paßte gerade noch so durch das Fenster und schob sich ins Freie. Gemächlich schwebte er über die Bäume, das Haus, die Landstraße und ein kleines Wäldchen, das jenseits des Flusses war.
Anna war froh. Sie genoß das Gefühl, in einer Luftblase zu sitzen und die Welt von oben in ein lilanes Licht getaucht zu sehen. Je höher sie in ihrem Ballon stieg, je kleiner die Landschaft unter ihr wurde, umso leichter wurde ihr ums Herz, umso unwirklicher wurden ihre Probleme. Und umso unwirklicher wurde sie selbst.

Anfangs waren Anna Pops Wunschabenteuer ein Geheimnis zwischen Frau Schmittchen und ihr selbst. Natürlich wußten Annas Eltern, dass Anna mit Frau Schmittchen irgendwie das Wünschen übte. Aber eine konkrete Vorstellung davon hatte sie nicht.
Frau Schmittchen war froh darüber, denn sie fand, dass Annas Eltern nicht unbedingt wissen mußten, dass ihre Tochter in einem Luftballon über der Stadt schwebte oder sich in ihrem Zimmer in einen Regenwurm verwandelte.
Doch eines Tages ließ sich das Wünschen und seine Folgen nicht mehr verheimlichen. Das war an dem Tag, als das Erbsenschwein sich bei Annas Eltern vorstellte. Eines Tages stand es plötzlich in Pops Garten und bat Pops um eine Unterkunft. Um seine außergewöhnlichen Fähigkeiten zu demonstrieren, buddelte das Erbsenschwein im Garten mehrere ein Meter tiefe, fußballbreite Löcher in den Boden. Annas Eltern und Angeber-Luzi, der immer an neuen Behandlungsmethoden interessiert war, standen daneben und schauten ihm dabei zu. Gerade als sie sich überlegten, was ihnen das Erbsenschwein mit den Löchern eigentlich mitteilen wollte, fing plötzlich der Boden unter ihnen an zu vibrieren.
Das Erbsenschwein kletterte irritiert aus seinem fünfzehnten Loch, und sah mit den anderen, dass das Haus schwankte. Langsam kippte es hin- und her, so, als ob es schaukeln würde.
Ein langgezogener Schrei flog aus dem Haus auf sie zu und Annas Eltern ganz mächtig in die Glieder.
Was war mit Anna passiert?
Annas Eltern rannten auf das Haus zu. Doch die Treppen zur Haustür wackelten so, dass es beiden nicht gelang, ins Haus hineinzukommen.
"Anna, Anna!" schrien sie verzweifelt. "Was ist denn mit dir los?"
Anna öffnete das Fenster und rief zu ihren Eltern hinunter: "Es ist alles in Ordnung. Das Haus lacht."
"Ja sicher", rief Annas Mutter, "aber geht es dir auch gut?"
"Ich habe nur einen Witz gerissen, und er kam gut an. Was ist mit euch? Habt ihr so geschrieen?"
"Nein. Wir dachten, das bist du!"
Verwundert schauten sich Annas Eltern an. Doch bevor sie sich weitere Gedanken machen konnten, trabte das Erbsenschwein auf sie zu und grunzte: "Ich muß schon sagen. Eine solch phänomenale Wirkung haben meine Löcher bisher noch nie gehabt."
Herr Pop sah es dankbar an.
Es wäre zu schön, wenn das schwankende Haus tatsächlich nur etwas mit Erbsenschweins Löchern zu tun gehabt hätte.
Ein Erbsenschwein im Haus war vielleicht doch eine brauchbare Sache. Es war nun auch denkbar, was das Erbsenschwein mit dem Buddeln hatte mitteilen wollen: Ein Erbsenschwein im Haus erklärte die unnatürlichsten Dinge, die passierten, zu den natürlichsten.
Nach diesem Ereignis willigten Annas Eltern deshalb gerne ein, in ihrem Haus oder Garten auch noch ein Erbsenschwein zu beherbergen.
Doch obwohl das Erbsenschwein seither offiziell für alle möglichen Wunschfolgen von Anna und Frau Schmittchen verantwortlich gemacht wurde, betrachteten Annas Eltern Frau Schmittchen nun dennoch etwas argwöhnisch.
Wenn sich Frau Schmittchen in Annas Zimmer zurückzog, sagten sie ihr zum Beispiel: "Das Erbsenschwein ist heute nicht zu Hause", oder "wir glauben nicht, dass das Erbsenschwein heute Löcher bohrt".
Und wenn Anna ihren Eltern etwas von einem großen Wunsch erzählte, bedeuteten ihre Eltern, dass Anna dem Erbsenschwein lieber beim Karottenziehen behilflich sein sollte als sich Wünsche zu überlegen.
Das Erbsenschwein war deshalb bald eine wichtige Persönlichkeit im Hause Pop. Wie sich schnell herausstellte, war es außerdem eine sehr angenehme Person. Das Erbsenschwein war weder überheblich, noch listig, es betrog und stahl nicht, und es stank auch nicht (auch wenn es zugegebener Maßen ein wenig danach aussah).
In welcher Sache es allerdings ins Hause Pop gekommen war, blieb ungewiß. Fragte man das Erbsenschwein, ob es Annas Krankheit heilen wollte, legte es seinen Kopf schief und erwiderte verschmitzt: "Karotten sind auf jeden Fall eine leckere Angelegenheit. Das Kind kann nicht genug Karotten essen."
Dann lief es auf seinen kurzen Hacken hinter das Haus, wo es bereits am ersten Tag einen Karottengarten angelegt hatte. Mit seinem Rüssel bohrte es Löcher in die Erde und grunzte zufrieden.
Die erste geerntete Karotte brachte es feierlich Anna auf einem geschmückten Teller.
Anna schmeckte die Karotte tatsächlich so gut, dass sie fortan sehr oft zum Erbsenschwein in den Garten ging, um dort "Erbsenschweinkarottensuppe zu kochen".
Die einzige, die mit dem Erbsenschwein nicht so gut zurecht kam, war Frau Schmittchen. Immer, wenn Annas Eltern von den Vorzügen des Erbsenschweins sprachen, verdrehte Frau Schmittchen die Augen und sagte: "Ach. Das Schweinchen ist eine einfache Seele."
Was sie damit meinte, war Anna nicht klar.
Klar war ihr nur, dass Frau Schmittchen sich immer in Annas Kinderzimmer einschloß, nachdem sie den Satz von der "einfachen Seele" gesagt hatte. Dort saß sie dann, bis sie von Betrüger-Schorschi zur nächsten Mahlzeit gerufen wurde. Und Anna mußte sich so lange einen anderen Ort zum Spielen suchen.
Da Annas Eltern das Erbsenschwein mit der Zeit immer liebenswerter erschien und immer häufiger gelobt wurde, mußte Frau Schmittchen auch immer öfter den Satz von der einfachen Seele sagen. Und Anna konnte deshalb immer weniger in ihr Zimmer. Tagelang verbarrikadierte sich Frau Schmittchen darin und ließ Anna nur noch nachts hinein.
Anna mußte dann in ihrem Bett bleiben, während Frau Schmittchen ihren roten Sessel in Beschlag genommen hatte. Als Anna sich anfangs beschwert hatte, weil sie den roten Sessel wegen ihrer Elefantenhaut selbst brauchen würde, fuhr Frau Schmittchen sie an: "Papperlapapp. Ich bleibe im roten Sessel sitzen. Du hast nur die Elefantenhaut. Aber mir platzt jede Nacht der Kopf. Die Ohren vom Sessel geben mir Halt."
Anna hatte noch nie gesehen, wie Frau Schmittchen der Kopf platzte, obwohl sie doch jede Nacht wach war.
Frau Schmittchen dagegen behauptete, dass sie Annas Elefantenhaut noch nie gesehen hätte. Das wunderte Anna allerdings auch nicht, da Frau Schmittchen ja jede Nacht in ihrem Sessel schlief.
Tatsache war auf jeden Fall, dass Anna nur noch ungern in ihrem Zimmer war. Und Tatsache war auch, dass Frau Schmittchen sich inzwischen lieber selbst etwas wünschte als Anna beim Wünschen zu helfen.
So hatte Frau Schmittchen nach ihrer anfänglichen behaupteten Wunschhemmung ein ausgesprochenes Wunschfieber. Ständig mußte sie sich etwas wünschen. Und die Hausbewohner durften ihre unsinnigen Wünsche ausbaden.
Frau Schmittchen dachte sich zum Beispiel: "Das Erbsenschwein ist eine einfache Seele. Das macht mich traurig. Das macht mich so traurig, dass ich bestimmt gleich weinen muß." Dann weinte sie ein bißchen und schneuzte in ihr kleines weißes Taschentuch mit den zarten Rosen darauf. Doch weil das nicht so richtig klappte, wünschte sie sich, dass sie richtig schön weinen könnte: "Ich wünsche mir, dass ich weine, bis ich in einem See von Tränen stehe. In der Mitte des Sees soll dann ein Haus stehen. Und in dem Haus soll ein Zauberer wohnen. Der Zauberer ruft mich und rettet mich, bevor ich in meinem Tränenmeer ertrinke."
Und während Frau Schmittchen von dem Zauberer gerettet und von ihm sogar noch auf ein Tässchen Tee eingeladen wurde, tropfte das Wasser des Tränensees durch den Fußboden von Annas Zimmer mitten in die Kochtöpfe von Betrüger-Schorschi.
Zuerst hatte Betrüger-Schorschi damals gedacht, dass er sich mit dem Tropfen nur getäuscht hatte. Doch dann regnete es unaufhörlich und immer schneller durch die Decke. Bis ein Loch in der Decke war und sich ein Schwall salzigen Wassers auf den Herd ergoss.
Das Essen fiel an diesem Tag aus, und Betrüger-Schorschi sprach eine Woche kein Wort mehr mit Frau Schmittchen.
Oder Frau Schmittchen wünschte sich, dass sie eine berühmte Künstlerin sei, die sagenhafte Video-Installationen ihrem entzückten Publikum vorstellte. Dann mußten sich am Abend alle Hausbewohner gezwungener Maßen in Schale werfen und Frau Schmittchens Pappkartons bewundern, die sie in Annas Zimmer aufeinandergestapelt hatte.
Angeber-Luzi gefiel es zwar, dass er so wenigstens hin- und wieder einen seiner neuen Anzüge vorführen konnte. Doch er fand es abscheulich, dass er Frau Schmittchen mit Handkuss begrüßen und ihr unglaubliche Komplimente machen mußte. Denn das wünschte sich Frau Schmittchen nun einmal.
Am meisten fürchteten sich aber die Hausbewohner vor Frau Schmittchens Gegenteil-Wünschen. Die Gegenteil-Wünsche waren Frau Schmittchens liebste Übung.
"Sie halten den Kopf jung und die Seele frisch!" sagte Frau Schmittchen immer, wenn sich die anderen über diese Wünsche beklagten. Frau Schmittchen setzte sich dafür in ihren roten Sessel und fühlte in sich hinein.
"Ah", sagte sie dann zum Beispiel: "Mir geht es heute augezeichnet. Ein ernster Grund, das Gegenteil zu erinnern."
Dann schloß sie die Augen und wünschte sich, dass ihre Brust ganz eng werden und sich ihr Fleisch zusammenziehen solle. Seltsamerweise zogen sich daraufhin mit Frau Schmittchens Lungenflügel die Hauswände zusammen und wurden auch die Treppen ganz eng. Das konnte für die Hausbewohner äußerst unangenehm sein. Egal, wie dringend sie vom ersten in den zweiten Stock gelangen mußten, es war ihnen nicht möglich, weil ihnen eine Standuhr oder ein Schrank plötzlich den Weg versperrte.
Während sich fast alle durch Frau Schmittchens Wünsche gestört fühlten, gefielen Anna die Veränderungen im allgemeinen ganz gut. Sie brachten Abwechslung in ihr Leben. Anna mußte nun zwar ohnehin tagsüber nicht mehr ins Bett liegen, weil Frau Schmittchen ihr Zimmer in Beschlag genommen hatte, doch in die Schule durfte Anna trotzdem nicht gehen. Angeber-Luzi bestand darauf, dass Anna dafür zu schwach sei. Außerdem mußte sie vormittags Angeber-Luzi immer genauestens Bericht erstatten, wie sie die Nacht verbracht hatte. Er schrieb dann alles genau auf und übertrug die kurvenreichen Endergebnisse in ein kleines graues Büchlein.
Einmal im Monat erstattete er Annas Eltern Bericht, wobei er wichtig mit dem Kopf nickte und jedes Mal seine Ausführungen mit dem Satz beschloß: "... und deshalb bin ich der Meinung, dass ich das Kind mindestens noch einen weiteren Monat beobachten muß".
Mittags sollte Anna dann eigentlich mit Frau Schmittchen das Wünschen üben. Doch da Frau Schmittchen sich in letzter Zeit immer mehr um sich selbst kümmerte, mußte sich Anna selbst überlegen, wie sie die vielen Tage verbringen sollte.
Wenn Betrüger-Schorschi einen guten Tag hatte, nahm er Anna zum Angeln mit. Doch da Anna meistens nicht sehr lange still sitzen konnte, vertrieb sie die Fische. Das behauptete zumindest Betrüger-Schorschi. Und so brauchte es längere Zeit, bis er wieder Lust hatte, Anna mitzunehmen.
Annas Tage waren deshalb ziemlich eintönig.
Frau Schmittchens Wunscheinfälle hatten dafür meistens etwas Originelles. Da gab es oft etwas zu entdecken. Einmal hatte Frau Schmittchen beispielsweise das Unten-Oben-Gegenteil gewünscht. Und plötzlich klebte Anna wie eine Fliege an der Decke! Sie lief mit dem Kopf nach unten als sei es das Natürlichste auf der Welt. Es war sehr schön aufgeräumt dort oben, beinahe ein wenig langweilig. Sie inspizierte den luftigen Raum des Wohnzimmers, aber außer einem Spinnennetz in einer Ecke, entdeckte sie gar nichts. Fliege sein war sicher nicht besonders aufregend, dachte Anna. Auch wenn einem hin- und wieder eine Spinne über den Weg lief. Anna war deshalb froh, als Frau Schmittchen mit ihrem Wunsch fertig war.
Sehr aufregend, beinahe zu gruselig war dagegen Frau Schmittchens Ich-Erkenne-Dich-Nicht-Wunsch gewesen.
Es war abends und Annas Eltern waren gerade vom Arbeiten nach Hause gekommen. Betrüger-Schorschi trug das Essen auf und rief in dem Moment alle herbei, als der Wunsch passierte.
Anna sagte ihre Eltern noch "Hallo", als es ihr mit einem Mal ganz mulmig wurde. Ihr Mund wurde trocken und der Boden unter ihr schien zu schwanken.
Die anderen schienen zu bemerken, dass sie sich nicht wohl fühlte, denn sie nahmen Anna unter die Arme und setzten sie auf einen Stuhl.
"Was ist denn mit dir los, Fräulein?", fragte ihre Mutter, die ihr aber wie eine fremde Frau erschien. "Wo sind denn deine Eltern? Hallo, Sie da! Kennt denn einer von Ihnen dieses kleine Mädchen hier?"
Ein schmaler, einigermaßen großer Mann mit welligem, braunem Haar meldete sich zu Wort: "Nein, ich habe sie hier noch nie gesehen. Sie scheint mir etwas verwirrt zu sein. Vielleicht sollten wir die Polizei rufen?"
"Polizei?" rief ein kleinerer Mann mit hellrotem Haarschweif. Er hielt eine große Bratpfanne in der Hand, in der fettiges Gemüse schwamm. "Polizei kommt mir nicht ins Haus!" Mit wichtiger Miene setzte er seine Pfanne ab und sagte mit betont vornehmer Stimme: "Bitte nehmen Sie Platz meine Damen und Herren."
Ein anderer Herr, der etwas linkisch an den Tisch getreten war und der sich nun mit skeptischem Blick über das Gemüse beugte, fuhr mit einer Hand in seine Hosentasche und holte ein kleines Telefon hervor. Mit affektierter Geste drückte er ein paar Tasten: "Ja?! Hallo! ... Ist da die ..."
"Sind sie verrückt!" fuhr da der Mann mit der Pfanne dazwischen. "Ich betonte doch ausdrücklich, dass ich keine ... "
Doch der Mann mit dem Telefon drehte sich einfach ab und telefonierte weiter: "... ja, also ich hätte gerne die Telefonnummer der Polizei! Ja, ja, selbstverständlich die Polizei hier am Ort!"
Der Telefonmann winkte den Mann mit dem braunen Haar und bat ihn um Stift und Papier. "1 .. ja! 1 ... ja! 0 ...! Ich wiederhole: 110! ... In Ordnung, vielen Dank!" Triumphierend blickte der Mann mit dem Telefon in die Runde.
Doch bevor er diese Zahlenkombination in sein Telefon tippen konnte, rief Anna: "Aber ich wohne doch hier! Ich weiß zwar nicht, wer Sie alle sind, aber ich wohne auf jeden Fall hier!"
Die fremde Frau sah den Mann mit dem braunen Haar, und der Mann mit dem braunen Haar sah den Mann mit der Pfanne, und der Mann mit der Pfanne sah sein Gemüse an.
Nur den Mann mit dem Telefon sah niemand an, weshalb er auch rief: "Aber das ist ja völliger Quatsch! Ich wohne hier. Und ich weiß, dass ich das Mädchen hier noch nie gesehen habe!"
"Was!" rief da die fremde Frau. "Welch eine Unverschämtheit! Ich wohne hier mit meinem Mann und meiner Tochter. Vom Alter her könnte das Mädchen zwar meine Tochter sein. Doch ist sie es auf keinen Fall. Denn meine Tochter ist krank und vom wenigen Schlafen ein wenig blass. Aber dieses Mädchen hat rosige Wangen."
"Das könnte Ihnen so passen," platzte jetzt auch der Mann mit dem braunen Haar dazwischen: "Sie wollen sich wohl meine Tochter wegschnappen! Denn es ist gewiß nicht Ihre, sondern meine Tochter, die krank ist und mit der ich hier im Hause wohne. Ich weiß zwar nicht, wo meine Frau gerade ist. Aber Sie sind es sicher nicht. Meine Frau ist sehr pragmatisch und außerdem diskret. Sie käme nie und nimmer auf den Einfall, lautstark zu behaupten, dass sie hier wohnen würde, wenn es nicht stimmte."
"Hä, hä, hä," meckerte der Mann mit der Pfanne. "Wenn ich recht sehe, streiten Sie sich gerade, dass sie beide das Vorrecht genießen, zu Hause eine kranke Tochter pflegen zu müssen. Nehmen Sie sich doch einfach dieses gesunden Mädchens an und erfreuen Sie sich an ihr."
Der Mann mit den braunen Haaren und die Frau schauten den Mann mit der Pfanne entsetzt an. Die Frau sagte mit gepreßter Stimme: "Was sind Sie doch für ein Unmensch! Wahrscheinlich ist Ihnen Ihr Gemüse näher als es Ihnen ein Mensch je gewesen ist. Meine Tochter ist unersetztlich. Denn keine hat eine solch phantastische Elefantenhaut wie sie! Eigentlich wollte ich es immer für mich behalten. Doch heute ist mir so seltsam zu Mute, dass es darauf auch nicht mehr ankommt: Manchmal, wenn ich mich alleine fühle und nachts kalt in meinem Bett liege, schleiche ich mich zu meiner halbschlafenden Tochter. Sie sitzt nachts in einem großen roten Sessel in ihrem Zimmer - seit einiger Zeit allerdings meistens in ihrem Bett - und trägt die Elefantenhaut bis zum nächsten Morgen. Die Augen hält sie geschlossen und das bleiche Gesichten schimmert wie ein kleiner Mond. Ich trete zu ihr, streichle ihr Gesicht, fahre mit dem Finger über ihre Augenlider, küsse ihr Haar. Dann drücke ich mich an ihre Elefantenhaut und bette meine Hand in eine ihrer Elefantenhautfalten. Erstaunlicherweise sind die Falten, ja ist überhaupt die ganze Haut unheimlich weich und warm. Doch leider ist sie auch schwer. Sie ist sogar so erdrückend schwer, dass meine Tochter darunter leidet. Deshalb möchte ich sie auch nicht oft besuchen."
Die anderen schwiegen betreten.
Nach einer Weile sagte der Mann mit dem brauen Haar. "Ich wußte nicht, dass es mehere Menschen gibt mit diesem Leiden. Denn meine Tochter hat genau dieselbe Krankheit. Vielleicht sollten wir uns einmal treffen?"
Die Frau nickte froh. Sie holten sich einen Zettel und tauschten sich ihre Telefonnummern aus.
Dass auf beiden Zetteln die gleichen Nummern standen, bemerkten sie nicht. Denn inzwischen war Frau Schmittchen in den Raum getreten und beherrschte die Szenerie. Mit großem Federhut und dunklem Kleid stolzierte sie um den Tisch. Mit spöttischem Blick schaute sie auf die kleine Versammlung. Dann trat sie auf den Telefonmann zu, piekste ihm mit spitzem Finger in den Bauch und sagte: "Was seid ihr doch alle willenlos. Mein Wunsch ist euch immer noch Befehl. Dabei kennen wir uns doch schon lange genug. Nicht wahr, Angeber-Luzi? Was hast du da nur für ein schönes Telefon!"
Angeber-Luzi schaute zuerst sie, dann sein Telefon an. Irritiert steckte er es in die Tasche. Plötzlich wußte er wieder, dass er nur Gast im Hause Pop war. Dass das Mädchen, das er an die Polizei ausliefern hatte wollen, seine Patientin war und der unangenehme Herr mit der Bratpfanne Betrüger-Schorschi.
Frau Schmittchen ging zu Betrüger-Schorschi und machte "tss, tss, tss. Immer nur die eigenen Dinge im Kopf." Betrüger-Schorschi erkannte nun ebenfalls wieder seine Mitbewohner. Er ließ sich erschöpft auf einen Stuhl fallen und sagte: "Ich will Ihre literar-osmotischen Wünsche nicht mehr, Frau Schmittchen. Ich will einfach Ihre literar-osmotischen Wünsche nicht mehr."
Doch Frau Schmittchen hörte gar nicht hin, was Betrüger-Schorschi forderte. Sie war inzwischen auf Herrn und Frau Pop zugetreten und sagte: "Nicht einmal Ihre eigene Tochter haben Sie erkannt. Ich muß schon sagen. Wo das nur enden soll."
Herr und Frau Pop blickten sich erst verwirrt an und suchten dann im Gesicht des anderen die Wirkung von dem zu entdecken, was hier vorgefallen war.
Nur mit Anna war Frau Schmittchen ein bißchen zufrieden: "Man merkt, dass du meine Schülerin bist. Es hat zwar etwas zu lange gedauert, bis du aufgewacht bist. Aber immerhin hast du dich nicht an die Polizei ausliefern lassen."
Trotzdem blickte Anna Frau Schmittchen aufgelöst an. War hier nicht zu viel passiert? Hatte Frau Schmittchen nicht an Dinge gerührt, die besser in Ruhe gelassen worden wären? Hatte Frau Schmittchen das Recht, ganz intime Geheimnisse an die Öffentlichkeit zu zerren?
Anna bemerkte, dass ihre Mutter sie scheu anlächelte. Da wurde sie mutig. Sie ging zu ihrer Mutter und nahm ihre Hand. Sie war warm und feucht. Anna war noch nie aufgefallen, dass die Hand ihrer Mutter außerdem so klein war.

Nach diesem aufwühlenden Erlebnis wurde es etwas stiller um Frau Schmittchen. Vielleicht wollte sie die Hausbewohner eine Weile mit ihren makabren Späßen verschonen. Vielleicht hatte sie dieser letzte Wunsch aber auch so viel Kraft gekostet, dass sie einfach nur ein bißchen Ruhe brauchte.
Die anderen Hausbewohner genossen jedenfalls Frau Schmittchens Wunsch-Pause und nahmen in der ersten Zeit auch mehr Rücksicht aufeinander. Vor allem der Familie Pop wurde mehr Respekt entgegengebracht, und die Grenzen zwischen Gastgeber und Gast waren nicht mehr ganz so verwischt wie zuvor.
Nach einiger Zeit fiel Anna allerdings auf, dass Angeber-Luzi häufig nervös im Zimmer auf- und ablief, wenn er sich unbeobachtet glaubte.
Und Betrüger-Schorschi gab sich nicht mehr soviel Mühe mit dem Zubereiten der Speisen. Er blickte immer öfter geistesabwesend aus dem Küchenfenster. Und nach dem Mittagsessen hörte er seit neuem immer eine Radiosendung an mit dem seltsamen Namen "Flupppuppe".
Als Anna ihn einmal darauf ansprach, was der Titel zu bedeuten habe, antwortete er ihr nur: "Das ist die Puppe mit dem fremden Herzen im Leib."
Anna versuchte zwar hin und wieder die Sendung mitanzuhören, doch verstand sie deren Sinn einfach nicht. Es war, als ob der Radio-Sprecher in einer ihr fremden Sprache sprechen würde. Sie hatte bisher nur soviel mitbekommen, dass in einem Haus viele komische Personen wohnten, die alle nicht zusammenpassten. Mittelpunkt war die Flupppuppe, die immer sonntags vorbeikam und ihre langen Plastikbeine durch das Fenster streckte. Dann passierten Geschichten, die so verrückt waren, dass sie Annas Meinung nach niemand verstehen konnte. Nicht einmal Betrüger-Schorschi.
Einmal hatte sie all das mitgeschrieben, was aus dem Radio tönte. Doch auch dann machte es nicht mehr Sinn:

Bernie (muß wohl ein Hund sein): Wau, wau: Kommt alle her. Die Flupppuppe ist wieder im Anflug.
Quakie: Mensch Bernie! Siehst du nicht die langen Beine? Wie ein Propeller.
Flupppuppe: Macht Platz. Oder wollt ihr, dass meine Beine nicht durch das Fenster passen? Dann gibt es heute keine Suppe.
(An dieser Stelle lacht Betrüger-Schorschi)
Bernie, Quakie, Schlapps und Frox: Suppe! Suppe! Suppe!
Flupppuppe: Suppe von der Puppe. Ist ja schon gut. Ihr bekommt ja alle Suppe. Laßt es euch schmecken. Ja, das tut gut. Wer krabbelt da? (Flupppuppe brüllt): Aua, Hui, Aua, Hui.
Frox: Laß das Bernie!
Bernie: Wau, wau!
Quakie: Wo ist denn heute die Klappe?
Frox: Klappe halten. Ha, Ha, Ha.
Quakie: Bernie, du sollst sagen, wo heute die Klappe ist.
Schlapps: Ich weiß, wo die Klappe ist. Bernie hat sie gestohlen.
(Wildes Geschrei, Durcheinander.)
Flupppuppe: Die Klappe ist in meinem linken Bein. Wollt ihr heute wieder mal reinschauen?
Alle: Schauen, schauen, schauen.
Fluppspuppe: Bei der Puppe schauen, das tut erbauen. Hier Klappe auf.
(Sandmännchenmusik.)
Bernie: Flupppuppe, nimmst du uns mit, wenn du nachher wegfliegst? In die Ferne. In das Land der Zitronen und Wildschweine?
Flupppuppe (lacht): Meine Beine sind zu dünn. Wenn ihr euch darauf setzt, brechen sie durch und dann landen wir alle im Ozean.
Quakie: Ha. Ha. Dann wird aus der Puppe Suppe!
Bernie: Halts Maul.
Quakie: Selber.
Schlappi: Dummkopf.
Frox: Jetzt habt ihr unsere Flupppuppe vertrieben! Seht. Dahinten sieht man ihre Beine nur noch so klein wie zwei Schwalbenschwänze.
Bernie: Jetzt müssen wir wieder eine ganze Woche warten, bis die Flupppuppe zu uns kommt. Wieder müssen wir eine ganze Woche warten, bis wir sie fragen können, ob sie uns mitnimmt. Du Idiot.
...
An dieser Stelle hatte Betrüger-Schorschi das Radio ausgeschaltet, und Anna konnte deshalb nicht mehr weiterschreiben. Aber ohne Flupppuppe war es sowieso keine Flupppuppengeschichte mehr.
Betrüger-Schorschi schaute melancholisch aus dem Fenster. Wartete er etwa auch auf die langen Plastikbeine der Flupppuppe? Anna war sich da nicht so sicher. Als sie ihn fragte, was er heute Leckeres zum Abendessen kochen wolle, schaute er sie halb abwesend, halb grimmig an und brummte: "Du hast doch gehört, dass die Flupppuppe keine Suppe mag!"

Ende Teil 3.

Fortsetzung folgt in der nächsten Rossipotti- Ausgabe.

 

 

 © Rossipotti No. 3, Mai 2004